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Über dieses E-Book

Über zwanzig Jahre nach dem Selbstmord ihrer Schwester scheint Annas Leben in bester Ordnung: Sie ist erfolgreiche Anwältin und ihr Mann ein ehrgeiziger Chefarzt. Die Ereignisse von damals hat sie völlig verdrängt. Doch in ihrer Ehe kriselt es und Anna wird von immer wiederkehrenden Träumen gequält: ein dunkler Flur, ein blauer Schmetterling und das hilflose Weinen eines Mädchens lassen sie nicht mehr los.

Anna ahnt, dass die Träume mit dem Tod ihrer Schwester zu tun haben. Doch um die Wahrheit zu entschlüsseln, muss sie tief in ihr Unterbewusstsein vordringen. Scheinbar zufällig begegnet sie dem suspendierten Hauptkommissar Fritz Sander, der ihr seine Hilfe anbietet. Die beiden geraten in ein Netz aus Lügen, Korruption, Mord und Geheimnissen. Wem kann Anna noch trauen und was lauert in ihrer Erinnerung? 

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe Juni 2018

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-396-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-408-9

Covergestaltung: Rose & Chili Design
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © Irina Bg, © spline_x
Lektorat: Daniela Höhne

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Für Ayten

Kapitel 1

Sonntag, 23. Juli 2017

»Wir machen es wie gestern«, entschied Tom. »Ich den Kopter, du die Kamera.«

»Okay.« Fabian nickte und verteilte die Fernsteuerungen.

»Ist das Akkufach richtig zu?«

Fabian verzog das Gesicht. »Ja«, presste er zerknirscht zwischen den Zähnen hervor. »Das passiert mir nicht noch mal, und ich wäre dir echt dankbar, wenn du mich nicht jedes Mal dran erinnerst.«

Tom grinste.

Bei einem ihrer ersten Flugversuche hatte Fabian die Klappe vom Akkufach nicht richtig geschlossen. Ausgerechnet über einem kleinen See war es aufgesprungen und der nagelneue Quadrokopter wie ein Stein vom Himmel gefallen. Es grenzte an ein Wunder, dass er dabei nicht kaputtgegangen war.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Tom.

Fabian sah auf die Uhr. »Schätze höchstens zehn Minuten.«

»Okidoki, dann wollen wir mal. Bereit?«

Fabian nickte.

»Sieh zu und lerne vom Meister.«

Fabian verdrehte die Augen.

Die Drohne hob ab. Dabei machte sie ein leises surrendes Geräusch. Zuerst trudelte sie ein bisschen hin und her, aber schon nach kurzer Zeit hatte Tom alles im Griff und das kleine Flugobjekt gewann langsam an Höhe. Das Videosignal war stabil.

Es war sechs Uhr am Sonntagmorgen. Am Himmel stand keine einzige Wolke und das Thermometer war bereits auf zwanzig Grad geklettert. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Tom und sein bester Freund Fabian waren extra früh aufgestanden, damit sie ungestört mit ihrem Spielzeug ein paar neue Flugmanöver üben konnten. In den letzten Wochen hatten sie das Starten und Landen auf großen Freiflächen trainiert. Jetzt waren sie in der Lage, den Kopter sicher in der Luft zu halten und zu manövrieren und brannten darauf, den nächsten Schritt zu wagen: einen Flug durch eine Ruine.

Zwischen den beiden Freunden hatte sich schnell eine Arbeitsteilung herauskristallisiert. Tom war eindeutig der bessere Pilot, er bediente die beiden Joysticks. Fabian war der Fotograf und zuständig für die Kamerasteuerung und das Videostreaming.

Das Gelände war perfekt: Eine alte Strumpffabrik im Norden Kölns.

Die Bürogebäude waren bereits abgerissen worden und man hatte dort mit dem Bau eines Familienwohnparks begonnen. Die Baugrube für den ersten Bauabschnitt war ausgehoben. Montagmorgen sollte das Fundament gegossen werden.

Die stählernen Bewehrungsmatten am Boden der Baugrube, die der Verstärkung des Betons dienten, schimmerten rostrot in der frühen Morgensonne und die senkrecht stehenden Stangen für die äußeren Wandanschlüsse verliehen dem Ganzen das Aussehen eines riesigen eisernen Gerippes.

Die ehemalige Lagerhalle der Fabrik stand aber noch, halb verfallen wartete sie auf ihren Abriss. Alle Fenster waren eingeschlagen und dort, wo früher einmal die Stahltore gewesen waren, klafften jetzt große Löcher. Die Halle war der ideale Ort, um den Flug im Inneren eines Gebäudes zu üben.

Der Plan war, die Drohne auf hundert Meter Höhe steigen zu lassen, sie im Sturzflug zur Erde zurückzubringen und durch das vordere Tor in die Halle zu fliegen. Dann würde Tom versuchen, drinnen ein paar Schleifen zu drehen. Das war der schwierigste Teil, weil er für diesen Zeitraum nur über das Auge der Kamera sehen konnte. Als Letztes wollte er in Bodennähe über die Freifläche hinter der Lagerhalle bis zu der Baugrube jagen, dort noch einmal richtig hochziehen und zurückfliegen. Der Akku hielt maximal zehn Minuten, je nach Windsituation.

Tom überprüfte die Anzeigen auf der Fernbedienung und nickte zufrieden, als die Drohne die erforderliche Höhe erreicht hatte. Sie war jetzt mit bloßem Auge fast nicht mehr zu erkennen. Er zog sachte den Steuerungshebel nach vorn, nahm das Gas weg und die kleine Flugmaschine sauste im Sturzflug zur Erde hinunter.

Fabian hielt konzentriert die Luft an.

Kurz vor dem Boden lenkte Tom die Drohne gekonnt in die Horizontale und flog direkt durch das große Tor in die Halle.

