Greten Teil 1

GRETEL

Teil 1

 

 

C. R. Schmidt

 

Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald,

es war schon finster und draußen bitterkalt.

Sie kamen an ein Häuschen

von Pfefferkuchen fein:

Wer mag der Herr wohl

von diesem Häuschen sein?

Sieh’, da schaut eine garst’ge Hexe ’raus,

sie lockt die Kinder ins kleine Zuckerhaus.

Sie stellt sich so freundlich,

o Hänsel, welche Not!

Sie will dich braten

und backt dazwischen Brot!

Und als die Hexe ins Feuer schaut hinein,

wird sie gestoßen von unserm Gretelein.

Die Hexe muss jetzt braten,

wir Kinder gehn nach Haus.

Nun ist das Märchen

von Hänsel, Gretel aus.

(Altes irdisches Kinderlied, ca. 2100 v. e. K.)

 

Danksagung

 

Wie ich erneut lernen musste, ist ein Buch niemals der Verdienst eines Einzelnen, auch wenn es oft so erscheinen mag. Mir wurde geholfen, und dafür gebührt einigen ein kleines Dankeschön.

Für Vanessa Gösch, Florian Richter und Christian Grollmann, die mir bei dieser Suche beigestanden haben.

Für Björn Sülter und alles und jeden im Verlag in Farbe und Bunt, die mir eine zweite Chance gegeben haben.

Für Lisa Reim, die sich nicht nur wirklich intensiv mit diesem Buch auseinandergesetzt hat, sondern noch einmal ein kleines Feuer für Ideen entfacht hat.

Für Hendrik Müller, der eine kleine Notrettung durchgeführt hat. Have a donut.

Für Grit Richter und Thomas Rabenstein, die aus Worten wahnsinnige Bilder gemacht haben.

Und natürlich für dich.

 

Zeitstrahl

 

2134 n. Chr.:

· Die Menschheit beginnt ihren ersten Atomkrieg, der nach einer halben Stunde wieder vorüber ist.

· Beginn des Dunklen Zeitalters.

2816 n. Chr.:

· Kalendarisches Ende des Dunklen Zeitalters.

· Erste neue Staatsgrenzen werden gezogen.

· Zwölf Ländern wird ihre Souveränität anerkannt.

2968 n. Chr.:

· Das erste Mal seit über 400 Jahren erreicht eine Stadt eine Millionenbevölkerung.

3098 n. Chr.:

· Erster bemannter Flug auf den Mond seit fast 800 Jahren.

3197 n. Chr.:

· Gründung der ersten menschlichen Stadt außerhalb des Planeten Erde auf dem Mond.

3256 n. Chr.:

· Beginn des Terraformings auf dem Planeten Mars.

3771 n. Chr.:

· Erste Millionenstadt außerhalb des Planeten Erde wird verzeichnet (Olympus Mons).

3801 n. Chr.:

· Das Team um Dr. Piotr Signayov entwickelt den Signayov-Antrieb, der Geschwindigkeiten über Lichtgeschwindigkeit erlaubt.

3819 n. Chr.:

· Erster erfolgreicher Test des Signayov-Antriebs lässt den Menschen erstmals die Milchstraße verlassen.

3987 n. Chr. / 0 n. e. K.:

· Admiral Bertrand Firth landet mit seinem Team erfolgreich auf dem Planeten Srimya.

· Menschen und Srim schütteln ihre Hände zum Beginn einer langen Periode der Kooperation.

· Beginn der neuen Zeitrechnung nach erstem Kontakt.

12 n. e. K.:

· Errichtung der ersten Schule auf Srimya.

· Srim lernen, menschliche Sprache zu sprechen und sich mit Menschen auszutauschen.

43 n. e. K.:

· Errichtung der ersten Universität auf Srimya.

111 n. e. K.:

· Erstmals wird einem Srim ein akademischer Doktortitel in Biologie anerkannt.

337 n. e. K.:

· Offizielle Gründung der Allianz zwischen Menschen und Srim auf Basis der vier Tugenden nach Dr. Selena Hawthorne.

