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Dana Summer

Verküsst

Und doch verliebt





Elaria
80331 München

Kapitel 1

 

 

„So, gleich ist es geschafft“, flüsterte Cayla, tippte die letzten Buchstaben ihres aktuellen Manuskriptes ein, hielt die Luft für einen Augenblick in ihren Lungen gefangen und schrieb das Wörtchen „Ende“ nieder. Erst dann stieß sie den Atem wieder aus. Dass ihr Rücken und ihre Augen vom konzentrierten Sehen schmerzten, bemerkte sie erst, als sie die Lider schnell schloss und kurze Zeit später wieder öffnete. Zufrieden und mit einem milden Lächeln auf den Lippen atmete sie hörbar laut aus. Auch wenn die letzten Stunden anstrengend gewesen waren und sie vor Müdigkeit beinahe umfiel, war sie doch glücklich. Denn dieser Moment, wenn man zum ersten Mal das fertige Werk vor einem sah, war einer der schönsten. All die Mühe, die unzähligen schlaflosen Nächte, in denen man sich wünschte, die eigenen Protagonisten einmal kräftig durchschütteln zu können, weil sie einen fast zur Weißglut trieben, waren mit einem Schlag vergessen. Nun zählte nur noch, dass eine neue Geschichte den Weg hinaus zu ihren Lesern fand. Dabei hoffte sie, dass die Handlung um das ungleiche Liebespaar ebenso Gefallen fand, wie ihre Bücher zuvor es getan hatten. Mit einem glücklichen, erleichterten Seufzer lehnte Cayla sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und dachte an das letzte Jahr. Die vergangenen Monate hatten ihre beschauliche, kleine Welt komplett auf den Kopf gestellt. Es war wie in einem dieser Hollywoodstreifen. Von der Tellerwäscherin zur Millionärin. Zugegeben, so weit war sie noch nicht, aber immerhin lebte sie ihren Traum und konnte mit ihren Büchern genug Geld verdienen, um sich hier in London eine Eigentumswohnung zu leisten. Obendrein hatte sie sich in dieser kurzen Zeit schon einen guten Namen in ihrem Verlag erarbeitet und ihre Bücher brachten wirklich nennenswerte Erfolge ein.

Für einen Moment überlegte sie, ob sie den Abend noch mit einem Glas Weißwein ausklingen lassen oder das Angebot ihrer Freundin annehmen sollte, ein wenig durch Londons Nachtleben zu tigern. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Eigentlich die beste Zeit, um loszugehen. Doch der Gedanke, jetzt erst noch unter die Dusche zu hüpfen, sich zu stylen, um kurz vor dreiundzwanzig Uhr in irgendeinem Club aufzutauchen, wo es vor alkoholisierten, tanzwütigen Leuten nur so wimmelte, schreckte sie dann doch ab. Zumal sie morgen in aller Herrgottsfrühe rausmusste, um mit ihrer Agentin die letzten Details ihres bald erscheinenden Buches zu besprechen. Doch das war nicht das Einzige, was für den morgigen Samstag anstand. Nein, Anna, ihre beste Freundin, hatte ihr ein Blind Date mit einem ihrer Arbeitskollegen verschafft. Ein, wie sie behauptete, anständiger, gutaussehender bindungsfähiger Mann, der keine Lust mehr hatte, sein Dasein als Single zu fristen. Wenn Cayla ihrer Freundin Glauben schenken konnte, dann stand ihr ein wunderschöner Nachmittag bevor, der vielleicht sogar ihr Leben für immer veränderte. Zumindest war Anna davon zu hundert Prozent überzeugt. Cayla hingegen bezweifelte das stark, denn ihre Männerbekanntschaften waren allesamt eher enttäuschend verlaufen. Dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - war sie sich sicher, dass es irgendwo da draußen den perfekten Mann für sie geben musste. Einen Mann, der sie liebte, der ihr treu war und genau die gleichen Zukunftspläne hatte wie sie. Denn Cayla war sich sicher, dass sie irgendwann heiraten und eine Familie gründen würde. Doch im Moment stand dies nicht an erster Stelle. Schließlich war sie erst 27 Jahre alt und hatte ihrer Meinung nach alle Zeit der Welt. Außerdem war sie der Ansicht, dass ihr Traummann sowieso nicht gefunden werden wollte. Nein, irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es genau wie in ihren Liebesromanen ablaufen würde. Eine zufällige Begegnung, ein Flirt, ein Date und dann die ganz ganz große Liebe. Ohne irgendwelche Verkupplungsaktionen oder eine dieser Singlebörsen. Cayla hatte das Blind Date nur angenommen, weil sie hoffte, dass ihre Freundin dann endlich Ruhe geben würde. Dass sie endlich kapierte, dass Cayla sich keinen Mann aufschwatzen ließ. In Gedanken wusste sie schon genau, wie dieses Treffen morgen ablaufen würde. Ein unkontrollierter, zwanghafter Versuch, Kommunikation zu betreiben, der so oberflächlich sein würde, dass sowohl Cayla als auch der Typ danach feststellten, dass nichts aus den beiden werden würde.

