Kann Spuren von Geistern enthalten

Kann Spuren von Geistern enthalten

Sarah Adler

Drachenmond Verlag

Für all die Dinge, die einmal von Bedeutung waren und schließlich zu Gespinsten verblasst sind: die vielen Gespenster kleiner Gegenwarten, die es nie in die Zukunft schafften.


Und für Ernie, obwohl Hunde angeblich gar nicht lesen können.

Inhalt

Teil I

Regel Nummer 1

Regel Nummer 2

Prolog

Regel Nummer 3

Regel Nummer 4

Regel Nummer 5

Regel Nummer 6

Regel Nummer 7

Regel Nummer 8

Regel Nummer 9

Regel Nummer 10

Regel Nummer 11

Regel Nummer 12

Regel Nummer 13

Regel Nummer 14

Regel Nummer 15

Regel Nummer 16

Teil II

Regel Nummer 17

Regel Nummer 18

Regel Nummer 19

Regel Nummer 20

Regel Nummer 21

Regel Nummer 22

Regel Nummer 23

Regel Nummer 24

Regel Nummer 25

Epilog

Nachwort

Über die Autorin

Bücher von Sarah Adler

Teil 1

Regel Nummer 1

Schließen Sie Ihren Geist nicht ins Herz.

Regel Nummer 2

Was auch immer Sie tun, beachten Sie unbedingt Regel Nummer Eins.

Der Junge schlief.

Während die Minuten seines fedrig weichen Schlummers verstrichen, wurden die Schatten im Raum länger. Sie krochen über den tiefgrünen Teppichboden und verfingen sich in der Dunkelheit, deren erste Ausläufer bereits unter dem Bett hervorlugten.

Finsternis machte sich breit. Ranken aus Schwärze griffen nach seiner Hand, die gerade außerhalb ihrer Reichweite über der Bettkante baumelte.

Als die Nacht hereinbrach, war vom Tosen und Brüllen des untergehenden Sonnenfeuers draußen vor dem Fenster kein Laut zu hören. Das Abendlicht liebkoste mit geräuschlosen Fingern den Horizont, wie es jeden Tag hunderte Male auf der Welt geschah. Doch schon bald würde der Sonnenuntergang einem ganz anderen Leuchten weichen.

Bis dahin aber würden noch einige Stunden verstreichen. Für den Moment herrschte kühles, nachtschwarzes Schweigen. Schweigen und ein Stückchen geborgter Sicherheit.


Der Junge schlief. Nichts schlich sich in seinen Traum.

Prolog

Still jetzt. Ich weiß, was du sagen willst. Aber keine Sorge: ich gehe noch nicht. Du und ich, wir haben Zeit.

Zeit genug, dir eine allerletzte Geschichte zu erzählen. Wo soll ich beginnen? Vermutlich am Anfang. Mit der allerersten Frage.

Wer sind wir?

Wir sind das, was niemand greifen kann. Wir sind, was sich der Welt entzieht, ein flüchtiger Widerhall des Lebens, der sich ungehört verliert. Wir sind das, was die Dämmerung preisgibt. All jenes, was man nur im Flüsterton verlauten lässt.

Wir sind die Legion der Geister.

Wir sprießen wie Pilze an dunklen, modrigen Orten – überall dort, wo Zwietracht lauert, wo das Halbfinster herrscht, wo der Tod die bleichen Finger ausstreckt, gleich einem Liebenden, der nach der Wahrheit tastet.

Wo kein Zerwürfnis herrscht, da schaffen wir es. Denn wir sind die Legion der Geister. Wir nehmen. Mehr noch: wir stehlen, entreißen, betrügen, entlocken, entführen. Und wir sind hungrig. Immerzu. Wer nährt uns, wenn die Morgendämmerung hereinbricht?

Wir sind das, was ihr am meisten fürchtet.

Wir sind.

Aber das weißt du ja bereits.

Dies ist nicht die Geschichte meines Todes. Schon klar – enttäuschend. Aber ich will ehrlich mit dir sein: die Enttäuschung ist nur ein flüchtiger Beigeschmack der Entwicklungen, die sich nach meinem Tod abspielten. Denn obwohl uns beiden ein Ende bevorsteht, das nicht unbedingt der Inbegriff des Glücks ist, bin ich doch froh, dass die Dinge genau auf diese Weise kamen und nicht anders. Schließlich muss man manchmal, so fürchte ich, erst sterben, um zu erkennen, wo man hingehört.