1000 n. e. K.:

· Die Allianz umfasst vier Spezies.

· Eine fünfte wartet auf den Zuspruch des Personenstatus.

· Die Allianz lebt nun auf insgesamt 14 Planeten und umfasst 9,7 Milliarden registrierte Lebensformen mit Personenstatus.

2000 n. e. K.:

· Die Allianz umfasst 33 Spezies. Zwei haben sich nach der Erziehung zur Mündigkeit geweigert, der Allianz beizutreten und werden neutral und isoliert behandelt.

· Die Allianz lebt auf insgesamt 78 Planeten und umfasst 89,7 Milliarden registrierte Lebensformen mit Personenstatus.

2249 n. e. K.:

· Die Allianz erreicht eine Bevölkerungsgröße von 100 Milliarden registrierten Lebensformen mit Personenstatus.

2476 n. e. K.:

· Erste Ernennung eines nicht-menschlichen Papstes: Papst Innozenz XXXIV, bürgerlicher Name Srim Plesmo.

3000 n. e. K.:

· Die Allianz umfasst 89 Spezies auf insgesamt 201 Planeten.

· Bevölkerungsgröße: 149,8 Milliarden registrierte Lebensformen mit Personenstatus.

3588 n. e. K.:

· Desaster von Canis IV: Fortgeschrittenes Terraforming schlägt fehl und sorgt für den Tod von über 800 Millionen registrierten Lebensformen mit Personenstatus.

3976 n. e. K.:

· Die Zud-Zudur treten offiziell aus der Allianz aus und beginnen den Krieg mit ihr.

4000 n. e. K.:

· Die Allianz umfasst 128 Spezies auf insgesamt 318 Planeten.

· Bevölkerungsgröße: 210,4 Milliarden.

4560 n. e. K.:

· Die Zud-Offensive wird ein großer Erfolg. Bevölkerungsgröße der Allianz: 208,7 Milliarden.

4879 n. e. K.:

· Die Tote Zone-Hypothese bekommt mehr und mehr Zustimmung in akademischen Kreisen.

5000 n. e. K.:

· Die Allianz umfasst 212 Spezies auf insgesamt 365 Planeten.

· Bevölkerungsgröße: 266 Milliarden.

5115 n. e. K.:

· Aufbruch der Forschungsschiffe Hänsel und Gretel.

 

»Die Sonne lehrt alle Lebewesen die Sehnsucht nach dem Licht.

Doch es ist die Nacht, die uns alle zu den Sternen erhebt.«

Khalil Gibran

»Der Mensch allein widerstrebt der Richtung der Gravitation:

er möchte beständig nach oben – fallen.«

Friedrich Nietzsche

»Der Mensch ist ein dunkles Wesen. Er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht,

er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber.«

Johann Wolfgang von Goethe

 

Kapitel 1 – Touchdown

 

»Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Unsere Ankunft in Pistsip ist planmäßig verlaufen. Die Ortszeit beträgt 25:43 Uhr, Standardzeit 12:34 Uhr. Die Gravität beträgt eins Komma zwei Standard. Die Atmosphäre außerhalb des Schiffes ist nur für sauerstoffatmende Lebewesen geeignet. Checken Sie deshalb bitte Ihren Exo, bevor Sie das Schiff verlassen. Wir danken Ihnen für Ihren Besuch und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Jahn öffnete langsam die Augen. Die überraschend laute Ansage hatte ihn geweckt. Er zwinkerte schlaftrunken und versuchte sich an die Umgebung zu gewöhnen.

Das kleine Passagiershuttle, das er in irgendeinem namenlosen Raumhafen betreten hatte, war nicht sonderlich voll. In den zwei Sitzreihen saßen außer ihm ein gutes Dutzend Passagiere, und viele mehr hätten wohl auch nicht Platz gefunden. Das künstliche Licht reizte seine Augen.