In Gedanken an das bevorstehende Date schnappte sie sich im Vorbeigehen die Post, die schon seit Tagen auf ihrer Kommode lag und darauf wartete, endlich geöffnet zu werden.

„Rechnungen, Rechnungen und ...“, flüsterte sie leise, sortierte jeden Umschlag und hielt mitten in der Bewegung inne, als ihr ein beiges, fast schon schmutziges Briefkuvert ins Auge fiel. In diesem steckte sicher keine Rechnung. So viel stand schon mal fest. Sie drehte es um, und als sie den Absender las, war ihr so einiges klar. Der Brief stammte aus Irland, geschickt von ihrem Grandpa Ian. Ein wohliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie spürte, wie ihr Herz vor Freude hüpfte. Vergessen waren der morgige Tag und dieses Date. Ihr Grandpa war der einzige Mensch in ihrem Leben, der noch immer die altmodische Art der Kommunikation der modernen über das Internet vorzog. In den letzten Monaten waren seine Briefe immer seltener geworden, umso mehr freute sich Cayla, endlich mal wieder etwas von ihm zu hören. Eilig öffnete sie den vergilbten Umschlag, nahm das Papier heraus und begann zu lesen. Doch mit jeder Zeile, die sie zu sehen bekam, schwand ihre bis dahin noch gute Laune. Ians Worte waren nicht wie sonst lebensfroh und glücklich, nein, in jedem Satz fühlte sie die Sorgen und Ängste, die ihn bedrückten. Cayla schluckte schwer, als sie zum Ende des Briefes kam, schloss kurz die Augen und versuchte, ihre Gedanken, die wild durcheinander zu rufen schienen, zu sortieren.

Wäre ihr Grandpa im Besitz eines Telefons, würde sie ihn spätestens jetzt anrufen. Doch Ians alternative Lebensweise und seine Abneigung gegenüber der Technik ließen es nicht zu.

„Zum Himmel noch mal“, fluchte Cayla leise und merkte nicht, wie sie ärgerlich das Papier in ihren Händen zerknitterte. Auch wenn ihr Grandpa noch nie ein Mann großer Worte gewesen war, ein wenig mehr Informationen hätte sie sich dann doch gewünscht. Wie um Himmels willen sollte sie ruhig hier sitzen, wenn Ian dabei war, alles zu verlieren, was ihm so viel bedeutete? Mit dem Brief in den Händen ging sie unruhig auf und ab. In ihrem Kopf herrschte ein Durcheinander an Gedanken, die es kaum zuließen, besonnen zu bleiben. Erst recht nicht, solange sie nur einen Bruchteil dessen wusste, was passiert war oder was noch kommen würde. Nach alldem, was sie eben erfahren hatte, blieb ihr keine Wahl. Sie musste sich schleunigst nach einem Flug umsehen, der sie zurück auf die grüne Insel brachte. Zurück in das kleine beschauliche Dörfchen Fastbel Hill, wo sie so viele Sommermonate verbracht hatte wie nirgendwo anders. Unzählige glückliche Kindheitserinnerungen verband Cayla mit diesem Flecken Erde. Dass der Zeitpunkt gerade mehr als ungünstig war, spielte dabei keine Rolle. Ian brauchte sie. Die Farm brauchte sie.

 

„Ich habe mich auf Familienrecht spezialisiert, Aideen, nicht auf Vertragsrecht oder dergleichen. Für dein Anliegen musst du dir leider jemand anderen suchen, Schwesterlein.“ Blake klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn und durchsuchte mit seinen Händen die Unterlagen, die vor ihm auf seinem Schreibtisch ausgebreitet waren.

„Du bist der einzige Anwalt, den ich kenne.“

„An dem soll es nicht scheitern“, meinte Blake, strich sich über seine Bartstoppeln und wünschte sich, sein Schreibtisch wäre jetzt, wenige Tage vor seinem Urlaub, nicht ganz so voll mit verschiedenen Akten, in die er noch einen Blick werfen musste.

„Ich kann dir gerne die Nummer meines Partners geben, der sich auf das Gebiet spezialisiert hat.“

„Himmel, Blake, du weißt, dass Ian kein Geld mehr ausgeben kann. Er hat schon genug Schulden am Hals. Mehr kann er nicht aufnehmen“, protestierte seine kleine Schwester in den Hörer.

„Was für Schulden?“ Auch wenn er mit seinen Gedanken noch immer bei der Akte auf dem Schreibtisch und seinem leichtgläubigen Klienten Harry war, so versuchte er sich mit den Sorgen seiner kleinen Schwester auseinanderzusetzen.

„Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, muss Ian die Farm verkaufen und ...“, berichtete ihm seine Schwester durchs Telefon.

