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  Heinz Häfner

SCHIZOPHRENIE

Erkennen, Verstehen, Behandeln

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Anders als man in vielen Büchern noch heute lesen kann, zerstören schizophrene Erkrankungen den Kern der Persönlichkeit nicht, und sie schreiten auch nicht unaufhaltsam zu einer totalen Demenz fort. Sie weisen jedoch ein hohes Maß an Verschiedenheit und Vielgestaltigkeit auf. Etwa 20% bleiben nach einer einzigen Krankheitsperiode ohne Rückfall und andere Krankheitsfolgen. Mitunter aber kommt es auch zu lebenslangen Verläufen mit ernsten Folgen. Die Inhalte der scheinbar irrealen Erlebniswelt in der Psychose spiegeln Ängste und Verzweiflung, Hoffnungen und Freuden des Kranken wider. Dieses Buch gibt das aktuelle Wissen über die als Schizophrenie bezeichneten Erkrankungen und vermittelt einen Einstieg in das Verstehen krankhaften Erlebens. Es zeigt Wege und Formen der Behandlung, deren Wirksamkeit und Risiken auf und enthält viele Hinweise zur Bewältigung der eigenen Krankheit und zu einem hilfreichen Umgang mit einem erkrankten Angehörigen oder Patienten.

Über den Autor

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Häfner ist em. Professor für Psychiatrie der Universität Heidelberg und ehem. Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim. Für seine Forschungen wurde er national und international mehrfach ausgezeichnet. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt (4. Aufl. 2017) sowie Ein König wird beseitigt. Ludwig II von Bayern (2008).

Inhalt

1. Einleitung

2. Was ist Schizophrenie?

2.1 Wie geht man mit einem an Schizophrenie Erkrankten um?

2.2 Fallbeispiele

2.3 Diagnose

2.4 Psychotische Syndrome bei anderen Hirnkrankheiten und bei Vergiftungen (sekundäre oder symptomatische Schizophrenien)