»Wow«, rief er aufgedreht. Dann senkte er den Blick auf den Laptop-Monitor, denn innerhalb der Mauern hatte er keine Sicht mehr auf den Kopter. Jetzt war Fabian sein Auge.

»Mega, Alter!« Fabian war beeindruckt von den Flugkünsten seines Freundes. »Flieg mal ein bisschen im Kreis. Mal sehen, was so geht, dann kann ich ein paar schöne Aufnahmen schießen«, sagte er.

Tom nickte. Er drosselte das Tempo und ließ die Drohne in der Mitte der Halle schweben. Die Kameras, die sie verwendeten, konnten sich horizontal im 360-Grad-Radius drehen und vertikal in einem 90-Grad-Raum bewegen. Damit hatten sie einen guten Rundumblick.

Tom steuerte langsam durch die Halle. Scherben wohin das Auge reichte, ein paar alte Matratzen, ein kaputtes Kinderfahrrad, Plastiktüten, Kartons mit dem Logo der Strumpffirma. Viel Interessantes war nicht dabei.

»Geh mal ein bisschen tiefer und weiter nach rechts. Ich hab da was gesehen.«

Tom folgte den Anweisungen seines Freundes.

Beim Anblick einer toten Ratte verzog Fabian angewidert das Gesicht.

Plötzlich flog etwas Großes blitzschnell durchs Bild. Dann war es sofort wieder verschwunden.

»Was zum Teufel war das denn?«, rief Tom. »Hast du das gesehen?«

»Keine Ahnung.« Fabian starrte erschrocken auf den Monitor. »Zieh hoch!«

Tom manövrierte die Drohne unter die Decke. Von dort oben hatten sie einen besseren Überblick, aber außer Abfall und Schrott war nichts zu sehen.

»Wie viel Zeit haben wir noch?«

Fabian sah auf den Timer. »Fünf Minuten ungefähr.«

»Erkennst du irgendwas?«

»Da.« Fabian zeigte aufgeregt auf den Bildschirm.

Nur undeutlich konnten sie eine dunkle Gestalt ausmachen, die in einer Ecke kauerte.

»Vielleicht ein Obdachloser«, meinte Tom.

»Nee, zu klein für ’nen Mann. Eher ein Kind.« Fabian sah Tom an.

»Oder vielleicht ein Tier?«

»Ja«, rief Fabian aufgeregt. »Ein Bär.«

»Ein Bär?« Tom schüttelte den Kopf. »Echt jetzt?«

»Ich mein ja nur.« Fabian zog einen Schmollmund.

»Bären können nicht fliegen, Alter.«

»Vielleicht ein Drache!« Fabians Miene hellte sich auf. »Die können definitiv fliegen.«

Tom verkniff sich einen Kommentar.

Fabian war ein fantastischer Kameramann, der beste auf seinem Gebiet, fand Tom. Er hatte ein sehr gutes Auge für Details, beherrschte die Technik aus dem Effeff, kannte jedes Modell auf dem Markt und war mit allen Features vertraut, legalen und auch nicht so legalen. Was es auch war, Fabian wusste einfach alles. Aber darüber hinaus war er nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte und manchmal trieb er Tom mit seinen naiven Vorstellungen in den Wahnsinn.

»Vielleicht ist es ein Alien.«

»Ach, red doch keinen Scheiß.« Tom verlor langsam die Geduld. »Sag mir lieber, wie viel Zeit uns noch bleibt.«

»Nee, wieso?«, diesmal wollte Fabian sich nicht so abspeisen lassen. »Hab ich im Fernsehen gesehen, genau die gleiche Situation. Da sind diese Jungs, so wie wir jetzt, die stolpern in ’ner alten Lagerhalle über ein paar Alien-Typen. Die waren da drin, weil die ihr Raumschiff da geparkt hatten.«

»Werden Raumschiffe geparkt?« Tom bereute die Frage im gleichen Moment.

»Ja, logo. Flugzeuge werden ja auch geparkt, im Hangar. Und Raumschiffe sind ja nichts anderes als riesige Flugzeuge.« Und ohne Luft zu holen, sagte er: »Ich schalt jetzt den Scheinwerfer an.«

Tom griff ihm hektisch in die Fernsteuerung. »Lass das! Damit erregen wir nur unnötig Aufmerksamkeit.«

»Was soll denn schon passieren?«

»Darf ich dich daran erinnern, dass wir keine Genehmigung für den Scheiß hier haben?«

»Es ist Sonntagmorgen Viertel nach sechs, Alter. Hier ist jetzt niemand.« Fabian machte eine Pause. »Außer dem … Dings da drin. Komm schon«, bettelte er. »Mann oder Maus? Wir haben eh nur noch ein paar Minuten.«

Tom zuckte resignierend mit den Schultern. »Warum nicht?«

Fabian grinste breit, drückte einen Knopf und im Inneren der Halle blitzte ein Licht auf. Jetzt konnten sie auch von außen ihre Drohne sehen.

Dann war plötzlich der Teufel los. Ein schriller Schrei zerriss die frühmorgendliche Stille. Das Ding in der Halle war wieder in Bewegung. Tom zuckte zusammen und die Drohne geriet ins Trudeln.

»Wir werden angegriffen!«, schrie Fabian. »Raus da, Tom, los.«

Der ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem gekonnten Manöver lenkte er sein teures Spielzeug ins Freie. Adrenalin pumpte durch seine Adern. Er befand sich im Krieg. Das war viel besser als jeder Ego-Shooter. Die Augen fest auf den Monitor gerichtet, jagte er über das Gelände, flog eine Schleife um die Baugrube und drückte dann den Coming-Home-Button. Dank GPS würde die Drohne jetzt von allein zu ihm zurückkehren.

Er stieß einen erleichterten Pfiff aus.

»Wie geil war das denn? Gib mir fünf!« Tom hob den Arm und erwartete den Handschlag seines Freundes. Aber der starrte nur auf den Monitor. Tom ließ den Arm wieder sinken.

