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Therese Martin

Letzte Gespräche
der Heiligen von Lisieux

Ich gehe ins Leben ein

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Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Herausgegeben vom Theresienwerk e. V., Augsburg

Die Originalausgabe ist erschienen bei:

© Johannes-Verlag, Leutesdorf

Übersetzung: Sr. Theresia Renata Lochs

Die Neuausgabe wurde der aktuellen deutschen Rechtschreibung angepasst.

Deutsche Lizenzausgabe von:

J’ENTRE DANS LA VIE (Sainte-Thérèse)

Éditions du Cerf et Éditions Desclée de Brouwer, Paris

LETZTE GESPRÄCHE DER HEILIGEN VON LISIEUX

Ich gehe ins Leben ein

Therese Martin

Media Maria Verlag, 1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© Media Maria Verlag, Illertissen 2018

ISBN 978-3-9454018-0-4

www.media-maria.de

INHALT

Vorwort zur Neuausgabe

Vorwort

Einleitung

Das »Gelbe Heft« von Mutter Agnes

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Anhang

Letzte Gespräche Thereses mit Céline

Letzte Worte von Sr. Therese vom Kinde Jesus, gesammelt von Sr. Maria vom Heiligen Herzen

Andere Worte Thereses

Mutter Agnes von Jesus

Schwester Genoveva

Schwester Maria vom Heiligen Herzen

Schwester Maria von der Eucharistie

Schwester Maria von der Dreifaltigkeit

Schwester Therese vom heiligen Augustinus

Schwester Maria von den Engeln

Schwester Amata von Jesus

Anonym

Briefe über Thereses Krankheit

Chronologie

Eigennamenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Zur Herstellung der vorliegenden Ausgabe

Zur Übersetzung

Anmerkungen

Ich sterbe nicht,
ich gehe ins Leben ein.

Brief der heiligen Therese
(9. Juni 1897)

VORWORT ZUR NEUAUSGABE

Im vorliegenden Buch findet der Leser gleichsam das Testament der heiligen Therese von Lisieux. Alle Kerngedanken ihrer Spiritualität kehren in ihren letzten Gesprächen wieder: ihr tiefer Glaube an das ewige Leben, ihr Ringen um das Heil der Menschenseelen, ihre ständig wachsende Gottesliebe, die in ihrem letzten Wort gipfelt: Oh, ich liebe ihn! Mein Gott, ich liebe dich!

Zugleich erhält der Leser einen sachlichen Bericht über die Schwere ihres Leidens in der Krankheit der Tuberkulose und eine Lehre, wie eine Heilige leidet und stirbt. Sie verstand es, auch in qualvollsten Augenblicken ihren Humor nicht zu verlieren und immer noch zu scherzen. Dieses Buch hilft allen suchenden Menschen und bereichert jene, die bereits auf dem Weg zu Gott sind.

Die letzten Worte der Heiligen wurden durch ihre leiblichen Schwestern, die am Krankenbett Dienst taten, glaubhaft überliefert. Unter sehr menschlichen Worten findet man auch prophetische Worte, die vom Heiligen Geist inspiriert waren. Die Annahme ihrer Leiden und Schmerzen bis zu ihrem Eingang ins Leben unterstreichen die Echtheit ihrer Lehre.

Nachdem die letzte Auflage dieses Buches »Ich gehe ins Leben ein« aus dem Jahr 2003, erschienen im Johannes-Verlag Leutesdorf, vergriffen war, hat sich das Theresienwerk e. V. in Augsburg entschlossen, eine Neuausgabe im Media Maria Verlag Illertissen herauszugeben. Der Titel wurde in »Die letzten Gespräche der Heiligen von Lisieux« geändert.