2.5 Schizophreniespektrum: Diagnosen in Übergangsbereichen zur Normalität oder zu affektiven Erkrankungen

2.6 Die Entstehung des Krankheitskonstrukts Schizophrenie

3. Die «Behandlung» schizophren Erkrankter in der Vergangenheit

3.1 Sozialdarwinismus, Eugenik und Krankentötung

3.2 Die Psychiatriereform – der historische Schritt in eine menschliche und therapeutische Psychiatrie

4. Der Verlauf der Schizophrenie

4.1 Krankheitsrisiko und Lebensalter

4.2 Der Einfluss des Alters auf Symptomatik, Krankheitsschwere und Krankheitsfolgen

4.3 Vom Krankheitsausbruch bis zur ersten psychotischen Episode

4.4 Der mittel- und der langfristige Krankheitsverlauf

5. Wie häufig ist die Schizophrenie?

5.1 Gegenwärtige Erkrankungs- und Krankheitshäufigkeiten

5.2 Hat sich die Erkrankungshäufigkeit an Schizophrenie im Laufe der Zeit verändert?

6. Die Ursachen der Schizophrenie

6.1 Dispositionelle Risikofaktoren

6.2 Auslösefaktoren

6.3 Prognoseindikatoren in Kindheit und Jugend (frühe Krankheitszeichen?)

6.4 Spätere Risikoindikatoren

7. Begleiterkrankungen (Komorbidität)

7.1 Missbrauch und Abhängigkeit von Suchtmitteln

7.2 Körperliche Krankheiten und Untersuchungen

8. Morphologische und funktionelle Veränderungen des Gehirns bei der Schizophrenie und bei einzelnen ihrer Symptome

8.1 Funktionelle Bildgebung am Gehirn schizophren Erkrankter

8.2 Zusammenhänge zwischen psychologischen Symptomen und biologischen Funktionen

9. Schritte zur Früherkennung von Schizophrenie

10. Behandlung der Schizophrenie

10.1 Psychosoziale Behandlung der präpsychotischen Prodromalphase

10.2 Die psychologische Behandlung der Krankheit

10.3 Medikamentöse Behandlung der Schizophrenie

11. Rehabilitation

11.1 Unterstützung, Betreuung und langfristige Rehabilitation

11.2 Chronisch Kranke in der Familie

11.3 Die Organisation von Familienmitgliedern schizophren Erkrankter

11.4 Die Organisation der Psychiatrie-Erfahrenen

12. Führt Schizophrenie zu vermehrten Gesetzesverstößen und Gewalttätigkeit?

12.1 Was soll man tun?

13. Schizophrenie und Kunst

14. Notsituationen bei schizophrenen Erkrankungen

15. Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkungen

Danksagung

1. Einleitung

Erkrankungen an Schizophrenie werden auch heute noch von vielen Betroffenen mit großer Sorge erlebt. Ein Grund dafür sind Vorurteile, die seit langem die Vorstellungen von dieser Krankheit geprägt haben. Wissen und Verständnis gegenüber einem Menschen, den die Krankheit heimgesucht hat, sind aber notwendig. Wenn die äußere und die innere Wahrnehmung anstelle sachgetreuer Abbilder der Wirklichkeit verzerrte Eindrücke und Vorstellungen liefern, so ist dies für den Kranken Grund tiefer Verunsicherung. Er braucht in dieser Situation vertrauenswürdige Wirklichkeitsnähe und den Beistand seiner nächsten Angehörigen und Freunde.

Da schizophrene Erkrankungen – das individuelle Lebenszeitrisiko liegt, abhängig von einer engen gegenüber einer weiten Definition der Diagnose, bei 0,6–1,6% – nicht sehr selten sind, müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass sie auch uns persönlich treffen können. Wir sollten deshalb über ein hinreichendes Maß an Wissen über diese Krankheit verfügen, um vorbereitet zu sein und sinnvoll handeln zu können.

Gelegentlich weist ein Kranker nach akutem Ausbruch einer Schizophrenie mangels Krankheitseinsicht Verständnis und Hilfe zurück, obwohl er sie bitter nötig hätte. Gerade dann ist es notwendig zu wissen, was in der Krankheit geschieht und wie man schwierige Situationen bewältigen kann.

Anders als man in vielen Büchern noch heute lesen kann, ist davon auszugehen, dass schizophrene Erkrankungen den Kern der Persönlichkeit nicht zerstören. Das war einst zu befürchten, als mehrjährige Anstaltsaufenthalte unter unzumutbaren Bedingungen die Kranken vom sozialen und geistigen Leben ausgeschlossen hatten. In Deutschland gehört diese Praxis glücklicherweise der Vergangenheit an. Schizophrene Krankheitsprozesse schreiten auch nicht unaufhaltsam zu einer totalen Demenz fort wie neurodegenerative Erkrankungen, etwa Demenzen vom Alzheimer-Typ. Sie weisen jedoch ein hohes Maß an Vielgestaltigkeit ihrer mitunter lebenslangen Verläufe auf. Für den Fachmann ist das Wissen um die Dysfunktionen des Gehirns in der Psychose und um die neurochemischen Mechanismen medikamentöser Behandlung ebenso notwendig wie das Verständnis für die veränderte Erlebniswelt des Kranken und für die Lebensprobleme, die mit der Krankheit aufgebrochen sind.

Die Inhalte der scheinbar irrealen Erlebniswelt in der Psychose spiegeln Ängste und Verzweiflung, Hoffnungen und Freuden des Kranken wider. Manche ungewöhnlichen Symptome der Psychose sind nichts anderes als Gedanken, Phantasien oder Traumbilder, wie wir sie alle kennen, angenehmer oder unangenehmer, grotesker oder harmloser Art, nur dass der Kranke weitgehend die Fähigkeit verloren hat, sie als seine eigenen Schöpfungen wahrzunehmen.

