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Yasar Destan

Der Kirschbaum

Augenzeugenbericht eines Toten

Band 2

Roman
 
 

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I’m #1. So why try harder?

 

vom Cover-Artwork des Albums

„You’ve Come a Long Way, Baby“

von Norman Cook aka Fatboy Slim

PROLOG

Liebe Entdeckerin und lieber Entdecker dieser Schrift,

Du liest den Augenzeugenbericht eines Toten. Ich denke nicht, dass ich in der Lage sein werde, meine eigenen Zeilen je wieder zu lesen. Es würde jedoch mein Herz erfreuen, wenn sie Dich fänden und ich hoffe, Du bist ein freier Bewohner dieser Erde, wenn das geschieht. Dieser Bericht ist für mich die einzige Möglichkeit zu versuchen, das Unbeschreibliche zu dokumentieren.

Sei versichert, dass ich nicht aus einer göttlichen Position heraus schreibe und möglicherweise bin ich noch gar nicht tot, sondern in einem Rauschzustand des sibirischen Heiltranks gefangen, von dem ich sicherlich eine Überdosis in meinem Körper habe. Ich erhebe auch keinen Absolutheitsanspruch auf die Richtigkeit meiner eigenen moralischen Prinzipien. Schließlich sind Deine und meine Wahrnehmung subjektiv. Es gibt keine objektive Wahrnehmung, nur Eindrücke und Gefühle, die nicht zwingend mit der Realität zu tun haben müssen. Ich halte den Inhalt dieses Memorandums lediglich für so wichtig, dass ich auf den Zustand meines Körpers keine Rücksicht nehmen kann und vermitteln möchte, warum man sich nicht über andere Menschen erheben darf, warum man nicht herablassend auf sie schauen darf hinsichtlich ihrer Hautfarbe, Religion, Herkunft oder sexuellen Neigung – und welch finstere Schrecken geboren werden können, wenn man es dennoch tut. Wird eine Minderheit diffamiert, dann geschieht dies meist durch das Aufstacheln von Demagogen. Sie lauern nur auf ihre Chance, Dich zur Steigerung eigener Machtansprüche zu instrumentalisieren und somit den Zugang zur Unterdrückung Oppositioneller zu erhalten.

In diesem Zusammenhang sind Rassismus, Faschismus und Kapitalismus sehr eng miteinander verwoben und bilden ein komplexes, kaum zu durchschauendes System.

In Anbetracht des Weltgeschehens ist meine Meinung nicht von Belang, dennoch möchte ich mir gestatten, sie kundzutun: Ich bin gegen den Kapitalismus und den Neoliberalismus, obwohl mir bewusst ist, dass ich in diesen Systemen gefangen und ein Teil von ihnen bin. Beide Gesellschaftsordnungen haben meine missliche Lage maßgeblich begünstigt und höchstwahrscheinlich merkt man das meinem Bericht auch an. In dieser Hinsicht bin ich selbst ein Demagoge, ein Aufwiegler, der keine Alternative hat. Ich halte den Kapitalismus für schädlich, solange man ihn nicht im Sinne des Humanismus einsetzt und solange er nicht mit konsequenten moralischen Ansprüchen angewandt wird oder der Mensch nicht in der Lage ist, ihn durch eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu ersetzen.

Ich bin davon überzeugt, dass, wenn eine populäre, im Alltag omnipräsente, aber persönlich nicht bekannte Autorität eine ethnische Gruppe für den Missstand der eigenen Lebenssituation oder eine Krise verantwortlich macht, allergrößte Vorsicht geboten und die Reflektion des eigenen Denkens unvermeidlich ist.

Die Erde gehört niemandem. Sie kann und darf niemandem gehören. Ebenso wenig wie Land jemandem gehören kann. Wir sitzen alle in einem Boot. Landesgrenzen existieren nur in unseren Köpfen. Du weißt das, wenn Du schon einmal in ein anderes Land geflogen bist und aus dem Flugzeugfenster geschaut hast.

Warum gibt es eigentlich so viel Schlechtes auf der Welt?

Nun ja, ich versuche, mir diese knifflige Frage so einfach wie möglich zu beantworten.