Monsignore Anton Schmid,
Leiter des Theresienwerks e. V., Augsburg

VORWORT

Im vorliegenden Buch findet der Leser das Testament der heiligen Therese vom Kinde Jesus – einen sachlichen Bericht und zugleich eine Lehre über das Thema: »Wie leidet, lebt und stirbt eine Heilige?« Eine zärtliche Heilige, die sich nicht scheut, ihre Familie und ihre Schwestern zu lieben; eine Heilige, die es versteht, auch in den schwierigsten und qualvollsten Augenblicken ihren Humor nicht zu verlieren und immer noch zu scherzen; eine Heilige wiederum, die schwache Stunden kennt und manchmal mit der ganzen »Armseligkeit« des Menschen leidet; vor allem aber eine Heilige von staunenswerter Gottesliebe und ebensolchem Heroismus. Dabei tritt dieser Heroismus in Lebensumständen zutage, die man nicht in allen Punkten als heroisch bezeichnen kann. Sprechen wir das ruhig aus, denn gerade darin liegt ja zum Teil die Größe der Heiligen und auch ihre Vorbildlichkeit für uns. Tatsächlich dürfte es wenigen Menschen und vor allem wenigen Karmelitinnen beschieden sein, in Krankheit und Sterben mit so viel Liebe und Fürsorge umhegt zu werden wie Therese vom Kinde Jesus im Krankenzimmer des Karmels von Lisieux im Jahre 1897.

Das ist die Botschaft dieser »Letzten Gespräche«, eine Botschaft voller Realismus und Optimismus, eine Botschaft, die uns viel zu sagen hat – vor allem im Leiden, aber auch im Alltag. Ist es doch unser aller Los, die Prüfungen des Lebens und die Prüfungen des Glaubens in unserer alltäglichen Existenz zu bestehen. Das Los der Heiligen ist es, die gleichen Prüfungen zu bestehen – heroisch, wohlverstanden –, vor allem aber mit einer großen zärtlichen Liebe. Das ist es vielleicht, worin sie sich von uns unterscheiden, gleichzeitig aber macht sie gerade das zum Vorbild für unser Leben.

Deshalb ist Therese vom Kinde Jesus und vom Heiligen Antlitz durch ihre letzten Äußerungen auch heute noch, rund 120 Jahre nach ihrem Tod, für uns ein »Wort Gottes«, wie Pius XI. sie nannte.

P. Bernard Delalande
Provinzial OCD
(1918–1997)

EINLEITUNG

Ich lese sehr gern die Lebensberichte der Heiligen … aber ich gestehe, es ist manchmal vorgekommen, dass ich das Los ihrer Angehörigen teilen wollte, die das Glück hatten, in ihrer Gesellschaft zu leben und heilige Gespräche mit ihnen zu führen.1 Für uns erfüllt sich heute dieser Wunsch, was Therese von Lisieux betrifft. Wir können alles lesen, was sie während ihrer letzten Krankheit gesagt hat, soweit es aufmerksame Zeuginnen Tag für Tag aufgeschrieben haben.

Ein guter Teil dieser Äußerungen wurde der Öffentlichkeit in Frankreich bereits in dem 1927 erschienenen kleinen Buch Novissima Verba vorgelegt, doch hatte man damals bei dieser Auswahl absichtlich ungefähr die Hälfte dieses Schatzes von der Veröffentlichung ausgeschlossen. Mutter Agnes von Jesus (Pauline Martin) war es zwei Jahre nach der Heiligsprechung ausschließlich darum gegangen, den Leser zu erbauen. Dagegen hielt sie es nicht für angebracht, die an sie persönlich gerichteten vertraulichen Äußerungen ihrer kleinen Schwester der Öffentlichkeit preiszugeben.

Da heute keine der Zeuginnen mehr am Leben ist, gelten andere Gesichtspunkte. Die nunmehr in Frankreich erschienene kritische Ausgabe der Derniers Entretiens2 (»Letzte Gespräche«) enthält sämtliche Aufzeichnungen von Mutter Agnes und ihren Schwestern. Damit liegt endlich ein Dokument vor, dem man den Wert eines Testaments zusprechen kann, weil es in keiner Weise überarbeitet worden ist. Die vorliegende deutsche Lizenzausgabe gibt diesen vollständigen Text wieder, der uns bereichert und uns ermöglicht, die heilige Therese besser kennenzulernen.

Warum aber hat man so viele Worte und Äußerungen einer jungen lungenkranken Karmelitin aufgezeichnet und aufbewahrt, die nichts anderes gewünscht hat, als unbekannt zu leben und in Vergessenheit zu sterben? Wer war diese Schwester Therese an der Schwelle zu ihrer letzten Krankheit?