„Und was hat das mit dir zu tun?“, unterbrach Blake sie und fuhr fort. „Du bist Tierärztin. Solltest du dich nicht um seine Tiere kümmern?! Was bitte hast du davon, wenn du dich in die Belange deiner Kundschaft einmischst?“

Aideen schnaubte verärgert aus. „Du checkst es wohl noch immer nicht, Bruder.“

Nun war es an Blake, verärgert zu klingen. „Was checke ich deiner Meinung nach nicht?“

„Dass es nicht immer nur ums Geld geht. Ian ist mein Freund. Er hängt an seiner Farm und ... bitte, Blake, hilf ihm. Mir! Ich will ...“

Den Rest von dem, was seine Schwester sagte, bekam Blake nur noch häppchenweise mit, denn seine Angestellte kam mit einem Klemmbrett und einer weiteren Mandantenakte zur Tür herein. Das Gespräch mit seiner Schwester bereitete ihm Kopfschmerzen. Genau wie die Tatsache, dass sein Flieger in weniger als zehn Stunden abhob und er weder gepackt hatte, noch beruhigt in den Urlaub fliegen konnte, wenn er wusste, dass ein Mitglied seiner Familie in der Klemme steckte. Auch wenn es nicht wirklich seine Schwester war, die sich in einer misslichen Lage befand, sondern eher ein Mann, von dem er zwar schon so einiges mitbekommen, ihn aber noch nie persönlich getroffen hatte.

„Einen kleinen Moment bitte“, wandte er sich an seine Mitarbeiterin und sprach dann an Aideen gewandt weiter, „schick mir die Akten zu, ich werde es mir nach meinem Urlaub in aller Ruhe durchlesen.“

„So viel Zeit hat Ian nicht. Der Vertrag läuft in ein paar Tagen aus, und wenn er seine Schulden nicht bis dahin zurückbezahlt, verliert er seine Farm und alles, was ihm lieb ist.“ Die Stimme seiner kleinen Schwester klang schon beinahe weinerlich, als sie das sagte.

„Dann sollte dein Freund sich schleunigst Gedanken machen, wie er an das fehlende Geld kommt.“

„Spar dir deine klugen Ratschläge. Die bringen ihn im Moment auch nicht weiter. Das Einzige, was uns weiterbringt, bist du. Ich brauche deinen juristischen Beistand.“

„Ich hab dir doch eben schon gesagt, dass ich ...“

„Scheiße, Blake, deine Kenntnis reicht vollkommen aus, um Ian zu beraten. Mehr verlang ich doch gar nicht.“ Aideens impulsiver Charakter sowie ihre Hartnäckigkeit zählte wohl zu den typischen Merkmalen der Familie Breen, denn Blake besaß genau dieselben. „Ich sprach eher von meinem bevorstehenden Wandertrip und nicht von irgendwelchen Paragraphen in irgendwelchen Verträgen.“

„Komm schon, Blake. Du hast doch auch ständig mit irgendwelchen Verträgen zu tun.“

„Ja, Eheverträge. Da gibt es Unterschiede.“

„Ist mir schon klar, aber ernsthaft, Blake. Ich brauche dich hier!“ Erneut hatte ihre Stimme wieder diesen flehenden Unterton angenommen. „Es ist wirklich verdammt wichtig und außerdem, ich bin seit knapp einem halben Jahr in Fastbel Hill und noch immer hast du mich nicht besucht!“

„Versuchst du mir gerade ein schlechtes Gewissen zu machen?“

Blakes Angestellte, die noch immer an Ort und Stelle verharrte, um mit ihm die letzten wichtigen Details zu besprechen, welche während seines vierzehntägigen Urlaubs erledigt werden mussten, sah nun beklommen zu Boden. Mit einer schnellen Handbewegung gab er ihr das Zeichen, später wiederzukommen.

„Wenn es hilft, dann ja!“

„Komm schon, Aideen. Du weißt, dass ich hier wahnsinnig viel zu tun habe und ein Besuch bei dir für meinen Sommerurlaub geplant ist.“

„Und ich weiß auch, dass du dir wieder gar keinen Urlaub gönnen wirst. So wie das letzte Jahr und das vorletzte Jahr und ...“

Auch wenn er es ungern zugab, sie hatte recht. In den vergangenen drei Jahren hatte er sich wirklich kaum einen freien Tag genehmigt. Aber nicht, weil er nicht gewollt hätte. Nein, er und seine zwei Partner hatten eine neue Kanzlei in Dublin eröffnet. Um sich zu etablieren, sich einen Namen zu machen, brauchte es viel Engagement und Durchhaltevermögen. Aber die vielen Stunden hatten sich eindeutig gelohnt. Mittlerweile hatte sich ihre Kanzlei einen erstklassigen Ruf erarbeitet. Die Aufträge flatterten ihnen nur so entgegen.

„In weniger als zehn Stunden geht mein Flieger nach Schottland. Wohl gemerkt, zum Wanderurlaub.“

„Dein Rumgehopse kannst du genauso gut hier machen.“

„Ich hopse nicht herum! Ich gehe wandern!“

„Wo liegt da bitte der Unterschied? Wie auch immer, hier kann man ganz toll wandern und zudem soziale Kontakte pflegen.“

„Aideen …“ Blakes Stimme klang, als ob er gerade versuchte, einem Kleinkind zu erklären, dass es Bauchschmerzen bekam, wenn es noch mehr Schokolade in sich hineinfutterte. „Ich habe einen Flug gebucht und verschiedene Bed and Breakfasts reserviert. Außerdem freue ich mich seit Monaten auf den West Highland Way.“

