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Emma Goldman

Anarchismus
und andere Essays

aus dem amerikanischen Englisch
von Katja Rameil

 

 

 

 

U N R A S T

Klassiker der Sozialrevolte 22

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In allen Zeiten wurden Texte geschrieben, die wir heute als Klassiker der Sozialrevolte bezeichnen wollen. Darunter zählen wir historische Texte aus Sozialen Bewegungen bzw. aus dem Kontext sozialer Revolutionen – von den Frühsozialisten der Französischen Revolution bis zur APO der 60er Jahre dieses Jahrhunderts.

 

Der UNRAST Verlag wird in dieser Reihe eine umfangreiche Sammlung von Texten herausgeben, um damit ein Stück der eigenen Sozialgeschichte zu bewahren.

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Goldman – Anarchismus und andere Essays

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-035-2

Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«

hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt

 

© UNRAST Verlag, Münster

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Umschlag: UNRAST Verlag

Satz: UNRAST Verlag

Inhalt

Zur Einleitung

Emma Goldman
Was ich denke

(New York World | 19.7.1908)

I. EIGENTUM

II. REGIERUNG

III. MILITARISMUS

IV. REDE- UND PRESSEFREIHEIT

V. KIRCHE

VI. LIEBE UND EHE

VII. GEWALT

Emma Goldman
Anarchismus und andere Essays

(Mother Earth Publication | 2nd Ed. 1911)

Vorwort

Anarchismus – wofür er wirklich steht

Plädoyer für die Minderheiten

Die Psychologie politischer Gewalt

Gefängnisse – Inbegriff gesellschaftlichen Verbrechens und Versagens

Patriotismus – eine Bedrohung für die Freiheit

Francisco Ferrer und die moderne Schule

Die Scheinheiligkeit des Puritanismus

Frauenhandel

Frauenwahlrecht

Das Trauerspiel der Frauenemanzipation

Ehe und Liebe

Das moderne Theater – fruchtbarer Boden für radikales Denken

Emma Goldman
War mein Leben lebenswert?

(Harper’s Monthly Magazine | Dezember 1934)

Kommentiertes Personenregister

Anmerkungen

Zur Einleitung

Zum ersten Mal in vollständiger deutscher Übersetzung steht im Zentrum dieses Buches Emma Goldmans 1910[1] in New York veröffentlichte Essay-Sammlung Anarchism & other Essays. Auf dem Höhepunkt der staatlichen Hetze gegen alles anarchistische, den syndikalistischen IWW, gewerkschaftliche Organisierung im Allgemeinen, jede Form sozialistischen und libertären Widerstands sah sich die begnadete öffentliche Rednerin Emma Goldman genötigt, ihre Ideen zu verschriftlichen, um eine breitere Wirkung und nachhaltigere Auseinandersetzung zu ermöglichen. Beinahe harsch enttäuscht formuliert sie in ihrem Vorwort:

»Mein großer Glaube an das Wundermittel, das gesprochene Wort, existiert nicht mehr. Inzwischen habe ich begriffen, dass es nicht in der Lage ist, Gedanken zu erwecken, ja nicht einmal eine Emotion. Obwohl ich mich gegen diese Erkenntnis gewehrt habe, musste ich nach und nach einsehen, dass mündliche Propaganda auch unter den günstigsten Umständen kein Mittel ist, um Menschen aus ihrer Lethargie zu reißen: Es hinterlässt keinen bleibenden Eindruck.«

Bereits seit 1906 gab sie gemeinsam mit Alexander Berkman in New York die anarchistische Monatsschrift Mother Earth heraus, in der sie wesentliche Artikel selbst schrieb und 1908 veröffentlichte sie in der von Joseph Pulitzer herausgegebenen Tageszeitung New York World den grundlegenden Aufsatz Was ich denke, den wir hier – quasi als Einleitung – dem eigentlichen Essayband vorangestellt haben. Man kann diesen Artikel beinahe als frühe Kurzfassung ihrer zwei Jahre später nachfolgenden Essays lesen.

Emma Goldman war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Ikone der anarchistischen Bewegung. Seit ihrer ersten Vortragsreise im Januar 1890 kamen zu ihren regelmäßigen öffentlichen Auftritten mittlerweile Tausende, auch weil sie von der US-Presse spätestens seit 1901, dem Jahr des tödlichen Attentats auf Präsident McKinley, zum Enfant terrible, zur anarchistischen geistigen Bombenlegerin, die mit »gekrönten Häuptern kegelt«, aufgebauscht worden war.

 

* * *

 

1885 floh die 1869 in Kovno (Lithauen/Russland) geborene Emma Goldman aus der Enge ihres jüdischen bildungsbürgerlichen Elternhauses und migrierte, um einer von den Eltern arrangierten Ehe zu entfliehen, in die USA. Bereits in Petersburg, wo ihre Familie hingezogen war, war sie mit der jungen russischen revolutionären Intelligenz in Kontakt gekommen. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 wurden pogromartig jüdische Intellektuelle verantwortlich gemacht und vom Regime verfolgt. Ein Grund mehr für die 16-jährige Emma, den Verheißungen des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten zu folgen.

 

In Rochester, New York, angekommen fand sie Arbeit als Näherin in einer Fabrik und heiratete den jüdischen Arbeitskollegen Jakob Kershner, um die US-Staatsbürgerschaft zu erlangen. Schnell jedoch war sie desillusioniert von den ärmlichen Bedingungen und dem kapitalistischen System unter dem die US-ArbeiterInnen ausgebeutet wurden. Sie sympathisierte mit der 8-Stundentag-Bewegung und organisierte die Arbeiterinnen in ihrer Fabrik. 1887 war der Justizmord an den Anarchisten August Spies, Georg Engel, Adolph Fischer und Albert Parsons, im Zuge der juristischen Verhandlung des Chicagoer Haymarket-Anschlags, für Goldman das entscheidende Schlüsselerlebnis, woraufhin sie sich politisch weiter radikalisierte, der anarchistischen Bewegung anschloss und ihren Mann verließ, um nach New York überzusiedeln, das neben Chicago eines der Zentren der Bewegung war.

1889 machte sie dort zwei entscheidende Bekanntschaften, die ihren weiteren Weg als anarchistische Denkerin und Agitatorin vorzeichneten. Die eine war Johann Most, Herausgeber der in deutscher Sprache erscheinenden Zeitschrift Freiheit und einer der am radikalsten auftretenden Anarchisten in New York überhaupt. Wortgewaltig trat er in dieser Phase der massiven staatlichen Repression gegenüber der ArbeiterInnenbewegung für die Propaganda der Tat ein, was Emma Goldman sehr imponierte. Die zweite war Alexander Berkman, ebenfalls jüdisch-russischer Migrant, der bis zu seinem Tod 1936 zu ihrem engsten politischen Weggefährten und besten Freund wurde.

