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Roland Zingerle

Der Strecker von Welzenegg

Klagenfurter Kneipen-Krimi Nr. 5

 

 

 

 

 

Prolog

 

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Großhandelsvertreter Hubert Pogatschnig und der Bierführer-Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Gruppeninspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt…

Mittwoch, 19.30 Uhr, ein Wirtshaus in der Ankershoferstraße, Klagenfurt.

 

In einem Wirtshaus in der Ankershoferstraße herrschte Geburtstagsstimmung: fröhliche Gesichter, ausgelassenes Gelächter, Livemusik im Hintergrund und keine Sorgen weit und breit. Der Kameraschwenk endete bei einem Reporter und gleichzeitig mit ihm erschien ein Informationsbalken als Fußzeile des Bildschirms, in dem sein Name, jener der Sendung sowie der Titel des Beitrags eingeblendet wurde: „‚Mister Münze’ wird 65.“

Der Moderator wartete, bis die Kamera zum Stillstand gekommen war, dann begann er zu sprechen:

„Die meisten Menschen führen ihr Leben wie einen Slalomkurs zwischen den Hindernissen hindurch. Nicht so Walter Tschernutter. Er hat Zeit seines Lebens sein Glück dem Zufall überlassen. Und er wird heute 65.“

Walter Tschernutter kam ins Bild. Er war korpulent, hatte schütteres, graues Haar und strahlte Zufriedenheit und Ruhe aus. Seine rechte Hand ruhte in der Tasche seines Gilets. Der Reporter hielt sich selbst das Mikrofon unter die Nase und begann mit dem Interview:

„Walter Tschernutter, Sie sind ja landauf, landab bekannt für Ihre – nun ja, man könnte fast sagen: Marotte. Worum geht es dabei?“

Das Mikrofon wechselte die Nasen.

„Eine Marotte ist das ganz und gar nicht.“ Walter Tschernutter lachte. Man merkte ihm an, dass er heute nicht zum ersten Mal vor einer Kamera stand, und man merkte ihm an, dass er das genoss. „Ich habe vielmehr mein Schicksal meiner Glücksmünze anvertraut.“ Seine rechte Hand schlüpfte aus der Gilet-Tasche und hielt eine alte, abgegriffene 1-Schilling-Münze vor die Kamera. „Wann immer ich eine Entscheidung zu treffen habe, werfe ich diese Münze. Liegt der Einser oben, bedeutet das ‚ja’, liegt das Edelweiß oben, bedeutet das ‚nein’.“ Passend zu seinen Worten drehte er den braunen Schilling hin und her, so dass die jeweils beschriebene Seite zu sehen war.

„Man nennt Sie ja deshalb auch den ‚Münzwerfer’“, erläuterte der Reporter, ehe er weiterfragte: „Und das funktioniert? Sie haben noch nie eine Entscheidung bereut?“

Walter Tschernutter schüttelte entschieden den Kopf.

„Noch niemals“, behauptete er. „Es geht ja nicht nur um Ja-Nein-Entscheidungen, ich verwende die Münze in allen Lebenslagen: Angenommen, ich muss mich zwischen zwei Dingen entscheiden. Dann bestimme ich vorher, welche Seite was bedeutet, werfe die Münze…“

„… und Sie halten sich an die Entscheidung der Münze?“, fragte der Interviewer dazwischen.

„Immer!“, erwiderte der Münzwerfer mit einem gewichtigen Kopfnicken.

„Ist das Aberglaube?“

„Das glauben alle, aber die Antwort ist: ‚nein’. Mein Schicksal spricht durch meine Glücksmünze zu mir! Die Entscheidung mag mir gefallen oder nicht, ich muss sie schlucken. Denn wenn ich das auch nur ein einziges Mal nicht täte, wären alle bisherigen Entscheidungen Unfug gewesen.“

„Wie ist es eigentlich dazu gekommen?“, fragte der Reporter.