„Hier ist die Landschaft noch viel schöner und wandern kannst du hier auch. Komm schon, Blake, wir haben uns monatelang nicht gesehen, ich vermisse meinen großen Bruder. Außerdem hast du mir versprochen, dieses Jahr hierherzukommen. Die Gegend ist traumhaft schön und ich verspreche dir, dass Ians Angelegenheiten dich nicht allzu sehr in Beschlag nehmen werden. Wir brauchen einfach nur ein paar Lösungsansätze.“

„Und warum können wir das dann nicht am Telefon klären?“

„Weil es viel schneller geht, wenn du hier bist. Außerdem kannst du dir ein Bild von allem machen. Vielleicht hast du eine Idee, wie Ian aus dem ganzen Schlamassel rauskommt. Ein paar Dinge klären.“

„Himmel, ich bin Anwalt, kein Wundervollbringer.“

Blake schnaubte ärgerlich aus. Es war sinnlos. Vergebene Mühe, sich mit seiner kleinen Schwester auseinanderzusetzen. Außerdem wusste Aideen ganz genau, dass er ihr kaum einen Wunsch abschlagen konnte. Das war schon so, als sie noch kleine Kinder waren, und hatte sich bis jetzt nicht geändert. Seit Blake fünf Jahre alt war, hatte er die Rolle des großen, beschützenden Bruders eingenommen. Viel zu früh, wie er fand, und doch war ihm keine andere Wahl geblieben. Eilig verdrängte er die Gedanken an seine Kindheit, die ihn stark geprägt hatte.

„Du wirst keine Ruhe geben, bis ich zusage, habe ich recht?“, stellte Blake mürrisch fest, fuhr sich durch das dunkle, wellige Haar, welches ihn wieder einmal daran erinnerte, dass er noch immer keinen Termin bei seinem Friseur vereinbart hatte.

„Wir haben beide diesen unnachgiebigen Charakterzug, Brüderchen. Obwohl meiner noch etwas ausgeprägter ist.“

„Scheint mir auch so.“

„Dann hätten wir das also geklärt. Wann kommst du?“

Statt einer Antwort schnaubte er nur aus und fragte sich, wie es seine Schwester immer schaffte, ihn in so kurzer Zeit weichzukochen.

„Blake?“

„Keine Ahnung. Ich muss meine Reise canceln, sehen, wann der nächste Flieger geht, und ...“

„Warum fährst du nicht mit deinem Auto? Es sind doch nur wenige Stunden.“

„Ja, mal schauen.“ Doch wenn er ehrlich war, hatte er absolut keine Lust, sich einer mehr als vierstündigen Autofahrt zu unterziehen. Nicht nur, weil er dazu neigte, viel zu schnell unterwegs zu sein, sondern auch, weil er sich völlig ausgelaugt fühlte und bereits das ein oder andere Mal mitbekommen hatte, wie müde ihn die Autobahnfahrt machte, wenn er nicht genug geschlafen hatte.

„Na gut. Ich muss jetzt auch schon wieder weiter. Mein nächster Patient wartet. Dorthys Katze hatte eine Auseinandersetzung mit einem Artgenossen und ihr Auge ist geschwollen und mit Eiter verklebt.“

„Das von Dorthy?“

„Nein, du Dummerchen. Das von ihrer Katze.“

„Klar, verstehe.“

Kapitel 2

 

Cayla konzentrierte sich darauf, nicht jeden Moment zu hyperventilieren. Ihre Beine schmerzten, ihr Magen fühlte sich an, als ob er seit Tagen nichts Essbares mehr abbekommen hatte, und von ihren überspannten Nerven wollte sie erst gar nicht anfangen. Doch all das interessierte weder die Frau, die mit ihrem zwölfjährigen, pausenlos quasselnden Jungen direkt vor ihr auf einer abgewetzten Bank saß und ihr nun schon zum dritten Mal davon erzählte, worauf es beim Stricken genau ankam, noch den älteren Herrn, der mehr als die Hälfte ihrer Sitzbank in Beschlag nahm und roch, als ob er in einer mit Knoblauch frittierten Fischtinktur gebadet hätte.

„Wenn Sie also eine linke Masche stricken wollen, dann müssen Sie den Arbeitsfaden vor der nächsten Masche auf die linke Nadel legen. Verstanden?“, meinte die Stricklady und lächelte Cayla aufmunternd zu.

„Klar, kapiert. Die linke Masche vor die Nadel und dann ...“, versuchte Cayla wiederzugeben, verstand aber nur Bahnhof. Es war wie damals in der Schule, als der Lehrer ihr zu erklären versucht hatte, wie die Integralrechnung funktionierte. Diese ganze Masche hier, Arbeitsfaden da, Finger so, ging ihr gehörig auf den Keks. Aber sie war zu gut erzogen, um das der Frau und ihrem Sohn, der mit seinen ach so klugen Ratschlägen nicht hinterm Berg hielt, zu sagen.

„Bitte lass die zwei endlich aussteigen!“, schickte sie ein stilles Stoßgebet in den Himmel. Noch eine Stunde länger und sie war reif für die Klapse. Dazu noch dieser penetrante Geruch ihres Sitznachbarn, der immer stärker zu werden schien. Eigentlich wollte sie die fast zweistündige Busfahrt nutzen, um ihrem seit Tagen bestehenden Schlafmangel entgegenzuwirken, doch an Schlaf war nicht einmal ansatzweise zu denken.

