Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Extinction End (The Extinction Cycle, #5)

erschien 2016 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2016 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-648-9

www.Festa-Verlag.de

Für meine Leser – dieses Buch widme ich euch, Leute.

Danke, dass ihr mich auf dieser Reise begleitet. Ich hoffe, euch gefällt das »Ende«.

Wenn die Zivilisation überleben soll, müssen wir die Wissenschaft der menschlichen Beziehungen kultivieren – die Fähigkeit aller Völker jeder Art, friedlich in derselben Welt zusammenzuleben.

– Franklin D. Roosevelt

1

Der Regen prasselte in Strömen herab und machte Dr. Kate Lovato halb blind, als sie hinauf zum zornigen, dunklen Himmel blickte. Ein Donnerschlag hallte durch die verfallenen Straßen der Stadt. Als das Geräusch verebbte, wurde es vom Krächzen verhungernder Abartiger und von den Schreien ihrer menschlichen Gefangenen abgelöst.

Kate brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass sie selbst zu diesen Gefangenen gehörte.

Überall um sie herum sah sie die missgebildeten, skelettartigen Gestalten von Abartigen. Sie kletterten über liegen gebliebene Fahrzeuge und krabbelten die Mauern naher Gebäude hoch. Gelenke klickten und knackten, als die Monster ihre Beute durch die dunklen Straßen schleiften.

Zuerst erkannte Kate die eigene, heulende Stimme gar nicht. Sie fühlte sich irgendwie von allem losgelöst, als wäre sie überhaupt nicht hier. Außer ihrem unregelmäßigen Herzschlag und dem kalten, auf ihre klamme Haut plätschernden Regen nahm sie kaum etwas wahr.

Als sich Kate zu konzentrieren versuchte, brach alles über sie herein. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, kam nun, da sie auf dem Rücken eines Abartigen durch die von Asche bedeckten Straßen von New York City getragen wurde, der Moment, in dem sie letztlich überschnappte. Erinnerungen an den Angriff auf Plum Island vor wenigen Stunden fluteten ihren Geist. Sie hatte ein Stück ihrer Seele eingebüßt, als Staff Sergeant Alex Riley von dem gigantischen, in eine Panzerung aus menschlichen Knochen gehüllten Monster getötet worden war.

Alles erschien ihr so surreal, und als sie tiefer in ihren Schockzustand driftete, kamen ihr die Stadt, die Abartigen und die Gefangenen weiter und weiter entfernt vor.

Erst die Schreie von Tasha und Jenny holten Kate jäh in die Realität zurück.

»Daddy!«, kreischte Jenny.

»Tasha, Jenny!«, rief Kate nach hinten. Dort befanden sich Staff Sergeant Parker Horns Töchter. Die Kinder konnte Kate nicht sehen, aber wenn sie sich ein wenig verrenkte, sah sie Meg Pratt. Die Feuerwehrfrau befand sich rechts von Kate. Zwei Abartige mit langen Gliedmaßen und krummen Rücken schleiften sie an den verletzten Beinen durch die Straßen. Meg setzte sich immer noch zur Wehr – sie warf sich hin und her, schlug nach ihren Peinigern und schrie: »Ihr habt Riley umgebracht! Ihr habt Riley umgebracht!«

Kate streckte die Hand in ihre Richtung aus, als sie hörte, wie Jenny heulend nach ihrer Schwester rief.

»Tasha! Tasha!«

Die Stimmen brachen Kate das Herz. Verkehrt herum hob sie den Kopf, um die Dunkelheit nach den Mädchen abzusuchen. Japsend atmete sie Luft ein, die nach verdorbenen Zitronen und faulendem Obst roch. Die Monster, die Kate und die anderen Gefangenen trugen, verströmten das ekelhafte Aroma. Kate hielt den Atem an und richtete den Blick zum Himmel.

Reed, wo bist du?