Erst jetzt machte sich in ihm langsam das Bewusstsein darüber breit, dass er noch nie so weit von seinem Heimatplaneten entfernt gewesen war. Schemenhaft erinnerte er sich an den orangefarbenen Himmel und die scheinbar endlosen Getreidefelder, die ihn in seinem Traum heimgesucht hatten. Er rieb sich die Augen, richtete sich langsam auf und schnappte seine Reisetasche.

Ein mechanisches Klicken war zu hören. Das leichte Summen, das er seit dem Start auf dem letzten Raumhafen vernommen hatte, hörte augenblicklich auf. Die an ihn angepasste künstliche Schwerkraft im Schiff wurde aufgehoben. Jahns Körper war eigentlich 0,9 Standardgravitationseinheiten gewöhnt, weshalb der plötzliche Anstieg ihn beinahe übermannte. Er hatte in seinem Leben Adia Badis zweimal verlassen. Wie die meisten Menschen hatte er mit seinen Eltern den Heimatplaneten seiner Spezies, die Erde, besucht. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen. Die Gravitation auf der Erde hatte ihm damals schon übel mitgespielt, doch hier auf Pistsip fühlte sich jeder Schritt wie ein kleiner Marathon an. Seine Reisetasche, die er sich locker über den Rücken geworfen hatte, schien ihn auf den Boden drücken zu wollen.

Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend verließ er als letzter die Rampe des Schiffs. Die anderen Passagiere waren das offenbar schon gewohnt. Manche von ihnen trugen Exos, andere ließen sich ihre Probleme mit der Schwerkraft gar nicht erst anmerken, wenn sie sie überhaupt hatten. Als man ihm für die Reise einen Exo anbieten wollte, hatte Jahn dankend abgelehnt. Jetzt verfluchte er sich für diese Entscheidung.

 

Seine Familie war ein eher einfaches und abgeschiedenes Leben gewohnt gewesen, weit außerhalb der Machenschaften der Allianz. Jahns Vater war für die Produktion von Lebensmitteln für über drei Millionen Lebewesen mit Personenstatus verantwortlich gewesen. Seine Familie hatte zwar ab und zu Besuch von hohen Beamten der Allianz erhalten, sich ansonsten aber nie viel um die Machenschaften außerhalb von Adia Badis geschert. Das Leben dort war simpel und schön gewesen. Das ach-so-geliebte Internet, Exos, multikulturelle Gesellschaften und wilde Reisen zu den vielen Planeten der Allianz waren Jahn einfach fremd. Er und seine acht Geschwister halfen seiner Mutter im Haushalt, warteten die gigantischen Erntemaschinen gemeinsam mit seinem Vater oder jagten sich gegenseitig durch die Felder, während sie dem Gezwitscher der importierten Vogelarten lauschten.

Adia Badis beherbergte fast ausschließlich Menschen. Im Nachbardorf lebte eine Srim-Familie, die Jahn immer bestaunt, aber nie angesprochen hatte. Er hatte in der Schule Bilder von vielen Spezies der Allianz gesehen, einige von ihnen aber ebenso schnell wieder vergessen wie er sie kennengelernt hatte. Doch der Anblick, der sich ihm nun im Raumhafen bot, war für Jahn mehr als nur eine Reizüberflutung.