Die letzten Gespräche

Zu Beginn des Jahres 1897 wird Schwester Therese vom Kinde Jesus 24 Jahre alt. Vor nicht ganz neun Jahren ist sie in den Karmel von Lisieux eingetreten, wo sie nun mit 23 Schwestern zusammenlebt. In wenigen Jahren hat sie den Lauf eines Riesen zurückgelegt, ohne dass ihre Gefährtinnen, von denen die meisten sie lieben und schätzen, etwas davon bemerkt haben. Nur ihre drei leiblichen Schwestern, die das Manuskript ihrer Kindheitserinnerungen (Manuskript A, Geschichte einer Seele) und den im Jahre 1896 an ihre Schwester Maria vom Heiligen Herzen gerichteten Brief (Manuskript B) gelesen haben, ahnen etwas von dem intensiven geistlichen Leben, das sie verzehrt. Hat sie sich nicht am 9. Juni 1895 der barmherzigen Liebe als Opfer geweiht? Hat sie nicht 1896 entdeckt, dass es ihre Berufung ist, im Herzen der Kirche Liebe zu sein?

Aber abgesehen von einer stets mit einem Lächeln begleiteten Nächstenliebe, von Selbstbeherrschung und einer Aufgeschlossenheit für andere, die jedem einzelnen Menschen gilt, scheint nichts von jenem inneren Feuer außen erkennbar zu sein, das auch Therese selbst oft verborgen bleibt, lebt sie doch gewöhnlich im Zustand geistlicher Trockenheit. Ja, seit Ostern 1896 ist »die dichteste Finsternis in ihre Seele eingedrungen«, und der »so beseligende Gedanke an den Himmel« ist für sie »nur noch Anlass zu Kampf und Qual«. Seit Langem ahnt sie, dass sie jung sterben wird.

Tatsächlich treten 1894 die ersten Zeichen einer Verschlechterung ihrer Gesundheit auf. Mehrmals ist sie wegen Bronchitis und Halsentzündungen in Behandlung. Erste Anfälle von Bluthusten am 3. und 4. April 1896 werden nur der Krankenpflegerin und der Priorin Mutter Maria von Gonzaga zur Kenntnis gebracht. Therese spielt die Bedeutung dieses Vorfalls nach Möglichkeit herunter, fühlt sich aber doch gleichzeitig in ihrer Vorahnung bestärkt.

Während der ersten Monate des Jahres 1897 geht es mit Thereses Gesundheit beständig bergab. Am Ende der Fastenzeit wird sie so schwer krank, dass sie trotz all ihrer Energie nach und nach allen Abläufen des Gemeinschaftslebens fernbleiben muss. Im Karmel erregt Thereses Zustand natürlich vor allem bei ihren leiblichen Schwestern Besorgnis. Mutter Maria von Gonzaga erlaubt, dass Mutter Agnes Therese während der Matutin betreut. Am Abend des 5. Juni nimmt das »Mütterchen« aus den Buissonnets ihre Funktion als Betreuerin der Kranken auf. Am 8. Juli bringt man Therese in das Krankenzimmer. Seither bleibt Mutter Agnes während des Chorgebets, während der Rekreationen und immer dann, wenn die Krankenpflegerinnen anderweitig beschäftigt sind, an ihrem Krankenbett. Die künftige »Historikerin« schreibt ihre Notizen zweifelsohne hastig auf lose Blätter, von denen nur eines erhalten ist, und überträgt diese Notizen später in ein Heft.

Während Mutter Agnes ihre Aufzeichnungen machte, konnte sie wohl nicht wissen, dass Therese eines Tages heiliggesprochen werden würde. Wohl aber ist sie sich bewusst, dass ihre Aufzeichnungen nützlich sein werden, einmal um die Erinnerung an all diese Worte voll Weisheit und Erfahrung für sie selbst und ihre Familie lebendig zu erhalten, zum anderen um den Nachruf zu ergänzen, den man nach dem Tod einer Schwester an alle anderen Karmelklöster aussendet. Was immer Mutter Agnes dazu bewogen haben mag: Fest steht, dass sie im Krankenzimmer eine Information von unvergleichlichem Wert gesammelt hat, eine wahre Fundgrube, aus der die erste Ausgabe der Geschichte einer Seele (1898 in Frankreich, 1900 in Deutschland) und die Aussagen bei den beiden Kanonisationsprozessen (1910 und 1915) gezehrt und die als Grundlage für die Novissima Verba3 (»Die letzten Worte der Therese Martin«) gedient haben.