»Alter, bin ich der Meister, oder was?«

Keine Antwort.

»Hey, was ist los, Mann?«

Fabian war leichenblass und starrte noch immer auf den Monitor.

»Hallo«, Tom schippte mit den Fingern vor dem Gesicht seines Freundes. »Erde an Fabian.«

»Leiche«, war alles, was Fabian sagen konnte.

»Wie, Leiche?« Tom sah seinen Freund irritiert an. »Was soll das denn jetzt schon wieder?«

Mittlerweile war der Kopter wieder bei ihnen eingetroffen. Fabian schüttelte stumm den Kopf, nahm die Speicherkarte aus der Kamera und steckte sie in den Laptop. Dann spulte er den Film vor bis zu dem Punkt, wo die Drohne aus der Halle rausflog und auf die Baustelle zujagte. Er drückte auf Pause. Sie hatten jetzt ein Standbild aus circa drei Metern Höhe.

»Da.« Fabian zeigte auf eine Stelle am Rand der Baugrube, dort wo die Eisenstangen für die Wandanschlüsse senkrecht aus dem Boden ragten.

Erst verstand Tom nicht – dann sah er es auch.

Einen aufgespießten Körper, der rücklings über den Stangen hing.

Den Mann, der beim Anblick der Drohne hinter einem Baucontainer in Deckung gegangen war, sahen sie nicht.

Kapitel 2

Montag, 24. Juli 2017

Der Flur, in dem sie steht, ist lang und düster. Eine flackernde Lampe spendet fahles Licht. Es ist kalt und die Dunkelheit macht ihr Angst. Rechts und links gehen hölzerne Türen ab, alle geschlossen.

Etwas hat sie geweckt. Ein Rumpeln. Jetzt ist alles ganz still, nichts regt sich, kein Laut. Sie ist allein.

Dann dringen von irgendwoher dumpf Stimmen an ihr Ohr. Sie geht dem Geräusch nach. Vor einer Tür bleibt sie stehen, dahinter weint jemand leise. Vorsichtig drückt sie die Klinke, die Tür öffnet sich und grellweißes Licht blendet sie. Instinktiv schützt sie ihre Augen. Zwei Personen nehmen langsam Gestalt an. Sie starren sie mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern stumm an. Bevor sie etwas sagen kann, wird die Tür von innen zugeschlagen.

Szenenwechsel.

Sie befindet sich jetzt in einem Raum vollgestopft mit Holzkisten. Sie weiß nicht, wie sie hierhergekommen ist. Ein leuchtend blauer Schmetterling flattert aufgeregt um sie herum. Sie streckt ihre Hand aus, und er lässt sich darauf nieder. Neugierig betrachtet sie das Insekt. Er bewegt langsam die Flügel und die kleinen Beinchen kitzeln auf ihrem Handrücken. Dann beginnt es. Ein Wispern, zuerst ganz leise, als würde ihr der Falter etwas zuflüstern, dann langsam anschwellend, bis es ohrenbetäubend den ganzen Raum erfüllt: Du musst dich erinnern, du musst dich erinnern, du musst dich erinnern …

Sie gerät in Panik und beginnt zu schreien.

 

***

 

Anna saß aufrecht im Bett und keuchte. Ihr Puls raste, sie war schweißgebadet. Sie brauchte einen Moment, um das Gefühl der Panik und des Entsetzens abzuschütteln und erleichtert festzustellen, dass sie nur geträumt hatte. Schon wieder. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr: halb fünf am Morgen. Es war der 24. Juli 2017, ihr vierunddreißigster Geburtstag.

»So ein Mist«, fluchte sie leise.

Sie war jetzt hellwach, dabei hätte sie noch fast eine Stunde schlafen können, bevor ein anstrengender Tag begann.

Sie wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, dann stand sie auf und ging ins Bad.

Sie war allein zu Hause, Karl, ihr Mann, hatte Nachtschicht. Als Chefarzt kam das zwar selten vor, aber die Stationen in der Uniklinik und speziell die Neurochirurgie waren hoffnungslos unterbesetzt. Sie war daran gewöhnt. So war das Leben mit einem Arzt. Keine Feiertage, keine spontanen Kurztrips. In seiner »Freizeit« schrieb Karl Arztbriefe, erstellte Gutachten oder bereitete sich auf Vorträge vor. Von seiner Forschung ganz zu schweigen. In manchen Wochen kommunizierten sie nur über SMS.

Hätte sie gewusst, was ihr an diesem Tag noch alles bevorstand, sie wäre sicher im Bett geblieben. Stattdessen kontrollierte sie eine Stunde später, ungefähr das zehnte Mal, Abfahrtszeit und Reservierung ihres Zuges. Um neun hatte sie einen Termin in Frankfurt, zu dem sie pünktlich sein musste. Alles war gründlich geplant und nichts dem Zufall überlassen. Ihr Zug würde um Viertel vor acht am Hauptbahnhof eintreffen und von dort war es nicht mehr weit zu den Büroräumen ihres Mandanten. Selbst zu Fuß würde sie auf jeden Fall rechtzeitig ankommen.

Anna hatte kein großes Vertrauen in die Deutsche Bahn. Zu viele Nachrichten von Verspätungsmeldungen und Zugausfällen. Normalerweise fuhr sie mit dem Auto, aber ausgerechnet an diesem Wochenende hatte jemand in der Parkgarage das hintere rechte Rücklicht ihres SUVs zerstört und trotz aller Sicherheitsvorkehrungen war der Verursacher unerkannt entkommen.

Karl und Anna Wolff bewohnten seit einem Jahr eines der Penthäuser im Kranhaus Nord im Kölner Rheinauhafen.