Dieses Buch will Ärzten, Psychologen, Schizophreniekranken und ihren Angehörigen ein konzentriertes Wissen und einen Einstieg in das Verstehen der als Schizophrenie bezeichneten Erkrankungen vermitteln. Es will Wege und Formen der Behandlung, deren Wirksamkeit und Risiken aufzeigen und Hinweise zur Bewältigung der eigenen Krankheit oder zu einem hilfreichen Umgang mit einem an Schizophrenie Erkrankten geben.

Dieses Büchlein versucht, eine zusammenfassende, praxis- und verständnisnahe Darstellung, gegründet auf dem gegenwärtigen Forschungsstand, unter Verzicht auf eine Literaturdokumentation zu geben. Nur einzelne Literaturquellen, die im Text aufgenommene neue Ergebnisse und Einsichten begründen, sind hier oder in den Anmerkungen erwähnt. Wer sich intensiver über den Stand der Schizophrenieforschung orientieren will, der mag zu dem umfangreicheren Buch von H. Häfner, Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt, C.H.Beck, München, greifen, das in 4., grundlegend überarbeiteter Auflage 2017 erschien.

2. Was ist Schizophrenie?

Schizophrenie, eine Krankheit, die wir vorerst als Einheit behandeln werden, obwohl man ihr nach neuerem Wissen damit nicht gerecht wird, ist vornehmlich durch das Kernsyndrom «Wahn, Sinnestäuschungen und Denkstörungen» charakterisiert. Sie tritt in Form dieses Kernsyndroms in allen Ländern und Kulturen auf. Nur die kulturbestimmte und persönliche Ausgestaltung der Krankheit ist in stärkerem Maße individuell geprägt. Die Kulturunabhängigkeit des Kernsyndroms und die Tatsache, dass es überall, wo es Menschen gibt, in gleicher Weise auftritt, während es bisher bei keiner Tierart beobachtet wurde, führt zur Annahme, dass wir es mit einem präformierten Reaktionsmuster des menschlichen Gehirns zu tun haben. Das bedeutet nicht, dass der Schizophrenie eine einzige Ursache unterstellt würde. Vielmehr kann das beschriebene Kernsyndrom, das man auch als Psychose bezeichnet, von mehreren Grundkrankheiten angestoßen werden. Die Tatsache, dass das menschliche Gehirn nur über eine relativ kleine Zahl psychopathologischer Reaktionsmuster verfügt, die durch eine weitaus größere Zahl von Ursachen in Gestalt verschiedener Funktionsstörungen des Gehirns hervorgerufen werden, ist früh erkannt worden. Beispiele für andere präformierte Reaktionsmuster sind Depression und Demenz, die als solche auch von mehreren Grundkrankheiten angestoßen oder wie die Depression auch durch psychische Belastungen in Gang gesetzt werden können.

Wahn, Sinnestäuschungen oder Halluzinationen fasst man als «positive» Symptome zusammen. Dieser Begriff resultiert aus der Tatsache, dass sie als psychopathologische Phänomene erfahren werden, die zu den normalen psychischen Abläufen hinzutreten. Unter «negativen» Symptomen werden Minderungen normaler Leistungen verstanden, beispielsweise von Aufmerksamkeit und von emotionaler Intensität des Erlebens in Gestalt der «Affektverflachung». Auch die Minderung oder Verlangsamung von Initiative, Spontaneität, Sprache und Bewegung gelten als negative Symptome.

Eine erste Gruppe von psychotischen Symptomen sind Sinnestäuschungen. Die häufigste Form schizophrener Sinnestäuschungen ist das Hören menschlicher Stimmen. Seltener sind irreale Wahrnehmungen auf anderen Sinnesgebieten, etwa beim Sehen – wie die Halluzinationen Lauras in unserem zweiten Fallbeispiel (Abschnitt 2.2). Auf dem Höhepunkt der Psychose ist oft das Bewusstsein von Krankheit, die Einsicht in die Irrealität einzelner krankhafter Erlebnisse, nicht mehr vorhanden.

