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Roland Zingerle

Der überlistete Tod

Klagenfurter Kneipen-Krimi Nr. 11

 

 

 

 

 

Prolog

 

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Bierführer Hubert Pogatschnig und sein Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Chefinspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt …

Donnerstag, 16.30 Uhr, Gasthaus Pumpe, Lidmanskygasse, Klagenfurt.

 

Die Menschen eilten mit hochgezogenen Mantelkrägen und eingezogenen Köpfen vor den Fenstern des Gasthofs Pumpe vorbei. Es war nicht außergewöhnlich kalt für einen Jännertag, doch es hatte leicht zu schneien begonnen und niemand wollte die eisigen Kristalle an der Haut seines Halses spüren. Obwohl es bereits dämmerte, hielt der Markttrubel ungebrochen an, doch der herabfallende Schnee dämpfte die Geräusche und schuf so etwas wie eine verspätete Weihnachtsstimmung.

Im Pumpe saß Hubert Pogatschnig an dem Tisch, über dem ein Flachbildfernseher an jener Stelle der Wand hing, die früher das Bild des Großglockners verziert hatte – des höchsten Berges Österreichs –, der dem Pumpe seinen eigentlichen Namen „Gastwirtschaft Großglockner“ gab.

 

Pogatschnig hob langsam das Bierglas an den Mund. Seine Augen glänzten matt und blickten durch die Männer, die an seinem Tisch saßen, hindurch, in eine andere Zeit.

 

Die Wärme und die Geborgenheit des Lokals hatten seine Seele ruhig werden lassen. Er beobachtete den Zauber auf dem Gesicht jedes Menschen, der den Pumpe betrat: Ernsthaftigkeit wich einem Lächeln, Abgespanntheit einem Aufflackern der Augen. Hier herinnen gab es keine Sorgen, und wenn, dann wurden sie bis zur Unwirklichkeit zerredet. An den Tischen saßen Menschen zusammen, die einander zum Teil gar nicht kannten. Doch sie sprachen und lachten miteinander, als hätten sie seit Jahr und Tag nichts anderes getan.

Es war laut beim Pumpe, es war immer laut hier, doch es war kein Lärm. Es waren die Menschen, die miteinander sprachen, und wenn sie einander nicht gut hörten, dann sprachen sie eben etwas lauter.

 

Hubert Pogatschnig setzte das Bierglas wieder ab und räusperte die Feuchtigkeit aus seiner Kehle. Er wischte sich den Schaum von seinem Dreitagebart und dann begann er zu erzählen.

Kapitel 1, in dem Hubert Pogatschnig einen Friedhof besucht und dabei eine nachweihnachtliche Erscheinung hat.

 

„Es war an einem Tag, ganz ähnlich wie dieser, als es anfing, vor ein bisschen mehr als drei Jahren. Gemeinsam mit meinen Eltern besuchte ich meine Großeltern in der Nähe von Ferlach. Meine Mutter ist dort auf einem Bauernhof aufgewachsen und einmal im Jahr – zu Weihnachten – statten wir ihren Eltern einen Besuch ab. Das heißt nicht, dass wir sie unter dem Jahr nicht sehen, wir haben ein ausgesprochen gutes Verhältnis zueinander, aber Weihnachten ist eben ein Fixtermin.

Und wie jedes Jahr fuhren wir danach nach Eisenkappel, wo wir den Dorffriedhof besuchten. Die Urgroßeltern meiner Mutter liegen dort begraben, denn die hatten noch in Eisenkappel gelebt. Der Großvater meiner Mutter war dann weggezogen, deshalb haben wir in Bad Eisenkappel heute keine Verwandten mehr.

Dass wir diese Gräber besuchen, ist ein Ritual, das meine Mutter bereits seit ihrer Kindheit pflegt. Es bedeutet ihr sehr viel, dort nach dem Rechten zu sehen. Und auch für mich ist es inzwischen so, denn die Toten gehören zu meiner Familie, selbst wenn die Menschen, die dort begraben liegen, lange vor meiner Zeit den Weg allen Irdischen gegangen sind. Aber ihre Grabsteine sind mir vertraut, die Namen erzählen mir von meiner Herkunft und ihre Geschichten kenne ich von meiner Mutter.“

 

„Du, Hubert, entschuldige!“ Ludwig Melischnig war aufgestanden und zappelte unschlüssig herum. „Ich muss ganz dringend aufs Klo. Lass dich nicht stören, ich bin gleich wieder da.“

Alfred Prantner starrte Melischnig unwillig hinterher. Seine Augen schimmerten wie poliertes Elfenbein, wie dazu gemacht, Dinge aus einer anderen Zeit zu sehen. Ronald ‚Bier-Ronny‘ Zentner hingegen hielt seinen Blick gebannt auf Pogatschnig gerichtet, wie jemand, der den Faden nicht verlieren will. Auch Kurt Eisler war von der Geschichte gefangen, sein Gesicht verriet jedoch keine Ungeduld. Im Gegensatz zu Zentner und Prantner kannte er Hubert Pogatschnig und wusste, dass dieser immer auf den Punkt kam – selbst wenn das bisweilen ein Zeiterl dauern konnte!

