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ANNA DERNDORFER

Ohne Schaf geht’s nicht –
Die Odyssee

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DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5

Telefon +43(0)463 501099

office@drava.at

www.drava.at

Illustrationen: Julia Kastler

Lektorat: Dr. Carsten Schmidt

Copyright © dieser Zusammenstellung 2017 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-839-8
eISBN 978-3-85435-836-3

Inhalt

Vorwort des eigentlichen Vorworts

Vorwort

Erster Gesang

Zweiter Gesang

Dritter Gesang

Vierter Gesang

Fünfter Gesang

Sechster Gesang

Siebter Gesang

Achter Gesang

Neunter Gesang

Zehnter Gesang

Elfter Gesang

Zwölfter Gesang

Dreizehnter Gesang

Vierzehnter Gesang

Fünfzehnter Gesang

Erläuterungen zum österreichischen Dialekt

Vorwort des eigentlichen Vorworts

„Du hundselendiger Tro-o-o-o-ttel“, gellte das Schaf in seinem Anhänger. Ja, es gellte tatsächlich. Wer etwas von Musik versteht: vom hohen C eine Quinte abwärts fallend bis zum F. Und wer wenig davon versteht: eine ohrenbetäubende Sequenz an Tönen, beginnend mit dem höchsten zuerst, die noch minutenlang ein Tinnitus-ähnliches Pfeifen im Ohr erzeugte. Dabei wirkte das Schaf ob derartiger Ehrlichkeit, die der Bezeichnung „Trottel“ zugrunde lag, sehr selbstzufrieden. Es war auffallend klein, hatte ein zerzaustes Fell, das darauf hindeutete, dass es doch schon einige Jahre und Erlebnisse auf dem Buckel hatte und eine kleine gelbe Blume hinter dem rechten Ohr.

Der Mann, der mit seinem verrosteten Motorrad den Anhänger zog, hielt an. Ob er das aufgrund der Bezeichnung als „Trottel“, wegen eines Motorschadens oder deswegen tat, da ihm justament im selben Augenblick ein Spatz auf den Kopf gekackt hatte, war unklar.

Auf der Autobahnbrücke saßen zwei Spatzen. Achilléas hockte dicht bei Afrodíti, welche sich jedoch ihm gegenüber abweisend verhielt. Ihr Kopf blickte in die entgegengesetzte Richtung, ihr Schnabel hatte den Ausdruck, den man bei Menschen als „schmollend“ bezeichnet und ihr hinterster Körperteil näherte sich immer mehr dem Gesichtsfeld ihres Lebensabschnittspartners, wie sie ihn bei Streitereien zu nennen pflegte.

„Du schummelst“, piepste sie verärgert und blickte dabei mit finsterer Spatzenmiene nach hinten. Achilléas schien unbeeindruckt. „Und es war doch die Windschutzscheibe“, meinte er nur gelassen und tschilpte laut. „Ich habe somit 289 Punkte!“

Bei 300 Punkten war das Spiel zu Ende, das wussten beide, und Afrodíti war weit von dieser Punktzahl entfernt. Das Spiel funktionierte folgendermaßen: Pro getroffenem Auto (und womit man sie treffen musste, kann sich jeder autofahrende Leser denken) erhielt man einen Punkt. Die Windschutzscheibe zählte zehn Punkte. Sah man eine berühmte Persönlichkeit, gab es 50 Punkte. Traf man sie auf den Kopf, erhielt man die doppelte Punktzahl.

Für Afrodíti standen die Karten schlecht. Sie hatte erst 200 Punkte und sah sich schon in Gedanken das neue Spatzennest bauen, denn so war die Abmachung: Wer verlor, musste alleine das Nest für den kommenden Nachwuchs bauen, eine Aufgabe, die anstrengend und langweilig war, wie die beiden fanden.

Während Afrodíti also bereits beinahe aufgegeben hatte und Achilléas sich doch ein wenig schämte, da er in Wirklichkeit gar nicht die Windschutzscheibe, sondern die Motorhaube getroffen hatte, kam auf einmal Afrodíti ein genialer Einfall. Laut rief sie mit ihrem kleinen Schnäbelchen: „Da! Der DJ Ötzi! Getroffen! 100 Punkte mehr“, und lachte, was sich bei Spatzen sehr lustig anhört. Nun kam Achilléas voll in Fahrt. „Gut, dann ist das hier auf der Harley-Davidson der Papst“ und er ließ ein kleines Häufchen fallen, das jedoch auf der Straße landete. Zwischen den beiden Spatzen entbrannte ein noch heftigerer Streit. Afrodíti meinte, dass der Papst meinetwegen auf einer Harley fährt, aber bestimmt keine Lederjacke mit der Aufschrift „Fuck you“ trägt, während Achilléas betonte, wie modern der neue Papst sei und dies durchaus möglich wäre. Nach zwei Stunden Ehekrach und mehreren Drohungen Afrodítis, sich scheiden zu lassen, beschloss Achilléas, auf seine erfundene Papst-Geschichte zu verzichten und blickte großmütig über die hundert Punkte hinweg.