Ihren gequälten Gesichtsausdruck verstand die Stricklady wohl falsch, denn sie meinte ganz entspannt: „Kein Problem, ich zeige es Ihnen noch mal.“

„Nein ...“ Cayla wollte schon „bloß nicht“ sagen, konnte aber gerade noch an sich halten und fügte schnell hinzu: „Wirklich. Ich bin kein handwerklich begabter Mensch und ich denke, dass es vergebene Liebesmühe ist, mir das Stricken beizubringen.“

„Ach papperlapapp. Wenn man einmal den Dreh raushat, geht es wie von selbst. Man kann so unendlich viele schöne Dinge anfertigen.“

„Hm.“

„Ja, Strümpfe, Schals, Mützen, Pulswärmer, Decken und vor ein paar Wochen bin ich zum ersten Mal mit einem Pullover fertiggeworden.“

„Wow, schön.“

„Allerdings muss man darauf achten, die passende Wolle zu bekommen. Da gibt es nämlich Unterschiede“, setzte der Junior neunmalklug Cayla in Kenntnis

„Verstehe“, log sie. Doch in Wahrheit hatte sie keine Ahnung.

„Da hat mein Sohn recht. Man sollte wirklich auf Qualität setzen.“

„Klar, nichts anderes habe ich vor.“ Himmel, sie musste das Thema ein für alle Mal beenden.

„Sobald ich wieder zurück in London bin, werde ich mich mal genauer mit dem Ganzen befassen. Vielleicht gibt es ja einen Kurs oder einen Strickclub oder so was in der Art“, meinte Cayla und versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen.

„Das sollten Sie unbedingt tun! Ich denke, das wird Ihnen richtig guttun und ist genau das, was Sie im Moment brauchen.“ Dabei schob die Stricklady ihre Brille, die ganz nach unten auf ihre Nasenspitze gerutscht war, wieder hoch, nahm den Faden wieder auf und strickte mit einem überzogenen Lächeln weiter.

„Was ich im Moment brauche? Wie meinen Sie das?“ Sie war sich sicher, sich verhört zu haben. Schließlich kannte die Dame Cayla überhaupt nicht und die paar Minuten, die sie gemeinsam im Bus verbracht hatten, ließen so eine Einschätzung kaum zu. Oder etwa doch? Jedenfalls sprach das Gesicht der Dame vor ihr eine eindeutige Sprache.

„Nehmen Sie es mir nicht krumm, aber Ihnen ist ganz deutlich anzusehen, wie unausgeglichen Sie sind.“

„Unausgeglichen?“ Das war ja wohl die Höhe. Cayla war nicht unausgeglichen, ganz und gar nicht. Gut, zumindest war sie bis vor zwei Tagen noch die Ruhe in Person gewesen. Dass dieses ganze Schlamassel ihres Grandpas sie aus der Bahn warf, war ja wohl verständlich.

„Ja, ihr jungen Dinger macht euch alle immer so einen Stress. Keiner hat mehr Zeit für etwas Ruhe und Entspannung“, meinte die Stricklady, „dabei kann man beim Handarbeiten so wunderbar die Seele baumeln lassen. Dazu noch die passende Musik und es ist, als ob man Urlaub hätte.“

Aber klar doch, dachte Cayla für sich und spürte, wie ihr Mund vor Erstaunen offenstand. Stricken ist wie Urlaub. In welchen Sphären lebte die Frau? Obwohl sie mit Musik recht hatte. Warum um alles in der Welt hatte Cayla nicht daran gedacht, sich Kopfhörer einzupacken? Dazu noch eine Wäscheklammer für ihre Nase und der Tag wäre gerettet. Doch nein, stattdessen war sie solchen Strapazen ausgeliefert.

Der neunmalkluge Sohn setzte noch eins drauf: „Wenn Stricken nichts für Sie ist, dann versuchen Sie doch mal autogenes Training.“

„Dir hat das aber nicht geholfen?!“, platzte es aus Cayla heraus. Viel hatte sie schon erlebt, aber das hier war eindeutig mehr als genug.

„Also, das ist ja wohl die Höhe.“ Als sie den bitterbösen Blick der Mutter erhaschte, wusste sie, dass jegliche weitere Stricklehrstunde nun endgültig abgesagt war. Zum Glück. Zugegeben, etwas freundlicher hätte Cayla reagieren können, aber von einem Teenager ließ sie sich nicht erzählen, was ihr guttat und was nicht. Außerdem schienen sich die beiden ja ohnehin schon ihr Bild von ihr gemacht zu haben.

Die Köpfe des Jungen und seiner Mutter waren nun schlagartig starr nach vorne gerichtet, und ganz leise, kaum hörbar vernahm Cayla, wie ihr Sitznachbar sagte: „Na endlich. Ich dachte schon, das endet nie.“

„Ich auch“, gab sie flüsternd zu und lehnte ihren Kopf an das kalte Fenster. Auch wenn sie nun die Dame verärgert hatte, wenigstens hatte Cayla für die verbleibenden Minuten ihre Ruhe. Endlich hatte sie die Chance, ein wenig runterzukommen. Die letzten Tage waren für sie der reinste Horror. Nicht zu wissen, was genau sie in Irland erwarten würde, wie es tatsächlich um Ian und die Farm stand, war schrecklich. Wie in Trance hatte sie den Flug organisiert, das Treffen mit ihrer Agentin hinter sich gebracht und irgendwann zwischendurch noch gepackt. Das bevorstehende Blind Date hatte sie auf unbestimmte Zeit verschoben.