Walter Tschernutter holte tief Luft. Seine Augen blickten schräg nach oben, als stünde dort der Text, den er nun sagen wollte:

„Im Jahr 1960 kam ich als ausgelernter Flexograf zur ‚Münze Österreich’…“

Der Reporter fiel ihm ins Wort:

„Ein Flexograf ist…?“

„...ein Stempelmacher“, erwiderte Tschernutter kurz und fuhr fort: „Ich war dort bis zu meiner Pensionierung mitverantwortlich für die Gestaltung und Herstellung von Münzen, Medaillen und so weiter. Bei meiner Einschulung auf die Prägemaschine habe ich mir eine meiner ersten selbstgeprägten 1-Schilling-Münzen behalten. Ich habe sie heimlich gegen einen alten Schilling ausgetauscht, den ich bei mir gehabt hatte.“

„Und das ist Ihre Glücksmünze?“

Walter Tschernutter nickte.

„Das ist meine Glücksmünze. Seither trage ich sie immer bei mir und verwende sie regelmäßig.“

„Man könnte also sagen, dass diese Münze Ihr Leben bestimmt hat?“ Der Interviewer schien auf etwas ganz bestimmtes hinaus zu wollen.

„Ja, absolut“, erwiderte Tschernutter. „Für mich ist das kein Spiel. Ich habe ganz wichtige Entscheidungen mit der Münze getroffen, zum Beispiel, ob ich meine jetzige Frau heiraten sollte.“

„Haben Sie das ‚Ja’ der Münze auf diese Frage hin je bereut?“ Der Stimme des Reporters war anzuhören, dass er grinste.

„Nicht einen Tag“, antwortete der Münzwerfer, „ganz im Gegenteil!“

„Na, dann schlage ich vor, Sie fordern für uns einmal Ihr Schicksal heraus – werden Sie heute noch ein Bier trinken: ja oder nein?“

Walter Tschernutter lächelte, holte seine Glücksmünze wieder ins Bild, schleuderte sie mit dem Daumen nach oben, fing sie mit der rechten Hand wieder auf, klatschte sie auf den Rücken seiner linken Hand, zog die Rechte weg und sagte:

„Ja!“

Unter dem Gelächter des Münzwerfers und des Moderators zoomte die Kamera auf die Münze hin, so dass die Fernseh-Zuseher gut die oben liegende Eins erkennen konnten.

Mittwoch, 22.45 Uhr, Flughafen Klagenfurt.

 

Die Maschine aus Frankfurt am Main setzte pünktlich am Klagenfurter Flughafen auf. Unter den Passagieren befand sich ein Mann Mitte dreißig, der khakifarbene Shorts und Sandalen trug. Sein braunes Hemd war so weit offen, dass das Kleidungsstück lose um seinen Oberkörper zu schlabbern schien. Er sagte nichts, als ihn die Chefstewardess am Ausstieg verabschiedete, er hatte den ganzen Flug über nichts gesagt. Er trat nur auf die Gangway hinaus und blieb dann stehen. Es war diese hässliche Narbe, die sich von seinem linken Wangenknochen bis zur Mitte des Halses hinabzog, die seinem ernsten Blick etwas Hartes, Bedrohliches gab; eine Narbe, die nicht einmal sein grober, dunkler Stoppelbart zu überdecken vermochte.

Der Mann sah sich um und taxierte das Gelände. Die Fluggäste hinter sich ließ er warten. Dann schulterte er den Seesack, den er sich beim Einchecken nicht hatte abnehmen lassen, und ging gemessenen, aber festen Schrittes die Stufen hinunter. Jede seiner Bewegungen schien überlegt zu sein; er schien jede Konsequenz zu bedenken, die sich aus ihnen ergeben könnte. Er durchschritt die Ankunftshalle, ließ das Gepäckband links liegen. Was ihm gehörte, das trug er bei sich.

