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Roland Zingerle

Der dicke Zwilling

Klagenfurter Kneipen-Krimi Nr. 7

 

 

 

 

 

Prolog

 

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Großhandelsvertreter Hubert Pogatschnig und der Bierführer-Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Gruppeninspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt …

Dienstag, 5 Uhr, ein Autobahnrastplatz.

 

Der schwarze Himmel über Hubert Pogatschnig schien heller geworden zu sein. Ging das überhaupt? Ein hellschwarzer Himmel? Es knisterte rund um ihn herum, Eisregen, durchsetzt von Regentropfen. Mit gleichmäßigem Rauschen zogen in mittelbarer Nähe immer wieder Fahrzeuge vorbei. Hätte Pogatschnig raten müssen, wo er sich hier befand, er hätte auf einen Autobahnparkplatz getippt. Doch er musste nicht raten und eigentlich war es ihm egal.

Es war ihm alles egal.

Pogatschnig kniete mit dem Rücken zum Scheinwerferkegel jenes Wagens, in dessen Kofferraum er hierher verfrachtet worden war. Sein Oberkörper war vornüber gebeugt, sein Kopf hing kraftlos nach unten. Er sah die Handschellen an seinen verkrusteten Handgelenken, das Drahtseil, das immer noch an ihnen befestigt war, und das trostlose Schattenbild seiner selbst, das das Licht des Wagens auf den nassen Asphalt vor ihm warf.

Was geschehen musste, das sollte nun, verdammt noch einmal, endlich geschehen!

 

Ein Mann trat hinter Pogatschnig in das Scheinwerferlicht, sein Entführer. Pogatschnig hörte, wie der Entführer das Verschlussstück einer Pistole spannte und wieder losließ. Nun war eine Patrone im Lauf – Hubert Pogatschnigs Patrone. Er spürte, wie sich sein Gesicht zu einer Grimasse verzog, einer Grimasse der Bitterkeit. Er wollte lachen, wollte weinen – doch für beides fehlten ihm die Tränen.

Was mochte es für ein Gefühl sein, erschossen zu werden? Wie viel bekam man davon mit? Hörte man den Schuss noch? Und was kam danach? Wie fühlte es sich an, wenn das Projektil den Schädelknochen durchschlug?

Als Hubert Pogatschnig den wuchtigen Einschlag am Hinterkopf spürte, wusste er es.

Zweieinhalb Wochen vorher:

Freitag, 19.10 Uhr, Klagenfurt Hauptbahnhof.

 

Als der Zug aus Wien im Klagenfurter Hauptbahnhof angehalten hatte, wurde das Kreischen seiner Bremsen durch das Geschrei eines Mannes abgelöst, das noch lauter wurde, als die Waggontür aufging, hinter der er stand.

„Nein, lassen Sie die Finger von meinem Koffer, den kann ich alleine tragen!“

Pogatschnig stieg mit hochrotem Kopf, angelaufenen Brillengläsern, zusammengezogenen Augenbrauen und senkrechten Zornesfalten auf der Stirn die Stufen zum Bahnsteig herunter.

„Gengans, jetzt machen’s doch ned aus einer Mücken ein’ Öllefontn“, gab der Wiener Schaffner zurück, der hinter Pogatschnig ausstieg. „Mehr als entschuldigen kann i mi ned.“

„Das macht mein Sakko auch nicht sauber!“ Pogatschnig brüllte so laut, dass jeder am Bahnsteig sich zu ihm umwandte.

„Ja, aba des kann ja passieren, lieber Herr.“

Der Schaffner machte nicht den Eindruck, als ließe er sich vom Geschrei des Fahrgastes beeindrucken. Doch genau das war es, was Pogatschnig so in Rage brachte:

„Typisch West-Ost-Gefälle“, schrie er und äffte dann den Schaffner nach: „Da gann ma nix mach’n! Unsare Göllner san holt amol schlecht oosbüüd! Gost eh nix in da Reinichung, so a Saggoo!“ (Wienerisch: „Wir bedauern, dass unsere Kellner schlecht ausgebildet sind. Aber ein Sakko zu reinigen kostet ja kein Vermögen“; Anm.) Dann beendete er seine Parodie, schüttelte drohend den Regenschirm in seiner Hand und fauchte den Schaffner an: „Seien Sie froh, wenn ich Ihnen die Reinigung nicht in Rechnung stelle, Sie…!“

Damit wandte er sich ab und ging, dampfend vor Zorn, davon. Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er wohl zum ersten Mal in seinem Leben einen Uniformierten gesehen, der ihm die Zunge herausstreckte und eine lange Nase drehte.