Es begann schön langsam Abend zu werden. Die Sonne färbte den Horizont golden und verlieh ihm allmählich orangerote Töne. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet und Bäume, Sträucher, Blumen, Tiere und Menschen litten unter der beinahe unerträglichen Hitze. Auch Afrodíti und Achilléas bemerkten auf einmal, wie durstig und müde sie beide waren. Sie hatten sieben Stunden auf der Brücke verbracht, heldenhaft der Mittagssonne getrotzt und sich eifrig auf die vorbeifahrenden Autos, LKWs und Motorräder konzentriert. „Lass uns nach Hause fliegen“, meinte nun die Spatzendame. „Und sagen wir unentschieden!“ Achilléas, der so knapp vor dem Sieg stand, wollte bereits erneut eine Schimpftirade loslassen, da sah er einen Mann mittleren Alters auf einem Motorrad. In einem Anhänger, der an das Motorrad befestigt war, befand sich ein Schaf, das auf grünem Gras gebettet mit einer kleinen gelben Blume am Kopf genüsslich an einem Salat knabberte. Der Mann hatte langes, wallendes und mit einem Band nach hinten gebundenes Haar, die Hälfte seines Gesichts war von einem Vollbart bedeckt und er trug Lederstiefel, die um mindestens fünf Nummern zu groß schienen. Offensichtlich gab es Probleme mit seiner Maschine, denn aus dem Auspuff kam schwarzer, stinkender Rauch. Nur wenige Meter nach der Brücke kam der Mann zum Stillstand und rollte auf den Pannenstreifen. „Hey, ist das nicht…“, begann auf einmal Achilléas aufgeregt zu tschilpen, aber Afrodíti fiel ihm ins Wort. „Der listenreiche ODYSSEUS!“, rief sie! „50 Punkte“ und hob stolz ihren Schnabel. „Der göttergleiche Mann, der einst Troja zerstörte, auf mannigfaltiger Irrfahrt vieler Menschen Städte sah, den Sterblichen weit voraus an Verstand! Er, der dem Meer und dem Kriege entronnen, der jähen Vernichtung entgangen! Er, der nach zwanzig Jahren heimkehren sollte nach Ithaka, so wie es der Schicksalsfaden der Götter vorgesehen hat! Odysseus und sein viel umsungenes Schaf!“ „Ja was ist denn in dich gefahren? Und was soll das mit dem Schaf?“ Achilléas betrachtete Afrodíti, die wie von der Muse geküsst hexametrische Verse rezitierte. Afrodíti jedoch antwortete nicht, sondern flog schnurstracks in Richtung Odysseus. Zielgerichtet ließ sie ein Häufchen fallen, direkt auf Odysseus’ Kopf. „100 Punkte! Gewonnen!“, jubilierte sie, flog einen Looping und flatterte dann davon.

Achilléas jedoch blieb noch eine Weile sitzen, nicht nur, weil ihn Afrodítis dichterische Eskapaden sehr verblüfft hatten, sondern auch, weil ihm dieser junge Mann sowie der Name Odysseus sehr bekannt vorkamen. Als sich Odysseus etwas verspätet auf sein beflecktes Haupt griff und nach oben blickte, um den Übeltäter zu finden, rief Achilléas laut: „Jessas, da Huababua!“ und flatterte aufgeregt auf den Anhänger, in welchem das Schaf nun lag, einen dicken Schmöker in beiden Hufen haltend. In Momenten, in denen er die Beherrschung über sein Selbst verlor, drang immer wieder Achilléas’ oberösterreichischer Dialekt durch, den er seiner Mutter zu verdanken hatte. Sie stammte nämlich aus dem Salzkammergut, verliebte sich im Urlaub in einen griechischen Spatz und wanderte aus. Bilingualität und die Wahrung eigentümlicher Dialekte lagen ihr immer sehr am Herzen, weswegen sie großen Wert auf eine zweisprachige Erziehung der Spatzenküken legte. „Schleich di, ich les!“, blökte das Schaf nun genervt und änderte die Position. „Und sag deiner Alten, sie soll das nächste Mal woanders hinscheißen!“