Als die gläsernen Schiebetore den Ausgang des Flughafengebäudes frei gaben, blieb er erneut stehen. Während er stumm und ernst die Parkfläche überblickte, angelte seine freie Hand eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes. Er trat einen Schritt nach vorne, ließ zu, dass sich die Schiebetüren hinter ihm schlossen, und stellte den Seesack ab. Er brauchte seine zweite Hand, wenn er sich einen Sargnagel aus der Packung klopfen und anzünden wollte. Als das getan war, schulterte er sein Gepäck und ging seiner Wege. – Das hieß: Er wollte seiner Wege gehen.

„Entschuldigen Sie!“

Der Mann hielt inne. Die Stimme war weiblich. Jung. Freundlich. Etwa 1,5 Meter hinter ihm. Langsam wandte er sich um. Eine Stewardess stand zwischen den Schiebetoren und hielt bedeutungsvoll ein kleines Büchlein hoch.

„Haben Sie Ihren Reisepass verloren?“

Er sah ihr lange und ausdruckslos in die Augen, während der Rauch seiner Zigarette unheilschwanger in der Furche in seinem Gesicht nach oben kroch. Sein Reisepass steckte für gewöhnlich in seiner Brusttasche, möglich, dass er ihn vorhin aus Versehen mit der Zigarettenpackung herausgezogen hatte.

Die Stewardess beschlich ein vages Gefühl der Angst. In dem Versuch, die Situation zu entschärfen, faltete sie den Pass auf, warf einen Blick hinein und fragte:

„Sie sind doch Karl-Gustav Schmitt?“

„Ja“, erwiderte der Fremde kurz, „aber ohne Bindestrich zwischen den Vornamen.“

„Woher … woher wollen Sie wissen, ob ich Ihren Namen mit oder ohne Bindestrich ausgesprochen habe?“

Mit einer raschen Bewegung rupfte der Mann ihr den Pass aus der Hand und steckte ihn in seine Hemdtasche zurück.

„Tun alle“, sagte er. Dann wandte er sich ab und ging ohne ein Wort des Dankes davon.

Normalerweise wäre die Stewardess über einen solchen Akt der Unhöflichkeit empört gewesen. Aber in diesem Fall war sie froh, dass sich Karl Gustav Schmitt von ihr entfernte. Mehr noch: Sie hoffte inständig, er würde sie möglichst rasch vergessen.

Donnerstag, 11 Uhr, Sicherheitszentrum Klagenfurt.

 

Seit Wochen blieb der Regen aus. Zwar drängten sich immer wieder dicke Wolkenbänke vor die Sonne, doch fiel nicht ein einziger Tropfen in den Staub der Stadt herab. Das Klima war drückend schwül geworden; so schwül, dass die Anzahl ambulanter Kreislaufpatienten ebenso sprunghaft nach oben schnellte wie jene der Verletzten durch gewalttätige Auseinandersetzungen. Die Menschen wurden krank; die Menschen wurden aggressiv.

 

Gruppeninspektor Leopold Ogris hatte die Jalousien seines Bürofensters fast zur Gänze geschlossen, um das Zimmer gegen die direkte Sonneneinstrahlung abzuschirmen. Entsprechend düster war es in seinem Büro, wenn auch nicht so düster, wie in seiner Seele. Er überarbeitete den Dienstplan für den kommenden Monat. Inspektor Otto Pertel hatte ihn zusammengeschustert und wie üblich passte da vorne und hinten nichts: schulungsbedingte Abwesenheiten, Krankenstände, Sonderwünsche einzelner Kollegen – ein Dienstplan konnte nie ausgewogen gestaltet werden und jetzt kamen auch noch diese verdammten Sommermonate verschärfend hinzu! Doch das schlimmste waren die ständigen Unterbrechungen! Bei jedem Läuten seines Telefons, bei jedem Klopfen an seiner Tür, verlor er den Faden und musste sich anschließend von Neuem einlesen.

 

Und natürlich pochte es ausgerechnet jetzt zaghaft an seine Tür.

„Herein!“, brüllte der Gruppeninspektor, und klang dabei so gar nicht nach einem Menschen.

Das Klopfen verstummte augenblicklich, doch die Tür blieb geschlossen. Wer immer da draußen unschlüssig gewesen war, ob er anklopfen sollte, wusste nun, dass er es nicht hätte tun sollen.