Pogatschnig schien nichts von alledem mitzubekommen.

 

„Auch der Handlungsablauf auf diesem Friedhof folgt einem Ritual, das ich kenne, seit ich denken kann“, fuhr er fort. „Meine Mutter erzählt uns Geschichten über die Menschen in diesem Grab unserer Ahnen. Geschichten, die sie selbst auch nur von ihren Eltern gehört hat, und diese wiederum von ihren Eltern. Und obwohl auch mein Vater und ich diese Geschichten schon dutzende Male gehört haben, tut mein Vater so, als höre er sie zum ersten Mal. Dann schlendern sie zum nächsten Grab und Mama erzählt Papa von dem schweren Schicksal, das die Leute ertragen haben, die noch in der Kaiserzeit hier ihre letzte Ruhe fanden, und so weiter.

Ich weiß nicht wieso, aber mein Vater – so scheint’s – genießt das jedes Jahr, obwohl seine Geduld ansonsten eine eher kurze Lunte hat. Doch auch ich verhalte mich auf diesem Friedhof jedes Jahr gleich: Wenn die Geschichten meiner Ahnen erzählt sind, entferne ich mich von meinen Eltern, schlendere zwischen den Gräbern umher und lese die Namen und Lebensdaten auf den Grabsteinen. Manche Grabsteine habe ich dort immer schon gesehen, sie sind mir vertraut, auch wenn ich vermutlich nie erfahren werde, für wen sie gesetzt wurden.

Ursprünglich habe ich so meine Langeweile bekämpft, doch im Laufe der Jahre wurde eine liebgewordene Gewohnheit daraus; ähnlich wie die meines Vaters, sich immer und immer wieder die gleichen Geschichten erzählen zu lassen. So war es auch kein Wunder, dass ich selbst im Erwachsenenalter nie auf die Idee gekommen war, mir andere Gedanken über die Toten in diesen Gräbern zu machen, als die über ihr Lebensalter. Sterbejahr minus Geburtsjahr ergibt Lebensalter, darauf hatte ich all die Jahre über die Menschen zusammengefasst, die am Friedhof von Eisenkappel begraben lagen.

Als ich mir das bewusst machte – an jenem Tag vor etwas mehr als drei Jahren –, da wurde ich plötzlich neugierig und zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich in anderer Weise über diese Toten. Zum ersten Mal spürte ich Menschen hinter diesen Namen, Schicksale, Familien, enttäuschte und Wirklichkeit gewordene Hoffnungen, zerschlagene Träume, gescheiterte Existenzen und lange, erfüllte Leben. Mit einem Mal interessierte es mich, wer es war, der hier gelebt hatte und hier gestorben war – und wer hier gelebt hatte und nicht hier gestorben war.“

 

Hubert Pogatschnig nahm einen mächtigen Schluck Bier, während Bier-Ronny, Alfred Prantner und Kurt Eisler einander überrascht und fragend ansahen.

 

„Denn auf einem der Grabsteine“, erklärte Pogatschnig schließlich, „stand unter anderen Namen auch das Epitaph: ‚Valentin Ogris – geboren am 10. Oktober 1920 – gestorben am 10. Mai 1955 in Spittal an der Drau’. Es gab zwei Gründe, warum diese Inschrift meine Aufmerksamkeit erregte. Zum einen der Beisatz ‚gestorben … in Spittal an der Drau’ und zum anderen der Name Ogris. – Ich hoffte nämlich auf eine originelle Geschichte über einen Vorfahren von Chefinspektor Leopold Ogris. Ihr wisst schon: Der Chefinspektor, von dem ich euch vorhin erzählt habe, der immer zu spät kommt, wenn ich seine Fälle aufkläre.“

 

Bier-Ronny und Prantner schmunzelten und nickten, Eisler lachte.

Pogatschnig erzählte weiter:

 

„Ich fragte also meine Mutter, ob sie auch eine Geschichte über diesen Valentin Ogris kannte, doch sie kannte ihn nicht. Sie meinte, Ogris sei ein gängiger Name im Unterland und außerdem kannte sie die Leute und den Tratsch aus Eisenkappel nur bis zum Jahr 1900. Was dann geschah, kann ich in der Nachbetrachtung nur als göttliche Fügung bezeichnen. Oder als Erscheinung.

Es war, wie gesagt, ein Nachmittag ähnlich wie heute: grau und schmuddelig, dicke Flocken tanzten leise und in loser Formation vom Himmel. Da es ein schneereicher Winter war, waren die Gräber in dicke, weiße Polster eingepackt, und was noch hinzukam, war ein dichter Nebel, der mit den Grabsteinen und den Schneehäufen in nur wenigen Metern Entfernung zu einem breiigen Grau verschmolz. Und dieses breiige Grau verdichtete sich nun unmittelbar vor mir zu einer menschlichen Gestalt.