Die Kranhäuser waren Kölns neueste architektonische Attraktion. Ihren Namen hatten die drei Kolosse erhalten, weil ein zweiteiliger Ausleger, getragen nur von einem gläsernen Treppenturm, für die optisch so spektakuläre Gebäudeform eines Krans sorgte.

Eigentlich war so ein Luxusappartement nicht Annas Stil, doch ihr Vater, Heinrich Verhoeven, ein einflussreicher und erfolgreicher Bauunternehmer, hatte ihr die Eigentumswohnung zum siebten Hochzeitstag geschenkt. In der unpersönlichen Betonwüste des Hafenquartiers fühlte sie sich aber nicht wohl. Sie träumte von einem Garten, Bäumen, grünem Gras. So war sie aufgewachsen. Karl hingegen gefiel die Wohnung. Er fand sie mehr als standesgemäß und gab überall damit an. Ein Umzug kam für ihn nicht infrage. Zumindest im Moment nicht. Er hatte andere Pläne, in die er seine Frau erst vor Kurzem eingeweiht hatte. Prof. Dr. Karl Wolff hatte sich auf den Chefarztposten einer luxuriösen Privatklinik in München beworben, ohne sie zu fragen.

»Du musst dann nicht mehr arbeiten«, hatte er geschwärmt und ihr Bilder von dem Anwesen gezeigt, in dem der Klinikleiter wohnen würde. »Ein großer Garten und genug Platz für ein paar Kinder. Das wolltest du doch immer.«

Das Gespräch endete mit Streit. Seit zwei Monaten hatten sie das Thema nicht mehr angesprochen.

Anna seufzte. Sie konnte es nicht ändern. Ihren Mann nicht und das Problem mit ihrem Auto auch nicht. Der Termin in Frankfurt war wichtig, und da Anna grundsätzlich nicht mit fremden Autos fuhr, blieb nur der Zug. Sie hatte einen lückenlosen Zeitplan recherchiert, der ausgedruckt in ihrer Handtasche steckte und der Concierge-Dienst würde sich darum kümmern, dass ihr Wagen in die Werkstatt kam. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Um kurz vor sechs stand sie vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und warf einen letzten prüfenden Blick auf ihr Äußeres. Was sie sah, gefiel ihr.

Ihr langes dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem tief sitzenden Dutt gebändigt. Das wirkte seriöser als Hochsteckfrisuren oder ein Pferdeschwanz. Ihr Lidschatten war auf ihre blauen Augen abgestimmt, die Augenbrauen ordentlich gezupft und ihren Lippen hatte Anna ein dezentes Rosa gegönnt. Nichts war unpassender, als mit einem aufdringlichen Make-up bei geschäftlichen Terminen zu erscheinen. Sie strich das Jackett ihres schwarzen Designer-Hosenanzuges glatt und drehte sich einmal um die eigene Achse. Alles saß perfekt.

Das Haustelefon summte und der Concierge-Dienst meldete, dass das Taxi soeben eingetroffen war. Anna bedankte sich und griff Mantel, Akten- und Handtasche. Es war jetzt fünf Minuten nach sechs.

Kapitel 3

»Bahnhof Deutz, bitte«, sagte Anna knapp und wartete darauf, dass der Mann losfuhr.

Der Taxifahrer, ein typischer Kölner mit gezwirbeltem Schnurrbart, drehte sich zu ihr um. »Do han mer en Problemche, junge Frau. Die Düxer Brück es jesperrt, do joov et ene Unfall. Dat kam jraad üvver Funk.«

Anna schaute den Mann konsterniert an. Obwohl sie in Köln geboren war und hier auch einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, konnte sie die schnodderige kölsche Mundart nur schlecht verstehen.

»Unfall auf der Deutzer Brücke?«, fragte sie zur Sicherheit.

»Jenau!« Der Mann nickte. »Wenn sie et iehlich han, dann done ich Sie besser zom Hauptbahnhof brenge und Sie fahre met d’r S-Bahn op de Schäl Sick. Wat meinen Sie, Fräulein?« Er lächelte freundlich.

»Können wir nicht über die Severinsbrücke fahren?«, fragte Anna. Immerhin gab es in Köln ja noch mehr Brücken, die auf die andere Rheinseite führten.

»Klar, junge Frau, ävver dat doort länger, da is ne Baustell.«

»Wie viel länger?«

»Fuffzehn Minute«, schätzte der Taxifahrer stirnrunzelnd.

Anna schaute auf die Uhr. Sie überschlug die Zeit, die ihr blieb.

»In Ordnung«, sagte sie. »Geben Sie Gas.«

Dann lehnte sie sich auf dem Rücksitz des Taxis zurück und unterdrückte ein Gähnen. Nicht nur die letzte Nacht war kurz gewesen. Seit Monaten schlief Anna zu wenig. Abgesehen von ihrem Job, der sie auf Trab hielt und ihr Arbeitszeiten von zehn oder zwölf Stunden abverlangte, quälte sie der Albtraum und stahl ihr regelmäßig ein bis zwei Stunden ihrer ohnehin kurzen Nacht. Das machte sich langsam bemerkbar.

Bisher war es ihr gelungen, konzentriert zu bleiben. Das war sie den Mandanten und der Kanzlei schuldig.

Die Frankfurter Unternehmensberatung, die sie aktuell vertrat, stand im Verdacht, Insiderinformationen über ein Übernahmeangebot für illegale Börsengeschäfte genutzt zu haben. Kommende Woche sollten die Verhandlungen beginnen. Sie hatten sich an die Kölner Kanzlei Winter & Partner gewandt, weil diese deutschlandweit den besten Ruf im Bereich Wirtschafts- und Strafrecht genoss. Anna arbeitete dort seit Anfang des Jahres und wurde bereits als zukünftige Partnerin gehandelt. Kein Wunder bei ihren Referenzen: Abitur mit Auszeichnung auf einem Eliteinternat, Prädikatsexamen in Jura mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht an Eliteuniversitäten in Deutschland und den USA, Promotion in England und einige Jahre Berufserfahrung.