„Herein!!“, brüllte Ogris nochmals, und diesmal sogar mit zwei Rufzeichen. Schließlich öffnete sich die Tür wie in Zeitlupe und herein kam – „Das Deppen-Duo! – Nein! – Nicht heute! – Nicht jetzt! – Nicht … in diesem Leben!“ Der Polizist fühlte, wie er unaufhaltsam auf die Grenze des für ihn Erträglichen zuraste.

Ludwig Melischnig schlapfte in das Büro herein und ließ sich wie ein schweißnasser Sack in den Sessel fallen, der dem Gruppeninspektor gegenüber stand. Ogris war dermaßen überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der dieser Lackel sein Büro als Wohnzimmer betrachtete, dass jeder Gebrüll auslösende Gedanke wie weggeblasen war. Hubert Pogatschnig hingegen war ungewohnt unsicher: Sein Kopf erschien in der Tür und blickte sich um. Erst dann stahl sich sein ganzer Rest herein. Sein Verhalten erinnerte Gruppeninspektor Ogris irgendwie an das einer Maus.

„Was … was ist denn mit Euch los?“, fragte der Gruppeninspektor.

Melischnig schüttelte herzhaft gähnend den Kopf und entgegnete mit weit aufgesperrtem Rachen:

„Nichts! Nur eine kapitale Urlaubsmüdigkeit. Gestern Nacht war ich so müde, dass ich geträumt habe, ich schlafe ein.“

„Urlaubsmüdigkeit?“, fragte Gruppeninspektor Ogris zurück, und Melischnig erklärte:

„Wir zwei haben Wochen Urlaub.“

„Hä?“

„Äh – ich meine: Wir zwei … zwei Wochen …“, dabei wedelte sein Zeigefinger zwischen sich und Pogatschnig hin und her.

„Und den verbringt ihr … gemeinsam?“ Gruppeninspektor Ogris’ Stimme verriet Unglauben.

„Ja“, nickte Melischnig.

„Und wohin fährt das Ehepaar heuer?“ Der Gruppeninspektor konnte sein Grinsen zwar verhalten, es sich aber nicht verkneifen.

Melischnig zog unverständig die Augenbrauen zusammen:

„Welches Ehepaar?“

„Nirgendwohin“, schaltete sich Pogatschnig nun ein, um die Sache abzukürzen.

„Wozu auch? Von Frauen haben wir erst einmal genug (siehe: „Klagenfurter Kneipen Krimi Nr. 4: Giftschwestern“.), und außerdem ist es in Kärnten so schön, dass viele Leute extra von weit her anreisen, um hier sein zu dürfen.“ Pogatschnigs Finger half wieder einmal seinem Nasenfahrrad, den hohen Zinken zu erklimmen. Er seufzte. „Ich … ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihnen sagen soll, warum wir hier sind“, begann er.

„Flott wäre mir lieb“, erwiderte der Gruppeninspektor nüchtern, „mit drei ‚T’, wenn’s geht!“

Hubert Pogatschnig sah den Polizisten mit derselben Zaghaftigkeit an, mit der er vorhin an die Bürotür geklopft hatte.

„Gibt es zur Zeit irgendwelche offenen Kriminalfälle?“, fragte er dann. „Irgendwelche ungeklärten Kapitalverbrechen oder was auch immer?“

„Wenn Sie glauben, dass Sie bei mir Zerstreuung für Ihren faden Urlaub bekommen, dann muss ich Sie enttäuschen, mein Lieber!“ Ogris’ Dienstplan-Laune war wieder da.

Pogatschnig sagte nichts, er schüttelte nur den Kopf als Zeichen, dass er falsch verstanden worden war. Er zog sein Mobiltelefon hervor, drückte ein paar Tasten und übergab es dem Gruppeninspektor.

„Diese SMS habe ich heute bekommen“, erklärte er.

Der Polizist las die Textnachricht auf Pogatschnigs Mobiltelefon:

 

Rätsel 7: Das Jahr an des Stadttheaters linker Front summiere quer. Dies sei deine erste Zahl!