Es gibt positiv geladene Teilchen, und es gibt negativ geladene Teilchen. Alles baut auf diesen Teilchen auf. Es gibt Materie und dunkle Materie. Ohne Letztere wäre die Existenz unseres gesamten Universums vermutlich überhaupt nicht denkbar.

Die Teilchen.

Die Materie.

Das Leben.

Das Leben hat immer zwei Seiten.

Eine gute und eine schlechte.

Im Umkehrschluss bedeutet das für mich, dass im Angesicht des Krieges und den grauenhaften Dingen, die sich Menschen gegenseitig antun, es Liebe geben muss. Es gibt Hass, Gewalt, Folter und Mord, also muss der Gegenpol dazu die Liebe sein. Er muss.

 

Ich möchte Dir den Einstieg in den zweiten Teil meines Berichts erleichtern, indem ich die Ereignisse des ersten Bandes noch einmal zusammenfasse:

Ich denke, ich führte mit meinem Freund Hendrik so etwas, dass man salopp als konventionelles, langweiliges Leben bezeichnen kann. Wir hatten unsere gemeinsame Wohnung im Berliner Stadtteil Friedrichshain, gingen unseren Jobs nach, zahlten unsere Rechungen und schlugen uns mit Alltäglichkeiten herum, wie es wohl jeder andere auch tat. Stets darum bemüht, nicht aus unserem Hamsterrad zu fallen, braute sich um uns herum eine Gefahr zusammen, die ich zu spät, aber schließlich mit all ihrer brachialen Gewalt kennenlernen musste. Palmer International, der mächtigste Konzern der Welt, startete eine Initiative gegen Homosexuelle, die er mit dem sogenannten Tarkus-Virus begründete, obwohl die Existenz dieses angeblich todbringenden Virus‘ nie zweifelsfrei bewiesen werden konnte. Im Zuge der immer mehr zu einer Hetzjagd werdenden Kampagne wurde ich Opfer von entwürdigender Diskriminierung an meinem Arbeitsplatz im Palmer Store und suchte daraufhin Unterschlupf bei den Weißen Kontinenten, einer humanitären Organisation, die sich der konsequenten Bekämpfung von Palmer International verpflichtet hatte. Wie sich herausstellte, war auch Hendrik Mitstreiter dieser Organisation. Von seinem geheimen Doppelleben hatte ich nie etwas mitbekommen, und das hatte er auch ganz bewusst so gewollt. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern – dem Historiker Arbnor Al Mendil und den Denkern Margarethe von Brook und Bill Kershaw – weihte er mich in ein schier unvorstellbares Szenario ein: Das Management von Palmer International setzte sich aus einem ultrarechten, antisemitischen Personenkreis zusammen, allen voran dem Schirmherren und Firmenerben Andrew Palmer. Es strebte drastische Maßnahmen im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten, Juden und Gegnern des Regimes an, die für alle gegenwärtigen Missstände verantwortlich gemacht wurden. Niemals hatte ich es für möglich gehalten, dass sich eine moderne Gesellschaft von den rhetorischen Stilmitteln eines Faschisten verführen und zu grenzenlosem Hass verleiten lässt. Ich hatte in der Illusion gelebt, frei zu sein und geglaubt, die Demokratie sei eine unveränderliche Größe. Doch sie war keine selbstverständliche Konstante, sondern ein fragiles Gebilde, das ständig gepflegt und gewartet werden musste. Allerdings gab es keine starke Gegenbewegung und keinen unabhängigen, furchtlosen Journalismus mehr, die sich um die Instandhaltung kümmerten.