In einer großen, zentralen Kuppel, sicherlich so groß wie eines der Felder seines Vaters, tummelte sich eine unbeschreibbare Menge an Lebewesen mit Personenstatus. Zum allerersten Mal in seinem Leben merkte Jahn, dass er als Mensch in der Unterzahl war. Die Allianz predigte selbstverständlich Toleranz und Offenheit, und Jahn war definitiv kein Speziesist, aber die schiere Menge an unbekannten Gesichtern erdrückte ihn schier. Es gab Kreaturen in allen Größen und Formen, teils in metallene Exos gehüllt, teils in ihren herkömmlichen, fremdartigen Gestalten. Tentakeln trugen schwere Koffer, Vierbeiner liefen mit ungewöhnlicher Anmut über den matten Hallenboden und ein kleineres, froschartiges Wesen bewegte sich nur hüpfend fort. Eine Kreatur mit für Jahns Geschmack zu vielen Augen schlenderte an ihm vorbei, und nur ein gutes Drittel von ihnen musterte ihn. Er hörte eine Unmenge ihm gänzlich fremder Sprachen, das mechanische Surren von getragenen Exos, das hektische Rascheln von Papier und piepsende Geräusche von mobilen Kommunikationsgeräten aller Art. Ein gigantischer Zeitgenosse ohne Exo, aber mit einem Atemgerät – Jahn glaubte sich zu erinnern, dass es sich bei diesem Wesen um einen Lerma handelte – rempelte ihn an und warf ihm einen schnellen Fluch in einer fremden Sprache zu, während die erhöhte Schwerkraft ihn zu Boden riss. Ihm war nicht danach, wieder aufzustehen, als er sich umsah. Er wollte umkehren, sich verkriechen oder flüchten.

Jahn riss sich zusammen, stemmte sich mit viel Kraftaufwand wieder auf die Beine und kramte in der Hosentasche seiner Jeans. Er holte ein zerknülltes Stück Papier hervor, auf dem die Daten des Schiffes standen, welches er suchte. Wenn er endlich auf dieses Schiff gelangen würde, könnte er dort sicher seine Ruhe haben.

Jahn konnte seine krakelige Schrift kaum lesen. Er hob den Zettel näher an sein Gesicht und glättete das Papier.

Raumhafen Pistsip. Gate 282. Identitätscheck mit Retinascan wird erfolgen. Name des Schiffes: Gretel.

Jahn ließ seinen Blick in der Halle umherschweifen. Ein großes Schild wies auf die Gates 200-300 hin. Er nahm all seine Kraft zusammen und begann den Marsch.

 

Die Gates 270-290 waren durch das Militär abgesperrt. Der Retinascan wurde planmäßig durchgeführt. Jahn wusste immer noch nicht, für welche Art von Reise er sich gemeldet hatte, doch schien es etwas unfassbar Wichtiges zu sein. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um die Docks waren beinahe wie in Kriegszeiten. Dutzende und Aberdutzende von bis auf die Zähne bewaffneten Militärs in Krieg-Exos bewachten den kompletten Bereich. Die Kolosse in Stahlanzügen mit leuchtenden, blauen Augen hielten ihre Strahlenwaffen mit einer Hand und beobachteten still das Geschehen. Jahn hatte sich nach dem ersten Scan vor den Augen von zwei Srim-Wachen komplett entblößen müssen. Sein spärliches Gepäck wurde mit allen möglichen Scannern und Detektoren von oben bis unten durchsucht, ehe man ihn durchgelassen hatte. Er hatte sich schon vor der Reise gefragt, warum er nur vage Stichworte für seinen Auftrag erhalten hatte. In den offiziellen Papieren hatte man ihn als Sicherheitskraft engagiert. Solch ein Aufgebot an Wachen machte Jahn Sorgen.

All diese Sicherheitsvorkehrungen waren für mehr als eine simple Erkundungsreise gedacht, das spürte Jahn. Aber sogar ein Selbstmordkommando wäre ihm egal gewesen, solange er möglichst viel Distanz zwischen sich und Adia Badis brachte.

Nach dem gründlichen Check durch das Militärpersonal war er in einen Fahrstuhl gestiegen, der nun seit einer halben Minute mit hoher Geschwindigkeit abwärts fuhr. Jahn hatte die Tasche abgestellt und atmete tief durch. Durch die hohe Geschwindigkeit des Fahrstuhls fühlte es sich an, als hätte die hohe Schwerkraft des Planeten abgenommen. Vielleicht nahm die Schwerkraft in einem Fahrstuhl auch wirklich ab. Jahn hatte keine Ahnung.

Plötzlich wurde es deutlich heller. Jahn hatte vorher mit dem Gesicht zur Tür gestanden, drehte sich aber nun um. Der Schacht des Fahrstuhls war durchsichtig. Und was Jahn sah, raubte ihm vollends den Atem.