Eingehend blickte Cayla aus dem Fenster, sah zu, wie die Landschaft an ihr vorbeiflog, und spürte mit jedem Herzschlag, wie sehr sie die Insel vermisst hatte. Nun da nur Schweigen herrschte, konnte sie sich ganz auf die Gegend einlassen. Cayla liebte das Land. Sie liebte die hohen Berge, die glasklaren Seen, die imposanten Steilklippen, die sich majestätisch vom Meer abhoben, die saftigen, grünen Wiesen mit den Schafen und Kühen, die darauf friedlich grasten, und die historischen, zum Teil zerfallenen Gebäude, die von einer Jahrhunderte alten Geschichte erzählten, die Ruhe und den Frieden, der von diesem Flecken Erde ausging. Irland war für Cayla ein faszinierender mystischer Ort. Was nicht verwunderlich war in Anbetracht der unzähligen Sagen und Mythen, die über das Land fabuliert wurden. Zwar glaubte sie nicht an Leprechaun, Nymphen und die vielen anderen Naturgeister, aber die grüne Insel barg dennoch etwas, was man nicht recht beschreiben konnte. Man musste es gesehen, erlebt haben, um es zu verstehen. Früher als Kind hatte sie jeden Sommer die Ferien bei ihren Großeltern auf der Farm verbracht. Zahlreiche wunderschöne Erinnerungen verband sie mit der Gegend. Mit dem kleinen Dörfchen Fastbel Hill, von dem sie inzwischen nicht einmal mehr als eine halbe Stunde entfernt war. Nur am Rande bekam Cayla mit, wie nach und nach die Fahrgäste in den umliegenden Dörfern abgesetzt wurden. Bis sie schließlich selbst an der Reihe war. Mittlerweile saßen nur noch ihr Platznachbar und eine ältere Dame ein paar Bänke vor ihr im Bus. Schon von Weitem sah sie das Straßenschild und die schmale Einfahrt, die in das 300-Seelenörtchen führte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Platz herum und konnte es kaum noch abwarten, bis der Bus endlich vor Sallys Laden hielt. Während er sich auf direktem Weg dorthin begab, starrte Cayla hinaus, inspizierte die Umgebung und stellte lächelnd fest, dass sich in all den Jahren nichts verändert hatte. Noch immer wirkte Fastbel Hill wie ein Dorf aus einem ihrer Romane. Mit den farbenfrohen Hausfassaden, den urigen Gärten und liebenswerten Personen, die darin wohnten.

„Darf ich bitte!“ Noch länger hielt sie es nicht auf der Bank aus und so musste sich ihr Sitznachbar, noch bevor der Bus anhielt, erheben. „Vielen Dank.“

 

Mit einem erschrockenen „Was zur Hölle?“ kam Blakes Mercedes zum Stehen. Seine Hände hatten sich so fest um das Lenkrad gekrallt und sein Fuß, der intuitiv reagiert hatte, zitterte ein wenig. Nur um ein Haar wäre er mitten in eine Schafsherde geknallt, die in aller Seelenruhe auf der Straße stand und ihn anstarrte, als ob sie ihn fragen wollte, ob er sich verfahren hätte. Denn genau davon ging Blake aus. Er stellte den Motor ab, stieg aus und schaute sich um. So ganz falsch konnte er nicht sein, denn wo Schafe waren, musste auch irgendwo eine Farm sein. Zumindest lag das nahe. Doch weit und breit war kein Hausdach zu entdecken. Nur Wiesen, Steine und ein paar vereinzelte Bäume. Er stieß einen Fluch aus und warf den Tieren einen bitterbösen Blick zu, so als ob sie für die missliche Lage verantwortlich wären, in der er sich befand.

Genervt lehnte er sich an die Motorhaube und kramte in seiner Hosentasche nach seinem iPhone. Aideen hatte ihm die genaue Wegbeschreibung geschickt. Bestimmt hatte er sich verfahren und musste umkehren.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Blake hob den Kopf und sah eine junge Frau auf sich zukommen. Hinter sich her zog sie einen Trolley, der immer wieder in einem der kleinen Schlaglöcher hängen blieb.

„Haben Sie sich verfahren? Wohin wollen Sie denn?“ Der misstrauische Blick, mit dem sie Blake musterte, entging ihm nicht. Ebenso ihre geröteten Wangen und das lange kupferfarbene Haar, welches ihr bis über die Schulter reichte.