Auch die Weißen Kontinente gerieten zunehmend in den Fokus der Reversionspolizei, dem ausführenden Staatsorgan von Palmer International. Wir hielten uns in leerstehenden Fabrikhallen in Berlin versteckt, die zu einem echten Flüchtlingslager geworden waren. Während der sich zuspitzenden Lage wurde uns klar, dort nicht bleiben zu können. Also begaben sich Hendrik und Ricarda – eine Freundin von uns und ebenfalls Mitglied der Kontinente – auf die Suche nach einem sicheren Ort, an den wir uns quasi selbst zu evakuieren gedachten. Zu meinem Entsetzen kehrte Ricarda ohne Hendrik von dem Erkundungstrip zurück. Sie berichtete, dass er auf der Flucht vor der Repo spurlos verschwunden sei, woraufhin ich mich – zugegeben – völlig kopflos auf den Weg machte, ihn zu retten. Ricarda begleitete mich und wurde prompt in der ersten Nacht außerhalb der Mauern unseres geheimen Quartiers von Repo-Schergen verschleppt. Deprimiert hatte ich es in die Hallen zurückgeschafft, die zu meiner Überraschung inzwischen menschenleer waren, abgesehen von einigen Leichen, die noch in ihren Schlafsäcken den ewigen Schlaf schliefen. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin die Leute aufgebrochen waren – vor allem hatte ich nicht gewusst, ob sie freiwillig oder unter Zwang gegangen waren – und ich fühlte mich allein, als sei ich der letzte Bewohner auf dem Planeten. Ohne irgendein Ziel und ohne Plan irrte ich durch die Stadt, verbrachte im Großen Tiergarten sogar eine Nacht unter freiem Himmel; in der Nähe des alten Kirschbaumes, in dessen höchstem Wipfel Hendrik und ich schon als Kinder geklettert waren und eine Bretterhütte gebaut hatten. Sie war damals unser geheimer Treffpunkt gewesen. Dort hatten wir zum ersten Mal mit Alkohol und anderen Drogen experimentiert. Dort hatten wir uns zum ersten Mal geküsst. Dort hatten wir uns ineinander verliebt. Es war eine unruhige Nacht mit vielen Wachphasen gewesen, denn die Toten aus den Hallen der Weißen Kontinente hatten mich bis tief in meine Träume verfolgt.

Da ich weder Freunde noch meine unsägliche Mutter bitten wollte, mich aus Mildtätigkeit aufzunehmen und vor der Repo zu verstecken (die Gefahr der Repressionen, die sie hätten treffen können, wollte ich nicht riskieren), fasste ich den absurden Entschluss, mich aus freien Stücken der Repo zu stellen. Ich hatte nämlich die blödsinnige Idee, Hendrik auf diese Weise wiederzusehen, sollte er sich in ihren Fängen befinden. Doch dazu kam es nicht mehr, denn die beiden Weltmächte beschworen eine Katastrophe herauf.

Palmer International machte die Geheimdienste von Global Village, der zweitstärksten Wirtschaftsmacht des Ersten Reversionsstaates, für ein Attentat auf das Kernkraftwerk Merveille in Ex-Frankreich verantwortlich und startete, nachdem der Konzern handfeste Beweise dafür in den Händen zu halten behauptete, einen militärischen Angriff auf die beiden westlichen Kontinente des Ersten Staates, den Geoffrey Farlane mit einer Gegenoffensive zu vergelten versuchte.

Berlin (und der Rest der Welt) wurden in einem kriegerischen Akt in Schutt und Asche gelegt. Die Bomben von Global Village regneten erbarmungslos auf die Stadt nieder und ich sah Dinge, von denen ich wusste, dass sie mich bis zu meinem Lebensende traumatisieren würden. Ich konnte zwar rechtzeitig Schutz in einem herrenlosen Auto suchen, stürzte mit diesem jedoch in einen tiefen Krater. Eine gefühlte Ewigkeit verbrachte ich in dem Wrack und in permanenter Finsternis. Ich war schwer verletzt und ernährte mich von toten Fliegen und Schnee. Irgendwann, als mir bewusst wurde, dass ich auf eine Rettung von außerhalb vergebens wartete, gelang es mir, mich selbstständig zu befreien. Unter Aufbringung meiner allerletzten Kraftreserven kämpfte ich mich bis zum Rande des Kraters hinauf, wo ich erschöpft zusammenbrach. Unmittelbar vor einer Ohnmacht stehend, hörte ich Stimmen, die in mir einen schwachen Hoffnungsschimmer hervorriefen.

Und genau an dieser Stelle knüpft die Fortsetzung meines Berichtes an.

III. DIE NEOTERISCHE KORREKTUR

ÜBER DIE ZUKUNFT SOLL MAN NUR IN FRAGEFORM REDEN.

HERBERT MARCUSE