Eine alte Frau trat daraus hervor, ein kleines, gebrechliches Weiblein, gewandet in die Kleider einer Klosterfrau. Ihre Gang war steif und wankend, ihre knochigen Hände vor dem Schoß gefaltet. Die Nonne mochte Mitte siebzig sein, ihre Haut war faltig und wirkte dünn, doch ihre Augen waren wach und lebendig und ihr Lächeln offen.

‚Ich habe gehört, Sie interessieren sich für den Ogris, der da liegt’, sagte sie zu mir.

Ich war fast ein bisschen peinlich berührt, doch da sie mich schon darauf ansprach, bejahte ich ihre Frage. Sie stellte sich als Schwester Anna vor und ihre Hand, die sie mir reichte, fühlte sich schwach und kalt an.

‚Ich habe gehört, wie Sie über den Volte, den Valentin Ogris gesprochen haben’, erklärte sie. ‚Wissen Sie, ich bin hier in Eisenkappel geboren und aufgewachsen. Von den älteren Leuten kenne ich alle.’ Dann erzählte mir die Klosterfrau von Valentin Ogris: ‚Der Volte Ogris, das ist einer von den Bauern hier gewesen. Der ist nach dem Krieg – Anfang der 50er-Jahre – aus Eisenkappel ausgezogen und nimmer zurückgekommen. Der Rudi war der letzte, der ihn noch angetroffen hat.’

Schwester Anna führte mich und meine Eltern zu einem anderen Grabstein, auf dem unter anderem der Name ‚Rudolf Stumpf’ zu lesen war.

‚Das ist der Rudi, mein ältester Bruder’, erzählte Schwester Anna. ‚Der ist nach dem Juliputsch im 34er-Jahr nach München geflüchtet. Dort hat er sich in die Maria verliebt und dann war’s aus mit seinem Interesse an der Politik!’ Schwester Anna lachte herzlich.

Dann erzählte sie uns die Kurzfassung der Lebensgeschichte ihres Bruders, der in München eine Familie gegründet und einen Tischlereibetrieb aufgezogen hatte und so weiter, bis dahin, wo er den Valentin Ogris eben zum letzten Mal angetroffen hatte:

‚Das war bei der Verkündung von der Unterzeichnung von unserem Staatsvertrag vor dem Schloss Belvedere in Wien. Dort hat er den Volte zufällig angetroffen und das war auch das letzte Lebenszeichen, das wir vom Volte bekommen haben.’

Ich fragte Schwester Anna, warum das so bedeutsam sei, und sie antwortete:

‚Weil ich mich noch genau daran erinnern kann, wie der Rudi mir davon erzählt hat. Er hat ja bis zu seiner Pensionierung Ende der 70er-Jahre in München gelebt und ist dann mit seiner Frau wieder nach Eisenkappel zurückgekommen. Als wir einmal gemeinsam hier am Friedhof gewesen sind, hat er das Grab vom Volte Ogris gesehen und da hat er mir dann diese Geschichte erzählt. Er hat gesagt:

‚Weißt, was sie im Fernsehen zeigen, ist falsch. Der Figl, der damals unser Außenminister gewesen ist, hat gar nicht vom Balkon herunter gerufen ‚Österreich ist frei’. Das hat er schon im Schloss Belvedere drinnen gesagt, gleich nachdem alle den Staatsvertrag unterschrieben haben.’

Das hab ich mir gemerkt und deshalb weiß ich auch noch, wann wir das letzte Mal etwas vom Volte Ogris gehört haben.’

Ich dachte mir nicht viel dabei, als die nette Schwester Anna uns dieses Stück Dorfgeschichte erzählte. Ich war in Weihnachtsstimmung, der Festtagsbraten lag angenehm in meinem Magen und eine träge Feiertagsschläfrigkeit machte mich unempfänglich für die unterschwelligen Signale, auf die mein scharfer Verstand sonst immer aufmerksam wird. Das Einzige, was ich mir dachte, war, dass der Valentin Ogris nur zwei Tage nach seinem letzten Zusammentreffen mit Rudi Stumpf bei der Staatsvertragsunterzeichnung gestorben war.“

Donnerstag, 17.15 Uhr, Gasthaus Pumpe, Klagenfurt.

 

Chefinspektor Leopold Ogris und Kontrollinspektorin Christiane Schulz betraten das Gasthaus Pumpe durch das Torgewölbe, das sie in den Gastgarten führte. Dort klopften die beiden den Schneeflaum von ihrem Gewand. Hinter dem Paravent, der die Eingänge zu den Toiletten auf der gegenüberliegenden Seite des Gastgartens kaschierte, trat Ludwig Melischnig hervor, der kurz zu den beiden Kriminalpolizisten herübersah, ohne Reaktion weiterging, drei Schritte später aber abrupt stoppte, um noch einmal zu ihnen herüber zu blicken. Dann hellte sich sein Gesicht auf und er kam winkend auf die beiden zu.

„Grüß euch!“, rief er dabei, als wären sie die besten Freunde.