Ihr Handy brummte und holte Anna zurück in die Wirklichkeit. Sie war eingenickt. Hastig warf sie einen Blick auf das Display. Ihre beste Freundin Paula hatte ihr eine Geburtstags-SMS geschickt, gespickt mit lauter Smileys, Herzchen und Sträußchen. Anna lächelte.

Paula war nicht nur ihre beste, sondern auch ihre einzige Freundin. Sie kannten sich seit der fünften Klasse. Anna hatte Paula vom ersten Moment an gemocht. Sie war frech und witzig, sprach aus, was ihr gerade in den Sinn kam und machte sich über die Konsequenzen keinerlei Gedanken. Das genaue Gegenteil von ihr selbst. Immer brav, zurückhaltend, etwas ängstlich. Paula war eine Stipendiatin oder »Stippe«, wie man die Kids nannte, die aufgrund ihrer hervorragenden Noten aufgenommen wurden, und nicht, weil sie Kinder reicher Eltern waren. Sie wurde anfangs sogar deswegen gemobbt, machte sich aber nicht viel aus den dummen Hühnern. Nachdem Susanne von Sommerfeld ihre blonde Mähne abrasieren musste, weil ihre Haare über Nacht grasgrün geworden waren, hatte Paula Ruhe. Anna lächelte bei dieser Erinnerung.

Das Taxi bog auf den Vorplatz des Deutzer Bahnhofs ein.

»Das ging ja schneller, als ich dachte«, sagte Anna mit einem Blick auf die Uhr und belohnte den Taxifahrer mit einem fürstlichen Trinkgeld.

»Man tut wat mer kann, junge Frau.« Er grinste. »Schönen Daach.«

Anna stieg aus dem Wagen. Es war schwül und laut Wetterbericht würden die Temperaturen auf über fünfunddreißig Grad klettern. Eine Hitzewelle hatte Deutschland seit Tagen fest im Griff und für heute waren Gewitter angesagt. Vielleicht brachte das etwas Abkühlung. Kurze Zeit später stand sie am Gleis und studierte die elektronische Anzeige. Der Zug hatte voraussichtlich zehn Minuten Verspätung. Anna wurde nervös, aber genau dafür hatte sie ja einen Puffer von fast einer Stunde eingebaut. Sie sah sich um. Der Bahnsteig war voll mit Berufspendlern, denn Frankfurt war mit dem ICE nur eine knappe Stunde entfernt, und die meisten der Reisenden waren entweder Banker oder Anwälte. Sie atmete tief durch. Es würde schon alles gut gehen.

Anna überlegte, wann sie das letzte Mal mit dem Zug gefahren war. Während des Studiums in England wahrscheinlich und das lag bereits einige Jahre zurück. Der Linksverkehr auf der Insel war ihr suspekt gewesen, und so hatte sie für die drei Jahre, die sie in Oxford promovierte, auf das Auto verzichtet und war auf Rad und Bahn umgestiegen. Sie lächelte bei der Erinnerung an die beschauliche Zeit im akademischen England.

Der Lautsprecher knackte und eine weibliche Bandstimme verkündete, dass für Annas ICE der zweite Zugteil mit den Ordnungsnummern 31 bis 39 heute nicht mitfuhr. Die Reisenden wurden höflich gebeten, sich bei Fragen an das Zugpersonal zu wenden.

Für die Dauer der Durchsage war es auf dem Bahnsteig mucksmäuschenstill. Jeder Einzelne lauschte konzentriert, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf die metallene Stimme. Die Situation hatte etwas Surreales. Niemand bewegte sich, als hätte eine unsichtbare Macht die Reisenden kurzfristig eingefroren.

»Wir bitten um Entschuldigung«, hieß es zum Abschluss lakonisch und sofort kam wieder Bewegung in die Wartenden. Ärgerliche Blicke zur Anzeigentafel, resignierendes Schulterzucken hier, Gemurre dort. Die Berufspendler verstanden sofort. Aber Anna war verwirrt. Was bedeutete das? Sie hatte eine Platzreservierung für die erste Klasse, Wagen 38. Und jetzt fuhr der Zug ohne diesen Waggon? Wo sollte sie denn sitzen? Sie musste sich im Zug unbedingt noch auf den Termin vorbereiten, das konnte sie ja schlecht im Stehen machen.

Sie drehte sich zu einem Mann mittleren Alters um, der direkt neben ihr stand.

»Habe ich das richtig verstanden, dass der Wagen 38 heute nicht mitfährt?«, fragte sie.

»Fürchte schon«, antwortete der Mann. »Der ganze Zugteil fehlt.«

»Das ist aber wirklich ärgerlich«, beschwerte sie sich. Sie hatte es ja gewusst, dass auf die Deutsche Bahn kein Verlass war.

Der Mann nickte. »Wo müssen Sie denn hin?«

»Nach Frankfurt. Ich habe dort einen wichtigen Termin, auf den ich mich im Zug noch vorbereiten muss. Das wird jetzt schwierig ohne Sitzplatz.«

Der Mann sah sie an.

»Sie können meinen haben, wenn Sie wollen«, bot er höflich an.

»Nein, vielen Dank«, antwortete sie, »das kann ich unmöglich annehmen. Dann müssen Sie ja stehen.«

»Das ist mir egal. Bis Frankfurt geh ich einfach einen Kaffee trinken.« Dann setzte er noch nach. »Ich bestehe drauf.«

»Vielen Dank«, gab Anna nach, »das ist sehr freundlich von Ihnen und rettet mir das Leben.« So dramatisch hatte sie eigentlich nicht klingen wollen, aber sie war wirklich froh.