 

Most, von dem sie sagt, dass es seinerzeit ihr »größter Wunsch [war], so wie Johann Most reden zu können«, organisierte ihre erste Vortragsreise im Januar 1890 und eine zweite im Oktober, die bereits ein erstes Echo in der Mainstream-Presse erhielt. Goldman hielt ihre Reden in Englisch und Deutsch. Ihre Themen waren eng an die aktuellen Fragen der ArbeiterInnenbewegung geknüpft: die soziale Frage, Kampf um den 8-Stunden-Tag, gewerkschaftliche Organisierung, Streik und Widerstand.

Als im Juli 1892 der Stahlmanager Henry Clay Frick angeworbene Söldner der Pinkerton-Detektei auf streikende ArbeiterInnen des Stahlwerks in Homestead schießen ließ und ein Blutbad unter den Streikenden anrichtete, entschloss sich Alexander Berkman im Sinne der Propaganda der Tat mit einem Anschlag auf Frick ein Zeichen zu setzen[2]. Das Attentat misslang, Berkman wurde zu 22 Jahren Zuchthaus verurteilt. Emma Goldman wurde öffentlich beschuldigt an der Vorbereitung der Tat beteiligt gewesen zu sein, was sich allerdings nicht beweisen ließ, weil Berkman dazu nichts aussagte. Auch eine polizeiliche Durchsuchung von Goldmans Wohnung und die Beschlagnahme all ihrer Schriftstücke brachte dazu keine Erkenntnis; dennoch wurde sie von der Presse verurteilt und erlangte als »Red Emma« und »Queen of the Anarchists« landesweite Bekanntheit. Emma Goldman wurde in den Folgejahren nicht müde, Berkmans Attentat öffentlich zu verteidigen, in dem sie es als Folge des mörderischen Kapitalismus, der über die Leichen der ArbeiterInnen geht, rechtfertigte. In ihrem Essay Die Psychologie politischer Gewalt schreibt sie dazu:

»Nur einer war unter ihnen, der aktiv etwas gegen das Unrecht von Homestead unternahm – Alexander Berkman. Ja, er ist Anarchist. Er hielt diese Tatsache hoch, denn es war die einzige Kraft, die die Differenz zwischen der Sehnsucht seines Geistes und der wirklichen Welt überhaupt erträglich machte. Dennoch war es nicht der Anarchismus als solcher, sondern das brutale Abschlachten der elf Stahlarbeiter, das Alexander Berkman zu dem Attentat gegen Henry Clay Frick trieb.«

Ein Jahr später ergab sich für die Repressionsorgane dann endlich eine Gelegenheit, die »Königin der Anarchisten« festzusetzen. Als sie im August 1893 in New York einen Protestmarsch von 1.000 Arbeitslosen organisierte und auf der Abschlusskundgebung in Englisch und Deutsch dazu aufforderte, sich das Brot einfach zu nehmen, wenn man hungere, wurde sie direkt danach verhaftet und anschließend wegen »Anstiftung zum Aufruhr« zu einem Jahr Gefängnisaufenthalt verurteilt.

 

Nach ihrer Entlassung stürzte sich Emma Goldman sofort mit aller Kraft erneut in die agitatorische Arbeit. Alleine von Februar bis Juni 1898 sprach sie auf 66 Veranstaltungen in 18 Städten und 11 verschiedenen Bundesstaaten. Ihre Themen betrafen schon lange nicht mehr nur die Fragen der ArbeiterInnenbewegung aus anarchistischer Perspektive, sondern spannten mittlerweile einen weiten Bogen von Repression, Zensur und Knasterfahrungen über die Möglichkeiten von Widerstand und Militanz, die Rolle von Kirche und Religion bis hin zu den Themen Freie Liebe, Ehe und Moral sowie die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die in Emma Goldmans Denken eine zunehmend zentralere Rolle einnahmen. Hinzu kam, nachdem der von der Ölindustrie protegierte neugewählte Präsident McKinley im April 1898 den Amerikanisch-Spanischen Krieg vom Zaun gebrochen hatte (der mit der Annexion von Hawaii, Puerto Rico und den Philippinen endete), die bedeutende Thematik von Krieg und Frieden und die Organisierung antimilitaristischer Opposition.

Als am 6. September 1901 McKinley von dem anarchistischen Einzelgänger Leon Czolgosz erschossen wurde, der aussagte von einer Rede Emma Goldmans zu der Tat inspiriert worden zu sein, wurde Goldman 4 Tage später verhaftet und intensiv verhört. Eine immense Kaution von 20.000 $ (umgerechnet heute 400.000 $) wurde festgesetzt, deren Zahlung sie ablehnte und nach zwei Wochen musste sie wegen Mangels an Beweisen entlassen werden.

Nichtsdestotrotz wurde Emma Goldman in der Presse als ein wahres Monster gezeichnet, John Edgar Hoover, der spätere Begründer des FBI, nannte sie einmal öffentlich »die gefährlichste Frau Amerikas«.

 

Im März 1906 gab Goldman die erste Ausgabe der anarchistischen Vierteljahresschrift Mother Earth heraus, die sie gemeinsam mit Berkman (der im Mai 1906 auf Bewährung entlassen wurde) bis 1917 führte.

 

Immer mehr traten in den 1910er Jahren für Emma Goldman feministische Themen und Inhalte in den Vordergrund. Dabei agierte sie als Anarchistin nicht innerhalb der politischen Wahlrechtskampagne, die sie sehr kritisch begleitete[3]. Die große Kampagne zur Geburtenkontrolle hingegen sollte ab 1912/13 eines ihrer wichtigsten Agitationsfelder werden. Der Begriff der Geburtenkontrolle (Birth Control) wurde von Margaret Sanger geprägt, die ihn erstmals 1914 in ihrem regelmäßigen Rundbrief The Women Rebel verwandte, in dem sie sich für Empfängnisverhütung und das Recht der Frau auf ihren Körper einsetzte. Emma Goldman war wie Sanger der festen Überzeugung, dass eine von der Frau selbstbestimmte Geburtenkontrolle das Elend des Proletariats lindern und Frauen sexuelle Freiheit gewähren könnte, dass es das Recht einer jeden Frau sei, sich zu weigern, Kinder in die Welt zu setzen.

1916 wurde Goldman nach einem Auftritt beim Birth control mass meeting in der Carnegie Hall in New York verhaftet, weil sie gegen das sog. Comstock-Gesetz verstoßen hatte, laut dem u.a. die Verbreitung von Informationen über Verhütungsmittel verboten war. Sie verbüßte eine 15-tägige Haft, weil sie sich weigerte die Strafe von 100 $ zu bezahlen.