 

Gruppeninspektor Leopold Ogris sah sich den Text lange an. Er las ihn dreimal.

„Was soll das?“, fragte er.

Hubert Pogatschnig zuckte mit den Achseln.

„Ich habe keine Ahnung“, erklärte er. „Mein Telefon war seit vorgestern deaktiviert, ich habe es erst vorhin wieder eingeschaltet. Kurz darauf ist diese SMS hereingekommen. Wie Sie sehen, ist die Nummer des Absenders unterdrückt.“

Gruppeninspektor Ogris sah sich die Absende-Daten an.

„Und die Nachricht ist gestern um 15 Uhr auf Ihrer Mobilbox eingetroffen“, ergänzte er.

„Ludwig und ich waren gerade hier in der Nähe“, erklärte Pogatschnig, „und da habe ich mir gedacht, ich frage einmal bei Ihnen nach, ob die Nachricht mit einem aktuellen Kriminalfall in Zusammenhang stehen könnte.“

Der Gruppeninspektor zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf, während er das Telefon an seinen Besitzer zurückgab.

„Nein“, sagte er. „Die einzigen ‚Verbrechen’ momentan haben mit dem Wetter zu tun. Das macht alle verrückt. Ich habe momentan keine Arbeit, außer dieser...“ – er schnappte mit einem rohen Griff die Blätter, die auf seinem Schreibtisch lagen und knallte sie nach kurzem Zögern wieder auf die Tischplatte zurück – „…außer dieser verfluchten Dienstpläne!“

Hubert Pogatschnig schien in Gedanken versunken zu sein.

„Haben Sie die Zahl schon gefunden?“, fragte der Gruppeninspektor.

„Nein“, antwortete Pogatschnig. „Wie gesagt: Ich habe das Rätsel selbst erst vorhin erhalten und da dachte ich, ich frage zuerst, ob es mit einem Verbrechen in Zusammenhang stehen könnte.“

„Sie meinen, ein anonymer Täter schickt Sie auf eine Schnitzeljagd? Mit welchem Ziel? Das nächste Opfer?“ Der belustigte Ton in der Stimme des Gruppeninspektors ärgerte Hubert Pogatschnig.

„Entschuldigen Sie bitte, falls ich Ihnen damit geholfen hätte“, sagte er eingeschnappt.

„Pogatschnig – seien Sie doch nicht so ein rohes Ei“, meinte Ogris nun versöhnlich. „Aber ehrlich: Ich glaube nicht, dass die Sache gefährlich ist. Ich finde sie eher spannend.“

„Aber wer sollte mir so ein Rätsel schicken? Was soll ich mit einer Lösungszahl und warum steht da: ‚Rätsel 7’?“

Gruppeninspektor Ogris zuckte mit den Achseln.

„Vielleicht ist die Lösungszahl die letzte aus einer Reihe von sieben und Sie bekommen die anderen sechs noch zugeschickt?“, mutmaßte er. „Vielleicht ein Fan von Ihnen, der Ihren Scharfsinn auf die Probe stellen will? Ein Werbe-Gag vielleicht? Oder einfach nur ein blöder Scherz?“

Pogatschnig schien nicht zuzuhören. Er sah Ogris aus den Augenwinkeln heraus an, als überlegte er, ob er die Frage, die er gleich darauf stellte, tatsächlich stellen sollte:

„Warum haben Sie den ‚Giga-Guy’ eigentlich nicht gefasst? Waren meine Hinweise nicht eindeutig genug? (Siehe: „Klagenfurter Kneipen Krimi Nr. 4: Giftschwestern“.)“

Gruppeninspektor Leopold Ogris’ Seufzen kam tief vom Grund seiner Seele herauf. Er lehnte sich zurück und rieb sich beidhändig und ausgiebig sein Gesicht.