Dies ist meine Geschichte. Weder die meines Todes noch die meines Lebens, aber doch die meine. Und in vielerlei Hinsicht gehört sie auch dir. Sie beginnt in einer Nacht, in der die Welt nach Flieder duftet und endet an einem Nachmittag, der nach Schnee riecht. Seelen kommen darin vor, Fänger im Dunkel der Zeit, die Suche nach dem Jenseits, ein Fünkchen Freundschaft … und eine vollkommen unvernünftige Liebe, die von Anfang an keine Hoffnung auf Erfüllung hatte. Ach, nun schau doch nicht so.

Ich weiß, dass ich rührselig werde, aber so ein bisschen Gefühlsduselei ist unumgänglich, wenn ein Abschied bevorsteht.

Also beeilen wir uns. Bist du bereit? Na dann. Schließe die Augen. Stell dir vor, der Duft von Flieder kommt auf seidenen Schwingen durch das Fenster geschwebt und kitzelt dich an der Nasenspitze …

Regel Nummer 3

Zweifeln Sie niemals an Ihrer Wahrnehmung der Realität.

12. Mai, 16:42 Uhr

Gegenwart

An einem bienenschwirrenden Frühlingstag, der bereits die erste stickige Hitze des Sommers in sich trug, musste Ben sich eingestehen, dass die Welt wirklich und wahrhaftig aus den Fugen geraten war.

Es hatte eine Weile gedauert, bis er zu diesem Schluss gekommen war. Schließlich war es nicht leicht, sich von all dem zu verabschieden, was man bisher als Gewissheit angesehen hatte. Neben einer kleinen Ewigkeit an Geduld brauchte man dafür eine ganze Reihe aus Zaunpfählen, die einem eifrig zuwinkten.

Mittlerweile jedoch beschränkte sich die ungesehene Präsenz, die ihm das Leben erschwerte, nicht länger aufs Winken. Sie prügelte ihm vielmehr den gesamten Zaun um die Ohren und das Tag für Tag. Leider – und Ben bedauerte es sehr, sich dies einzugestehen – deuteten alle Indizien darauf hin, dass er irgendwann während der vergangenen Wochen … na ja, wie drückte er es am besten aus?

… plemplem geworden war. Bescheuert. Durchgeknallt. Irre. Grenzdebil, umnachtet, schwachsinnig. Und das passte ihm momentan überhaupt nicht in den Kram. Eigentlich hatte er gehofft, mit dem Wahnsinn bis nach seiner Ausbildung warten zu können. Und so war es auch, dass sich seine letzte Hoffnung an dem Gespräch festklammerte, das sich in diesem Moment abspielte. Man hofft immer dann, im Unrecht zu sein, wenn man Übles ahnt.

Während sich Ben im Kopf seine nächste Frage zurechtlegte, entwickelten seine Sinne ein Eigenleben. Sie stießen ihn von innen heraus an wie glühende Zahnstocher, um ihn mit irgendwelchen Unwichtigkeiten abzulenken. Die Küche riecht nach Donuts!, versicherte ihm sein Geruchssinn. Stimmt. Und Donuts, das musste er zugeben, waren niemals unwichtig. Aber auf pfui, aus deinen Haaren tropft noch immer Wasser! Du bist über zwei Jahrzehnte alt und hast keinen blassen Schimmer, wie man einen Föhn benutzt? hätte er gut verzichten können. Seine Haut ließ sich leider nicht einfach so ruhig stellen. Jetzt klebt auch noch das T-Shirt an mir … uäääh, ist das eklig. Ich wünsche mir das Handtuch zurück. Oder die schöne warme Dusche.

Hunger, plapperte der Magen gefräßig dazwischen. Hunger auf Donuts!

Klappe, allesamt!, fuhr er im Stillen dazwischen. Von der Antwort, die er gleich erhalten würde, hing immerhin seine gesamte geistige Gesundheit ab.