Sogar jetzt noch, als alles verloren zu sein schien, kreisten ihre Gedanken um den Vater ihres ungeborenen Kindes. Der Elitesoldat der Delta Force hatte sie schon so viele Male gerettet. Und wenngleich sie wusste, dass er irgendwo unterwegs sein würde, um sich den Weg nach New York zu erkämpfen, standen die Chancen, dass er rechtzeitig eintreffen würde …

Kates Gedankengang schwenkte zu den anderen Menschen, die Reed nicht hatte retten können. Riley war tot. Sie hatten Fitz und Apollo verloren. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Kate und die anderen Gefangenen getötet werden würden.

Das Klick-klack zuschnappender Mäuler und das Kreischen der Monster schwollen zu einer bösartigen Kakofonie an, als die kleine Armee tiefer nach Manhattan vorrückte. Es fühlte sich an, als wären sie bereits seit Stunden unterwegs, doch Kate hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte. Es konnte mitten in der Nacht oder kurz vor Sonnenaufgang sein. Immer wieder driftete sie kurzzeitig aus der Wirklichkeit ab, verlor sich in Erinnerungen.

Um ein Monster zu töten, wirst du ein anderes erschaffen müssen.

Dr. Michael Allens letzte Worte hallten durch ihren Kopf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sich ihr Mentor und Boss geopfert hatte, indem er aus dem Blackhawk auf den Rasen vor dem Gebäude der Seuchenschutzbehörde sprang, während aus allen Richtungen Abartige herbeiströmten.

Sie riss die Lider auf und erblickte den Mond, der zwischen den über Manhattan treibenden Wolken hindurchlugte. Die Strahlen tauchten die Straßen in ein gespenstisches Licht, und endlich erhaschte Kate einen kurzen Blick auf Tasha und Jenny, bevor die Wolken den Schein wieder verschluckten. Beide Mädchen hingen über dem Rücken desselben Monsters. Mit einer die Mitte entlang so aufgeschlitzten Nase, dass zu beiden Seiten lose Fleischlappen baumelten, schnupperte es an den winzigen Beinchen. Eine spitze Zunge schoss zwischen den wurmartigen Lippen der Kreatur hervor, kreiste einmal und leckte dann über Tashas rechten Unterschenkel.

Kates Magen krampfte sich vor Abscheu zusammen. Sie musste etwas unternehmen. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass diese Ausgeburten der Hölle die Mädchen umbrachten.

»Lass mich runter!«, brüllte sie und hämmerte in einem Anflug von Raserei auf das Kreuz des Monsters ein, das sie trug. Die Kreatur heulte auf und verstärkte den Griff der Klaue um ihr Fußgelenk, ritzte ihr mit den Krallen die Haut auf.

Kate verbiss sich einen Schmerzensschrei. Sie brauchte einen Plan – einen Ausweg aus dieser Lage. Es musste eine Möglichkeit geben, zu entkommen. Sie schaute zurück zu Meg. Die Monster hatten sie auf den Bürgersteig gezerrt, doch sie kämpfte immer noch. Meg trat einer der Bestien ins Gesicht und kroch weg. Ihre Fingernägel kratzten über den Beton, als der zweite Abartige einen skelettdürren Arm ausstreckte, ihre Füße packte und sie zurückzog.

»Nein! Nein!«, schrie Meg.

Wie zur Antwort ertönte von dem Monster, das Kate auf dem Rücken trug, ein hohes, schrilles Geheul. Erst da wurde Kate bewusst, dass sie nach wie vor mit den Fäusten auf das Ungeheuer eintrommelte. Meg war nicht die Einzige, die kämpfte.

Es folgte ein Donnerschlag, der wie eine Bombe zwischen den Wolken explodierte. Kate stellte ihren nutzlosen Angriff vorübergehend ein, um zum Himmel zu spähen. Ihr Blick wanderte die Seiten der dunklen Gebäude hoch. Die Türme streckten sich dem Firmament entgegen, und dort, inmitten der bauchigen Wolken, schwebte ein geflügeltes Wesen.