 

Pogatschnig führte in Gedanken Selbstgespräche, die ihm helfen sollten, seine Wut abzubauen, indem er die ganze Schuld auf diesen rotznäsigen Schaffner schob. Doch die Dämonen des Ärgers waren nicht so leicht zu vertreiben, wenn sie sich einmal eingenistet hatten. Als er nämlich durch die Empfangshalle des Bahnhofs ging, rief ihm eine männliche Stimme hinterher:

„He! Herr Pogatschnig! Servas!“

Er fuhr herum und sah einen Obdachlosen auf sich zuhinken, dreckverschmiert, aber freudestrahlend.

„Wer sind sie?“, fragte Pogatschnig angewidert.

„Oh, verstehe“, erwiderte der Obdachlose, indem er die Stimme senkte. „Heute wieder in geheimer Mission unterwegs, oder?“

„Sie müssen mich verwechseln, ich bin nicht…!“

„Schon klar, schon klar“, unterbrach ihn der Obdachlose. „Du darfst mich nicht kennen. Ich wollte dich eigentlich eh nur eins fragen: Du hast den Rausch damals nur gespielt, oder? Ich meine: So führt sich doch kein Mensch auf, wenn er besoffen ist. Nicht einmal du.“

Pogatschnig wich mit schreckensgeweiteten Augen einen Schritt zurück und stolperte dann davon in Richtung Ausgang. Der Obdachlose hinkte hinter ihm her und rief, umso lauter, je weiter sich Pogatschnig von ihm entfernte:

„Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher! Ich erzähle niemandem etwas! Heimliche Ermittlungen – alles klar!“

 

Ein Mann, der nahe dem Ausgang stand und die Szene mitverfolgt hatte, lächelte Pogatschnig vergnügt an und meinte:

„Von so einem würde ich mich auch nicht gerne mit dem Namen ansprechen lassen.“ Pogatschnig ignorierte den Mann und verließ das Bahnhofsgebäude. „Du bist heute schlecht drauf, oder?“

Pogatschnig konnte es nicht fassen! Auch dieser Mann verfolgte ihn und hörte nicht auf, ihn anzuquatschen! Da blieb er ruckartig stehen, fuhr herum und schrie den Mann an:

„Sagen Sie, sind hier inzwischen alle verrückt, oder warten alle Verrückten nur auf mich?!“

Der Mann starrte Pogatschnig eine Sekunde lang mit großen Augen an. Nachdem er sich gefasst hatte, erwiderte er, ebenfalls für alle hörbar:

„Weißt du was, Hubert? Beherrsch dich gefälligst ein bisschen! Hast du deine Tage, oder was?“

„Ich bin nicht Hubert“, schrie Pogatschnig und seine Stimme drohte überzuschlagen.

„Ja, super“, entgegnete sein Geschrei-Partner, „und ich bin nicht dein Arbeitskollege!“

„Bitte, so glauben Sie mir doch…“ Pogatschnigs Tonfall hatte sich zu einem weinerlichen Flehen gewandelt, doch der Mann schnitt ihm das Wort ab:

„Wenn du dich mit den Bahnhofsrestlern ansaftelst (mundartlich für: sich mit am Bahnhof logierenden Obdachlosen betrinken; Anm.), ist das deine Sache. Aber nur, weil dir das peinlich ist, brauchst du mich nicht abzustreiten, ist das klar?“

„Werter Herr“, versuchte es Pogatschnig noch einmal, „ich bin nicht Hubert Pogatschnig! Ich bin Herbert Pogatschnig – sein Zwillingsbruder!“