»Schon gut. Einer Dame in Not helfe ich gern«, sagte der Mann mit einem Augenzwinkern und drückte ihr den Zettel mit der Reservierung in die Hand. »Wagen 23, Platz 77. Am Fenster.«

Anna wollte noch etwas erwidern, aber in dem Moment fuhr der Zug in den Bahnhof ein und jede weitere Unterhaltung wurde unmöglich. Die Reisenden drängten in Richtung der Türen in der Hoffnung, wenigstens noch einen der Stehplätze zu ergattern. Es dauerte nicht lange und Anna hatte den Mann aus den Augen verloren.

Der Zug war total überfüllt. Überall Gedränge, die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Erst ab Frankfurt würde sich die Situation deutlich entschärfen. Anna nahm ihren Platz ein, lehnte sich zurück und atmete ein paarmal tief durch. Was für ein Tag! Und er hatte noch nicht einmal richtig angefangen.

Nach einigen Minuten fuhr der ICE endlich los. Anna schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Das war leichter gesagt als getan. Noch immer schoben sich Reisende mit großen Gepäckstücken durch die ohnehin überfüllten Gänge. Eine junge Frau in Leopardenleggins, rot lackierten Fingernägeln und einer monströs toupierten Frisur, versuchte verzweifelt, einen riesigen Koffer in die Gepäckablage zu hieven. Dabei schlug sie ihre Umhängetasche Annas Nebenmann mehrfach ins Gesicht, bis der sich lauthals beschwerte. Zwei Männer eilten schließlich zu Hilfe und nach kurzer Zeit war das Problem gelöst. Die junge Frau strahlte ihre Retter dankbar an und ließ sich anschließend geräuschvoll in ihren Sitz fallen.

Erst nach fünfzehn Minuten kehrte endlich etwas Ruhe ein. Die meisten Reisenden hatten eingesehen, dass es sinnlos war, sich weiter durchzuschlagen und standen jetzt im Gang. Sie drückten konzentriert auf ihren Handys herum, in der Hoffnung, dass die Zeit dadurch schneller verging.

Anna kramte ihren Laptop aus der Aktentasche und steckte sich Ohropax in die Ohren. Während der Computer hochfuhr, blickte sie aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, die immer ländlicher wurde. Als Jugendliche war sie oft in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und über die taunassen Wiesen ihrer Allgäuer Internatsheimat gewandert. Manchmal durfte sie den Hund des Hausmeisters mitnehmen, Whiskey, eine schöne grauschwarze Border-Collie-Hündin mit einem blauen und einem braunen Auge. Anna liebte den Hund und dieser war ganz vernarrt in Anna. Sie hatte außer Paula nicht viele Freunde und die Spaziergänge mit Whiskey waren für sie immer etwas Besonderes. Sie vermisste es.

Die Erinnerung an ihren Albtraum drängte sich in ihr Bewusstsein. Sie verstand die Botschaft einfach nicht. Woran sollte sie sich erinnern? Ganz sicher hatte das irgendetwas mit ihrer Schwester Lena zu tun. Aber was genau? Und warum jetzt? Manchmal hatte sie das Gefühl, die Lösung wäre zum Greifen nah, wie der Name eines Schauspielers aus einer Fernsehserie, der einem nicht einfällt, oder vom Hund der Nachbarin. Aber sie kam nicht drauf und das quälte sie.

Paula hatte ihr geraten, einen Hypnotherapeuten aufzusuchen, um ihre Kindheitserinnerungen aufzuarbeiten.

Lass da mal einen Fachmann ran, hatte sie gesagt. Du hast sicher was verdrängt. Wäre kein Wunder bei der Vorgeschichte.

Aber Anna wollte davon nichts wissen. Der Gedanke, eine wildfremde Person in ihren Kopf zu lassen, die Kontrolle abzugeben und unter Hypnose wer weiß was zu erzählen, flößte ihr Angst ein. Vielleicht würde sie nie wieder aufwachen. Paula hatte ihr daraufhin erklärt, dass dies wohl die dümmsten Vorurteile zu dem Thema waren, die sie je gehört hatte. Aber das konnte Annas Meinung auch nicht ändern.

Du bist ein Schisser, hatte die Freundin am Ende resigniert attestiert.

Seit ein paar Tagen überlegte Anna allerdings, ob sie Paulas Rat nicht doch annehmen sollte. Nacht für Nacht der gleiche Albtraum. Bilder und Botschaften, die sie nicht verstand, Schlafentzug, der langsam an die Substanz ging: so konnte es einfach nicht weitergehen.

Anna berührte den kleinen, blauen Schmetterlings-Anhänger an ihrer Halskette. Diese hatte sie von ihrer großen Schwester zum achten Geburtstag geschenkt bekommen und seitdem nie mehr abgelegt.

Einen Tag später hatte Lena sich umgebracht.

Kapitel 4

Sie wacht an diesem Morgen auf, wie an jedem anderen Tag. Sie hat von einem Prinzen geträumt, der sie mit in sein Schloss nimmt. In Sicherheit. In Sicherheit vor ihm.

Heute hat sie Geburtstag. Es ist ihr vierzehnter.

Sie steht auf, putzt sich die Zähne, wäscht sich das Gesicht, zieht sich für die Schule an und geht hinunter in die Küche.

Die Mutter sitzt am Küchentisch und füttert den Kleinen.

»Du bist spät dran«, sagt sie ohne aufzusehen. Kein Gruß, kein Kuss, keine Gratulation.

Als sie aus der Schule kommt, fängt er sie im Hof ab.

Die Mutter ist in der Küche. Sie bereitet das Mittagessen vor.

»Herzlichen Glückwunsch, meine Schöne.« Er nimmt sie in den Arm und küsst sie auf den Mund.

Sie versteift sich und wendet den Kopf ab.

Er legt zornig die Stirn in Falten und sieht sie aus stahlblauen Augen an.

»Besser, du entspannst dich«, sagt er ruhig, aber in seinem Ton schwingt eine Drohung mit. »Heute Abend bekommst du dein Geschenk.«

»Danke«, sagt sie tonlos.