Der Fahrstuhl musste mehrere Kilometer in die Tiefe gerauscht sein. Jahn wusste, dass Pistsip nach Olympus Mons den größten Raumhafen der Allianz besaß, doch er hätte nie gedacht, hier ein Dock mit solchen Ausmaßen zu erblicken. Als er weiter nach unten fuhr und ab und zu für den Bruchteil einer Sekunde ein schwarzer Querbalken durch sein Blickfeld rauschte, öffnete sich sein Mund vor Ehrfurcht. Das Schiff, das sich vor seinen Augen präsentierte, benötigte eine ganze Menge Platz. Er legte seine Hände an die Scheibe und staunte.

Die großen Containerschiffe, die alle paar Tage die Ernten von Adia Badis abholten, waren bei weitem nicht so groß wie dieses Monstrum. Jahn war nicht sonderlich gut im Schätzen, aber das Schiff war sicherlich von der Spitze bis zum Heck einen Kilometer lang. Die ungewöhnliche Form fiel ihm als nächstes ins Auge. Vom für gewöhnlich aalglatten und stromlinienförmigen Design der meisten Allianzschiffe konnte er hier nichts entdecken. Das Schiff erinnerte Jahn an eine Rebe Weintrauben, so wie sie in den Plantagen seiner Heimat gezüchtet wurden. Ein Mittelstück diente als Verbindung für über ein Dutzend gigantischer, stählerner Kugeln, die in Reih und Glied am Schiff angeordnet waren. Jahn zählte sieben gleichgroße Kugeln auf der ihm zugewandten Seite des Schiffes, allesamt im typischen Dunkelblau der Allianz gehalten. Vorne, zumindest vermutete Jahn dort die Vorderseite, befand sich eine besonders große Kugel, die wohl das Cockpit darstellte. Am Heck des Schiffes schienen sich ebenfalls große Reaktoren für den Signayov-Antrieb zu befinden. Auf den Seiten jeder dieser großen Kugeln stand jeweils ein Buchstabe, die den Namen des Schiffes ergaben: GRETEL.

Zahllose kleine Lebewesen mit Personenstatus tummelten sich wie Ameisen um das kolossale Schiff, warteten oder schweißten an der Hülle, beluden es mit Vorräten, oder standen Schlange, um hinein zu kommen. Jahns Fahrstuhl war schon längst angekommen und die gläsernen Türen hatten sich geöffnet. All dies hatte er nicht mitbekommen, er stand noch immer wie angewurzelt da.

Dieses Schiff konnte mit Sicherheit hunderte von Lebewesen mit Personenstatus beherbergen, eher wie eine Stadt als ein Schiff. Es war kein Kolonisierungsschiff, Jahn hatte Bilder von ihnen gesehen. Für ein Kriegsschiff war es viel zu klobig. Die Allianz hatte Sicherheitspersonal für eine Forschungsreise gesucht: Länge der Reise nicht absehbar, hatte in dem Telegramm gestanden, das Jimson ihm gezeigt hatte. Nur wofür benötigte man so viel Personal?

Jahn erwachte aus seiner Trance und begann den Marsch in Richtung der Gretel. Er bemerkte das Gewicht seiner Tasche kaum.

Jahn hatte sich in die Schlange vor der großen Laderampe eingereiht. Um ihn herum warteten viele andere Gäste des Schiffes, Lebewesen verschiedenster Spezies. Jahn entdeckte auch hier nur wenige Menschen, dafür einige katzenartige Srim, einen vogelähnlichen Phlant, und einen Passagier, den er für einen Lerma hielt. Doch die meisten konnte er nicht benennen. Viele von ihnen hatte er noch nie gesehen. Er wusste, dass die Allianz mittlerweile zweihundertzwölf Spezies mit Personenstatus umfasste, und er war sich mehr als sicher, dass die meisten von ihnen hier vertreten waren. Einige hatten sich wie er als Teil des Sicherheitspersonals beworben, aber die Mehrzahl von ihnen waren vermutlich Wissenschaftler.