Achilléas war entsetzt. Eine derartige Ausdrucksweise und das bei solch einer Belesenheit hätte er nicht erwartet. „Ist das Odysseus Huber?“, fragte er vorsichtig. „Na wer denn sonst? Der Heilige Geist ist es nicht. Und jetzt schleich di!“ „Schon gut, schon gut“, meinte Achilléas beschwichtigend. „Aber er galt doch als verschollen?“ fragte er ein weiteres Mal sehr vorsichtig. „Und überhaupt hörte man zwanzig Jahre nichts von ihm!“ „Weil er eben nicht so ein Autopupser ist wie ihr Spatzen und einen wichtigen Auftrag erfüllen musste!“, entgegnete das Schaf. „Und jetzt schleich di, sonst zuck ich aus!“ Achilléas riss die Augen erschrocken auf, denn das Schaf erhob sich bereits und machte alle Anstalten, das Gesagte auch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Noch rechtzeitig, bevor das Schaf zu randalieren begann, breitete er seine kleinen Spatzenschwingen aus und erhob sich in die warme Abendluft, um der Fährte Afrodítis folgend bald sein Zuhause zu erreichen.

Dass Odysseus „Huber“ mit Nachnamen hieß, wurde wohl aus ideologischen Gründen von Homer verschwiegen, kann jedoch mit wenigen Worten erklärt werden.

Odysseus’ Urururgroßvater Huber Gustl war Gemüsebauer am Ortsrand von Eferding, einer idyllischen und lieblichen Kleinstadt im schönen Oberösterreich. Als er jedoch bei einer Fahrt auf der Donau in Richtung Schlögener Schlinge der schönen Nafsiká Nikopolidou begegnete, war es um ihn und seinen kleinen Hof geschehen. Er wanderte nach Griechenland aus und wurde dort Olivenbauer. Nafsiká gebar ihm zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, Agápi und Adamántios Huber. Letztgenannter heiratete wiederum eine Griechin und wurde zum Vater dreier Söhne, Androklís, Andónikos und Laertes Huber. Laertes verliebte sich mit achtzehn in die zarte Antikleia, was zwei Jahre später dazu führte, dass ein kleiner Odysseus und dessen Schwester Ktiméne Huber in einer von Laertes selbst geschnitzten Wiege aus Holz lagen. Ganz Ithaka, der Ort, wo sich Laertes’ Häuschen befand, gratulierte zu den zwei gesunden Kindern, und Laertes verwies voll Stolz auf die Schönheit seiner Tochter und das kräftige Aussehen seines Sohnes.

Meist stand die Wiege im Freien und diente vielen kleinen Spatzen, die sich an die Ränder der Wiege platzierten, als Schaukel. Einer der Spatzen war Achilléas, der die beiden Kleinkinder immer nur „Huababua“ und „Huabadirndl“ nannte.

Odysseus war somit ein waschechter „Huber“, in dessen Adern noch das Blut des oberösterreichischen Huber Gustls floss, aber das wussten nur wenige. Odysseus versuchte nämlich, diese Tatsache zu vertuschen und wüssten nicht die Spatzen, die von Achilléas darüber informiert worden waren, davon, hätten es die Einwohner Ithakas längst vergessen. Eine Ahnenreihe aus dem Geschlecht der Titanen, Giganten oder Götter wäre ihm lieber gewesen, doch an seiner Abstammung konnte man nun mal nichts ändern. Odysseus versuchte daher, aus der Not eine Tugend zu machen und forcierte alles, was ihm männlich und stark erschien. Er begann mit dreizehn zu rauchen, ging mit vierzehn in diverse Kraftkammern, übte sich in Boxkämpfen und trug eine schwarze Lederjacke mit Fransen. Er band sein unfrisiertes, wallendes Haar mit einem roten Tuch zurück, ließ sich einen Totenschädel auf den rechten Oberarm tätowieren und kaufte sich mit achtzehn und einem gigantischen Kredit ein leistungsstarkes Motorrad. Damals ahnte er noch nicht, dass er diesen Aufwand dringend benötigte, um seine zukünftige Frau Penelope, eine spartanische Prinzessin, zu beeindrucken, jedoch nicht, um zu großem Ansehen und Ehren zu kommen. Diese ergaben sich nämlich auf andere etwas mysteriöse Art und Weise – und davon soll nun die Rede sein.