„Ja, sicher“, grunzte der verkannte Arbeitskollege, „‚Herbert’, nicht ‚Hubert’! – Der dicke Zwilling, oder? Fällt dir nicht eine noch blödere Ausrede ein?“ Er wandte sich ab und ging davon, allerdings nicht, ohne vorher noch allgemein hörbar seine Meinung über Pogatschnig kund getan zu haben: „Volltokker (mundartlich: Vollidiot; Anm.)!“

Pogatschnig seufzte tief, stellte seinen Koffer ab und legte die Hand auf sein Gesicht. So verharrte er für einige Augenblicke, wobei er leicht den Kopf schüttelte.

Freitag, 20 Uhr, Sicherheitszentrum Klagenfurt.

 

Die Nacht da draußen war extrem finster. Und kalt.

„Wo immer Pogatschnig jetzt ist, ich hoffe, sein Verließ ist beheizt“, brummte Chefinspektor Leopold Ogris und wandte sich vom Fenster ab. Bezirksinspektor Otto Pertel nickte und sagte:

„Morgen ist es eine Woche her und wir haben nicht die Spur einer Spur.“

 

Chefinspektor Ogris ließ sich in seinen Sessel fallen und blies die Luft aus. Es war zum Auswachsen! Bert Evans, jener Mann, der Hubert Pogatschnig nach der Aufklärung des „Seelenverkäufer“-Falles entführt hatte (siehe: „Klagenfurter Kneipen Krimi Nr. 6: Seelenverkäufer“.), war wie vom Erdboden verschluckt. Sein Name existierte nicht und Ogris’ Dienstwagen, mit dem Evans Pogatschnig verschleppt hatte, war wenige Tage später wieder aufgetaucht, allerdings ohne irgendwelche Spuren oder Hinweise auf den Verbleib von Entführer oder Geisel.

„Ich kann nicht verstehen, dass die Spurensicherung im Wagen nichts gefunden hat“, sagte Bezirksinspektor Pertel, übrigens nicht zum ersten Mal in dieser Woche. „Keine Fingerabdrücke, keine Haare – nichts!“

„Der Entführer ist ein Profi, Pertel!“ Auch Chefinspektor Ogris wiederholte sich. „Er wurde angeheuert, um Kapitän Hammermann von der Seelenverkäufer zu ermorden. Und als wir ihn enttarnten, bevor er seinen Auftrag ausführen konnte, hat er sich den Pogatschnig geschnappt, um seinen Rückzug zu sichern. So einer hinterlässt keine Spuren.“

„Immerhin, in Ihrem Dienstwagen fehlte Ihr Einsatzpaket und Evans ist mehr als 800 Kilometer gefahren“, warf Pertel ein, doch Ogris fiel ihm ins Wort:

„Das haben wir doch schon 800-mal durchgekaut: Als Profikiller verwischt er seine Spuren! Es ist gut möglich, dass er Pogatschnig gleich hier im Nachbarhaus eingesperrt hat und danach eine Nacht lang im Kreis gefahren ist, um den Kilometerstand zu verfälschen. Den Wagen hat Evans am Parkplatz des Zentralfriedhofs Annabichl abgestellt, damit es für uns so aussieht, als sei er von dort aus zu Fuß zum Flughafen gegangen, um sich abzusetzen. Er könnte überall sein. Und auch Pogatschnig könnte überall stecken, von hier bis Wien und Venedig.“

„Wenn er noch lebt“, erwiderte Bezirksinspektor Pertel einsilbig. „Bert Evans, oder wie auch immer er heißt, hat sich bisher noch nicht gemeldet, keine Forderungen gestellt – nichts!“

Chefinspektor Leopold Ogris erwiderte nichts. Angst stand in seinen Augen. Er wechselte das Thema:

„Weiß man schon, was mit der Seelenverkäufer geschieht, solange Kapitän Hammermann im Gefängnis sitzt?“

„Hammermanns Anwalt hat gesagt, dass er mit den Eltern seines Mandanten darüber reden will“, erklärte Pertel. „Aber das ist nicht so einfach, weil die nicht gut auf ihren Sohn zu sprechen sind.“

Chefinspektor Ogris fragte:

„Hat das Gericht schon einen Termin für die Verhandlung gegen Hammermann wegen des Diamantenschmuggels festgesetzt?“

„Nein.“

„Wann kommt endlich der Gerichtsbeschluss für die Datenabfrage bei der Kreditkarten-Gesellschaft?“, fragte Ogris weiter.