»Und, äh … du bist dir sicher, dass du den Zahnpastadeckel wieder auf die Tube gedreht hast, als du mit Zähneputzen fertig warst?«, erkundigte er sich schließlich erneut. Dabei versuchte er, einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufzusetzen und die Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Es wollte nicht recht gelingen. Vielleicht lag es daran, dass er mehrere Sekunden gebraucht hatte, um sich die Worte zurechtzulegen. Deshalb hatte sich in der Zwischenzeit eine atemlose Spannungspause gebildet.

Es folgte eine bedeutsame Stille. Diese versicherte ihm, seine Anschuldigung sei eine der haarsträubendsten, die in der langen Geschichte der Menschheit jemals ausgesprochen worden war. Linus, der an der anderen Seite des Tischs saß, kniff die Lippen zusammen, bis sie so schmal waren wie eine schmollende Mondsichel. Ein blasser Strich des Missfallens, den Ben nur allzu gut kannte.

Es war nicht immer leicht, mit Linus zusammenzuwohnen. Nicht nur deshalb, weil er Student war und somit ziemlich verfressen, sondern auch, weil es sich bei ihm um die fleischgewordene Definition eines Perfektionisten handelte. Student hin oder her, Linus würde es niemals im Leben einfallen, den Deckel nicht wieder auf die Zahnpastatube zu drehen. Abgesehen von dubiosen Tofu-Kochkünsten verwendete er seine Energie am liebsten dafür, all seine Socken nach Muster, Farbe, Länge und Stoffbeschaffenheit zu arrangieren. Und dazu auch gleich das Bücherregal, die DVD-Sammlung und den Zeitschriftenstapel im Klo zu ordnen – alphabetisch, verstand sich. Sobald Linus ins Eisfach spähte, blieb nur zu hoffen, dass sich die Erbsenpackung nicht zärtlich an das Vanilleeis schmiegte, denn es erfüllte ihn mit göttlichem Zorn, wenn sich im Kühlschrank das Essen berührte. Vermutlich wartete er in diesem Augenblick nur darauf, dass Ben den Blick abwandte, damit er endlich die Zuckerstreusel auf den Donuts sortieren konnte. Misstrauisch kniff Ben die Augen zusammen und steckte die Hand schützend in die Donuttüte, deren unnötig lautes Papierrascheln das demonstrative Schweigen brach, als er das Gebäck herauszog.

»Habe ich den Zahnpastadeckel nach dem Zähneputzen auf die Tube gedreht?«, wiederholte Linus gedehnt. Eine nervtötend engelsblonde Locke fiel ihm in die Stirn. »Hast du nach dem Duschen die Armaturen abgewischt, wie ich es dir schon hundertmal gesagt habe? Übrigens, ich weiß wirklich nicht, warum du dir immer den ganzen Donut auf einmal in den Mund stopfen musst.«

Ben schluckte angestrengt und deutete mit seinem besten und dramatischsten Todesröcheln auf die Milchpackung, die direkt neben Linus’ linker Hand stand. Sein Mitbewohner dachte nicht einmal daran, ihm das Leben zu retten. Normalerweise beeindruckten ihn Sterbegeräusche dieser Art, aber er schien sich in seiner Ehre als Zahnpastadeckelzudreher ernsthaft verletzt zu fühlen.

»Weißt du«, hustete Ben nach erfolgreichem Sieg über den Donut in seiner Speiseröhre, »du kannst ruhig zugeben, dass auch du mal schusselige Momente hast. Erbarme dich. Hab Mitleid mit mir. Ich muss unbedingt wissen, wer den Zahnpastadeckel auf dem Waschbecken liegen lassen hat! Es ist von nationaler Bedeutung. Du bist dir ganz sicher, dass du es nicht warst?«

Linus ließ ein Schnauben hören, das in einem Wettbewerb für Unmutsbekundungen den ersten Preis abgesahnt hätte. Noch vor Bens Todesatem. »Wieso fragst du nicht die einzige Person in diesem Haus, die immer noch nicht weiß, wie man eine Geschirrspülmaschine benutzt? Oder die denkt, dass abgeschleckte Löffel erst mit niedlichem flauschigem Schimmelüberzug ein appetitliches Bild abgeben?« Linus zupfte an dem Silberdelfin, der an einem dunkel­blauen Lederband um seinen Hals baumelte. Ein Silberdelfin! Noch dazu ein manisch grinsender, der sich vor einer strahlenbekrönten Sonne aufbäumte. An Ben hätte so etwas bestimmt nach verfrühter Midlife-Crisis ausgesehen, aber trotz allen Geglitzers und Gebaumels passte das Ding zu Linus. »Die einzige Person in diesem Haus, die nicht das Bad benutzen kann, ohne die Klopapierrolle aus der Halterung zu reißen. Und deren Zimmer aussieht, als hätte die CIA es nach wichtigen Beweisstücken durchwühlt. Die einzige Person im gesamten Viertel, die nicht nur in regelmäßigen Abständen ihre Handy-PIN vergisst, sondern auch noch ständig den Zettel verliert, auf dem sie sie zur Vorsicht notiert hat!«