Ein Engel, der über sie wachte.

Kate halluzinierte. Der Schock war zu viel für sie. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie konnte nicht …

»Helft mir!«, kreischte Tasha.

»Lass sie los!«, schrie Meg.

Kate rammte dem Abartigen, der sie festhielt, das Knie in den Kehlkopf. Der Treffer überraschte das Ungetüm. Es schwenkte sie zur Seite und lockerte den Griff um ihre Fußgelenke. Sie streckte den Arm aus, um sich mit der rechten Hand abzustützen, und bedeckte mit der linken ihren Bauch, als sie auf den Boden zustürzte.

Der Fall ereignete sich in Zeitlupe. Langsam, so unendlich langsam kamen die Asche und das Straßenpflaster auf sie zu. Sie landete auf der rechten Handfläche und rollte sich auf den Rücken. Kaum lag sie auf dem Boden, trat sie um sich.

»Nein!«, brüllte sie. »Lasst uns in Ruhe!« Kate wusste, wie wahnsinnig ihre Worte klangen. Die Abartigen kannten keine Vernunft. Sie würden weder ihr noch jemand anderem gegenüber Gnade zeigen. Sie waren darauf ausgelegt, zu töten – darauf ausgelegt, zu fressen. Und Kates Biowaffe hatte sie nur noch stärker gemacht.

Die Bestie kauerte sich vor sie. Regen prasselte auf den kahlen Schädel, als das Ungetüm den unförmigen Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite legte. Es blinzelte. Dicke Lider zuckten über gelbe Augen. Kate strampelte rückwärts über den Boden, was die Kreatur dazu bewog, mit einer Hand nach ihr zu schlagen. Mit der anderen packte die Bestie ihre Füße. Krallen schabten über ihre Schuhe, als der Abartige, der Tasha und Jenny trug, an ihr vorbeistapfte. Seine Zunge baumelte dabei aus dem Mund wie der hängende Schwanz eines Hundes.

Ein Klappern lenkte Kates Blick zu einer dritten Kreatur, die etwas abseits des Rudels ging. Die Gestalt humpelte in einen Streifen des Mondlichts. Kate wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und sog scharf die Luft ein, als sie die makabre Panzerung aus menschlichen Knochen des Monsters sah, das Riley getötet hatte.

Eine Klaue zog erneut an ihrem linken Schuh, doch Kate achtete kaum darauf. Ein kehliges Gebrüll, lauter als das der anderen Bestien, hallte durch die Stadt, als die Kreatur, die Kates Füße festhielt, sie über den Boden schleifte.

Der gepanzerte Koloss humpelte auf zwei Beinen herüber, hob einen am Ellbogen abgetrennten Arm an und rammte den scharfkantigen Knochen ansatzlos in den Schädel der Bestie, die Kates linken Schuh umklammerte. Die Spitze des Knochens ragte durch die Lippen des Monsters heraus, ein Gurgeln rasselte feucht aus der Kehle hervor.

Kate befreite sich aus dem Griff der sterbenden Kreatur und plumpste auf den Rücken. Der Alpha trat auf sie zu, ragte über ihr auf. Ein dicker Speichelfaden hing von seinen geöffneten Lippen.

Niedergeschlagen verzichtete Kate darauf, sich zu wehren. Ihr Geist löste sich vom Körper. Sie starrte nur zu den Wolken, betete stumm und hielt Ausschau nach einem Engel, von dem sie wusste, dass er nicht kommen würde.

Regentropfen prasselten ihr ins Gesicht. Sie zuckte zusammen, als einer in ihrem Auge landete und ihre Sicht verschwimmen ließ. Durch das unnatürliche Kreischen des Alphas und die Schreie der menschlichen Gefangenen drang ein anderes Geräusch – ein tiefes Brummen, das mit jeder verstreichenden Sekunde lauter wurde.