Schwester Genoveva (Céline Martin), die als Krankenpflegerin Gelegenheit hatte, täglich mit Therese zusammen zu sein, hat ihrerseits einige Äußerungen ihrer Schwester aufgeschrieben. Die »liebe Patin«, Schwester Maria vom Heiligen Herzen, hat ihr kleines Patenkind nicht so oft besucht, aber auch ihr haben wir einige Erinnerungen zu verdanken. Thereses Cousine, Schwester Maria von der Eucharistie, hat uns in den »Krankheitsberichten«, die sie an ihre Eltern schrieb und die ihr als Tochter eines Apothekers alle Ehre machen, viele sehr wertvolle Äußerungen der Kranken überliefert.4 Aufgrund all dieser Dokumente sind wir in der Lage, den Verlauf der Krankheit fast Tag für Tag zu verfolgen.

Nur wenn wir diesen medizinischen Sachverhalt kennen, können wir den Wert der Worte, der Haltung und der Gesten Schwester Thereses voll ermessen. Gewiss, man wusste, dass sie viel gelitten hatte, aber ihre Leiden waren gleichsam in einen sanften Glorienschein gehüllt, der das Épinal-Bild (wenn die Franzosen von einer Idealvorstellung reden, sprechen sie von einem Épinal-Bild, Anm. d. V.) zu rechtfertigen scheint: Eine »junge Tuberkulosekranke« stirbt lächelnd, während sie über einem Kruzifix Rosen entblättert. Die Wirklichkeit war ganz anders. Schwester Therese vom Kinde Jesus hat einen richtigen Kreuzweg durchlitten.

Wir haben nun versucht, diese »Leidenszeit« Schritt für Schritt zu verfolgen.5 Der Leser sei besonders auf die Einleitungen zu den einzelnen Monaten verwiesen und auf die Chronologie der wichtigsten Stationen dieses Kreuzwegs. Seit dem 9. Juni weiß Therese, dass sie sterben wird. In den ersten Tagen des Monats Juli ist sie zwar noch nicht bettlägerig, aber am Ende ihrer Kräfte. Am 6. Juli beginnt die Periode des Bluthustens, die bis zum 5. August dauern wird. Am Abend des 8. Juli bringt man sie in das Krankenzimmer. In diesem kleinen im Erdgeschoss liegenden Zimmer wird sie die ihr noch verbleibenden drei Monate zubringen. Von ihrem eisernen Bett mit seinen hohen braunen Vorhängen, an die sie ihre Lieblingsbilder anstecken ließ, kann sie die Statue der Jungfrau des Lächelns sehen, die man mit ihr in diesen Raum gebracht hat. Der 56-jährige Hausarzt des Karmels, Dr. de Cornière, stattet ihr regelmäßig seine Visiten ab. Die wechselnden Phasen der Krankheit verunsichern ihn. In diesem so jungen Körper flackert das Leben immer wieder mit erstaunlicher Kraft auf.

Am 27. Juli setzen die großen Leiden ein, die am Vormittag des 30. einen Höhepunkt erreichen. Am Abend erteilt Kanonikus Maupas der Kranken die Letzte Ölung6. Über Phasen von »Schmerzen zum Schreien«, die mit Phasen scheinbarer Besserung abwechseln, verschlimmert sich die Krankheit fortschreitend bis zum Todeskampf und Tod am 30. September.

Das Testament eines Lebens

Im Juni 1897 hat Therese mit ihrer feinen Schrift ein kleines Heft vollgeschrieben. Es ist das Manuskript C der Geschichte einer Seele, ihr schriftliches – unvollendetes – Testament, das mit ihrem gelebten Testament, den Letzten Gesprächen, vollkommen übereinstimmt. Man muss die beiden zusammen lesen. In dieser Übereinstimmung liegt der Beweis für die Glaubwürdigkeit des Lebens der Karmelitin, die gesagt hat: Ich kann mich nur von der Wahrheit nähren.

Liest man die Letzten Gespräche in einem Zug, so gewinnt man den Eindruck, dass man den langen Kreuzweg der Krankheit der heiligen Therese mit ihr zusammen durchlebt, so erstaunlich nah und lebendig tritt sie aus dem Buch hervor. Erbringt das nicht den letzten Beweis für die Glaubwürdigkeit der Notizen von Mutter Agnes?7 Ist es nicht überraschend, dass kurze, scheinbar nicht miteinander verbundene Worte das Geheimnis einer Person offenbaren können, deren unerklärlicher Liebreiz in jeder Seite aufleuchtet? Aus diesem gewöhnlichen und monotonen Text, der hin und wieder durch eine gewisse fromme Sentimentalität oder gekünstelte Ausdrucksweise irritieren mag, entsteht nach und nach ein lebendiges Porträt der Therese von Lisieux, die von sich selbst gesagt hat: Was für Gegensätze finden sich doch in meinem Charakter vereinigt!