Kapitel 5

Fritz Sander hatte schlechte Laune. Seit fünf Uhr war er auf den Beinen und hatte bisher noch keinen Kaffee getrunken. Ohne Koffein bekam er Kopfschmerzen und mit Kopfschmerzen war er ungenießbar. Bis vor ein paar Monaten hatte sein Partner dafür gesorgt, dass ausreichende Mengen des schwarzen Wachmachers zur Verfügung standen, vor allem morgens. Aber das war eine gefühlte Ewigkeit her. Seitdem war er auf sich gestellt und manchmal funktionierten die simpelsten Dinge nicht.

Heute hatte sein Espressokocher endgültig den Geist aufgegeben. Den hatten ihm die Kollegen zum Dreißigsten geschenkt, zusammen mit einem Becher, auf dem einer dieser dämlichen Morgenmuffel-Sprüche stand. Den Becher hatte er schnell aus Versehen fallen lassen, aber den Kocher fast jeden Tag benutzt. Das war auch schon zehn Jahre her. Nichts war für die Ewigkeit.

Kein Kaffee um sieben war schlimm, aber kein Kaffee um fünf war die reinste Folter. Sander hatte keine Ahnung, warum er so früh wachgeworden war. Der Wecker war erst für halb sieben gestellt. Aber da er schon mal wach war, hatte er entschieden, die Observierung früher anzutreten als sonst.

Sein morgendliches Sportprogramm mit Sit-ups und Klimmzügen hatte er heute ausfallen lassen und sich direkt auf den Weg gemacht, in der Hoffnung, im Rheinauhafen eine Kaffeebude zu finden, die um die Uhrzeit schon geöffnet hatte. Aber die wenigen Läden, die es überhaupt gab, waren offenbar nicht für Hafenarbeiter gedacht, denn sie öffneten alle erst um zehn Uhr. Verdammte Snobs in ihren Luxuswohnungen! Die besaßen sicher alle funktionierende Kaffeemaschinen. Nein schlimmer. Sie besaßen Kaffeevollautomaten, die auf Knopfdruck perfekte Snobgetränke wie Latte macchiato oder Cappuccino ausspuckten.

Fritz Sander verzog das Gesicht. Kaffee trank man schwarz und heiß. Im Moment würde er aber sogar einen gepanschten Milchkaffee akzeptieren.

Eigentlich hatte er sich auf einen entspannten Observierungstag im Auto eingestellt. Rumfahren, warten, wieder rumfahren, wieder warten. Seine Zielperson war wie ein Uhrwerk: präzise und zuverlässig.

Um Punkt halb acht verließ sie morgens das Haus und fuhr zur Arbeit. Was für ein glücklicher Zufall also, dass er heute so früh auf der Lauer gelegen hatte, sonst hätte er ihren Aufbruch um kurz nach sechs gar nicht mitbekommen.

Mittagspause machte sie um eins für exakt eine Dreiviertelstunde, niemals länger, niemals kürzer. Immer allein. Montags und freitags war Sushi-Tag, dienstags und mittwochs gab es Salat, donnerstags vegetarischen Eintopf. Manchmal fiel die Mittagspause aus. Feierabend war zwischen sieben und neun Uhr abends. Ein Zwölfstundentag. Manchmal mehr, selten weniger.

Aber heute war alles anders. Und jetzt stand er schwitzend in einem völlig überfüllten Zug, ahnungslos, wohin die Reise ging – und immer noch ohne Kaffee. Andererseits war er froh, dass endlich mal Bewegung in die Sache kam. Der Fall, an dem er dran war, hatte ihn alles gekostet: seinen Job beim Kriminalkommissariat 31, Abteilung Wirtschaftskriminalität, seinen guten Ruf und seinen besten Freund und Partner. Wobei, wenn er ehrlich war, hatte die Geschichte mit Rolf eigentlich nichts mit dem Fall zu tun. Zumindest nicht direkt.

Seit vier Wochen observierte Sander seine Zielperson bereits. Eine neue Idee. Und wenn er ehrlich war, seine letzte, die er in der Sache noch hatte. Ob sie gut war, musste sich noch herausstellen. Eigentlich hatte seine Mutter ihn drauf gebracht.

»Du musst unkonventionell denken«, hatte sie ihm geraten. »Auch Gauner führen Buch. Du musst nur an der richten Stelle suchen, dann findest du die Beweise, die du brauchst.«

Den Tagesablauf seiner Zielperson kannte er mittlerweile in- und auswendig. Die Abende waren auch nicht spannender. Nach der Arbeit ging sie nach Hause, außer donnerstags, da machte sie einen Zwischenstopp von zwei Stunden in einem exklusiven Fitnessstudio. In den vergangenen vier Wochen war sie nur ein einziges Mal ausgegangen. Vorigen Freitag, mit einer Blondine, in eine der alten Punkrockbars. Das hatte ihn überrascht. Aber wahrscheinlich hatte die Blonde den Ort ausgewählt. Sie sah anders aus. Etwas kleiner, weniger luxuriös gekleidet, eher der legere Typ. Er tippte auf Journalistin oder Lehrerin. Sander fand sie auf Anhieb sympathisch, sie hatte ein offenes, ehrliches Gesicht, braune Augen und Sommersprossen, die ihr etwas Spitzbübisches verliehen. Die Blonde trank Bier, seine Zielperson Rotwein. In dieser Bar? Der schmeckte bestimmt furchtbar. Das fand sie wohl auch, denn nach dem Wein bestellte sie Whisky. Einen fünfzehn Jahre alten Laphroaig, ein schottischer Single-Malt, torfig und rauchig. Eine exzellente Wahl, fand Fritz Sander, der ein großer Fan schottischer Whiskys war.