Bei den Denkstörungen unterscheidet man zwischen subjektiven Störungsmustern, etwa der unerwarteten kurzfristigen Unterbrechung des Gedankengangs, des Eindrucks, fremde Gedanken denken zu müssen oder eigene Gedanken beeinflusst oder weggenommen zu bekommen, und schließlich der Überzeugung, die eigenen Gedanken könnten die Gedanken anderer bestimmen oder ungeschützt von Fremden mitgelesen oder mitgedacht werden. Unter objektiven Denkstörungen versteht man vor allem einen mehr oder weniger erheblichen Mangel an vernünftigem Zusammenhang, der «determinierenden Tendenz» des Denkens und der grammatikalischen Gestaltung. Diese Denkstörungen werden je nach Ausmaß als Danebenreden, Ideenflucht, Zerfahrenheit oder im Extremfall als «Wortsalat» bezeichnet.

Im Erlebnisbereich der beschriebenen Symptomdimensionen kommt es oft zum Herausfallen aus der gemeinsamen Welt von Wahrnehmung, Einsicht und Kommunikation. Das macht die tiefe Verunsicherung verständlich, die schizophren Erkrankende vor allem in der ersten psychotischen Episode erleben. Es macht auch verständlich, weshalb viele Angehörige glauben, jeden Zugang zum Verständnis des Erkrankten verloren zu haben. Doch sind viele Kranke besonders nach langem Bestehen der Symptome gewissermaßen «nebendran» («doppelte Buchführung») noch zu realistischer Kommunikation und rationaler Alltagsbewältigung fähig.

Die Schizophrenie verläuft überwiegend in unregelmäßig auftretenden psychotischen Episoden. Glücklicherweise währt eine psychotische Episode zumeist nicht lange. Wenn sie frühzeitig und erfolgreich behandelt wird, bleibt sie oft nur einige Tage bis wenige Wochen bestehen. Bei etwa 20% der Kranken hat es damit sein Bewenden, d.h., es kommt nach einer psychotischen Episode weder zu Rückfällen noch zu überdauernden Folgen. Die verbleibenden 80% weisen stark unterschiedliche Verlaufsformen auf. Den meisten psychotischen Episoden folgt jeweils eine Rückkehr zur Symptomfreiheit oder auf ein geringeres Symptomniveau. Nur ein kleiner Anteil schizophrener Erkrankungen zeigt einen meist langsam fortschreitenden Verlauf, der mit einer Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Verminderung sozialer, mentaler und emotionaler Aktivitäten einhergeht. Er führt auf diese Weise allmählich zu wachsender Vereinsamung und schließlich zum Autonomieverlust mit Unterstützungsbedürftigkeit in mehreren Lebensdomänen. Diese schweren Verläufe der Schizophrenie wurden lange Zeit als charakteristisch für das Leiden angesehen. Ein entscheidender Grund dafür waren die bis um 1970 üblichen jahrelangen Anstaltsaufenthalte mit Entzug der sozialen und geistigen Anregungen. Glücklicherweise weist der Krankheitsverlauf in unseren Tagen nur in einem kleinen Teil der Krankheitsfälle einen derart schweren Verlauf und im Mittel keinen zur Verschlechterung führenden Trend mehr auf (s. Abschnitt 4.4).

Wir sind von der traditionellen Darstellung der Schizophrenie und ihrer Kernsymptomatik ausgegangen. Die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat jedoch erwiesen, dass die häufigste Symptomdimension der Schizophrenie vom Krankheitsausbruch bis in den Langzeitverlauf die Depression ist. Schizophrenie bricht meist mit depressiver Verstimmung, Angst und Unruhe aus, denen eine wachsende Zahl negativer Symptome und funktioneller Beeinträchtigung folgt, bis nach dieser sogenannten präpsychotischen Prodromalphase das erste psychotische Symptom und der Anstieg der psychotischen Episode auftreten.