Die Liebe zum Kleinen und der Sinn für das Große, die kindliche Unbefangenheit und die Erfahrung einer reifen Frau, die Liebe zur Natur und die Sehnsucht nach dem Himmel, ein »engelhaftes« Wesen und der im normannischen Erbe wurzelnde sichere Sinn für die Wirklichkeit, kühne Hoffnung, gepaart mit sehr menschlichen Ängsten, Heroismus im Alltag – all diese Gegensätze verbinden sich in Therese. Angesichts des Todes entfalten sich die Grundzüge ihres Wesens in einer von Gnade durchdrungenen Unmittelbarkeit.

Da »aus den Tiefen jedes Todeskampfes als Erstes die süße Kindheit aufsteigt« (Bernanos), scheint sich Therese tatsächlich ihres kurzen Lebens voll bewusst zu werden. Deshalb vermittelt die in den Letzten Gesprächen geschilderte fortschreitende Zerstörung eines 24-jährigen Körpers gleichzeitig die Entfaltung einer Persönlichkeit, ähnlich wie die letzte Ekstase der im Todeskampf liegenden Therese die strahlenden und friedlichen Züge der Kindheit wiedergibt.

Obwohl die Kranke von den verschiedensten Leiden gequält ist, legt sie fast ununterbrochen durch Scherze, Wortspiele und schalkhafte Gesten eine Fröhlichkeit und einen Humor an den Tag, der wahrhaft verblüfft. Immer wieder gelingt es ihr, ihre Umgebung, die ihren bevorstehenden Tod beweint, durch Worte und Gesten zum Lachen zu bringen und abzulenken. Die ihre Persönlichkeit seit jeher kennzeichnenden Grundzüge ihrer »glücklichen Veranlagung« kommen mit dieser Liebe zur Natur (Blumen, Früchte, Himmel, Sterne, Tiere …) in aller Freiheit wieder zum Durchbruch.

Nun, da Therese durch jahrelange Treue zur Liebe, die sich bis zu ihr herabgelassen hat, geläutert und frei geworden ist, kann sie alle Gaben ihrer erlesenen Natur sich entfalten lassen. Auf diesem Wesensgrund des befreiten Seins, der sich in Freude und staunender Kontemplation der Schöpfung Bahn bricht, tritt vor allem eine Liebe in Erscheinung, die mit solcher Intensität gelebt wird, dass sie alle Lebewesen und alle Menschen umschließt. Und das beweist, dass es sich bei den Gedanken über die Nächstenliebe, die sie im Juni niedergeschrieben hat, nicht bloß um fromme Literatur handelt. Therese wird wirklich »allen alles«. Eine unnachahmliche Unbefangenheit lässt sie immer wieder neue Weisen finden, um ihre Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, Gesten und Worte voller Liebreiz für jede ihrer Schwestern und Novizinnen, für ihre Ärzte und geistlichen Brüder. Ihrem »Mütterchen« gegenüber, das so sehr nach Trost verlangt, legt sie eine feine Zärtlichkeit an den Tag, in der sich Einfühlung und Festigkeit paaren. Denn obgleich sie sich ganz bewusst umsorgen lässt wie ein bébé (»kleines Kind«), verfällt sie nie in den süßlichen Ton, den ihre Mitschwestern in der Gefahr sind zu gebrauchen. Ist sie also ein bébé? Mit großem Ernst antwortet sie: Ja …, aber ein bébé, das schon lange darüber nachdenkt! Ein bébé, das ein Greis ist.

Ihr Herz ist übrigens viel zu weit, um sich auf den so engen Kreis ihrer Familie und ihrer Mitschwestern zu beschränken. Es ist weit genug, um die ganze Welt einzuschließen. Als »Tochter der Kirche« opfert Therese all ihre Leiden für die »Seelen« auf, insbesondere für die Sünder und die Atheisten, mit denen sie weiterhin »am Tisch der Bitternis sitzt« und »das Brot der Schmerzen teilt«.