Vorwort

Es geschah an einem lauen Frühlingstag. Ich ward geboren sozusagen im Schoße der Mutter Erde, im Stroh und umgeben von duftenden Wiesenkräutern. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und bunte Schmetterlinge umhüllten mein weißes Haupt. Sieben silberfarbene Täubchen saßen rund um mich und gurrten freudig. Wie durch ein Wunder soll plötzlich aus dem trockenem Erdboden eine kristallklare Quelle entsprungen sein, die nun ihr frisches, kühles Wasser als Bächlein durch unsere Gefilde strömen lässt. Dies alles geschah rein mir zu Ehren, ich, die ich schon von Geburt an durch den Beschluss der Götter zu Größerem bestimmt war. In diesem Moment der wundersamen Geburt, gerade, als ich den ersten Schrei und somit mein erstes Lebenszeichen von mir gab, erschien mir die Göttin Athene. Pallas Athene, die Göttin der Weisheit und Künste, der Kriegstaktik, der Strategie und gleichzeitig des Friedens, Schirmherrin der Stadt Athen und deren Bewohner, sie, die bei ihrer Geburt dem Haupte ihres Vaters Zeus entsprungen war. Genau diese Athene trat vor mein Antlitz und ich dachte sofort, dass das nichts Gutes zu bedeuten habe. „Schaf“, sagte sie in einem befehlenden Ton. Ich schloss die Augen und öffnete sie erneut, um feststellen zu müssen, dass mich mein Verstand offensichtlich nicht betrogen hatte, denn Athene stand noch immer vor mir. Gerade Athene, die Göttin, die ich neben Aphrodite, dieser aufgetakelten Ziege, am wenigsten ertrug. Athene, die in ihrer überheblichen Art behauptete, den Menschen auf Bitten des Prometheus Verstand und Weisheit eingehaucht zu haben. Als ob man auch nur geringe Ansätze davon in diesem kümmerlichen Völkchen vorfinden könnte! Meinetwegen kann man von den Menschen behaupten, sie seien fleißig, arbeitsam und geschäftig. Wenn die Menschen jedoch eines sicher nicht sind, dann klug – und darüber gibt es keinen Zweifel, zumindest nicht im Tierreich. Der einfachste Beweis dafür ist, dass kein Lebewesen derart viel Anstrengung aufwendet, um letztendlich das zu erreichen, was dem Faultier trotz dreiundzwanzig Stunden Schlaf pro Tag genauso gut gelingt: das Überleben seiner eigenen Spezies zu sichern. Und dies ist nur einer von hundert Beweisen, dass Athene bei dieser Gattung Mensch ordentlich versagt hat. Aber davon später. Nun zurück zu mir, dem eigentlichen Helden der Geschichte. „Schaf“, sprach Athene also erneut, bereits in einem etwas strengeren Ton, „Hör auf zu schlafen! Du bist zu Höherem bestimmt. Du sollst das Schaf sein, das bald den vielbesungenen Odysseus auf seinen Irrfahrten begleiten soll. Du bist das auserwählte Schaf, dessen Name noch über Jahrtausende hinweg besungen wird. Allein dir wird Odysseus seine glückliche Rückkehr zu verdanken haben. Mögest du am Ende deiner Tage in den Olymp erhoben werden, um dort in Hülle und Fülle Nektar und Ambrosia zu genießen. Du Schaf, bereite dich auf bevorstehende Strapazen vor, denn der Weg der Tugend und Stärke erfordert Mut und Kraft.“

„Au weia, kaum geboren und schon die Arschkarte gezogen!“, dachte ich mir und überlegte, wie ich denn dieser lästigen Verpflichtung entkommen könnte. Warum zum Teufel sollte ich, die ich doch viel lieber auf saftigen Wiesen liegen und an Blumen knabbern wollte, eine solche Anstrengung auf mich nehmen? Hatte ich etwas falsch gemacht in meinem vorigen Leben? Welches schicksalshafte Karma verfolgte mich? Ich brauchte dringend eine Ausrede! „Athene, die du dem Antlitz eines Schafes gleichst“ – eine bessere Anrede konnte sich eine Göttin doch wirklich nicht wünschen – „ich bin nur ein einfaches, weißes Schaf mit drei schwarzen Flecken auf den Ohren. Du musst mich verwechselt haben. Wahrscheinlich meintest du Argos, Odysseus’ Hund, seinen treuen Gefährten.“ Welch gute Idee! Argos konnte ich nicht leiden. Er war faul, gefräßig und buhlte mit größtem Erfolg um die Gunst seines Herrchens Odysseus. Außerdem war er ein Hund, ein Sprössling der gemeinen, fiesen Spezies Wolf, ein gefräßiges Monster, das uns Schafen seit jeher Angst und Panik einjagte. Sollte sie doch Argos belästigen.