Bis vor zwei Sätzen war Ben davon ausgegangen, Linus spräche von Anka, dem letzten Mitglied ihres infernalischen Dreiergespanns des schlecht funktionierenden Zusammenlebens. Aber langsam dämmerte ihm eine schreckliche Ahnung.

»Die einzige Person«, versetzte Linus ihm den vernichtenden Schlag, »die eine Geheimschrift erfunden hat, um ihre PIN zu verschlüsseln, weil der Zettel, auf dem sie steht, ja jeden Moment von jedermann gefunden werden könnte, weil er mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit verloren geht. Weil besagte Person so schusselig ist. Die einzige Person übrigens, die ohne Übertreibung so schusselig ist, dass sie letzte Woche nicht nur ihre PIN vergessen hat, sondern auch noch, wie man die Geheimschrift entschlüsselt! Die PIN lautet übrigens 3524. Kein Grund, mir zu danken.«

Ben verschluckte sich an seinem zweiten Donut. Daraufhin hob Linus mit gnadenloser Kälte die Augenbraue und hakte nach: »Dir ist schon klar, dass ich von dir spreche, oder?«

»Der Zettel ist nur zweimal verloren gegangen«, protestierte Ben kläglich. »Und das letzte Mal ist er wieder aufgetaucht.«

Ohne jeden weiteren Kommentar verschanzte sich Linus hinter einem dicken Wälzer, der gefühlt mehrere Tonnen wog und in dem sämtliche bekannte Mikroorganismen der Weltmeere aufgelistet standen. Ben benutzte ihn regelmäßig als Hemdenbeschwerer. Auf diese Weise konnte man sich hervorragend das Bügeln sparen und zudem auch noch seinen Mitbewohner nerven. Er zog eine Fratze. Die Ein-Mann-Festung aus Makellosigkeit, Muckis und Meeresbiologie strafte ihn mit Nichtbeachtung.

Selbstverständlich hätte er einfach gestehen können, weshalb ihm der abgeschraubte Zahnpastadeckel solche Sorgen bereitete. Aber dann hätte Linus ihn endgültig als Fall für die Klapsmühle eingestuft und Donuts hätte er ihm auch keine mehr mitgebracht. Also schlich er sich ohne ein weiteres Wort aus der Küche und stahl sich ins Bad, um sich den Zahnpastadeckel anzusehen, der noch immer so dalag wie zuvor. Gnadenlose sieben Millimeter von seiner Tube entfernt.

Ben schloss die Tür. Nach einem argwöhnischen Blick über die Schulter zog er ein Notizbuch aus der Tasche, schlug es auf und setzte einen kleinen Haken hinter den Punkt Linus verhören. Es war ein äußerst selbstzufriedener Haken. Das Interview war Teil ausgiebiger Nachforschungen, deren Professionalität nicht im Geringsten dadurch gemindert wurde, dass Bens Notizbuch ein Elefantenmuster trug. Verdächtiger leugnet sämtliche Verantwortung für Tat, hielt er fest. Im Anschluss überlegte er kurz und fügte hinzu: Schiebt Schuld stattdessen auf Ermittler, nicht ahnend, dass dieser gar nicht so chaotisch ist wie allgemein behauptet.

Kleine Gewitterstürme aus Schmerz rasten durch Bens Schädelwand, als er den Stift fallen ließ und sich beim Bücken die Stirn am Waschbecken anstieß. »Mist.« Möglicherweise ist Ermittlers Selbstbild leicht getrübt.