Die Wolkendecke teilte sich wie ein Vorhang, der von einem Fenster zurückgezogen wurde. Im Licht des Mondes schwebte dasselbe geflügelte Geschöpf, das Kate zuvor gesehen hatte. Zwei weitere flogen in Sicht, wurden von ihren Flügeln durch die Dunkelheit getragen.

Kates Herz hämmerte wild, ihre Atmung ging angestrengt, ihr gesamter Körper zitterte. Sie wusste, dass sie zurück in einen Schockzustand verfiel. Es handelte sich lediglich um eine Halluzination.

Der Alpha ergriff sie mit dem heilen Arm und hievte ihren Körper mühelos auf die Schulter. Kates Gesicht knallte gegen die Panzerung aus menschlichen Knochen, die den Rücken des Monsters bedeckte, die Luft schoss aus ihrer Lunge. Sie legte eine Hand auf den Bauch, um das winzige, unschuldige Leben zu schützen, das in ihr heranwuchs, und betete, es möge nicht verletzt worden sein. Dann richtete sie den Blick wieder zum Himmel, um die Engel zu beobachten, die nicht real sein konnten, wie sie sehr wohl wusste.

Donnerndes Gebrüll dröhnte durch die Luft, als die geflügelten Erscheinungen erneut vorbeirasten. Kate blinzelte sich den Regen aus den Augen und beruhigte ihre Atmung, doch das Herz schlug weiter laut und unerbittlich bis in die Ohren. Dampf stieg von der blutigen Haut der Kreatur auf, die Kate über der Schulter trug. Aus den Wunden, die das Monster eigentlich hätten töten müssen, stieg ihr ein ranziger, saurer Gestank in die Nase.

Plötzlich hielt der Alpha mitten im Schritt inne und schaute zum Himmel. In einem Moment der Klarheit erkannte Kate die geflügelten Geschöpfe als das, was sie in Wirklichkeit waren.

Keine Engel.

Jets.

Eine ganze Staffel.

Laute Stimmen weckten Präsidentin Jan Ringgold. Sie klangen entfernt, aber vertraut. Erschöpft und verwirrt bemühte sie sich, die Augen aufzubekommen. Eine Zwangsjacke überwältigender Erschöpfung hielt sie gefangen. Mühsam machte sie ein Augenlid auf. Ein verschwommener Tunnelblick erwartete sie, als würde sie durch ein zu beiden Seiten von blauen Wänden gesäumtes Portal spähen. Ein durchdringender Geruch stieg ihr in die Nase – der Geruch von Antiseptika.

»Sie schläft gerade, Mr. Vice President, und sie braucht ihre Ruhe.«

»Ich muss sofort mit ihr reden, Captain. Mir egal, ob sie schläft – wecken Sie sie.«

Eine Tür schloss sich mit einem Klicken und sperrte die Stimmen aus.

Das weiße Licht wurde heller, die Wände zeichneten sich scharf ab. Keine Schotten – Vorhänge. Von plötzlicher Angst gepackt, erinnerte sich die Präsidentin an Lieutenant Bretts abgehärmte Züge in den Sekunden, bevor er den Abzug gedrückt und auf sie geschossen hatte. Sie fand erstaunlich, an welche winzigen Details sie sich erinnern konnte – der gestörte Ausdruck in seinen Augen, die über seine Stirn herabrinnende Schweißperle. Nur was davor gewesen war, davon wusste sie nicht mehr viel. Bruchstückhaft tauchte aus ihrem Gedächtnis auf, dass Dr. Carmen erstochen worden war, Kate ihre Hand gehalten hatte, Soldaten in den Raum gestürmt waren. Und Blut. Da war so viel Blut gewesen.

Mühsam setzte sich Ringgold im Bett auf. Ihr rechtes Schlüsselbein brannte durch die abrupte Bewegung wie Feuer, eine weitere Erinnerung an das von Brett abgefeuerte Projektil.