Als Schwester aller Menschen liegt ihr die Verkündigung des Evangeliums auf der ganzen Welt unaufhörlich im Sinn. Auf geheimnisvolle Weise ahnt sie, dass ihre posthume Sendung diese weltumspannende Dimension haben wird, dass für sie der Himmel nicht ein Hafen der Ruhe sein wird, sondern im Gegenteil der Ort eines intensiven, weder in Raum noch in Zeit begrenzten Heilswirkens. Diese Überzeugung äußert sich wiederholt in Versprechen wie: Ich werde wiederkommen. – Ich werde herunterkommen. – Ich werde meinen Himmel auf der Erde verbringen bis zum Ende der Welt.

Mit einem Wort, die Letzten Gespräche zeigen uns Therese angesichts des Todes. Zu der Zeit, als sie das letzte Manuskript abgefasst hatte, war noch nichts geschehen. In einer Betrachtung über Christus in Gethsemani schrieb Péguy: »Wenn aber der Tod nicht mehr bloß Literatur ist, sondern wirklicher Tod, wenn es sich darum handelt umzukommen, dann versteht der Leib sehr wohl, dass es jetzt nicht mehr um Großtun geht. Eure Heiligen, wie sollten eure Heiligen den Schlag nicht verspürt haben? Hatten sie keinen Leib? Hat doch sogar Gott den Schlag gespürt. Wie sollten sie ihn nicht gespürt haben, wenn Jesus, der Erste der Heiligen, der Erste eurer Heiligen, ihn gespürt hat? Der Heilige auf seinem Totenbett; die Heilige auf dem Scheiterhaufen, auf ihrem Todesscheiterhaufen; Christus am Ölberg.«

Ja, Therese »musste« wie ihre Schwester Jeanne d’Arc die letzte Prüfung in Gemeinschaft mit Christus, ihrem Vielgeliebten, dessen Schicksal sie teilen wollte, auf sich nehmen. Unser Herr ist in Todesängsten am Kreuz gestorben, und doch war es der schönste Liebestod – der einzige, den man gesehen hat: den Tod der allerseligsten Jungfrau hat niemand gesehen. Aus Liebe zu sterben bedeutet nicht, in Verzückung zu sterben. Offen gestanden glaube ich, dass es dies ist, was ich erlebe.

In ihrer objektiven Nüchternheit zeigen die Aufzeichnungen der Zeuginnen, dass Thereses »kleiner Weg« sie siegreich über das letzte Hindernis hinweggeführt hat, und zwar nicht etwa in stoischer Haltung, sondern durch Hingabe, durch Vertrauen, durch Liebe zu Jesus, dem leidenden Knecht.

Vergessen wir nicht, dass die intensiven körperlichen und seelischen Leiden (Furcht, der Kommunität zur Last zu fallen, Verdemütigungen, die ihr aus ihrer Schwäche erwuchsen, seit dem 19. August die Unmöglichkeit, die Kommunion zu empfangen, verschiedene Versuchungen, sogar die Versuchung zum Selbstmord …) vor dem Hintergrund jener Glaubensprüfung durchlebt wurden, die man unmöglich begreifen kann. Die Mächte der Finsternis scheinen mich zu verhöhnen, indem sie die Stimme der Sünder annehmen und mir zurufen: »Du träumst von Licht, von einer von süßesten Wohlgerüchen durchwehten Heimat; du träumst vom ewigen Besitz des Schöpfers all dieser Herrlichkeiten; du wähnst eines Tages den Nebeln, die dich umfangen, zu entrinnen! Nur zu, nur zu! Freu dich auf den Tod, der dir nicht geben wird, was du erhoffst, sondern eine noch tiefere Nacht, die Nacht des Nichts.«8

Therese musste zwar nicht das Los des anonymen Kranken kennenlernen, der in einem modernen Krankenhaus im Todeskampf liegt, aber trotz aller Liebe, die sie im Krankenzimmer umgab, ist ihr doch die Einsamkeit des Menschen angesichts des Todes nicht erspart geblieben. Nachdem sie den Tod ersehnt und mit einer Freude begrüßt hatte, die zweifellos als ungewöhnlich bezeichnet werden muss, wenn man bedenkt, wie nahe er bevorstand, ist sie durch wechselnde Phasen von Angst und friedlicher Erwartung hindurchgegangen. Sie liefert sich aus, sie wird an dem Tag und zu der Stunde sterben, die Gott bestimmt. Herzzerreißende Fragen: Wie werde ich sterben müssen? Nie werde ich zu sterben verstehen! …, wechseln ab mit scherzhaften Bemerkungen über die Vorbereitungen zur Beerdigung, die ihr nicht entgehen.