Inzwischen wissen wir auch, dass der erste Kontakt eines an Schizophrenie Erkrankten mit einem Psychiater und damit der Beginn der Behandlung in den meisten Ländern, so auch in Deutschland, überwiegend erst mehrere Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit erfolgt. Der Grund für dieses Versäumnis ist nachvollziehbar. Die Krankheit wird in erster Linie aufgrund der psychotischen Symptome wahrgenommen und diagnostiziert. Ihre heute übliche Behandlung konzentriert sich auf die Bekämpfung der «lauten» Psychose. Für die Therapie der «leisen» Negativsymptomatik sind aufwendige Verfahren erforderlich, und die «stille» Depression wurde oft übersehen. In rund 75% der Fälle ist die Psychose nicht das erste, sondern das Endstadium der Prodromalphase. In etwa 70% aller schizophrenen Ersterkrankungen geht dem ersten psychotischen Symptom eine mehr als einjährige präpsychotische Prodromalphase voraus.

Durch einen verspäteten Arztkontakt zu einem Zeitpunkt, zu dem häufig bereits die sozialen Folgen, etwa Studienabbruch oder Arbeitslosigkeit, eingetreten sind, werden Chancen der Behandlung versäumt.

2.1 Wie geht man mit einem an Schizophrenie Erkrankten um?

Die unter der Diagnose Schizophrenie zusammengefassten Krankheiten lassen sich mit biologischen Messwerten noch nicht diagnostizieren. Aus diesem Grund dienen die aus der Selbstbeobachtung der Kranken mitgeteilten Erlebnisse und die vom Untersucher beobachteten Verhaltensänderungen als Grundlage der Diagnose. Eine schizophrene Erkrankung kann auf dieser Basis heute in aller Welt von gut ausgebildeten Psychiatern verlässlich diagnostiziert werden. Bei Forschungsprojekten, die eine exakte Diagnose erfordern, kommen standardisierte Interviewtechniken und neuropsychologische Messverfahren und Tests zur Anwendung.

In der Regel ist der Kranke erleichtert, wenn er seine beunruhigenden Erlebnisse einer ihm nahestehenden Person offenbaren kann. Aber nicht jeder Kranke kann sich ohne Scheu mitteilen. Die Voraussetzung, abnorme Erlebnisse, Gedanken und Gefühle mitteilen zu können, ist die Herstellung eines belastbaren Vertrauensverhältnisses. Das ist bei normalitätsnahen psychischen Störungen, etwa Angst und Depression, einfacher als beim Einstieg in die oft kommunikationsfremde Welt einer Psychose. Ein hinreichendes Maß an spürbarem Wohlwollen und Lebensnähe sowie die schlichte Absicht, dem Kranken die optimale Hilfe zuteilwerden zu lassen, ist eine Grundvoraussetzung auf Seiten des Arztes.

Der Versuch, sich dem Kranken dadurch zu nähern, dass man unter Vortäuschung gleicher Meinung seine Wahnideen teilt – ein Verfahren, das einstmals als «direkte» psychoanalytische Behandlung der Schizophrenie empfohlen wurde –, schafft keine tragfähige Beziehung. Man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Kranke trotz ihrer Psychose ein ziemlich gutes Urteilsvermögen darüber behalten, ob ihr Partner aufrichtig und verlässlich ist. Dazu gehört auch, dass dieser Partner schlicht und selbstverständlich für die Realität und ihre unvoreingenommene Bewertung eintritt, selbst wenn sich der Kranke in seinem Wahn davon verabschiedet zu haben scheint. Wesentlich ist dabei, dass er Verständnis für die tiefgreifenden Veränderungen im Innenleben des Kranken entwickelt.