In der Schlange ging es nur langsam voran. Als Jahn sich dem Eingang näherte, vernahm er eine elektronische Stimme hinter sich, die wohl aus einem Selmov-Implantat stammte.

»Guten Tag«, erklang es ruhig und gelassen.

Jahn drehte sich um und erschrak kurz. Hinter ihm türmte sich ein metallener Riese auf, der sicherlich um die drei Meter maß. Jahn musste seinen Blick ganz nach oben richten, um das Wesen komplett zu sehen. Es war vollständig in Metall gehüllt, ein zylinderförmiger Körper verband vier lange Gliedmaßen miteinander. Oben auf der Konstruktion saß ein runder, schon fast pilzförmiger Kopf, dessen Form Jahn ein wenig an eine Laterne erinnerte. Es beunruhigte ihn, dass der Kopf dieses Wesens kein Gesicht hatte. Der Riese musste ein Roboter sein. Jahn hatte gehört, dass die Allianz noch immer keine sophistizierte künstliche Intelligenz entworfen hatte, aber was wusste er schon? Vielleicht hatte man endlich einen Roboter konstruiert, der sie auf dieser Reise begleiten würde. Ihm war dennoch mulmig zumute.

»Hallo«, grüßte Jahn das Ungetüm, ohne zu blinzeln.

»Ich konnte nicht anders als meinen Vordermann anzusprechen«, sagte der Riese. »Mir ist ein wenig langweilig. Ich hoffe, Sie fühlen sich dadurch nicht gestört.« Er hatte eine relativ geschlechtsneutrale, angenehme Stimme gewählt.

»Nein, nein, schon in Ordnung«, sagte Jahn etwas irritiert. »Ich bin nur ein wenig eingeschüchtert.«

»Hoffentlich nicht von meiner Präsenz«, sagte der Roboter. »Wenn ja entschuldige ich mich förmlich für meine Störung. Es war sicherlich nicht meine Intention, Ihnen Angst einzujagen.«

»Es geht mehr um das Schiff«, murmelte Jahn. »Es ist so unfassbar groß. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Sicherlich. Wenn ich mich nicht irre melden mir meine Sonarsensoren, dass der Körper des Schiffes gigantisch ist. Ein wirklich beeindruckendes Bauwerk.« Der Roboter pausierte kurz und fuhr dann fort. »Wenn ich mich vorstellen darf? Ich bin eine Tinnit-Geologie-Einheit. Meine Sensoren entdecken, dass Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mensch sind. Das ist die vorgesehene Geste zur Begrüßung, wenn ich mich nicht irre.« Der Metall-Berg streckte Jahn eine sechsfingrige Pranke entgegen, die in etwa so groß war wie ein menschlicher Kopf.

Jahn schüttelte sie zögerlich. »Ganz richtig. Mein Name ist Jahn Gwynpaine. Ich bin Teil des Sicherheitspersonals.«

»Es ist mir eine Freude Sie kennenzulernen, Mr. Gwynpaine.«

Daraufhin folgte Stille. Die Tinnit-Einheit rührte sich nicht. Erst, als sich die Schlange ein wenig bewegt hatte, machte sie einen Schritt vorwärts. Jahn tat es ihr gleich. »Ähm«, begann er, »Mr. … Tinnit-Geologie-Einheit, wissen Sie, worum es hier bei dieser Reise geht? Haben Sie irgendeine Ahnung?«

Die Tinnit-Einheit pausierte kurz, ehe sie antwortete. »Leider nein. Mir ist bekannt, dass die Umstände dieser Forschungsreise strengster Geheimhaltung unterliegen. Da man eine Geologie-Einheit engagiert hat, vermute ich trotzdem, dass es um die Erforschung fremder Planeten geht. Es ist übrigens vollkommen in Ordnung, wenn Sie mich Tinnit nennen.«