Athene rümpfte die Nase, verzog beleidigt den Mund und atmete tief ein und aus. Und so stand sie dann fünf Minuten da. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Praktizierten jetzt auch schon die Götter Pranayama? Diese seltsamen Atemübungen der Menschen, die versuchten, sich von dem durch sie selbst erzeugten Stress wieder zu befreien? Athene blickte mich daraufhin mit verklärten Augen an und sprach erneut: „Mögest du die Gefahren mit deinem treuen Gefährten Odysseus an der Seite bestehen! Mögest du mutig gegen Stürme und Winde ankämpfen! Mögest du im Wissen um meinen Schutz tapfer Versuchungen und Untugenden trotzen und nach zwanzig Jahren nach Ithaka zurückkehren, um dort hochgelobt und viel umsungen als Held gefeiert zu werden, ehe du ins Reich der Götter eintrittst. Bereite dich vor, denn in einem halben Jahr musst du von dannen ziehen.“ Nach dieser Ansprache machte Athene kehrt und schritt erhobenen Hauptes davon.

Ich lag da wie ein begossener Pudel. Mein Lebensinhalt hätte sich auf schlafen, essen, trinken und ein bisschen blöken beschränken sollen – und nun kam diese arrogante Schnepfe und wollte mir einen Strich durch die Rechnung machen. „Nicht mit mir!“, dachte ich und beschloss, mich äußerst widerlich gegenüber Odysseus zu benehmen. Die Tätigkeit des „Odysseus-Verärgerns“ wollte ich derart optimieren, dass dieser sicher niemals auf die Idee käme, mich auf irgendwelche Abenteuer mitzunehmen bzw. überhaupt freiwillig in meiner Nähe zu sein. Zudem beschloss ich bereits am ersten Tag meiner Geburt, jegliche Anstrengungen zu unterlassen, die mich ungewollt zu einem muskulösen, stattlichen Schaf hätten machen sollen. Ein Schaf, das weder sportlich noch kräftig und obendrein noch frech ist, würde niemals als Begleiter für lebensgefährliche Abenteuer auserwählt werden.

Ich beschloss also wenige Minuten nach meiner Geburt folgende fünf Punkte:

Punkt 1: Ich würde mir regelmäßig Scherze einfallen lassen, wie ich Odysseus zur Weißglut bringen könnte.

Punkt 2: Ich würde mich bemühen, eine Art der Fortbewegung zu finden, die sich möglichst ungünstig auf meinen Muskelzuwachs auswirkt.

Punkt 3: Ich würde mich so wenig wie möglich bewegen.

Punkt 4: Ich beschloss, so schnell wie möglich das Lesen zu lernen, um mich durch meinen Intellekt von athletischen Muskelprotzen, die viel besser für die Bezwingung gefährlicher Monster, Drachen und Naturgewalten geeignet waren als ich, deutlich abzuheben.

Punkt 5: Ich beschloss, mit Sicherheit nicht mitzufahren, egal, wohin die Reise gehen sollte.

Diese fünf Regeln waren mein neues Credo und ich sagte sie mir immer wieder laut auf, vor allem dann, als ich Odysseus kennenlernte: Odysseus, diesen nach Rauch stinkenden, tätowierten und aufgeblasenen Proleten, vor dessen Anblick mir graute und dessen ungepflegte Ausdrucksweise mich anwiderte. Ich las Dostojewski, Tolstoi, studierte Shakespeare, hörte Bruckner und Mahler und lernte Sanskrit. Ich begann mit Yoga und Qi Gong, da ich wusste, wie sehr Odysseus diese asiatischen Praktiken verhasst waren. Und ich lernte den Lotussitz, den ich immer dann einnahm, wenn sich dieser Macho näherte. Dabei summte ich laut „Oooommmm“ und meditierte.

Es ist wohl überflüssig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass ich und Odysseus binnen kürzester Zeit Erzfeinde waren. Wäre nicht Penelope gewesen, der ich mich ausschließlich von meiner besten Seite zeigte, hätte mich Odysseus schon längst in der Wildnis ausgesetzt.