 

Mit Kriegseintritt der USA in den 1. Weltkrieg drängte sich ab 1917 die Auseinandersetzung mit Patriotismus, Militarismus und der allgemeinen Wehrpflicht auf. Alles keine neuen Themen für Emma Goldman, die bereits 1910 in dem hier vorliegenden Essay Patriotismus – eine Bedrohung für die Freiheit konstatierte:

»Denn schließlich ist der Militarismus das größte Bollwerk des Kapitalismus. In dem Moment, in dem ersterer unterwandert wird, gerät der Kapitalismus ins Schwanken.«

Sofort organisierte sie gemeinsam mit Berkman und anderen 1917 die No Consription League (Liga gegen die Wehrpflicht – in Anlehnung an das seit 1914 in Britannien aktive No Conscription Fellowship) und agitierte landesweit gegen den Krieg. Nach Verbot der Liga noch im gleichen Jahr wurden Goldman und Berkman verhaftet, die Redaktionsräume der Mother Earth durchsucht und Wagenladungen mit Material beschlagnahmt. Der Vorwurf: Verschwörung zur Verhinderung der Einberufung zur Armee. Das Urteil: 2 Jahre Gefängnis.

 

Ende 1919 kam Emma Goldman wieder auf freien Fuß, wurde jedoch aufgrund des gerade erst verabschiedeten Anarchist Exclusion Act gemeinsam mit Berkman und 247 weiteren Linksradikalen mit dem ausgedienten Militärtransporter USS Buford in die junge Sowjetunion deportiert.

Zunächst voller Enthusiasmus unterstütze Goldman die russische Revolution, arbeitete gemeinsam mit Berkman für das Petrograder Revolutionsmuseum, tourte mit ausländischen Pressevertretern durch Fabriken und berüchtigte zaristische Gefängnisse. Der tiefe Einblick, den sie in die bolschewistische Bürokratie erhielt, die ungelösten sozialen Probleme, die unter dem Sachzwangargument weitergehende Ausbeutung der ArbeiterInnen in den Fabriken und die brutale Repression gegen die linksintellektuelle Opposition, brachten Goldman recht schnell in eine kritische Haltung zum herrschenden Regime.

Als im Frühjahr 1921 der von Lenin zeitlebens geachtete Peter Kropotkin an einer Lungenentzündung verstarb, wurde sein Begräbnis, an dem Goldman und Berkman eine der Grabreden hielten, zum letzten Fanal der anarchistischen Bewegung in Sowjetrussland. Etwa 20.000 Menschen folgten der Zeremonie. Kurz darauf begannen die bolschewistischen Repressionsorgane mit einer hemmungslosen Verfolgungswelle der immer noch einflussreichen russischen anarchistischen Bewegung. Als im März 1921 Trotzki die streikenden ArbeiterInnen und protestierenden Matrosen der Kommune von Kronstadt von der bolschewistischen Artillerie zusammenbomben ließ, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Goldman schrieb eine offizielle Protestnote an Lenin und den Petrograder Sowjet, die nie beantwortet wurde. Im Dezember deselben Jahres verließ sie gemeinsam mit Berkman die Sowjetunion und gelangte über Schweden nach Berlin. Dort notierte sie ihre Erfahrungen, die später unter dem Titel My Disillusionment in Russia veröffentlicht wurden. In Berlin angekommen tourte Goldman mit ihren Erfahrungen monatelang umher und sammelte Geld für die in der Sowjetunion inhaftierten AnarchistInnen und ihre Familien.

 

In den folgenden Jahren lebte Goldman in London und St. Tropez, nachdem sie durch die Heirat mit dem walisischen Anarchisten James Colton die britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte. In St. Tropez hatte ihre Freundin Peggy Guggenheim finanziell geholfen, ein kleines Ferienhaus zu erwerben, wo sie die Muße fand, u.a. ihre Autobiografie Living my Life zu schreiben. Von hier aus plante sie verschiedene Vortragsreisen durch ganz Europa.

1934 erhält sie ein einziges Mal noch die Möglichkeit, mit einem 3-monatigen Touristenvisum durch die USA zu touren, unter der Vorgabe keine politischen Äußerungen zu tätigen und pausenlos von FBI-Agenten begleitet, um aus ihrer Biografie zu lesen. Dass sie nichts von ihrer Popularität in den USA verloren hatte, zeigt die eindrucksvolle Zahl der interessierten ZuhörerInnen, die zu Ihren Lesungen strömte. Alleine in Chicago las sie fünf Mal. Dort hörten ihr bspw. am 22. März auf Einladung des Free Society Forums 1.600 Menschen und am selben Tag noch an der Chicagoer Universität weitere 1.200 Menschen zu. Quasi als Replik auf diesen letzten USA-Besuch veröffentlichte im Dezember das Harper‘s Monthly Magazine Goldmans Aufsatz War mein Leben lebenswert?, den wir in dem hier vorliegenden Buch anstelle eines Nachworts abschließend wiedergeben. Trotzig ruft sie hier der US-amerikanischen Öffentlichkeit, die sie so häufig diffamiert und dem Staat, der sie schlussendlich abgeschoben und verbannt hat, entgegen:

»Trotz des gegenwärtigen Trends, nach starken Männern zu rufen, zu totalitären Staatsformen zu tendieren oder zur Diktatur von links, bin ich meinen Ansichten treu geblieben. Sie haben sich durch meine persönliche Erfahrung und die Ereignisse, die über die Jahre auf der Welt geschehen sind, sogar noch gefestigt. Ich sehe keinen Grund, meine Ansichten diesen Entwicklungen anzupassen, denn ich bin nicht der Meinung, dass der Hang zur Diktatur unsere gesellschaftlichen Probleme jemals erfolgreich lösen können wird. Wie in der Vergangenheit glaube ich auch heute noch, dass die Freiheit die Seele des Fortschritts ist und in keiner Lebensphase fehlen darf.«

Als im Frühsommer 1936 Alexander Berkman in Nizza zwei Tage nach einem Selbstmordversuch starb, war Goldman, die es gerade noch so schaffte, an sein Sterbebett zu gelangen, am Boden zerstört. Sie isolierte sich in ihrem Haus in St. Tropez und schien depressiv.