Die Tür zur Krankenstation öffnete sich wieder. Das Geräusch von Schritten setzte ein. Ringgold verzog das Gesicht, stützte sich mit den Handflächen auf der Matratze ab und verlagerte das Gewicht auf den heilen Arm, um sich hochzustemmen. Als der Vorhang zur Seite gezogen wurde, saß sie bereits aufrecht, trotzig und bereit für die Neuigkeiten, die Johnson als so wichtig erachtete, dass er sie deswegen wecken lassen wollte.

Der Vizepräsident stand eingekeilt zwischen Doktor Klinger und Captain Humphrey da. Alle drei Männer starrten Ringgold mit ungläubigen Blicken an.

»Sie sollten eigentlich schlafen, Madam President«, sagte Klinger.

Johnson trat einen Schritt auf ihr Bett zu, doch bevor er ein Wort sagen konnte, forderte sie ihn auf: »Reden Sie nicht lange um den heißen Brei. Sagen Sie mir, warum Sie aussehen, als hätten Sie gerade Ihren Hund eingeschläfert.«

In Johnsons Züge trat kein Hauch von Belustigung, nur der verstörte Ausdruck eines Mannes, der im Begriff war, einen Krieg zu verlieren. »Ich habe wichtige Neuigkeiten, Madam President.«

Ringgold bemühte sich, die Schultern zu straffen. Das EKG piepte schneller, ihr Puls stieg an. Klinger ging neben ihr Bett und überprüfte ihre Vitalwerte am Monitor.

»Condor war dank Team Ghost und den Abartigenjägern doch noch ein Erfolg. Ihnen ist gelungen, was kein anderes Einsatzteam geschafft hat. Sie haben ein lebendes Exemplar der jungen Abartigen gefangen«, berichtete Johnson.

Ringgold legte eine Schweigeminute zum Gedenken an all die Männer ein, die ihr Leben eingebüßt hatten. Ein tragischer Verlust, aber die Mission war erfolgreich gewesen. Sie war nicht dumm. Wenn sie einen jungen Abartigen gefangen hatten, dann musste Johnson etwas anderes auf dem Herzen haben.

»Warum sind Sie wirklich hier?«, fragte Ringgold, die zunehmend gereizter und angespannter wurde.

Johnson legte die Stirn in Falten und zupfte an seinem rechten Ärmelaufschlag. »Es geht um Plum Island, Madam President.« Vor seinen nächsten Worten folgte ein leichtes Zögern, das Ringgold auf Anhieb bemerkte. Sie krallte die heile Hand ins Laken, um sich zu wappnen.

»Es hat ein von menschlichen Überläufern ermöglichter Angriff der Abartigen stattgefunden.«

Ein hilfloser Laut, den die Präsidentin nicht zurückhalten konnte, entkam aus ihrem Mund. Sie dachte an die Unschuldigen dort, die Frauen und die Kinder, die sie gut beschützt gewähnt hatte. Johnson fuhr fort, bevor sie sich nach Kate erkundigen konnte.

»Die Bioreaktoren sind in Sicherheit, und wir sind gerade dabei, sie auf die George Washington zu verlegen. Allerdings haben die Abartigen die Insel überrannt, Major Smith getötet und Dr. Lovato sowie eine Handvoll Zivilisten gefangen genommen. Wir suchen noch nach ihnen. Die uns vorliegenden Informationen weisen darauf hin, dass sie zu einem Bau in New York City gebracht werden.«

Ringgolds Fassungslosigkeit schlug in Wut um. »Warum vergeuden Sie dann Zeit damit, es mir zu erzählen? Schicken Sie jeden verdammten Soldaten los, der Ihnen zur Verfügung steht, um sie zurückzuholen.«

Johnson wechselte einen Blick mit Humphrey. Der Captain hatte sich seine Mütze unter den Arm geklemmt. Er zog sie hervor und schnippte mit einem Finger dagegen, mied Ringgolds Blick.