Bezirksinspektor Otto Pertel seufzte. Er wusste, dass sein Vorgesetzter die Antwort bereits kannte, doch er machte das Spiel mit. Im Augenblick war alles besser als Schweigen:

„Angeblich am Montag.“

 

Nach der Entführung hatten Polizisten Bert Evans Kabine auf der Motoryacht „Seelenverkäufer“ durchsucht. Sie hatten wenig Brauchbares gefunden: Bekleidung, Zeitschriften, Waschzeug – und eine Reihe von Reisepässen. Die Pässe waren allem Anschein nach gefälscht, denn sie waren auf unterschiedliche Namen ausgestellt, während die Fotos jeweils Evans mit verändertem Gesicht zeigten. Die Überprüfung der Reisepässe war noch nicht abgeschlossen, doch Chefinspektor Leopold Ogris erwartete sich nicht viel davon. Die bereits überprüften Namen hatten seine Befürchtung nämlich bestätigt: Die Menschen gab es wirklich, die Pässe waren ihnen gestohlen worden.

Dennoch gab es einen Lichtblick: Im Futter eines Lederetuis hatten Ogris’ Kollegen von der Tatortgruppe eine Kreditkarte gefunden. Sie war auf denselben Namen ausgestellt wie einer der Reisepässe, doch ihre Gültigkeit war mit September 2006 abgelaufen. Chefinspektor Ogris hatte einen Gerichtsbeschluss beantragt, um die Kontodaten beim entsprechenden Kreditkarteninstitut abfragen zu können. Er brauchte eine Aufstellung aller Zahlungen, die über diese Kreditkarte abgewickelt worden waren, sowie die Daten jenes Kontos, von dem das Kreditkarteninstitut das Geld abgebucht hatte. Für gewöhnlich genehmigte das Landesgericht solche Beschlüsse erstaunlich schnell, doch immer, wenn man auf etwas wartete…

Der Chefinspektor hatte natürlich auch in Richtung des Schmugglerrings um Kapitän Hammermann ermittelt. Immerhin war es diese Organisation gewesen, die dem Kapitän der Seelenverkäufer einen Profikiller auf den Hals gehetzt hatte, jenen Mann, der sich Bert Evans nannte. Hammermann, der selbst jahrelang für diese Schmuggler-Organisation tätig gewesen war, hatte nämlich aus dem Geschäft aussteigen wollen und deshalb mit einem anonymen Anruf bei der Polizei den Schmuggel verraten. Da Hammermann via Mobiltelefon immer Kontakt zu einem Mann der Organisation im israelischen Haifa gehalten hatte, hatte Chefinspektor Ogris nun versucht, das Telefon dieses Kontaktmannes über Interpol orten zu lassen.

Doch wie zu erwarten gewesen war, existierte diese Nummer nicht mehr. Der Kontaktmann hatte offensichtlich sein Mobiltelefon gewechselt, gleich nachdem der Diamantenschmuggel in Klagenfurt aufgeflogen war.

 

Mit einer Geste, die Entschlossenheit ausdrücken sollte, beugte sich Chefinspektor Leopold Ogris vor und schaltete seine Schreibtischlampe aus.

„Gehen wir nachhause, Pertel“, sagte er und stand auf. „Für diese Woche haben wir weiß Gott genug getan!“

Samstag, 9 Uhr, Pogatschnigs Wohnung in Klagenfurt-Waidmannsdorf.

 

Herbert Pogatschnig war am Vorabend zur Wohnung seines Bruders in Waidmannsdorf gefahren. Den Schlüssel hatte er von der Hausmeisterin bekommen, der er schon Tage zuvor telefonisch sein Kommen angekündigt hatte.