Nachdem er mit vorsichtigen Fingerspitzen die rasch anschwellende Beule an seinem Kopf betastet hatte, setzte er seine Ermittlungen fort. Zu diesem Zweck zog er ein Maßband unter dem Bund seiner Jogginghose hervor und versicherte sich, dass der Abstand tatsächlich noch immer sieben Millimeter betrug.

Inzwischen waren es siebeneinhalb.

Maßfehler oder kriminelle Vorgänge in Abwesenheit?, notierte er. Dann kratzte er sich nachdenklich am Kopf und überlegte, was als nächstes zu tun war. Autsch. Merke: es tut nicht gut, sich an Beulen zu kratzen.

Wenn Anka nächste Woche aus ihrem Berlinurlaub zurückkam (und er hoffte inbrünstig, die Zeit bis dahin würde schnell vergehen, denn vielleicht lagen die schleichenden Anfälle von geistiger Umnachtung allein an der Tatsache, dass er so lange mit Linus allein gewesen war), würde das seinen Kreis der Verdächtigen um eine weitere Person erweitern. Doch da sie im Moment nicht da war und sich keiner der Anwesenden für einen notorischen Zahnpastatubendeckelliegenlasser hielt, blieb die Sache eindeutig ein Fall für … die Liste. Er blätterte das Elefantennotizbuch an der passenden Stelle auf und rieb sich mit dem Radiergummiende des Bleistifts die Stirn. Kritischen Blicks musterte er die bisherigen Stichworte ungewöhnlicher Ereignisse, die ihn überhaupt erst auf den Zahnpastadeckel aufmerksam gemacht hatten.


06. Mai, 17:44-19:56 Uhr: Zimmerfenster öffnet sich fünfmal von selbst, ohne menschliches Zutun. Hört erst auf, als ich es mit Briefbeschwerer zuklemme.

08. Mai, 04:21 Uhr: Aus dem Schlaf geschreckt durch Kratzen unter der Matratze. Danach Albtraum.

08. Mai, 11:35-11:41 Uhr: Blumentöpfe in Küche zittern. Hält minutenlang an. Kein Erdbeben gemeldet.

09. Mai, 21:17 Uhr: Frisch gekaufte Erdbeeren sehen appetitlich aus, schmecken aber stark nach Schimmel und Pilzbefall. Zwecks einer zweiten Geschmacksprobe unter Linus’ Müsli gemischt. Volle Zustimmung in Form eines Brechreizes.

10. Mai, 12:55 Uhr: Flugzeuge & Flugleistungen: Ein Lehrbuch aus Rucksack verschwunden. Findet sich gegen 23:45 Uhr in Waschmaschine wieder.

11. Mai, ab 01:39 Uhr: Leises Rascheln in den Wänden bis zum Morgengrauen.

11. Mai, 07:32 Uhr: Der Briefbeschwerer fällt vom Fensterbrett.

11.-12. Mai: Fenster öffnet sich in regelmäßigen Abständen.

12. Mai, 18:31 Uhr: Zahnpastadeckel sieben bzw. siebeneinhalb Millimeter von Tube entfernt.


Ben setzte einen entschlossenen Punkt hinter den letzten Satz, zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen und wandte sich von dem Objekt seiner Verunsicherung ab. Mit der Hand auf der Klinke der Badezimmertür hielt er inne. Eine Überlegung wanderte durch seine angespannte Miene.

Dann drehte er sich abrupt um, steckte das Elefantennotizbuch in seine Hosentasche und schraubte den Deckel mit Nachdruck auf die Tube. So fest, dass er später wohl eine Rohrzange benötigen würde, um sie zu öffnen.

Vielleicht hatte sich die Sache damit erledigt.

Wahrscheinlich aber nicht.

Hätte es sich nur um die Zahnpastatube gehandelt, die verrücktspielte, wäre Ben von einer natürlichen Erklärung ausgegangen. Und wenn es nur ein unordentlicher Einbrecher war, der sich heimlich in ihre Wohnung schmuggelte, um sich an ihrem Waschbecken die Zähne zu putzen. Aber er konnte einfach nicht anders, als die Reihe von absonderlichen Vorfällen als Phänomene mit übersinnlichem Beigeschmack zu interpretieren.

Er hoffte beinahe, dass es so war. Übersinnliches bedeutete schließlich nicht zwingend, dass man total balla-balla war.