Doch wenige Wochen später putschte General Franco in Spanien gegen die Republik, was die mittlerweile 67-jährige Emma Goldmann sofort zum Anlass nahm, die anarchistische und anarcho-syndikalistische Bewegung in Katalonien aktiv zu unterstützen. Sie schrieb ein englischsprachiges Bulletin der CNT/FAI, besuchte kollektivierte Betriebe in Barcelona, Valencia und Madrid, schrieb in der englischen Presse darüber, reiste an die Aragon-Front, wo sie Buenaventura Durruti kennenlernte, den sie sehr schätzte. Seinen Nachruf, den sie wenig später verfassen musste, betitelte sie mit Durruti ist tot – aber er lebt.

Zurückgekehrt nach England übernahm sie als offizielle Botschafterin der Generalität von Katalonien und Repräsentantin der CNT/FAI das Londoner Büro, organisierte Solidaritätskonzerte für die spanische Flüchtlingshilfe und warb für die Internationalen Brigaden. Doch auch hier blieb Emma Goldman die Querdenkerin, die nicht kritiklos hinnehmen wollte, dass sich die spanischen AnarchistInnen von Stalin unterstützen ließen, ihrer Meinung nach zu eng mit den Kommunisten zusammenarbeiteten und insbesondere kritisierte sie den Eintritt der AnarchistInnen in die Volksfrontregierung als grundlegenden Fehler.

Nach der Niederschlagung der Spanischen Revolution durch die von Hitler und Mussolini massiv unterstützten Franquisten entschloss sich Goldman, Europa am Vorabend des 2. Weltkriegs endgültig zu verlassen und nach Toronto überzusiedeln, wo sie kurz darauf am 14. Mai 1940 im Alter von 70 Jahren nach einem Schlaganfall verstarb.

 

* * *

 

Als in den frühen 70er Jahren – Emma Goldman war gerade einmal 30 Jahre tot – US-amerikanische Radikalfeministinnen um Peggy Kornegger und Carol Ehrlich den Begriff des AnarchaFeminismus wortschöpften, war es nicht weit hergeholt, Emma Goldman dieser ›neuen‹ Bewegung, die sehr schnell auch Europa erreichte, als wichtiges historisches Vorbild voranzustellen. Der AnarchaFeminismus, wie ihn Kornegger und Ehrlich verstanden, unterschied sich von der klassischen Frauenbewegung dadurch, dass nicht alleine das Patriarchat im Fokus ihrer Kritik stand, sondern die Abschaffung aller Herrschaftsstrukturen,

»weil die Verbindung des Anarchismus mit dem Feminismus eine vollkommene Vereinigung von Prinzipien und Idealen wäre. Keine der beiden Lehren würde sich verändern müssen, denn sie entsprechen einander. Beide würden sich durch ihre Integration gegenseitig bereichern.«

Für Emma Goldman war es selbstverständlich, dem libertären Einsatz gegen jede Form von Unterdrückung auch den Kampf für Frauenrechte und gegen das Patriarchat gleichzustellen. Für viele anarchistische, syndikalistische, libertäre Männer nicht. So sei hier nur kurz an den notwendigen Kampf der Mujeres Libres in Spanien erinnert, die gleichzeitig für ihre Rechte als Frauen innerhalb der Revolution und gegen den drohenden Franquismus kämpfen mussten. Oder an den Syndikalistischen Frauenbund in der Weimarer Republik, der neben dem Kampf in den Fabriken und gegen den Straßenfaschismus der frühen 30er Jahre auch einen Kampf innerhalb der FAUD um ihre Wertschätzung als Frauen führen musste.

Folgerichtig könnte es gut sein, dass sich libertäre Revolutionärinnen wie Emma Goldman heute als AnarchaFeministinnen bezeichnen würden, denn für Goldman war Freiheit unteilbar: die Freiheit, als Arbeiterin gerechten Lohn zu erlangen, die Freiheit, als Frau über ihre Sexualität und ihren Körper selbst zu bestimmen, die Freiheit, als Mensch in der Gesellschaft frei reden zu können, die Freiheit, sich gegen Repression und Tyrannei jeder Art verteidigen zu dürfen.

Die Rolle des feministischen Widerstands zur Erlangung der ersehnten freien Gesellschaft war in Emma Goldmans Denken und Handeln absolut zentral:

»Indem sie [die Frauen] nicht bereit sind, irgendjemandem zu Diensten zu sein – weder Gott noch dem Staat noch der Gesellschaft, weder dem Ehemann noch der Familie –, sondern ihr eignes Leben gestalten, werden die Frauen zu Garanten der wirklichen Liebe, des Friedens und der Harmonie, zu Gebärerinnen freier Männer und Frauen.«

 

Jörn Essig-Gutschmidt, November 2013

 

 

 

Emma Goldman
Was ich denke

(New York World | 19.7.1908)

›Was ich denke‹ ist schon oft zur Zielscheibe von allen möglichen Schreiberlingen geworden. Welch markerschütternde, zusammenhanglose Geschichten wurden über mich in die Welt gesetzt, und so ist es kein Wunder, dass den DurchschnittsbürgerInnen das Herz zu rasen beginnt, sobald sie nur den Namen Emma Goldman hören. Zu schade, dass wir nicht mehr in einer Zeit leben, in der Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder so lange gefoltert wurden, bis sie die schlimmen Geister verließen. Denn es ist wahr, Emma Goldman ist eine Hexe! Sie frisst zwar keine kleinen Kinder, aber sie tut noch viel schlimmere Sachen. Sie baut Bomben und kegelt mit gekrönten Häuptern. B-r-r-r-!

Einen solchen Eindruck hat die Öffentlichkeit von mir und meinen Ansichten. Deshalb ist es insbesondere The World zu verdanken, dass ihre LeserInnen wenigstens die Chance bekommen, meine wirklichen Ansichten kennenzulernen.

Wer sich mit der Geschichte progressiver Ansichten beschäftigt, weiß um die Tatsache, dass jegliche Ideen in ihrer Anfangsphase verdreht und ihre AnhängerInnen Opfer von Verleumdung und Verfolgung wurden. Um zu erkennen, wie gering das Verständnis für große Ideen oder wahrhaftige Gläubige ist, muss man nicht einmal 2.000 Jahre in der Zeit zurückgehen, als jene, die an das Evangelium glaubten, in die Arena geworfen oder ins Verlies gesperrt wurden. Die Geschichte des Fortschritts wurde mit dem Blut von Männern und Frauen geschrieben, die es wagten, sich für eine unbeliebte Sache einzusetzen, beispielsweise das Recht der Schwarzen über ihren Körper oder das Recht der Frauen über ihre Seele. Wenn also seit undenklichen Zeiten das Neue stets auf Widerstand und Verurteilung gestoßen ist, warum sollten dann meine Ansichten vor dieser Dornenkrone verschont bleiben?