Noch muss der Todeskampf bestanden werden. Er war furchtbar, wie jene bezeugen, die dabei waren. Verzweiflungsschreie begleiten ihn. Wenn das der Todeskampf ist, was wird dann der Tod sein? Aber in der Tiefe des Willens bleibt das Vertrauen: Gern will ich noch mehr leidenWeiter! Weiter! … Oh! Ich möchte nicht weniger lange leiden …

Das letzte Wort wird das Leben Thereses zusammenfassen und mit der Aureole jenes plötzlichen Friedens umgeben, der im letzten Augenblick diesem so heiß ersehnten, der Passion Christi gleichgestalteten Liebestod den Stempel der Echtheit aufdrückt: Mein Gott – ich liebe dich!

Guy Gaucher

1Brief Thereses an ihre Tante, Frau Céline Guérin, vom 20. Juli 1895 (B 178).

2Derniers Entretiens, édition critique dite du Centenaire, Cerf-Desclée De Brouwer 1971.

3Siehe die Erläuterungen zur vorliegenden Ausgabe S. 342.

4Für die wichtigsten Auszüge aus diesen Berichten siehe S. 297 f.

5Vgl. die Einleitung und das medizinische Tagebuch der kritischen Ausgabe sowie unseren auf sämtlichen Dokumenten basierenden Versuch einer Synthese: La Passion de Thérèse de Lisieux, Cerf-Desclée De Brouwer, 1972.

6Der damaligen Auffassung entsprechend verwenden wir den Ausdruck »Letzte Ölung« anstelle des heute gebräuchlichen Ausdrucks »Krankensalbung« (Anm. d. Ü.).

7Über das Problem des historischen Wertes der Notizen von Mutter Agnes vergl. S. 341.

8Vgl. Manuskript C, in: Selbstbiografische Schriften, S. 221.

DAS »GELBE HEFT«
VON MUTTER AGNES

Aus Gesprächen mit unserer heiligen kleinen Therese in ihren letzten Monaten

Sr. Agnes von Jesus
c. d. i.

APRIL

Die acht von April 1897 datierenden Äußerungen geben vor allem Zeugnis von der Erfahrung, die Therese bei der Ausbildung der Novizinnen erworben hatte. Sie weisen eine gewisse Verwandtschaft mit den in der Geschichte einer Seele veröffentlichten »Ratschlägen und Erinnerungen« auf.

In den wenigen Briefen der Familie ist von der wiederholten Anwendung von Zugpflastern die Rede, die jedoch den Husten nicht einzudämmen vermochten. Gegen Ende des Monats wird Bluthusten am Vormittag erwähnt. Das Allgemeinbefinden wird als sehr unbefriedigend bezeichnet.

6. April 1897

1

Wozu sich verteidigen und Erklärungen abgeben, wenn man uns nicht versteht und ungünstig beurteilt? Lassen wir es dabei bewenden, sagen wir nichts; es ist so wohltuend, nichts zu sagen, wie auch immer man über uns urteilen mag! Im Evangelium steht nicht, dass die heilige Magdalena Erklärungen abgegeben habe, als ihre Schwester ihr vorwarf, sie sitze untätig zu Füßen Jesu.1 Sie hat nicht gesagt: »Oh Martha, wenn du wüsstest, welche Seligkeit die Worte Jesu erzeugen; wenn du die Worte hören könntest, die ich höre! Und übrigens hat Jesus selbst mir gesagt, dass ich hierbleiben soll.« Nein, sie hat lieber geschwiegen. Oh seliges Schweigen, das der Seele solchen Frieden schenkt!

2

»Möge das Schwert des Geistes, welches das Wort Gottes ist, immer auf unseren Lippen und in unserem Herzen sein.«2 Wenn wir es mit einer unangenehmen Person zu tun haben, lassen wir uns nicht abschrecken, ziehen wir uns nie zurück. Führen wir stets das »Schwert des Geistes im Mund« und halten wir ihr ihr Unrecht vor; lassen wir nicht um unserer Ruhe willen die Dinge laufen, kämpfen wir auf jeden Fall, auch wenn wir keine Hoffnung haben, die Schlacht zu gewinnen. Auf den Erfolg kommt es nicht an. Der liebe Gott verlangt von uns nur, dass wir die Mühe des Kampfes nicht scheuen, dass wir uns nicht entmutigen lassen und sagen: »Umso schlimmer! Es kommt nichts dabei heraus, man muss sie lassen.« Oh, das ist Feigheit! Man muss seine Pflicht bis zum Letzten tun.