Auf dem Höhepunkt der psychotischen Episode sind manche Kranke bei wachem Bewusstsein nicht mehr in der Lage, mit anderen Menschen unvoreingenommen umzugehen. Wenn man intime Gedanken, Gefühle und Handlungen so ungeschützt erlebt, als wüssten andere Menschen davon – und manchmal wird dies gerade dem Gesprächspartner oder dem Untersucher zugetraut -, so ist tiefes Misstrauen die Folge. Nicht selten fühlen sich solche Kranke als Mittelpunkt der Ereignisse und beziehen nahezu alles zumeist in negativer Bewertung auf sich. Solche Erlebnisse und der Verlust der Autonomie und der Intimität der eigenen Gedanken führen mitunter zu eigenartigen, manchmal bizarr wirkenden Veränderungen in Ausdruck, Sprache und Handlungen. Im Umgang mit dem Kranken ist dann oft ein Wechsel von Passivität und Erregung, von Zugänglichkeit und Ablehnung, der als Ambivalenz bezeichnet wird, wahrzunehmen.

2.2 Fallbeispiele[*]

Um die abstrakten Aussagen über die Krankheit Schizophrenie etwas anschaulicher zu machen, werden wir drei Krankheitsgeschichten darstellen. Sie können die Vielfalt der Krankheitsformen von Schizophrenie nicht annähernd wiedergeben, aber demjenigen das Verständnis erleichtern, der noch keinen Schizophreniekranken kennengelernt hat.

Eine paranoid-halluzinatorische Psychose mit langer präpsychotischer Prodromalphase

Der 29-jährige, zurückgezogen lebende, zuletzt als wissenschaftliche Hilfskraft in einem Forschungsprojekt zur Astrophysik beschäftigte, gehemmt wirkende junge Mann – wir nennen ihn Sergej – war als Kind eines deutschsprachigen Ingenieurehepaars in Russland aufgewachsen. Studium und Diplomprüfung für Physik hat er mit sehr guten Leistungen absolviert. Seit vier Jahren arbeitet er an einer Dissertation.

Erstmals auffällig wurde er drei Jahre vor der akuten Krankheitsphase. Er hatte den Kontakt zu seinen Kollegen vermehrt abgebrochen. Eine Physikdoktorandin im selben Projekt beobachtete, dass er im Institut oft untätig an seinem Arbeitstisch saß und traurig aus dem Fenster schaute. Als er wieder ein paar Tage weggeblieben war, besuchte sie ihn zu Hause. Sie fand ihn angezogen auf dem Bett liegend und sein Zimmer in Unordnung. Auf Vorwürfe wegen seines Nichtstuns reagierte er kaum. Immerhin erschien er danach wieder im Institut. In den darauffolgenden Wochen versuchten einige seiner Kollegen, ihn zur Intensivierung seiner Arbeit zu bewegen. Die Erfolge währten nur kurz. Er wirkte niedergeschlagen. Darauf angesprochen, meinte er, er habe sich ein Dissertationsthema geben lassen, mit dem er nie fertig werden könne. Tatsächlich hatte er seit mehreren Monaten nichts Wesentliches mehr an seiner Dissertation getan. An gemeinsamen Veranstaltungen des Instituts, etwa an den Abschlussfeiern von Doktoranden, beteiligte er sich nicht. Seine Zurückgezogenheit nahm allmählich besorgniserregende Formen an.

Als der Betreuer von Sergejs Dissertation den Rückstand realisierte, nahm er den jungen Physiker in sein Dienstzimmer mit und versuchte, die Gründe zu erfahren. Außer Selbstanklagen, dass er zu wenig gearbeitet habe und deshalb von seinen Kollegen verachtet und von den Frauen abgelehnt werde, war nichts in Erfahrung zu bringen. Der Professor bat einen Assistenten, Sergej besonders zu betreuen. Aber die Dinge entwickelten sich nicht zum Positiven. Sergej fehlte mehrfach: Er war morgens im Bett liegen geblieben.