›Was ich denke‹ ist ein Prozess, kein Ergebnis. Abschließende Ergebnisse sind etwas für Götter und Regierungen, nicht für den menschlichen Intellekt. Es mag zwar stimmen, dass Herbert Spencers Definition von Freiheit als politische Grundlage der Gesellschaft die wichtigste auf diesem Gebiet ist, aber das Leben besteht aus mehr als nur Formeln. Im Kampf für die Freiheit ist es, wie Ibsen so gut gezeigt hat, der Kampf, der all das Stärkste, Entschlossenste und Beste im menschlichen Charakter freisetzt, und nicht so sehr das Erreichen der Freiheit selbst.

Anarchismus ist jedoch nicht nur ein Prozess, der mit ›tristen Schritten‹ voranschreitet und alles Positive und Konstruktive in organischer Entwicklung koloriert. Er ist ein auffälliger Protest, der militanter nicht sein könnte. Er ist derart kompromisslos, eine so beharrliche, durchdringende Kraft, dass er auch der engstirnigsten Beleidigung trotzt und der Kritik jener widersteht, die wahrhaftig die letzten Trompeten einer zerfallenden Zeit blasen.

AnarchistInnen sind im Theater der gesellschaftlichen Entwicklung keinesfalls passive ZuschauerInnen; im Gegenteil, sie haben, was Ziele und Methoden angeht, einige sehr positive Ideen.

Um mich so kurz und präzise wie möglich auszudrücken, möchte ich das, ›was ich denke‹, in mehrere Themenbereiche gliedern:

I. EIGENTUM

›Eigentum‹ bedeutet die Herrschaft über Dinge, die von anderen nicht genutzt werden dürfen. Solange noch nicht so viel produziert wurde, wie Bedarf herrschte, mag institutionelles Eigentum in gewisser Hinsicht seine raison d‘être gehabt haben. Ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung genügt jedoch, um zu erkennen, dass die Produktivität in den letzten Jahrzehnten derart angestiegen ist, dass der normale Bedarf hundertfach gedeckt werden könnte. Damit wird Eigentum nicht nur zu einer Beeinträchtigung für das Wohl des Menschen, sondern sogar zu einem Hindernis, einer tödlichen Sperre für jeglichen Fortschritt. Es ist die private Herrschaft über Dinge, die Millionen von Menschen ins Nichts zwingt, sie zu lebenden Körpern macht, die keine Originalität und Initiative mehr besitzen, zu menschlichen Maschinen aus Fleisch und Blut, die bergeweise Wohlstand für andere schaffen und dafür mit ihrer eigenen grauen, stumpfen und elenden Existenz bezahlen. Ich bin der Meinung, dass es keinen wahren Wohlstand, gesellschaftlichen Wohlstand, geben kann, solange dafür menschliches Leben geopfert wird – junges Leben, altes Leben und entstehendes Leben.

Sämtliche radikalen DenkerInnen räumen ein, dass die Hauptursachen dieser schrecklichen Situation folgende sind: (1) dass der Mensch seine Arbeitskraft verkaufen muss; (2) dass seine Neigungen und sein Urteil dem Willen eines Herren unterworfen sind.

Der Anarchismus ist die einzige Philosophie, die diese erniedrigende und demütigende Situation beenden kann und dies auch tun wird. Was ihn von allen anderen Theorien unterscheidet, ist die Grundeinstellung, dass allein die Entwicklung des Menschen, sein physisches Wohlergehen, seine latenten Qualitäten und angeborenen Anlagen die Art und die Bedingungen seiner Arbeit bestimmen dürfen. Gleichermaßen soll es seiner physischen und mentalen Einschätzung und dem Verlangen seiner Seele überlassen sein, wie viel er konsumiert. Ich bin der Ansicht, dass dies nur in einer Gesellschaft möglich ist, die auf der freiwilligen Zusammenarbeit produktiver, lose miteinander verbundener Gruppen, Gemeinschaften und Verbände beruht. Daraus wird sich schließlich ein freier, von Interessensolidarität bestimmter Kommunismus entwickeln. Im weitesten Sinne des Wortes kann es keine Freiheit, keine harmonische Entwicklung geben, solange das persönliche Verhalten maßgeblich von Geldgier und finanziellen Überlegungen bestimmt wird.

II. REGIERUNG

Meiner Ansicht nach dienen Regierung, organisierte Autorität und Staat allein dem Erhalt und Schutz von Eigentum und Monopol. Allein in dieser Funktion haben sie sich als wirkungsvoll erwiesen. Sämtliche großen DenkerInnen der Welt definieren die Regierung als ungeeignet zur Unterstützung individueller Freiheit, menschlichen Wohlergehens und gesellschaftlicher Harmonie.

Daher bin ich, gemeinsam mit allen anderen AnarchistInnen, der Meinung, dass Rechtsvorschriften, Gesetzeserlasse und Verfassungsvorgaben Eingriffe in die Privatsphäre des Menschen darstellen. Niemals haben sie einen Menschen zu etwas veranlasst, das er nicht allein aus seinem Intellekt oder Temperament heraus ohnehin getan hätte, und sie haben auch nicht verhindern können, wozu sich ein Mensch gedrängt gefühlt hat. Millets malerische Beschreibung des Manns mit der Hacke, Meuniers Meisterwerke der MinenarbeiterInnen, denen es gelang, die Arbeitskraft aus ihrer erniedrigenden Lage zu befreien, Gorkis Beschreibung der Unterwelt, Ibsens psychologische Analyse des menschlichen Lebens hätten nicht mehr von einer Regierung veranlasst werden können als der Geist, der den Menschen dazu bewegt, ein Kind vorm Ertrinken oder eine verkrüppelte Frau aus einem brennenden Gebäude zu retten; der Geist, der niemals von einer Rechtsvorschrift oder durch die Polizei zum Leben erweckt werden könnte. Ich glaube – nein, ich weiß – dass sich alles, was im Menschen gut und schön ist, trotz der Regierung äußert und durchsetzt, nicht wegen ihr.

Daher haben die AnarchistInnen recht, wenn sie meinen, dass der Anarchismus – in Abwesenheit der Regierung – der ungehinderten menschlichen Entwicklung den größten und weitesten Raum geben wird und damit den Grundstein für wahren gesellschaftlichen Fortschritt und eine wirklich harmonische Gesellschaft legt.