»Also?«, fragte sie. »Worauf warten Sie noch?«

»Wir sind knapp an Ressourcen, Madam President. Wir haben bei Operation Condor fast alle unsere Einsatzteams verloren und …«, begann Johnson, doch sie schnitt ihm das Wort ab.

»Sehe ich für Sie wie Präsident Mitchell aus, Johnson?«

»Nein, Ma’am.«

»Mitchell mag General Kennor einen Blankoscheck ausgestellt haben, aber Sie haben von mir keinen bekommen. Dr. Lovato ist der wichtigste Bestandteil von Operation Ausrottung. Wir brauchen sie zurück. Und jetzt will ich, dass Sie sämtliche Soldaten zusammentrommeln, die Sie finden können, und sie nach New York City schicken, um Dr. Lovato zu retten.«

Johnson nickte. »Team Ghost und die Abartigenjäger rüsten sich bereits.«

»Gut.« Ringgold seufzte. »Geben Sie ihnen, was immer sie wollen. Und sagen Sie Beckham, dass ich spezielle Anweisungen für ihn habe.«

»Welche, Ma’am?«

»Kate ist unter allen Umständen zurückzubringen. Lebend.«

Blut. Tränen. Schweiß.

Kummer und Hoffnung.

Die vergangenen sechs Wochen waren eine verfluchte Achterbahnfahrt gewesen. Master Sergeant Reed Beckham hatte gedacht, dank der Entwicklung von Kryptonit und der Gefangennahme eines jungen Abartigen stünde der Krieg kurz davor, beendet zu werden, und zwar mit der Hoffnung, dass die Menschheit tatsächlich eine Chance hätte, die Monster zu besiegen. Dann hatte ihn in einer Nacht niederschmetternden Grauens die bittere Realität dieser neuen Welt grausam eingeholt.

Kate, Meg und Horns Mädchen waren entführt worden. Major Smith war von menschlichen Überläufern ermordet worden, und Riley, der kleine Bruder der Mitglieder von Team Ghost, war tot. Um die Hundert Dinge gingen Beckham gleichzeitig durch den Kopf, nichts davon gut.

Der Traum von einem besseren Leben mit der Frau, die er liebte, und ihrem gemeinsamen Kind war so gut wie zerstört worden. Er wollte Rache für Riley, aber er musste Kate und Horns Mädchen retten. Wenn ihm das nicht gelänge, würde es für ihn nichts mehr geben, wofür es sich zu kämpfen lohnte.

Falsch, du fadenscheiniger Penner. Es gibt immer etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Jeder Soldat um ihn herum im Passagierraum hatte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte.

Sie hatten einander.

Sergeant Thomas, Sergeant Garcia und Corporal »Tank« Talon saßen an dem Schott ihm gegenüber. Ihnen fehlte ein weiterer Mann, da sich Chow auf der George Washington befand und gerade operiert wurde. Aber Corporal Fitzpatrick war dabei. Der verwundete Krieger saß neben Beckham. Immer noch verschmierte Blut seine verbogene Prothesenklinge. Fitz murmelte immer und immer wieder dasselbe Mantra vor sich hin.

»Ich konnte sie nicht retten. Ich konnte sie verfickt noch mal nicht retten.«

»Schon gut, Fitz«, beruhigte ihn Beckham. »Wir biegen das wieder hin.« Nach einem zweiten Blick war sich Beckham nicht so sicher, ob seine Worte auch stimmten.

Fitz hatte ein MK11 zwischen den Beinen. Der Lauf lehnte an seiner Brust. Den Kopf ließ er hängen, die Finger hatte er ineinander verschränkt. Unter dem Schatten seines Helms wirkten seine Augen verschwommen, als hätte er etwas gesehen, das er nicht mehr loswurde – es war der gequälte Gesichtsausdruck eines Marines, der nicht in der Lage gewesen war, einen Freund zu retten.