Als er eine halbe Stunde später zurück ins Badezimmer kam, war die Tube wieder geöffnet.

Spät in der Nacht ertönte ein leises Knarren.

In der kleinen, schattenbevölkerten Wohnung öffnete sich mit äußerster Behutsamkeit eine Tür. Für einen unachtsamen Beobachter wäre das anfängliche Absinken der Türklinke, die sich wie von unsichtbarer Hand bewegte, zunächst wohl unbemerkt geblieben. Dann aber tat sich nach einem Moment atemloser Stille ein Spalt auf und die Dunkelheit, die dahinter eingesperrt gewesen war, quoll ungehindert der Freiheit entgegen.

Eine bleiche Hand schob sich durch die Lücke. Ihr folgte ein Schemen, leicht schimmernd, wie von einem unirdischen Licht berührt. Lautlose Schritte bahnten sich ihren Weg durch den düsteren Flur. Das Wesen war gekommen, um Unheil anzurichten.

Als es sich mit schlafwandlerischer Sicherheit in Richtung Badezimmer bewegte, bauschte sich hinter ihm ein feiner Nebel auf, der sich erst auf den zweiten Blick als spinnwebzarter Umhang herausstellte. Wie ein Grabtuch aus vielstimmigem Geflüster wallte er über den Boden.

Dann verfing sich ein Fuß in seinem Saum. Der Umhang schlang seinen unerbittlichen Griff eng um das Bein des heimlichen Wanderers und brachte ihn zum Straucheln. Das Wesen fluchte gedämpft.

Dem nicht vorhandenen Beobachter wären an dieser Stelle drei Dinge aufgefallen: das Wesen trug einen Schlafanzug, auf dem kleine Comic-Gladiatoren reglose Zweikämpfe austrugen. Seine schlafverklebten Augen ließen sich nur mit Mühe offenhalten. Und in der Hand hielt es eine Videokamera.

Der Fuß, der sich einfach nicht aus dem Saum des Umhangs befreien wollte, brachte der Kreatur schließlich den Untergang: mit einem lauten Krachen, das durch die gesamte Wohnung hallte, legte sie einen spektakulären Bauchplatscher hin. Einen schreckstarren Moment blieb sie wie versteinert liegen, die Bettdecke, die sie sich um die Schultern gewickelt hatte und bei der es sich wohl doch nicht um ein Leichentuch handelte, hinderlich um ihre Beine geschlungen. Sie lauschte dem Krawall des Echos, das spöttisch durch die dunklen Räume hallte. Sie fluchte erneut.

Daraufhin ließ das Wesen ein beleidigtes Schniefen hören, vergewisserte sich, dass der Kamera nichts geschehen war, und rappelte sich mühsam auf. Das unirdische Licht stellte sich nun als kleines, rot glühendes Lämpchen an der Kamera heraus. In seinem Schein erstrahlten die Gesichtszüge des Nachtwandlers fratzenhaft, als dieser den Fokus auf sich selbst richtete. Seine Gesichtszüge waren albtraumhaften Abgründen gleich.

Später, wenn er sich die Aufnahme ansah, würde Ben dies überaus unvorteilhaft finden. Die Beleuchtung sorgte dafür, dass er wie ein gestörter Axtmörder wirkte.

»Heute Nacht«, flüsterte er in verschwörerischem Tonfall in die Kamera, was ihm zu diesem Zeitpunkt wie ein angemessenes Verhalten vorkam. Im Nachhinein jedoch fand er eher, dass es zu dem spinnerhaften Effekt beitrug. »Heute Nacht wird das Unbeweisbare bewiesen. Das Undenkbare denkbar. Das Übernatürliche wird ins Unternatürliche verwandelt, das Unheimliche ins Heimliche … nein, das funktioniert beides nicht. Das Geheimnis soll ja gelüftet werden, dadurch wird es schließlich nicht heimlich.« Jetzt lief er auch noch pink an, was sein Übriges zu der unvorteilhaften Gesichtsfärbung tat. »Aber dies alles ist nebensächlich, werte Zeugen dieses unfassbaren Ereignisses, das sich nun ins Fassbare wandeln wird. Unglaublich nebensächlich sogar, bedenkt man, dass dies die letzte Nachricht ist, die ich zu hinterlassen gedenke, bevor ich mich auf eine Suche begebe«, tief Luft holen, »die sehr wohl fatal ausgehen könnte. Wenn ich dabei draufgehe, ladet dieses Video bitte auf Youtube hoch. Anka, das kannst du ja machen, in einem deiner Vlogs. Aber was rede ich da – macht euch bereit. Kommt mit mir auf eine Reise ohne Wiederkehr … ins Badezimmer!«