»Gut, Tinnit«, sagte Jahn. »Aber … warst du schon einmal auf einer vergleichbaren Forschungsreise? Sind diese Schiffe für gewöhnlich auch so groß? Soweit ich weiß sind die Dinger doch kleiner?«

»Durchschnittliche Forschungsschiffe der Allianz umfassen für gewöhnlich, ohne das Sicherheitspersonal, Forschungsteams von neun bis zwölf Lebewesen mit Personenstatus, wenn ich mich nicht irre. Meine momentane Hypothese beläuft sich darauf, dass mehrere Planeten auf einmal erforscht werden sollen. Diese Theorie wird durch die Anwesenheit vieler prominenter Wissenschaftler nur unterstützt. Dort hinten«, Tinnit zeigte mit seinem Arm in die Menge, »ist Dr. Demmilon Smith, wenn ich mich nicht irre. Und da vorne habe ich Dr. Murlorn Hirgins entdeckt. Hier befinden sich Physiker, Soziologen und ZADE-Beauftrage der verschiedensten Spezies der Allianz. Es ist definitiv eine Forschungsreise. Die Geheimhaltungsstufe beunruhigt mich trotzdem ein wenig.«

»Da bin ich doch mal gespannt«, fügte Jahn hinzu.

»Ich glaube, das sollten wir alle sein.« Tinnit richtete sich nun auf und stellte sich neben Jahn, der sich langsam an die Präsenz des metallenen Riesen gewöhnte. Auf eine bizarre Art und Weise empfand er die höfliche Ausdrucksweise von Tinnit inmitten des um ihn herum herrschenden Chaos ein wenig beruhigend.

Tinnit begann jedoch nicht erneut zu sprechen, ehe sie sich im Schiff befanden. Jahn rückte ihm nicht von der Seite. Einen Bekannten an Bord zu haben, so merkwürdig er auch sein mochte, spendete ihm in dieser fremden Umgebung ein wenig Trost.

 

»Name?«, fragte die Srim-Wache am Eingang des Schiffes, als Jahn endlich bei der Laderampe angelangt war. Tinnit hatten die Wachen wortlos durchgewunken.

»Jahn Gwynpaine, Sir.«

Die Wache checkte einen Padcomputer. »Hm-hm. Sicherheitspersonal. Abteil acht. Bitte stellen Sie uns ihr Gepäck bereit ehe Sie an Bord gehen, Mr. Gwynpaine.«

Jahn stellte wortlos seine Tasche vor die menschliche Wache, die neben dem Srim stand. Der Mann begann, sie gründlich zu durchsuchen. Nach einigen Sekunden holte er einen Teil von Jahns Gewehr hervor, das er in der Tasche in Einzelteilen aufbewahrte. »Ist das ein Teil einer Waffe, Mr. Gwynpaine?«, fragte die Wache.

»Ja«, antwortete er geduldig. »Eine Sminger XF-107.«

Die menschliche Wache pfiff einmal kurz und beäugte den Lauf des Gewehrs. »Tolles Ding. Sie wissen aber schon, dass Sie an Bord ihre eigene Waffe bekommen hätten, oder?«

»Ja, das wusste ich. Aber das da ist ein Glücksbringer.«

Die Srim-Wache schien einen Einfall zu haben. Er murmelte vor sich hin und schaute auf seinen Padcomputer. »Gwynpaine … Gwynpaine …« Die kleinen, gelben Augen der Wache wurden groß. »Oh Gott!«, schoss es aus ihm heraus. »Ich habe im ’net von Ihnen gelesen, Mr. Gwynpaine! Sie sind der …«

»Erwähnen Sie es bitte nicht, Sir«, unterbrach ihn Jahn. »Ich rede nicht gerne darüber, wie Sie sich vorstellen können.«

Die Wache nickte nur und flüsterte dem Menschen, der noch immer Jahns Tasche durchwühlte, etwas ins Ohr. Auch seine Augen weiteten sich. Er packte hastig alles in die Tasche, verschloss sie und gab sie Jahn zurück. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt, Sir.«

Jahn nickte ihm zu und ging hinein.