Penelope war, wie schon erwähnt, eine spartanische Prinzessin. Sie hatte langes, schwarzes Haar, dunkle, große Augen, zarte rosige Lippen und ein schmales Gesicht, das dem einer Porzellanstatue an Eleganz glich. Sie verbrachte sehr viel Zeit damit, feine Stoffe zu weben, die ihren Palast schmückten und beim Eindringen der ersten Sonnenstrahlen Wände und Boden in ein farbiges Licht tauchten. Am liebsten trug sie weite Kleider, mit denen sie sich oft zu uns Schafen in die Blumenwiese setzte und mit uns plauderte. Penelope war nämlich ein Sonntagskind, was bedeutete, dass sie an einem Sonntag geboren war und die Stimme der Tiere verstand. Meist unterhielten wir uns über verschiedene Kräuter, über Griechenlands Flora und Fauna oder entzifferten alte Tonplatten mit Inschriften, die von den Menschen Linearschrift A und Linearschrift B genannt wurden und der minoischen bzw. mykenischen Kultur Kretas entstammten. Penelope hatte ein sanftes Gemüt, weiche Hände und ein zartes Wesen. „Wisst ihr, Odysseus war früher ganz anders“, meinte sie oft, wenn Odysseus wieder einmal mit seinem Motorrad über unsere schönen, saftigen Wiesen ratterte und viele Blumen und Kräuter zerstörte. Dabei seufzte sie laut und blickte mich traurig an. Ihre Traurigkeit konnte ich sehr wohl verstehen, denn sollte auch nur ein Bruchteil dessen wahr sein, was sie mir immer wieder von Odysseus erzählte, dann muss dieser Prolo doch mal zumindest erträglich gewesen sein, was ich aus heutiger Sicht nicht nachvollziehen kann. Mit „früher“ meinte Penelope die Zeit, als sie noch nicht verheiratet waren und nicht von den Schätzen ihres Palastes lebten. Früher, als sie hinter der harten Schale noch einen weichen Kern zu finden erhoffte. Früher, als Odysseus Penelope auf seinem Motorrad entführte und mit ihr zu einsamen Buchten fuhr, während die Fransen seiner Lederjacke im Wind flatterten und sich seine rauchige, tiefe Stimme immer wieder zärtlich nach ihrem Wohlergehen erkundigte. Früher, als sie hinter Odysseus sitzend ihr Gesicht zwischen seinem Nacken und seiner wallenden Haarpracht versteckte und sich freute, endlich ihrem wohlbehüteten Prinzessinnendasein entfliehen zu können. Sie bekam von Odysseus das, was sie jahrelang unterdrücken musste und was immer wieder an die Oberfläche drängte: Freiheit. Die Freiheit, nicht den Erwartungen entsprechen zu müssen, die an Adelige gestellt werden. Die Freiheit, das zu tun, was einer Prinzessin untersagt ist. Die Freiheit, einen Mann zu lieben, der in keiner Weise den Erwartungen des Elternhauses entsprach.

Odysseus hingegen konnte sein Glück kaum fassen, dass er Penelopes Auserwählter war und eines Tages gemeinsam mit ihr den elterlichen Palast beziehen sollte. Zumindest säuselte er ihr das immer wieder ins Ohr und Penelope wurde butterweich bei diesen Worten. Überhaupt spielte er ihr den Romantiker vor, was Penelope äußerst betörend fand. Täglich stand er bei Einbruch der Dämmerung unter ihrem Fenster, das sich im ersten Stock befand, in der Linken eine Rose, mit seiner Rechten warf er kleine Föhrenzapfen an ihre Fensterscheibe. Der 08/15-Schmäh zog also auch bei Penelope, obwohl sie belesen war und ihr alleine die Literatur hätte zeigen sollen, dass dieser Typus Mann heuchlerisch und nicht vertrauenswürdig war.

Und so geschah, was kommen musste: Penelope wurde schwanger und gebar einen kleinen Sohn, Telemachos. Niemand außer uns Schafen ahnte, dass der kleine Knabe den Großteil seiner Kindheit ohne seinen Vater aufwachsen würde.

Eines Nachts nämlich hörte ich, wie Odysseus leise das Tor zu unserem Schafstall öffnete. Es waren genau zehn Jahre seit der Hochzeit mit Penelope vergangen. „Zehn kriegerische Jahre“, fluchte Odysseus laut, warf seinen glimmenden Zigarettenstummel zu Boden, trat ihn gerade noch rechtzeitig aus, ehe das Stroh Feuer fangen konnte und spuckte in Richtung Schafe. „Was liegt ihr rum und schaut so blöd?“, schimpfte er dann. Er schien angetrunken zu sein. Ich versteckte mich im hintersten Winkel, denn ich ahnte, dass er meinetwegen hier war. Ich hatte ihm nämlich einen klitzekleinen Streich gespielt, eigentlich nicht der Rede wert, aber bei jemandem so zimperlichen wie Odysseus anscheinend doch etwas schwerwiegender. „Wer von Euch hat gestern Nacht alle meine dreihundertsiebenundfünfzig Freunde auf Facebook in unseren Palast zu Freibier eingeladen?“, grölte er und eine schwere Alkoholfahne entstieg seinem Mund. Alle Schafe begannen laut zu lachen, nur ich schwieg und verkroch mich noch tiefer in den Strohhaufen. „Du da, mit den drei schwarzen Punkten auf den Ohren!“, rief er dann in meine Richtung. Verdammt, meine Ohren standen aus dem Stroh hervor! „Das wirst du mir bitter büßen“, grunzte er dann in seinem Suff, ging zu mir und hob mich empor. Ich konnte zappeln, kreischen, um Hilfe blöken – nichts half. Dann setzte er mich in einen Anhänger, während ich laut „Peneeeelopeeee“ rief und spannte diesen an sein Motorrad. Mit lautem Getöse fuhr er daraufhin in die dunkle Nacht hinein.