Mit einem dramatischen Fußtritt schwang er die Tür auf. Dann hechtete er hindurch und vollführte sein berühmtes Knie-trifft-Lichtschalter-Manöver. Als er die Kamera auf die unschuldig auf dem Waschbeckenrand liegende Zahnpastatube richtete, summte er die Titelmelodie von Jaws.

»Der Deckel ist auf! Auuuuuuuuf!« Wieder Bens Gesicht, das sich in den starren Blick der Kamera schob, diesmal aufgrund der Deckenbeleuchtung weniger rot. »Vorher war er zu. Ich habe das verdammte Ding heute sechsmal zugedreht! Sechsmal. Er war zu und jetzt ist er auf! Es ist ein Wunder! Ein Mirakel! Eine Unmöglichkeit! Aber wir werden ja sehen, wie der wunderwirkende Zahnpastadeckelaufdreher das hier mag!«

Mit ausladender Geste zog er eine Rolle Klebeband unter seinem Bettdeckenumhang hervor. Voller Triumph wirbelte er es ein paarmal vor der Kamera herum. Dann klemmte Ben sich das Gerät zwischen Schulter und Wange und machte sich voll grimmiger Entschlossenheit an die Aufgabe, den Deckel zurück an seinen Platz zu drehen. Mit mehreren Umwicklungen des Bands fixierte er ihn.

Werk vollendet. Zeit für Stolz! Na bitteschön. Es war eine gute Idee gewesen, die Ereignisse mit der Kamera festzuhalten. Sie würden der unmissverständliche Beweis sein, dass er nicht verrückt wurde, sondern tatsächlich Dinge sah, die den anderen nicht auffielen. Und dass er, ganz entgegen der Behauptung gewisser Mitbewohner, ganz und gar nicht nicht chaotisch genug war, um Zahnpastadeckel herumliegen zu lassen, ohne sich daran zu erinnern. Des Effekts wegen zeigte er der Kamera ein zufriedenes Lächeln, während er die genialste Innovation der garantiert-nicht-verrückten Menschheit in die Höhe hielt. Ein bedeutsames Nicken folgte.

»Der Gedanke ist nahezu genial in seiner Simplizismi… in seiner Einfachheit. Zugeklebte Zahnpastatuben können sich auf keinen Fall von selbst öffnen. Ich werde die Tube auf dem Waschbecken platzieren, mich hier auf die Lauer legen«, damit stieg er in die Badewanne und zog den Duschvorhang halb vor sich, »und die Lage scharf beobachten. Sobald sich etwas regt – bäm!, hab’ ich es auf Band.«

Voller Erwartung wickelte er die Bettdecke enger um sich. Er zog die Knie an die Brust und starrte gespannt auf die unschuldig daliegende Erdbeer-Minz-Zahnpasta.

»Du täuschst mich nicht«, flüsterte Ben, seines Zeichens Verkehrsflugzeugführer in Ausbildung und über jede Furcht einflößende Situation erhaben. Damit stopfte er sich ein Handtuch hinter den Rücken, um eine Täuschung von Komfort zu erzeugen. Mit einem nervösen Grinsen rutschte er ein paarmal in der Wanne herum, bis er eine bequeme Position gefunden hatte, und wappnete sich für eine Nacht, in der er vor lauter Aufregung bestimmt kein Auge zutun würde.

Im nächsten Moment schlief er ein.

Ab hier übernehme wieder ich. Du kennst mich noch, oder?

Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich dir ein wenig zu Ben erkläre. In den elf Monaten, die wir zusammen verbracht haben, fand ich viele Dinge über ihn heraus. Ich will sie dir auf keinen Fall vorenthalten, doch sie würden den Rahmen meiner Erzählung bei Weitem sprengen.