Die beiden Frauen waren Freundinnen, das sah man gleich. Sie hockten an einem der Seitentische, hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich angeregt über etwas offenbar sehr Wichtiges. Die Musik war leider viel zu laut, um zu lauschen. Ein paar Brocken hatte er dennoch aufschnappen können, auf die er sich aber keinen Reim machen konnte. Es ging um einen Traum und um ihre Ehe, die offenbar kriselte.

Karl Wolff hieß der Ehemann seiner Zielperson, mit dem sie seit acht Jahren verheiratet war. Er war ein erfolgreicher und angesehener Chirurg der Kölner Unikliniken und er hatte gute Chancen, vielleicht der nächste Chefarzt der Neurochirurgie zu werden. Seine Überprüfung hatte rein gar nichts ergeben. Der Typ war ein Schnösel, aber sauber.

Sanders Handy klingelte und holte ihn in die Gegenwart zurück. Er fummelte es aus seiner Seitentasche, dabei fiel seine Marke auf den Boden.

»Verdammt«, murmelte er, bückte sich, um sie aufzuheben und warf gleichzeitig einen Blick auf das Display. Als er den Namen sah, runzelte er die Stirn.

Rolf Schröder. Ehemals bester Freund und Partner beim KK 31. Bis Rolf ihm die Freundin ausgespannt hatte. Nina, die blöde Kuh. Was für ein Klischee. Über ein Jahr war bereits Sendepause. Auf jeden Fall seit der Suspendierung. Er drückte den Anruf weg. Wenn’s wichtig war, würde Schröder eine Nachricht hinterlassen.

»Bist du Polizist?«

Fritz Sander schaute irritiert nach unten, denn jemand zupfte energisch an seiner Lederjacke. Ein kleiner Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

»Wie bitte?«, fragte er konsterniert.

»Bist du Polizist?«, wiederholte der Junge.

»Wie kommst du darauf?«

»Du hast eine Marke.«

Sander staunte nicht schlecht. Er sah auf die Polizeimarke, die er immer noch in der einen Hand hielt.

»Also, bist du nun Polizist oder nicht?«

»Das ist nicht so leicht zu beantworten«, antwortete er wahrheitsgemäß.

»Wieso?«

»Weil ich im Moment kein richtiger Polizist bin.«

»Was bist du dann?«

Eine gute Frage. Ein Vollidiot war er, der reingelegt worden war wie ein blutiger Anfänger. Er war wegen der Geschichte mit Rolf und Nina so abgelenkt gewesen, dass er nicht gemerkt hatte, wie die Falle über ihm zuschnappte. Jetzt war er seit neun Monaten vom Dienst suspendiert und wartete auf sein Disziplinarverfahren. Der Termin war für den 21. August angesetzt. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, um seine Vorgesetzten von seiner Unschuld zu überzeugen.

Laut sagte er: »Pass bloß auf mit den Frauen, mein kleiner Freund. Die bringen nur Unglück.«

»Mädchen sind doof«, bestätigte der Junge und nickte wissend.

Sander musste grinsen.

»Wieso hast du eine Marke, wenn du gar kein richtiger Polizist bist?«, nahm der Junge den Faden wieder auf. Er war noch nicht fertig.

»Ich bin ein richtiger Polizist«, verteidigte sich Fritz.

»Aber du hast doch gerade gesagt, du bist keiner.«

Sander verdrehte die Augen. »Was ist denn deiner Meinung nach ein richtiger Polizist?«

»Der hat eine Pistole und verhaftet Verbrecher. Hast du eine Pistole?«

»Ja.«

»Kann ich sie sehen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Hab sie nicht dabei.«

Seine Waffe und den Dienstausweis hatte Sander abgeben müssen. Die Marke hatte der diensthabende Kollege damals Gott sei Dank vergessen. Sie war ihm bei seinen privaten Ermittlungen in den letzten Monaten immer mal wieder eine große Hilfe gewesen, denn es war schwer, an Informationen heranzukommen, ohne den ganzen Polizeiapparat im Rücken.

»Richtige Polizisten haben ihre Pistole immer dabei«, dozierte der Kleine altklug. »Ich glaube, du bist doch kein richtiger.«

»Bald bin ich das aber wieder«, brummte Sander gereizt. Was war das hier? Ein Verhör?

Der Junge grinste triumphierend.

»Wann denn?«

»Wenn ich beweisen kann, dass ich reingelegt wurde.«

»Wer hat dich reingelegt?«, fragte der Junge neugierig.

Sander beugte sich zu ihm herunter und flüsterte.

»Kannst du ein Geheimnis bewahren?«

Der Junge nickte eifrig.

»Okay«, flüsterte Sander. »Böse Männer haben schlimme Dinge gemacht, und als ich ihnen auf die Schliche gekommen bin, haben sie mir eine Falle gestellt.«

Sander glaubte, so etwas wie Enttäuschung im Gesicht des Jungen zu sehen.

»Wahrscheinlich haben sie auch jemanden umgebracht«, setzte er daher noch einen drauf. »Und wenn ich nicht aufpasse, bin ich der Nächste.«

Der Junge riss erschrocken die Augen auf.

»Dann wäre es besser, wenn du deine Pistole immer dabeihast«, flüsterte er ernst.

Sander musste lächeln. »Ja, das wäre vielleicht besser.«

»Anton!« Eine Frau Anfang dreißig bahnte sich einen Weg durch die Reisenden.

»Anton, verflixt und zugenäht. Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht rumlaufen sollst.« Sie griff nach der Hand des Jungen. »Ich hoffe, er hat Sie nicht zu sehr belästigt?«, fragte sie mit einem besorgten Blick auf Sander.

»Nein, nein, schon okay. Wir haben uns nur unterhalten.« Er zwinkerte dem Jungen zu und legte verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen.

Nachdem der Kleine weg war, schaute Sander nach seiner Zielperson. Sie saß in ihrem Sitz, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Es sah aus, als wäre sie eingeschlafen.