„Das Autokennzeichen gehörte zu einem Mietwagen – und Giga-Guy hatte den Wagen unter Angabe eines falschen Namens gemietet – und er hat dem Autovermieter einen gefälschten Führerschein vorgelegt“, klang es zwischen den Polizistenfingern heraus. Nachdem er seine Gesichtsmassage beendet hatte, erzählte er weiter: „Es war unmöglich, ihn festzunageln: Für eine größere Fahndung waren seine Straftaten zu geringfügig und ohne Anhaltspunkte mussten wir warten, bis er wieder in Aktion trat. Das tat er zwar immer wieder, allerdings waren seine Auftritte schneller wieder vorbei, als wir reagieren konnten.“

Der Polizist sah zuerst Melischnig und dann Pogatschnig vielsagend an, ehe er fortfuhr:

„Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass unser ‚Superheld’ mehr öffentliche Berühmtheit erlangt hat, als ihm und uns gut tut. Kein Wunder: Er ist kurios, geradezu ein Fressen für die Lokaljournalisten. Das führt dazu, dass wir unter einen gewissen Druck geraten, vor allem im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen.“

„Welche Entwicklungen meinen Sie?“, fragte Pogatschnig.

„Bei seinem letzten Auftritt“, erklärte Ogris, „hat Giga-Guy am helllichten Tag zwei Kinder vom Zaun des Strandbads gezogen, die sich dort hineinschwindeln wollten, ohne Eintritt zu bezahlen. Unmittelbar darauf haben Jugendliche über diverse Internet-Plattformen begonnen, regelrechte Jagdgesellschaften zu gründen. Das ganze ist mittlerweile ein Wettbewerb: Kleine Jugendbanden patrouillieren durch die Stadt, um Giga-Guy zur Strecke zu bringen. ‚Tot oder lebendig’, wie es im Internet heißt. Wer mit seiner Jagdgesellschaft an dem Wettbewerb teilnehmen will, muss sich auf einer eigens eingerichteten Homesite einloggen und eine Tüte Gummibären als Nenngeld bezahlen. Derjenige, der Giga-Guy zur Strecke bringt, gewinnt den Pott, den sogenannten ‚Großen-Gummibärli-Preis’.“

Hubert Pogatschnig kicherte schwach. Ludwig Melischnig tat, als wäre er tot.

„Na, Sie lachen“, fuhr Gruppeninspektor Ogris ernst fort, „aber was das wieder für unnötige Mehrarbeit bringt, wo wir personell eh schon aus dem letzten Loch pfeifen! – Giga-Guy ist ein echtes Problem.“

„Nun ja, die Kriminalpolizei ist mit der Sache ja ohnehin nicht betraut, oder?“ Pogatschnig wischte sich über die Stirn.

„Momentan nicht“, gab der Gruppeninspektor zu. „Aber warten Sie einmal ab, was passiert, wenn sich ein Rudel pubertierender Rotzlöffel ausgiebig Mut angetrunken hat und dann auf den maskierten Clown trifft. Noch dazu bei der Hitze!“ Ogris hielt kurz inne. Anscheinend kam ihm der Gedanke erst jetzt: „Glauben Sie, dass diese SMS vom Giga-Guy stammt?“

Pogatschnig hob in einer entschuldigenden Geste beide Hände und beteuerte:

„Ich weiß es nicht! Und falls ja, wüsste ich nicht, was Giga-Guy damit bezwecken könnte. Ich weiß nur, dass ich nichts ausschließe, bis ich nähere Informationen habe.“

„Bleiben Sie am Ball“, ermutigte ihn der Gruppeninspektor. Sein Tonfall klang wie eine Aufforderung, zu gehen. „Und halten Sie mich auf dem Laufenden.“

Hubert Pogatschnig nickte. Er stieß Ludwig Melischnig an und schien ihn damit zum Leben zu erwecken. Melischnig erhob sich wie eine Marionette, deren Stricke alle gleichzeitig gestrafft wurden. Die „Zwei für die Gerechtigkeit“ – so wurden Pogatschnig und Melischnig von den Lokalmedien genannt – verabschiedeten sich und stießen beim Verlassen des Raumes beinahe mit Inspektor Otto Pertel zusammen, der das Büro seines Vorgesetzten soeben betreten wollte. Nach einem kurzen Wortwechsel, von dem vor allem Floskeln wie „Deppen-Duo“ und „Sie mich auch“ in Erinnerung blieben, ging jeder seiner Wege.