An das stereotypische Argument, die Regierung gebiete Verbrechen und Lastern Einhalt, glauben nicht einmal die Gesetzgeber selbst. In diesem Land werden Millionen von Dollar dafür ausgegeben, dass Kriminelle hinter Gittern bleiben, und dennoch gibt es immer mehr Verbrechen. Sicher ist diese Tatsache nicht einer unzureichenden Gesetzgebung geschuldet! 90 Prozent unserer Verbrechen stehen in Verbindung mit Eigentum und sind in unseren wirtschaftlichen Ungleichheiten verwurzelt. Solange diese weiter bestehen, können wir jeden Laternenpfahl in einen Galgen umwandeln, ohne dass das auch nur die geringste Auswirkung auf das Verbrechen in unserer Mitte haben wird. Ererbte Verbrechen lassen sich sicher niemals mit Gesetzen bekämpfen. Aber natürlich gibt es auch heute Beweise dafür, dass solche Verbrechen mit den besten modernen medizinischen Methoden, die uns zur Verfügung stehen, effektiv behandelt werden können, vor allem aber durch einen tieferen Gemeinschaftsgeist, durch Freundlichkeit und Einfühlungsgabe.

III. MILITARISMUS

Ich würde diesen Themenbereich, da er zur Ausrüstung der Regierung gehört, nicht separat behandeln, aber die erbittertsten GegnerInnen meiner Ansichten, die letztere für brutal halten, sind MilitaristInnen.

Tatsache ist, dass die AnarchistInnen in Wirklichkeit wahre FriedensbotschafterInnen sind – die einzigen Menschen, die ein Ende der zunehmenden Tendenz zum Militarismus fordern, der dieses einst freie Land in rasendem Tempo in eine imperialistische und despotische Macht verwandelt.

Der militärische Geist ist der gnadenloseste, herzloseste und brutalste überhaupt. Er unterstützt eine Institution, für die es nicht einmal den Versuch einer Rechtfertigung gibt. Der Soldat, um mit Tolstoi zu sprechen, ist ein professioneller Mörder. Er tötet nicht wie ein Wilder um des Tötens Willen oder aus Leidenschaft wie bei einem Mord. Er ist das kaltblütige, mechanische, gehorsame Werkzeug seiner militärischen Vorgesetzten. Er ist bereit, auf Befehl eines Ranghöheren Kehlen durchzuschneiden oder ein Schiff zu versenken, ohne zu wissen oder sich vielleicht auch nur dafür zu interessieren, warum und wozu. In dieser Ansicht pflichtet mir kein Geringerer als der Militärexperte General Funston bei. Ich zitiere aus seinem Brief an die New York Evening Post vom 30. Juni, in dem er sich zum Fall des Soldaten William Buwalda äußert, der den ganzen Nordwesten der USA beschäftigte. »Die erste Pflicht eines Offiziers oder Gefreiten«, so unser edler Kriegsherr, »ist bedingungsloser Gehorsam und absolute Loyalität gegenüber der Regierung, der er die Treue geschworen hat; ob er mit dieser Regierung einverstanden ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«

Wie können wir das Prinzip des ›bedingungslosen Gehorsams‹ mit dem Prinzip von ›Leben, Freiheit und der Suche nach Glück‹ in Einklang bringen? Die tödliche Macht des Militarismus hat sich in den USA noch nie so deutlich gezeigt wie vor Kurzem im Fall William Buwaldas aus San Francisco, Kompanie A, Ingenieurkorps, den ein Kriegsgericht zu fünf Jahren Militärgefängnis verurteilte. Dieser Mann hatte 15 Jahre lang im Militär gedient. »Sein Charakter und sein Verhalten waren tadellos«, erfahren wir von General Funston, der in Anbetracht dessen das Strafmaß auf drei Jahre heruntersetzte. Dennoch wird der Mann plötzlich aus der Armee geworfen, zur Ehrlosigkeit verdammt, seiner Rentenansprüche beraubt und ins Gefängnis geworfen. Was hatte er verbrochen? Hört nur her, ihr BürgerInnen der freien USA! William Buwalda hatte eine öffentliche Versammlung besucht und dort der Rednerin die Hand geschüttelt. General Funston versichert in seinem bereits erwähnten Brief an die New York Evening Post, dass es sich bei Buwaldas Handlung um »einen schlimmen militärischen Verstoß handelt, weitaus schlimmer als Fahnenflucht.« An anderer Stelle erklärte der General in Portland, Oregon, öffentlich, dass »Buwaldas Verbrechen schwerwiegend war und einem Verrat gleichkommt.«

Es stimmt wohl, dass diese Versammlung von AnarchistInnen organisiert worden war. Hätten die SozialistInnen dazu eingeladen, so General Funston, hätte nichts gegen Buwaldas Anwesenheit gesprochen. Ich zitiere: »Ich selbst würde nicht einen Moment zögern, eine sozialistische Versammlung zu besuchen.« Aber eine anarchistische Zusammenkunft, auf der Emma Goldman spricht – konnte es einen schlimmeren Verrat geben?

Für dieses schreckliche Verbrechen schmachtet nun ein Mann, ein freier Bürger der USA, der hier geboren wurde und dem Land die besten 15 Jahre seines Lebens geschenkt hat und dessen Charakter und Verhalten in diesem Zeitraum »tadellos« waren, im Gefängnis – entehrt, blamiert, seiner Lebensgrundlage beraubt.

Kann es etwas Destruktiveres für die wahre Berufung zur Freiheit geben als den Geist, der Buwaldas Urteil möglich machte – den Geist des bedingungslosen Gehorsams? Ist es das, wofür die BürgerInnen der USA in den letzten Jahren 400 Millionen Dollar und ihr Herzblut geopfert haben?

Ich bin der Ansicht, dass der Militarismus – ein stehendes Heer und eine Kriegsmarine in jedem Land – für den Verfall der Freiheit und die Zerstörung des Besten und Großartigsten unserer Bevölkerung steht. Die zunehmende Forderung nach mehr Kriegsschiffen und einer größeren Armee auf der Grundlage, dass diese uns Frieden garantieren sollen, ist so absurd wie das Argument, dass der friedlichste Mensch der ist, der die meisten Waffen trägt.

Ebenso wenig nachvollziehbar ist die Einstellung jener angeblichen FriedensbotschafterInnen, die gegen den Anarchismus sind, weil er in ihren Augen zur Gewalt auffordert, die sich aber dennoch ungemein darüber freuen würden, wenn die USA bald in der Lage wären, aus Flugzeugen Dynamitbomben auf wehrlose Feinde abzuwerfen.

Ich bin der Meinung, dass das Ende des Militarismus gekommen ist, wenn alle freiheitsliebenden Menschen auf der Welt zu ihren Herren sagen: »Geht und tötet selber. Wir haben uns und unsere Liebsten lange genug in euren Schlachten geopfert. Im Gegenzug habt ihr uns in Friedenszeiten zu Parasiten und Kriminellen gemacht, in Kriegszeiten mussten wir wie Tiere sein. Ihr habt uns von unseresgleichen entfremdet und aus der Welt ein Schlachthaus für Menschen gemacht. Nein, wir kämpfen und töten nicht für das Land, das ihr uns gestohlen habt.«

Oh ja, ich glaube mit ganzem Herzen daran, dass die menschliche Gemeinschaft und Solidarität den Horizont von dieser schrecklichen roten Spur des Krieges und der Zerstörung befreien wird.