Hätte mich Odysseus damals tatsächlich gefressen, wie er es im Sinne hatte, hätte er seine Heimat und Penelope nie mehr gesehen. Doch mir, dem listenreichen Schaf, gelang es, Odysseus’ Leib und Seele zu erretten. Ich allein verhalf ihm, der düsteren Unterwelt zu entrinnen. Ich, das kleine Schaf mit den blauen Augen und den drei Punkten auf den Ohren.

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Erster Gesang

Und hätte er alle anderen Abenteuer bestanden – Kalypsos umschmeichelnden Worten, ihren Liebkosungen, ihren Versuchen, sein Vaterland vergessen zu machen, wäre er für alle Ewigkeiten verfallen gewesen. Sogar Unsterblichkeit wollte sie ihm verleihen, um ihn für immer an sich zu binden. Und es spricht nicht für Odysseus’ scharfen Sinn, dass er auf ihre Angebote hereinfiel. Seien Sie ehrlich: Würden Sie einer Frau, einem Mann, einer Partei, einer Religion trauen, die solche leeren Versprechungen macht? Niemals, oder? Und Odysseus tat es doch, zumindest sieben Jahre lang. Alleine ihr Name hätte doch Odysseus zur Vorsicht mahnen sollen, doch dieser Tölpel hatte weder von Bildung noch von Polysemie eine Ahnung. Kalypso bedeutet nämlich „die Versteckende“ und dass sie Odysseus nicht mehr hergeben wollte, war ja wohl klar.

Okay, ich geb’s ja zu, die ersten Tage hatte sie mich auch zumindest ein wenig beeindruckt. Kalypso wohnte ganz alleine auf einer Insel mitten im wogenden Meer auf der Insel Ogygia, die sich südlich von Kreta befindet und mit saftigen Auen, grünen Hainen, Pappelweiden, Erlen und Zypressen bewachsen war. Sie schlief in einer Grotte, die sie mit feingewobenen Stoffen geschmückt hatte. In ihrer Freizeit webte sie diese Stoffe mit goldener Spule. Vor ihrer Grotte war ein Feuer entfacht, das herrlichen Geruch des brennenden Zedernholzes und des Zitronenbaums in alle Richtungen trug. Auf der Grotte wuchs wild rankender Wein, der süßen Duft verströmte. In der Nähe flossen kristallklare Quellen, die allesamt silbern glitzerndes Wasser mit sich führten. Kalypso hatte wilde, ungekämmte Locken und sang gerne seltsame Lieder. Sie gab mir täglich frischen Blattsalat, Radieschen und Karotten und rühmte mich das schönste Schaf, das je ihr Augenlicht erblickt hat. Diese wundersame Umgebung, ihre schmeichelnden Worte, ihr anfangs noch zarter Charakter und ihre Andersartigkeit waren natürlich nicht uninteressant. Aber als sie sich tatsächlich an Odysseus ranschmiss und ihn mit ähnlichen Worten pries, da wurde mir klar, dass es sich bei Kalypso um eine fiese, intrigante, heuchlerische Hexe handelte. Erstens wusste sie, dass Odysseus verheiratet war. Zweitens wusste sie, dass er ein Schaf besaß, das seiner ganzen Aufmerksamkeit bedurfte. Drittens machte dieses Schaf die Anwesenheit einer Frau gänzlich überflüssig. Viertens war dieses Schaf ich und ich hatte nicht vor, Odysseus mit jemandem anderen außer Penelope zu teilen. Odysseus war natürlich blöd genug, sich von Kalypso beindrucken zu lassen. Mir jedoch gingen ihre Gesänge, die sich ständig wiederholten, bald gewaltig auf die Nerven und das sagte ich ihr auch. Zuerst versuchte ich es mit Wilhelm Busch, dessen Aphorismen mir an verregneten Herbsttagen das Leben stets versüßt hatten, und sprach, mein edles Haupt aufgerichtet und Kalypso mit kritischem Blick fixierend: „Musik ist angenehm zu hören, doch ewig braucht sie nicht zu währen.“

Nichts. Keine Reaktion. Kalypso schien weder diesen berühmten deutschen Meister der Poesie wertzuschätzen noch meinen gelungenen Vortrag zu bewundern. Und das, obwohl ich mich wirklich sehr bemüht hatte, eine Assimilation des „ös“ und „äs“ zu bewirken. Denn, das musste man zugeben, das „Hören“ und „Währen“ reimten sich nur bedingt und ich als musisch talentiertes und sensibles Schaf versuchte, diesen Umstand auszugleichen und entschied mich für einen Mischlaut aus „ö“ und „ä“, ein für Schafe, die des Blökens mächtig sind, nicht wirklich schwieriges Unterfangen.