„Ja vermutlich!“, gab er zu und musterte sie noch ein wenig länger. Sie war vielleicht eins fünfundsechzig groß, trug eine knapp sitzende Röhrenjeans und eine dunkelblaue eng geschnittene Daunenjacke. „Ich möchte nach Fastbel Hill.“

„Und zu wem genau wollen Sie? Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen!“ Bildete er es sich nur ein oder glich das schon fast einer Drohung? Ihre grünen Augen blickten ihn skeptisch an und Blake fragte sich, ob alle Menschen hier Fremden gegenüber so misstrauisch waren. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen konnte man fast glauben, er hätte etwas verbrochen. Doch bis auf die Tempoüberschreitungen, zu denen er sich ab und an hinreißen ließ, fiel im partout nichts ein. Warum also dieser feindselige Blick? Bis eben hatte er noch gedacht, sie wäre eine nette, hilfsbereite Person, aber mit jeder Sekunde, die sie sich länger gegenüberstanden, wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass dem wohl nicht so war. Anscheinend verbarg sich hinter ihrem unauffälligen Äußeren ein recht widerspenstiger Charakter.

„Vermutlich können Sie das nicht.“ Er deutete mit dem Kopf zu dem Koffer, den sie hinter sich herzog. „Denn Sie scheinen mir nicht von hier zu sein.“

„Da irren Sie sich.“ Wissend nickte sie und meinte: „Sie können mir glauben, ich kenne so gut wie alle Leute in den zwei umliegenden Dörfern. Früher als Kind habe ich hier so gut wie alle Sommerferien verbracht.“

„‚Früher‘ ist aber schon ein wenig her, oder nicht? In der Zwischenzeit könnte sich einiges geändert haben“, setzte Blake sie in Kenntnis und stellte amüsiert fest, wie ihre vollen Lippen leicht bebten.

„Das hier ist Fastbel Hill. Nicht Dublin oder eine andere Großstadt. Wenn sich was ändert, bekommen wir das mit.“

„Wir?“

„Ja, wir!“

„Auf mich macht es aber nicht den Anschein, als ob Sie hier wohnen. Oder warum rennen Sie mit einem Koffer durch die Gegend?“, sprach Blake endlich aus, was ihm schon seit dem ersten Augenblick ihres Treffens durch den Kopf ging. Außerdem kam ihm ihr Akzent nicht irisch vor.

„Zu wem möchten Sie?“, wollte sie nun mit Nachdruck wissen. „Was haben Sie hier in Fastbel Hill zu suchen?“ Blakes Frage hingegen umging sie.

Er hatte des Öfteren mit misstrauischen Zeitgenossen zu tun. Lag vielleicht an seinem Job, aber jemand wie diese Frau war ihm noch nie untergekommen. Das hier glich schon fast einem Verhör.

„Brauche ich einen Anwalt?“

„Wie bitte?“

„Sie geben mir das Gefühl, als ob ich etwas verbrochen habe, dabei ...“

Aufgebracht funkelten ihre grünen Augen ihn an. „Wissen Sie was, das hier ist mir eindeutig zu blöd. Eigentlich wollte ich Ihnen nur helfen, aber so nicht!“

Noch ehe er etwas sagen konnte, brauste sie, so schnell ihr Koffer es zuließ, an ihm vorbei. Direkt auf die Schafsherde zu, die ihm und seinem Wagen die Straße versperrte. Den Anblick, wie die Frau wütend durch die Menge der Tiere stapfte, den Trolley, der eindeutig nicht so wollte wie sie, hinter sich herzerrte, fand Blake recht amüsant. Kopfschüttelnd schaute er hinter ihr her, wie sie den Weg entlangmarschierte und dann um eine Kurve verschwand. Das konnte ja heiter werden. Hoffentlich waren die anderen Einwohner nicht so sonderbar.

 

Knapp zehn Minuten später hatte er dann durch Nachfragen bei Aideen den richtigen Weg genommen und stand jetzt direkt in der winzigen Küche, in der seine Schwester gerade einen Tee für ihn zubereitete.

„Ehrlich, Blake, du hättest ruhig etwas freundlicher sein können. Die Frau war einfach nur neugierig und außerdem fällt man hier auf, wenn man mit Anzug herumrennt. Warum hast du dich denn nicht vorher noch umgezogen?“ Aideen deutete auf seine schwarze Stoffhose und das dunkelblaue Hemd, welches er trug.

„Ich war davor noch bei einem Klienten, der dringend einen Rat brauchte.“ Blake nahm die Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit entgegen, die seine Schwester ihm reichte.

„Wie war das mit Urlaub?“

„Ja, ich weiß, aber er ist echt ein armes Schwein. Er würde seiner Noch-Ehefrau alles zugestehen, wenn ich nicht ein Auge auf ihn hätte. Der ist völlig überfordert mit der Scheidung“, erklärte er ihr und hoffte, Harry baute keinen Mist, während er weg war. Blake wollte das Beste für seinen Klienten und Kumpel herausholen. Aber solange dieser noch die Hoffnung hegte, seine baldige Ex würde es sich mit der Scheidung noch mal überlegen, wenn er zu allem Ja und Amen sagte, sah es schlecht aus.

„Es sind ja nur zwei Wochen. Nicht mal mehr. So viel Unsinn wird er in der Zeit schon nicht verzapfen.“ Aideen ließ sich auf einen der Holzstühle fallen und stellte ihre Tasse auf dem runden Tisch ab. „Setz dich hin! Du musst nicht stehen.“

„Der Stuhl sieht nicht besonders vertrauenserweckend aus.“ Argwöhnisch beäugte er die Antiquität.