IV. REDE- UND PRESSEFREIHEIT

Der Fall Buwalda ist nur ein Aspekt eines größeren Bereiches, der die Redefreiheit, die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit betrifft.

Viele gute Menschen meinen, dass die Prinzipien der Rede- oder der Pressefreiheit innerhalb der Verfassungsgarantien ordentlich und sicher ausgeübt werden können. Das ist, so scheint mir, die einzige Entschuldigung für die schreckliche Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber den Angriffen auf die Rede- und Pressefreiheit, die wir in den letzten Monaten in diesem Land erleben mussten.

Meiner Ansicht nach sollten Rede- und Pressefreiheit bedeuten, dass ich sagen und schreiben kann, was ich möchte. Dieses Recht wird zu einer Farce, wenn es durch Verfassungsbestimmungen, Gesetzeserlässe, allmächtige Entscheidungen der Zensurstelle oder der Polizei geregelt wird. Mir ist durchaus bewusst, dass man mich vor den Folgen warnen wird, die uns erwarten, wenn wir der Meinungsäußerung und der Presse die Fesseln abnehmen. Dennoch glaube ich, dass die Heilung dieser Folgen der unbegrenzten Ausübung der Meinungsfreiheit in noch mehr freien Meinungsäußerungen bestehen wird.

Die Kontrolle von Gedanken konnte noch nie die Welle des Fortschritts aufhalten, wohingegen verfrühte gesellschaftliche Explosionen nur zu oft durch Repressionswellen ausgelöst worden sind.

Werden unsere Regierenden denn nie begreifen, dass Länder wie England, Holland, Norwegen, Schweden und Dänemark, wo die größte Meinungsfreiheit herrscht, am meisten von diesen ›Folgen‹ verschont worden sind? Wohingegen Russland, Spanien, Italien, Frankreich und ach, selbst die USA diese ›Folgen‹ zum dringlichsten politischen Faktor erhoben haben. Angeblich handelt es sich bei den USA um ein mehrheitsregiertes Land, aber trotzdem kann jeder Polizist, auch wenn er nicht von der Macht der Mehrheit unterstützt wird, in russischer Manier eine Versammlung auflösen, RednerInnen von der Bühne zerren und das Publikum aus dem Saal prügeln. Der Vorstand der US-Bundespost, der nicht gewählt wird, hat die Befugnis, Veröffentlichungen zu verhindern und Post zu beschlagnahmen. Gegen seine Entscheidungen kann man ebenso wenig Revision einlegen wie gegen die des russischen Zaren. Ich bin voll und ganz der Ansicht, dass wir eine neue Unabhängigkeitserklärung brauchen. Gibt es denn keine modernen Jeffersons oder Adams?

V. KIRCHE

Unlängst wurde auf einer Tagung der politischen Überreste einer einst revolutionären Idee beschlossen, dass Religion und Wahlrecht nichts miteinander zu tun haben dürfen. Warum sollten sie auch? »Solange der Mensch dazu bereit ist, dem Teufel seine Seele zu überlassen, kann er mit der gleichen Konsequenz dem Politiker seine Rechte überlassen. Dass Religion eine private Angelegenheit ist, haben die bis-marxistischen SozialistInnen Deutschlands längst geklärt. Unsere US-MarxistInnen, die wenig Rückgrat und Originalität besitzen, müssen für diese Weisheit unbedingt nach Deutschland reisen. religion hat dort als Knüppel gedient, um mehrere Millionen Menschen in die disziplinierte Armee des Sozialismus zu prügeln. Hier in den USA kann das Gleiche geschehen. Um Himmels Willen, lasst uns nicht gegen die Ehrbarkeit verstoßen, lasst uns nicht die religiösen Gefühle der Menschen verletzen.

Religion ist ein Aberglaube, der einst aus der geistigen Unfähigkeit des Menschen entstand, Naturphänomene zu verstehen. Die Kirche ist eine organisierte Institution, die dem Fortschritt stets im Wege gestanden hat.

Die Kirche als Institution hat die Religion ihrer Naivität und Ursprünglichkeit beraubt. Sie hat die Religion in einen Albtraum verwandelt, der die menschliche Seele unterdrückt und den Verstand fesselt. »Die Herrschaft der Finsternis«, wie Leo Tolstoi, der letzte wahre Christ, die Kirche nennt, ist der Feind der menschlichen Entwicklung und des freien Denkens und hat als solcher keinen Platz im Leben wahrhaft freier Menschen.

VI. LIEBE UND EHE

Ich glaube, das sind wahrscheinlich die Themen in diesem Land, die am meisten totgeschwiegen werden. Es ist nahezu unmöglich, darüber zu sprechen, ohne den Missfallen des geschätzten Anstandes einer Menge guter Menschen zu erregen. Kein Wunder also, dass bezüglich dieser Frage so viel Unwissen herrscht. Allein eine offene, ehrliche und intelligente Behandlung dieser Themen, die für das Individuum ebenso lebenswichtig sind wie für das gesellschaftliche Wohlergehen, wird die Luft von dem hysterischen, sentimentalen Unsinn bereinigen, der sie umgibt.

Ehe und Liebe sind nicht gleichbedeutend; im Gegenteil, oft stehen sie einander verfeindet gegenüber. Ich bin mir zwar der Tatsache bewusst, dass einige Ehen aus Liebe entstehen, aber die engen materiellen Einschränkungen der Ehe, wie sie ist, zerquetschen rasch die zarte Blume der Zuneigung.

Die Ehe ist eine Institution, die Staat und Kirche enorme Einnahmen garantiert und sie außerdem dazu befähigt, sich in diesen Lebensbereich einzumischen, der von kultivierten Menschen seit Langem als ihr persönlicher Bereich betrachtet wird, als ihre ureigenste heilige Angelegenheit. Liebe ist die mächtigste Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen, die seit Urzeiten alle menschengemachten Gesetze herausgefordert und die eisernen Schranken der Konventionen von Kirche und Moral durchbrochen hat. Die Ehe ist oft ein rein wirtschaftliches Abkommen, das für die Frau eine lebenslange Versicherungspolice darstellt und dem Mann die Erhaltung seiner Art ermöglicht oder ihm ein hübsches Spielzeug zur Verfügung stellt. Die Ehe und die Vorbereitung darauf bedeuten also für die Frau ein Leben als Parasit, als abhängige, hilflose Magd, während dem Mann das Recht über ein menschliches Leben erteilt wird.