 

 

Kapitel 2 – Briefing

 

Man hatte Jahn durch einen langen Korridor zum Abteil acht geführt, in dem er stationiert war. Die Abteile waren offensichtlich die großen kugelförmigen Gebilde der Gretel. Der große Korridor in der Mitte des Schiffes, der alle Abteile verband, war nur spärlich beleuchtet und erstreckte sich endlos in beide Richtungen.

Jahn war über das künstliche Gravitationsfeld im Schiff mehr als erleichtert. Wenn er an ein Schiff dachte, so kamen ihm Gedanken an enge Räume, Messinstrumente und gepolsterte Sitze. All das hier, mit seinen sterilen, aber in angenehmen Tönen gehaltenen Wänden, wirkte weniger wie ein Schiff, sondern eher wie eine Art Akademie. Tinnit, der offenbar auch hier stationiert war, hatte ihn begrüßt und mit in einen kreisrunden Saal genommen, in dessen Mitte sich ein großer Tisch befand, der offensichtlich für Konferenzen aller Art bestimmt war. Jahn und Tinnit schienen die letzten Ankömmlinge zu sein, da alle anderen Plätze bereits von allerlei verschiedenen Gestalten besetzt waren. Jahn fühlte sich noch immer unwohl, insbesondere als er bemerkte, dass er der einzige Mensch im Raum war.

»Gwynpaine?«, fragte ihn ein hoch gewachsenes Wesen mit dünnen Gliedmaßen, das einen militärischen Exo trug. Es ging aufrecht, mit humanoiden Merkmalen, doch auch dieser Exo verfügte, neben den typischen Sensoren, wie beispielsweise Kameras, über kein wirkliches Gesicht. Jahn kannte diese Spezies nicht.

»Ja, Sir«, erwiderte er.

»Setzen Sie sich zu uns«, sagte er. Jahn tat genau das.

»Mein Name ist General Heplis Mrat«, erklärte der Militär. »Ich bin der Sicherheitschef für dieses Abteil. Sie stehen somit unter meinem Kommando.« Er schüttelte Jahns Hand. Erst jetzt erkannte Jahn, dass die komplette Haut von Heplis mit einem Exo überzogen war. Das Material war durchlässig, weshalb Jahn erkannte, dass sein Vorgesetzter von innen überwiegend aus einer halb-durchsichtigen, grünen Masse bestand.

»Den formalen Ton können wir aber ablegen«, fügte Heplis hinzu. »Für jedes Abteil sind drei Lebewesen mit Personenstatus als Sicherheitspersonal bereitgestellt worden: Du, ich und Quof hier.«

Jahn schaute zu dem riesigen Lerma, der neben Heplis saß. Lermas waren eine nicht sonderlich intelligente Spezies, die in etwa vor fünfhundert Jahren der Allianz beigetreten waren. Man fand nur selten Lerma unter Wissenschaftlern, doch der kriegerische Kodex ihrer Kultur und ihre enorme Stärke zeichnete sie als fähiges Militärpersonal aus. Quof war selbst für die Standards der Lerma ein besonders großer Zeitgenosse. Wenn Jahn Lerma mit Tieren hätte vergleichen müssen, hätte er am ehesten die Schildkröte als Beispiel genommen. Lerma waren zwar deutlich schneller, aber hatten ebenfalls einen dicken, mit einigen Stacheln versehenen Panzer auf ihrem Rücken. Der Kopf des Lerma, der einen dicken, hornähnlichen Auswuchs an seinem Kinn hatte, hing deutlich vor seinem Körper. Er hatte einen freundlichen und gelassenen Gesichtsausdruck, mit großen, dicken und mit Furchen durchzogenen Lippen.

Jahn konnte ein Selmov-Implantat sehen, das aus seinem Kopf ragte. Offenbar waren Lerma biologisch nicht in der Lage, die internationale Sprache der Allianz zu sprechen.

»Quof grüßt dich«, kam es aus seinem Selmov-Implantat. »Quof freut sich, JAHN GWYNPAINE