Deshalb nur so viel: Ben war ein totaler Volltrottel. Und das ist er noch immer. Ich weiß, das hast du bestimmt schon selbst herausgefunden, aber ich verspreche dir, eine rettungslosere Knallbirne wirst du nirgendwo finden. Er ist und war eine unverbesserlich taube Nuss. Wirklich, absolut Matsche im Hirn, der Knabe.

Er hat mir mal erzählt, dass er als Kind viel lieber auf den Händen laufen wollte als auf den Füßen. Die einzige Erklärung, die ich mir zusammenreimen kann, ist, dass er dabei wohl ein paarmal zu oft auf den Kopf gefallen sein muss. Und möglicherweise …

… ja. Möglicherweise mochte ich ihn deshalb von der ersten Sekunde an.

Denn obwohl Ben am 13. Mai um 03:48 Uhr mit der Videokamera in der Badewanne saß und mehrere Stunden lang eine Zahnpastatube filmte, war er tatsächlich nicht so verrückt, wie er es befürchtete. Nein, ich meine es ernst. Aber das bedeutet andererseits auch nicht, dass er ganz normal war. Das sage ich nicht nur wegen der Zahnpastageschichte. Nach unserem Kennenlernen dauerte es nicht lange, bis ich die Sammlung von Tiefseebüchern fand, die er in seinem Kleiderschrank verstaute. Wer brauchte schon was zum Anziehen, wenn er stattdessen U-Boot-Baupläne in Hardcoverform horten konnte? Weitere Bände stapelten sich unter seinem Bett. Und letztendlich besaß er sogar welche, die er in der Unterwäscheschublade versteckte. Ben besaß mehr Bücher über Tiefseeforschung als ein normaler Mensch schlechte Erinnerungen an seine Schulzeit. Er kannte nicht nur den Namen jedes unterseeischen Gefährts und jedes Tauchanzugmodells – nein, denn dann hätte man ja den Eindruck gewinnen können, er sei nur ein klein wenig besessen. Stattdessen konnte er beinahe jedes Wort seiner Bücher herunterbeten, ohne ein einziges Mal einen Blick auf die Seiten werfen zu müssen!

Kurz gesagt: Ben war ein Nerd. Nachts träumte er von Anglerfischen und phosphoreszierenden Quallen. Von Unterwasserbooten, die sich behäbig ihren Weg durch unergründliche Tiefen bahnten, zwischen scharfkantigen Klippen hindurch und über Wälder aus Seetang hinweg, durch unbezwingbare Strömungen und die Schwefelausdünstungen unterirdischer Vulkane.

Und manchmal … manchmal träumte er von Wolken. Mit der Geschwindigkeit träger Güterzüge wälzten sie sich der Ferne entgegen. Dann leuchteten in seinen Gedanken Sonnenstrahlen auf, die den Horizont mit flammenden Fingern berührten und Streifen aus Farbe in die Luft malten. Begleitet vom Geräusch von Wind, der sich in den Schwingen dunkler Vögel verfing.

Deshalb hatte er sich dafür entschieden, eine Pilotenausbildung anzufangen, erzählte er mir: weil der Himmel das Gegenstück zum Meer war, voll unbegrenzter Weite, die sich erforschen lassen wollte. Blau oben, Blau unten. Und ihm gefiel der Gedanke, dass Menschen in hauchzarten Metalldosen diese Ferne bereisten und darauf hofften, dass niemandem auffallen würde, wie verschwindend klein sie im Vergleich zu all der Unendlichkeit waren. Außerdem verdiente man im Idealfall viel Geld. Und man bekam eine Uniform mit Streifen auf der Schulter.

Aber trotzdem berührten mich seine Gedanken, genau wie seine Träume. (Zumindest manche. Er hatte da zum Beispiel einen immer wiederkehrenden Traum, in dem ihm irgendeine vollbusige Superheldin bei einer feierlichen Zeremonie ihren Schlüpfer überreichte. Damit zog ich ihn, du hast es erfasst, bei jeder Gelegenheit voll Schadenfreude auf.)

Warte mal.

Lausche.

Pssst, ruhig jetzt – hörst du das?

Dieses winzige Plätschern am Rande deiner Wahrnehmung ist das Geräusch von Wassertropfen, die auf einer kühlen, glatten Oberfläche aufkommen und zerplatzen. Sollen wir nachschauen gehen, woher es kommt? Ich werde es dir verraten.