Was können derartige Umstände mit Liebe gemein haben? Mit dem Element, dem alles Geld und alle Macht der Welt nichts bedeuten und das in seiner eigenen Welt des freien menschlichen Ausdrucks existiert? Aber wir leben nicht mehr in der Zeit der Romantik, von Romeo und Julia, von Faust und Margarita, von Verzückung im Mondenschein, von Blumen und Musik. Wir leben in einem praktischen Zeitalter. An erster Stelle steht für uns das Einkommen. Wie schlimm steht es doch um uns, wenn wir in einer Zeit angekommen sind, in der selbst die Höhenflüge der Seele kontrolliert werden. Ohne das Element der Liebe kann sich kein Mensch entwickeln.

Wenn aber zwei Menschen dem Schrein der Liebe huldigen, was wird dann aus dem goldenen Kalb, der Ehe? »Sie ist die einzige Sicherheit für die Frau, für das Kind, die Familie, den Staat.« Für die Liebe aber gibt es keine Sicherheit, und ohne Liebe kann kein gutes Zuhause existieren und tut es auch nicht. Ohne Liebe sollte kein Kind geboren werden; ohne Liebe kann sich eine wahrhafte Frau nicht mit einem Mann verbinden. Die Angst, dass Liebe allein nicht ausreicht, um dem Kind materielle Sicherheit zu geben, ist überholt. Ich glaube, dass die erste Unabhängigkeitserklärung der Frau, wenn sie ihre Emanzipation unterschreibt, sein wird, dass sie einen Mann wegen seines Herzens und Verstandes bewundert und liebt und nicht aufgrund der Größe seines Geldbeutels. Die zweite Erklärung wird sein, dass sie das Recht hat, diese Liebe ohne Hindernisse der Außenwelt zu leben. Die dritte und wichtigste Erklärung wird das absolute Recht auf freie Mutterschaft sein.

Auf einer solchen Mutter und einem gleichermaßen freien Vater baut die Sicherheit des Kindes auf. Sie haben die Kraft, die Entschlossenheit, die Harmonie, eine Umgebung zu schaffen, in der allein die menschliche Pflanze zu einer erlesenen Blume wachsen kann.

VII. GEWALT

Nun kommen wir zu dem Thema, zu dem die meisten Missverständnisse in den Köpfen der US-amerikanischen Öffentlichkeit existieren. »Wie, propagiert ihr etwa keine Gewalt, wenn ihr die Gekrönten und die Präsidenten töten wollt?« Wer sagt denn, dass ich das vorhätte? Hat mich jemand so etwas sagen gehört? Hat das jemand in unseren Schriften gefunden? Nein, aber es steht in den Zeitungen und alle sagen es; also muss es stimmen. Ach, wie ist es doch um das logische Denken und das Urteilsvermögen unserer lieben Öffentlichkeit bestellt!

Ich bin der Ansicht, dass der Anarchismus die einzige Philosophie des Friedens ist, die einzige Theorie gesellschaftlicher Beziehungen, die menschliches Leben höher schätzt als alles andere. Ich weiß, dass einige AnarchistInnen gewaltsame Handlungen unternommen haben, aber es sind die schreckliche wirtschaftliche Ungleichheit und die große politische Ungerechtigkeit, die solche Aktionen provozieren, nicht der Anarchismus. Jede Institution baut heute auf Gewalt auf; unsere ganze Atmosphäre ist davon durchsetzt. Solange ein solcher Staat existiert, können wir wahrscheinlich eher darauf hoffen, die Niagarafälle aufhalten zu können als die Gewalt. Ich erwähnte bereits, dass in den Ländern, in denen größere Meinungsfreiheit herrscht, weniger oder keine Gewalt herrscht. Was ist die Moral davon? Ganz einfach: Keine von AnarchistInnen begangene Handlung diente ihrem persönlichen Vorteil, ihrer Verherrlichung oder ihrem Profit, sondern es handelte sich vielmehr dabei um einen bewussten Protest gegen repressive, willkürliche, tyrannische Maßnahmen von oben.

Der französische Präsident Carnot wurde von Caserio aufgrund seiner Weigerung getötet, das Todesurteil für Vaillant zurückzunehmen, für dessen Leben sich die gesamte literarische, wissenschaftliche und humanitäre Welt Frankreichs eingesetzt hatte.

Bresci reiste auf eigene Kosten nach Italien, verdiente sich den Lebensunterhalt in den Seidenfabriken von Paterson und führte König Umberto seiner gerechten Strafe zu, weil dieser angeordnet hatte, während eines Hunger-Protests auf wehrlose Frauen und Kinder zu schießen. Angiolillo tötete den Premierminister Canovas, weil dieser im Montjuich-Gefängnis die spanische Inquisition wieder hatte aufleben lassen. Alexander Berkman versuchte, während des Streiks von Homestead Henry Clay Frick zu töten, weil er sich mit den elf Streikenden in enger Solidarität verbunden fühlte, die von den Pinkerton-Kräften getötet worden waren, und mit den Witwen und Kindern, die Frick aus Mr. Carnegies armseligen kleinen Hütten jagen ließ.

Jeder dieser Männer teilte der Welt schriftlich oder in gesprochenen Worten seine Gründe mit und legte die Ursachen dar, die zu seiner Handlung geführt hatten. Daraus ist ersichtlich, dass es nicht die Philosophie des Anarchismus war, die ihn zu diesen Taten trieb, sondern die unerträgliche wirtschaftliche Situation und der politische Druck, das Leid und die Verzweiflung seiner Mitmenschen. Jeder dieser Männer handelte offen und freimütig und war bereit, die Konsequenzen zu tragen und das eigene Leben zu geben.

Wenn ich die wahre Natur unserer gesellschaftlichen Übel diagnostiziere, kann ich nicht jene verurteilen, die ohne eigenes Verschulden an einer weit verbreiteten Krankheit leiden.

Ich glaube nicht, dass diese Taten eine gesellschaftliche Erneuerung mit sich bringen oder darauf angelegt waren. Das kann einerseits nur durch eine umfassende, breit angelegte Bildung bezüglich der Position des Menschen in der Gesellschaft und seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen geschehen und zum Zweiten durch Beispiele. Damit meine ich, dass die Wahrheit, wenn sie einmal erkannt wurde, auch gelebt werden muss und ihr Wesen nicht nur theoretisiert werden darf. Und zum Dritten ist die mächtigste Waffe der bewusste, intelligente, organisierte wirtschaftliche Protest der Massen durch direkte Aktion und den Generalstreik.