„Dieser Stuhl, mein lieber Bruder, hat schon mehr Hintern gesehen als du in deinen einunddreißig Jahren.“

„Genau darin liegt ja das Problem“, murmelte er und begutachtete das Möbel näher. Das Korbgeflecht sowie der es einfassende Holzrahmen sahen mehr als mitgenommen aus. Seiner Meinung nach war das Teil reif für den Müll. Aber seine kleine Schwester war da anscheinend anderer Meinung. Aideen hatte ein Faible für antike Möbelstücke. Kein Wunder also, dass die gesamte Einrichtung des kleinen Häuschens, in dem sie hier wohnte, in diesem Stil ausgewählt war.

„Jetzt setz dich schon! Er wird unter deinen achtzig Kilos schon nicht zusammenbrechen“, forderte Aideen ihn schmunzelnd auf. „Außerdem war er vor ein paar Wochen erst beim Schreiner. Der hat die Standbeine verstärkt.“

„Beruhigend.“ Langsam ließ er sich darauf nieder.

„Hält, oder?“, meinte sie zwinkernd und reichte ihm ein Stück ihres selbst gebackenen Kuchens. „Mit Eiern glücklicher, zufriedener Hühner.“

„Du besitzt Hühner?“

„Noch nicht. Eigentlich war das der Plan, aber ich werde von den Bauern hier mit Eiern und Milch überhäuft. Teilweise muss ich schon ablehnen, weil ich kaum noch hinterherkomme mit verarbeiten und essen.“

„Ein hartes Leben ist das“, meinte Blake sarkastisch und biss von dem Kuchen ab.

„Und wie.“ Aideen grinste. „Nein, ehrlich. Die Leute hier sind unheimlich liebenswert und zuvorkommend. Ich bin überglücklich, die Tierarztpraxis von Dr. Murphy übernommen zu haben.“

„Dich hat es schon immer aufs Land gezogen.“

„Das stimmt.“ Sie schnitt ein weiteres Stück von dem Backwerk ab und legte es sich auf den Teller.

„Dann bist du also zufrieden, wie es läuft?“, vergewisserte Blake sich. Es freute ihn, dass seine kleine Schwester sich hier wohlfühlte und den Schritt, so weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause zu leben, nicht bereute. Er musterte Aideen. In den letzten Monaten hatte sie sich kaum verändert. Noch immer trug sie ihr langes dunkelblondes Haar wie früher. In ihrer Nase steckte auch noch ein kleines Piercing und ihre türkisfarbenen Augen strahlten wie eh und je pure Lebensfreude aus. Trotz des äußeren Erscheinungsbildes, welches sich seit ihrem letzten Treffen nicht verändert hatte, wirkte sie jedoch erwachsener.

„Es läuft richtig gut. Natürlich habe ich teilweise lange Arbeitstage und muss auch manchmal nachts raus, wenn eine Kuh kalbt, aber das ist völlig in Ordnung. Außerdem springt Dr. Murphy ab und an noch ein. So ganz kann und will er die Arbeit nicht sein lassen.“

„Das freut mich zu hören.“ Blake ergriff die Tasse mit dem dampfenden Tee, führte sie an die Lippen, und als der Geruch des heißen Getränks ihm entgegenschwebte, hielt er urplötzlich inne. „Was genau ist das?“

„Tee.“

„Ah ja.“ So ganz sicher war er sich dessen nicht. Der Inhalt seiner Tasse roch seinen abgetragenen Sportsocken nach einem Zwanzig-Kilometer-Marsch erschreckend ähnlich.

„Warum verziehst du denn so das Gesicht?“ Demonstrativ trank Aideen einen Schluck aus ihrem Becher.

„Weil das Zeug widerlich stinkt.“

Genervt blickte seine Schwester ihn an. „Du hattest noch nie etwas für die Heilkräfte unserer Pflanzenwelt übrig. Das Zeug, wie du es nennst, trägt zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Brennnesseln und ...“

„Ich brauch weder heilende Brennnesseln noch irgendwelche anderen seltsamen Pflanzen in meinem Tee. Das Einzige, was ich möchte, ist eine vernünftige Tasse schwarzen Kaffee.“ Blake schwenkte seinen Becher so, dass die bräunlich-grüne Flüssigkeit darin ein wenig hin und her schwappte, bevor er schließlich das Gefäß abstellte und so weit wie nur möglich von sich wegschob.

„Tja, Bruderherz, da muss ich dich leider enttäuschen. In meinem Haus gibt es keinen Kaffee.“

„Ernsthaft?“

„Ernsthaft!“

„Mein Tag wird immer besser“, murrte Blake.

„Ach komm schon. Ein wenig Entgiftung würde deinem Körper und Geist sicher nicht schaden“, meinte Aideen und erhob sich von ihrem Stuhl. „Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“

„Wenn deine Art von Entgiftung so aussieht, dass man selbst vergiftet wird, dann passe ich lieber.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde Blake mit einem bitterbösen Blick bestraft. Und zum zweiten Mal an diesem Tag fragte er sich, ob die Reise nach Fastbel Hill eine gute Idee war.