Unterdessen hatte Kalypso ihren monotonen Gesang fortgesetzt und zwang mich zu härteren Mitteln zu greifen. „Wenn du einer Katze auf den Schwanz steigst, dann klingt das schöner“, bemerkte ich daher. Sie war natürlich ganz und gar nicht kritikfähig, schaute beleidigt zur Seite und ließ sich von Odysseus trösten, der ihr daraufhin natürlich das Gegenteil vorlog. Sie habe die schönste Stimme, die klar und hell wie ihre Quellen töne und, und, und. Ich konnte es bald nicht mehr hören. „Was findest du nur an dieser dummen Kröte?“, fragte ich Odysseus eines Tages. Odysseus dachte nach. „Vielleicht liebe ich sie, weil sie das komplette Gegenteil von Penelope ist“, antwortete er dann und ich hätte ihn zum Mond schießen können. Er wagte es tatsächlich, Penelope, diese zarte, feine, spartanische Prinzessin mit den elfenbeinernen Händen, den sanften, ehrlichen Augen und dem treuen, liebenden Blick in einem Atemzug mit diesem intriganten Weib zu erwähnen! Und es war ja wohl zu erahnen, dass auf einmal Odysseus genau das anziehend fand, was seine Frau nicht war: eine völlig ausgeflippte Hippiefrau, die sich selten wäscht, nicht pflegt und dann noch darauf stolz ist, aus dem ach so konservativen System ausgestiegen zu sein. Und dann noch singt, weil sie sich wahrscheinlich für eine noch unentdeckte Opernsängerin hält. Kalypso war derart angetan von Odysseus, dass sie ihn am liebsten geheiratet hätte und das brachte mich zur Weißglut. Hätte dieser Trottel nicht sein heldenhaftes Schaf an seiner Seite gehabt, wäre das wohl auch passiert. Denn ich tat alles, um ihn an seine edle Frau Penelope zu erinnern. Und wenn ich sage, ich tat alles, dann meine ich auch wirklich alles. Ich lernte in kürzester Zeit, Odysseus’ Stimme nachzuahmen. Immer, wenn es zu einer Annäherung zwischen den beiden kommen sollte, flüsterte ich: „Ach, wie bist du schön, Penelope“, woraufhin Kalypso wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe schoss und fuchsteufelswild wurde. Manchmal sagte ich auch nur: „Du stinkst“, was auch seine Wirkung nicht verfehlte. Odysseus hingegen erinnerte ich immer wieder daran, dass seine Frau zu Hause auf ihn wartete. Jedes Mal, wenn ich dann Penelopes Namen erwähnte, wurde er traurig und nachdenklich. An seiner Stelle wäre ich das auch geworden, denn hätte sich Penelope auch nur annähernd so verhalten wie Odysseus, wäre der Königspalast um einige Kinder reicher. Doch Penelope hatte Anstand. Und sie besaß die Fähigkeit, zu warten.

Manchmal war ich dann doch um die Hilfe der Götter dankbar, auch wenn ich sie zum Großteil für benebelt und selbstverliebt hielt. Ohne Hermes nämlich, der mich in meinen Versuchen, Odysseus zum Weiterfahren zu bewegen, unterstützte, wäre Odysseus diesem Weibsbild niemals entkommen. Hermes flog tatsächlich eines Tages mit seinen Flugschuhen und seinem Flughelm vom Olymp herab und verkündete mit wichtigtuerischer Miene, es sei Entschluss der Götter, dass Odysseus endlich heimkehren sollte nach Ithaka und zu seiner Frau Penelope, die treu und ergeben auf ihn wartete. „Hab ich dir das nicht gesagt?“, zischte ich aufgebracht, als ich diese Worte vernahm. Odysseus benützte nämlich gerne die Ausrede, Penelope sei sicherlich bereits anderwärtig vergeben und er habe somit das Recht, sich auch nach einer zukünftigen Frau umzuschauen. Immerhin sah Odysseus bei Hermes’ Worten betreten zu Boden, wollte dann Kalypso umarmen, was ich natürlich verhinderte, indem ich mich dazwischen stellte, pupste, und meinte dann: „Ich muss zurück. Hilf mir, ein Schiff zu bauen.“