Die Abartigenjäger starrten alle auf Beckham, warteten auf etwas. Befehle? Eine Ansprache? Bestärkende Worte? Im Augenblick hatte er davon nichts zu bieten.

Er mied ihre Blicke, indem er nach unten fasste und Apollos Kopf kraulte. Zu erfahren, dass Fitz und der Deutsche Schäferhund noch lebten, hatte ihm wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer zurückgegeben. Wunder kamen vor. Nur leider nicht sehr oft.

Schon gar nicht in einer von Monstern überrannten Welt.

Apollo winselte, und Beckham überprüfte den Verband an seinem Fell. Ein Abartiger hatte ihn übel aufgeschlitzt, aber der Hund war verdammt hart im Nehmen. Apollo ließ keine Anzeichen erkennen, nicht mehr kämpfen zu wollen.

Beckham warf einen Blick zur offenen Tür des Blackhawk, wo Staff Sergeant Parker Horn das M240-Maschinengewehr über das Meer schwenkte. Beckham fürchtete, wenn sie Tasha und Jenny verlören, würde er auch seinen besten Freund verlieren. Wie Apollo würde Horn nie aufhören zu kämpfen, allerdings konnte ein Mann nur ein begrenztes Maß an Verlusten ertragen. Nach dem Tod seiner Frau wandelte Horn bereits nah am Rand. Tasha und Jenny durch diese Monster zu verlieren, würde ihn endgültig in den Abgrund stürzen.

Das wird nicht passieren.

Beckham umklammerte den Riemen des über seinen Rücken geschlungenen M4-Karabiners. Er stand auf und bahnte sich den Weg zu Horn, um besser nach draußen sehen zu können. Alle Männer waren bis an die Zähne mit Munition und Waffen beladen. Sie würden jede einzelne Patrone und Granate brauchen, wenn sie darauf hoffen wollten, Kate und die anderen zu retten.

»Zur Information, die Stingers-Staffel meldet eine Gruppe von Abartigen mit Zivilisten in Manhattan«, berichtete einer der Piloten über die Sprechverbindung.

Beckhams Herz setzte einen Schlag aus. Die F-18 Super Hornets konnten nicht das Geringste tun, um Kate oder die anderen zu retten, aber zu hören, dass die von Plum Island Entführten gesichtet worden waren, erfüllte Beckham mit neuer Kraft.

»Geschätzte Ankunft?«, fragte er.

»Drei Minuten, Sir.«

»Fliegt diese verfluchte Blechbüchse doch schneller!«, brüllte Horn. Er richtete die Waffe auf das Wasser und schaute zu Beckham, die sommersprossige Stirn in Falten gelegt. In seinen Augen glomm der Schmerz eines Vaters, der kurz davorstand, alles zu verlieren. »Wir holen sie zurück, richtig?«

Beckham blickte zurück zu Fitz und den Abartigenjägern. Diese Männer brauchten ihn jetzt mehr denn je. Sogar Garcia wirkte verängstigt. Die Augen im geschundenen Gesicht des Abartigenjägers waren geweitet.

Wir kommen, Kate. Halt einfach durch, Liebling.

Ganz gleich, was Beckham verloren hatte, er wusste, dass er sich zusammenreißen musste – er musste seine Angst tief in sich vergraben, seine persönlichen Gefühle für Kate und die anderen Gefangenen von der bevorstehenden Mission trennen und sich in einen kampferprobten Elitesoldaten der Delta Force zurückverwandeln. Nur so würde es ihm gelingen, sie zu retten.

»Wir holen sie zurück oder gehen beim Versuch drauf, Big Horn«, sagte Beckham. Er klopfte seinem Freund auf den Rücken und ließ den Blick übers Wasser wandern, bereit, alles zu geben, um diejenigen zu retten, die er liebte.