Ogris erklärte Pertel in kurzen Worten den Grund für Pogatschnigs und Melischnigs Besuch.

„Wenn die was herausfinden, ist es gut, wenn nicht, ist es egal“, beendete er seine Ausführungen. „So oder so: In jedem Fall ist das Deppen-Duo für eine Weile abgelenkt. Und nun zu Ihrem monatlichen Verbrechen, das Sie mir unter dem Aktenzeichen ‚Dienstplan’ unterjubeln wollen, Pertel!“

Donnerstag, 12.50 Uhr, Klagenfurt-Welzenegg.

 

Doktor Hans Jordan war gerade im Begriff, auf die Pischeldorferstrasse einzubiegen, als sein Mobiltelefon schrillte. Die Display-Vergrößerung des Handy-Adapters am Armaturenbrett zeigte den Namen „Krassnig“, seiner Mitarbeiterin in seinem privaten Therapiezentrum. Der Finger des Heilpraktikers tippte die Verbindungstaste an.

„Ja, Frau Krassnig, was gibt es?“

„Sie bewegt sich nicht mehr“, schrillte Sabine Krassnigs Stimme aus den Bord-Lautsprechern. Sie schien einer Hysterie nahe zu sein. „Sie zeigt keine Reflexe! Sie müssen unbedingt schnell zurückkommen, Herr Doktor, ich glaube sie ist … sie ist…!“

„Beruhigen Sie sich erst einmal“, unterbrach sie der Mediziner mit einer sonoren Stimme, die angenehm beruhigend klang. Er hatte den Wagen an den Straßenrand gelenkt, um dem Telefonat seine volle Aufmerksamkeit widmen zu können. „Was ist passiert?“, fragte er nun, „wer zeigt keine Reflexe?“

Doktor Jordan hörte, wie Frau Krassnig am anderen Ende der Leitung einige Male tief durchatmete. Ihr Atem war ein zittriges Keuchen.

„Ihre Patientin“, begann sie schließlich wieder, diesmal um einiges gefasster. „Ich bin zu ihr hineingegangen, wie Sie es mir gesagt haben. Nach zehn Minuten. Ich wollte ihr die Schlinge abnehmen, aber da war sie schon … da hat sie auf nichts angesprochen.“

„Gut, in Ordnung“, erwiderte der Doktor ruhig. „Leisten Sie Erste Hilfe, soweit das möglich ist, ich komme sofort zurück.“ Er wendete den Wagen und fuhr zum Therapiezentrum zurück.

Donnerstag, 13.30 Uhr, Theaterplatz, Klagenfurt.

 

Ludwig Melischnig stemmte die Fäuste in seine Hüften, musterte die Hauptfront des Klagenfurter Stadttheaters wie ein Bauleiter und sagte:

„Also gut: Lösen wir das Rätsel und dann gehen wir ein Bier trinken!?“

Hubert Pogatschnig lächelte hintergründig und reichte Melischnig sein Mobiltelefon mit der Rätsel-SMS. Er war gespannt, wie lange dieser Geistes-Rambo brauchen würde, bis er aufgab. Melischnig wischte sich den Schweiß vom Gesicht und las die SMS aufmerksam durch. Dann hielt er in Gedanken inne und hob seinen Blick zu den Wolken.

„Was könnte damit gemeint sein“, sagte er sinnierend, „‚Rätsel 7’…?“

Pogatschnig nahm ihm das Telefon wieder weg, wies auf die Fassade vor ihnen und begann mit seiner Analyse:

„Das hier ist die Front des Stadttheaters, und soweit ich das sehe, sind hier zwei Jahreszahlen angebracht: ‚1908’ auf der linken Seite und ‚1910’ auf der rechten; Beginn und Vollendung des Baues unseres Theaters.“