Als sich sein Zustand weiter verschlimmerte, wurde Sergej nahegelegt, einen Psychiater aufzusuchen. Das aber tat er nicht. Zunehmend hatte Sergej die Überzeugung entwickelt, er werde vom deutschen Geheimdienst überwacht. An vielen Stellen glaubte er, Agenten zu sehen, die ihn verfolgten und häufig fotografierten. Er erklärte sich dies aus der Überzeugung, er habe am Institut unerlaubte Beobachtungen mit fremden Messwerten gemacht. Genaueres war nicht in Erfahrung zu bringen. Nachdem er mehrere Wochen nicht mehr erschienen war, besuchte ihn sein Doktorvater zu Hause. Er fand ihn vor seinem PC und einem Stoß physikalischer Publikationen sitzend. Ein teilweise verzehrtes Frühstück stand daneben. Auf Fragen nach seiner Arbeit antwortete er, sein Gesprächspartner wisse sowieso über ihn Bescheid. Aufmunternde Worte blieben wirkungslos. So entschied sich der Professor, die Eltern des Kranken anzurufen und sie zu bitten, sich ihres Sohnes anzunehmen.

Die Eltern zogen einen Arzt hinzu. Außer Anzeichen von Abmagerung fand dieser körperlich nichts Krankhaftes. Er hielt Sergej jedoch für psychisch krank und empfahl, ihn in ein psychiatrisches Krankenhaus zu bringen. Dazu wiederum war Sergej nicht bereit. Die Eltern nahmen ihn mit nach Hause. So schleppte sich die Sache bei wachsender Beunruhigung der Eltern einige Monate hin. Die Ärzte der psychiatrischen Klinik hatten versichert, man könne ihn nur mit seinem Einverständnis oder mit einer gerichtlichen Einweisung aufnehmen. Schließlich baten die Eltern jene Kollegin Sergejs, die sich schon einmal um ihn gekümmert hatte, sie bei seiner Verbringung ins Krankenhaus zu unterstützen. Es gelang ihr, Sergej zu einer freiwilligen Aufnahme zu überreden. Das war etwa drei Jahre nach den ersten Anzeichen von Depression, sinkender Leistungsfähigkeit und wachsender Zurückgezogenheit.

Der aufnehmende Psychiater erfuhr, dass Sergej schon längere Zeit überzeugt war, seine Kollegen und sein Doktorvater könnten seine Gedanken lesen. Er glaubte sich durch den Geheimdienst nicht nur beobachtet, sondern auch in seinem Denken und Handeln gelenkt wie eine Marionette. Er hörte laufend Stimmen, die über ihn urteilten und auch untereinander stritten. Er hörte heftige Vorwürfe wegen Selbstbefriedigung. Er meinte, er habe dadurch sexuelle Kraft verloren und werde deshalb keiner Frau mehr gerecht werden können. Seine Dissertation und seine berufliche Zukunft als Physiker sah er als gescheitert an.

Die klinische Behandlung, in die Sergej einwilligte, wurde mit Antipsychotika der zweiten Generation (s. Abschnitt 10.3), kognitivem Training und rehabilitativer Aktivierung seiner sozialen Kompetenz geführt. Nach sechs Wochen klinischer Behandlung war die Psychose mit Ausnahme weniger negativer Symptome (Initiativearmut und Verlangsamung) abgeklungen. Die Behandlung wurde ambulant durch Arbeitstraining, durch eine antipsychotische Erhaltungsmedikation und begleitende Psychotherapie fortgesetzt. Sergej kehrte ein Vierteljahr nach Klinikaufenthalt an seine Heimatuniversität zurück. Es gelang ihm, in weiteren zwei Jahren unter Fortführung der Behandlung seine Dissertation abzuschließen und erfolgreich zu promovieren.

Dieses Beispiel zeigt eine lange, nach Schwere und Anzahl der Symptome langsam ansteigende Prodromalphase, die ohne akuten Ausbruch in die erste psychotische Episode überging. Die Prodromalphase begann, was häufig ist, mit Niedergeschlagenheit, Initiativeverlust und Leistungsabfall, denen sich langsam ein paranoider Wahn und später eine charakteristische Vielfalt psychotischer Symptome hinzugesellten.

Akuter Krankheitsbeginn

Das zweite Fallbeispiel schildert eine akut einsetzende und eher dramatisch verlaufende Psychose.