3*

Oh, wie wichtig ist es, auf Erden nie über etwas zu urteilen. Vor einigen Monaten ist mir in der Rekreation Folgendes passiert3 – ein Nichts, aber ich habe viel daraus gelernt:

Es ertönten zwei Glockenschläge: Weil aber die Dispensatorin4 nicht da war, brauchte man eine Dritte5 als Begleiterin für Sr. Therese vom heiligen Augustinus. Für gewöhnlich geht man nicht gern als Dritte. Diesmal aber hätte ich es gern getan, weil es sich darum handelte, die Tür zu öffnen, um die Zweige für die Krippe hereinzunehmen.

Neben mir saß Sr. Maria vom heiligen Joseph und ich erriet, dass sie meinen kindlichen Wunsch teilte. »Wer wird als Dritte mit mir kommen?«, fragte Sr. Therese vom heiligen Augustinus. – Sogleich begann ich, die Schürze abzulegen, aber ich tat es langsam, um Sr. Maria vom heiligen Joseph die Chance zu geben, vor mir fertig zu werden und den Gang zu übernehmen, was dann auch geschah. Da schaute mich Sr. Therese vom heiligen Augustinus lachend an und sagte: »Nun ja, diese Perle wird Sr. Maria vom heiligen Joseph in ihrer Krone haben. Sie waren zu langsam.« Ich antwortete nur mit einem Lächeln und nahm meine Arbeit wieder auf. Dabei sagte ich zu mir selbst: »Oh mein Gott, wie sind doch deine Urteile verschieden von jenen der Menschen! So täuschen wir uns hier auf Erden oft und halten bei unseren Schwestern etwas als Unvollkommenheit, was in deinen Augen ein Verdienst ist!«

7. April

Ich fragte sie, auf welche Weise ich wohl sterben würde, und ließ mir dabei meine Ängste anmerken. Mit einem Lächeln voller Zärtlichkeit erwiderte sie:

Der liebe Gott wird Sie ansaugen wie einen kleinen Tautropfen …6

18. April

1

Soeben hatte sie mir erzählt, wie Mitschwestern sie bei verschiedenen Gelegenheiten auf sehr empfindliche Weise gedemütigt hatten.

So gibt mir der liebe Gott alles, was ich brauche, um ganz klein zu bleiben, und das ist notwendig. Ich bin immer zufrieden; selbst mitten im Sturm kann ich es mir so einrichten, dass ich meinen inneren Frieden vollkommen bewahre. Wenn man mir vom Ärger mit Schwestern erzählt, trachte ich, mich nicht meinerseits gegen die eine oder die andere aufbringen zu lassen. So muss ich zum Beispiel aus dem Fenster schauen, während ich zuhöre, um mich innerlich über den Anblick des Himmels, der Bäume … freuen zu können. Verstehen Sie? Vorhin während meines inneren Kampfes wegen Sr. X schaute ich mit Freude zu, wie die schönen Elstern sich auf der Wiese niederließen, und dabei war ich in Frieden wie beim innerlichen Gebet … Dabei habe ich sehr wohl gekämpft mit … ich bin richtig müde! Aber ich fürchte den Kampf nicht. Der liebe Gott will, dass ich kämpfe bis zum Tod. Oh Mütterchen, beten Sie für mich!

2

… Wenn ich für Sie bete, sage ich nicht etwa das Vaterunser und das Ave-Maria auf, sondern ich sage ganz einfach von ganzem Herzen: »Oh mein Gott, überschütte mein Mütterchen mit allem erdenklichen Guten, liebe sie noch mehr, wenn du kannst.«

3

Ich war noch sehr klein, als Tante mir eine Geschichte zu lesen gab, über die ich mich sehr wunderte. Ich las dort nämlich, dass man in einem Pensionat eine Lehrerin lobte, weil sie es so gut verstand, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne jemanden zu verletzen. Besonders fiel mir der Satz auf: »Sie sagte zu dieser: Sie haben nicht unrecht, und zu jener: Sie haben recht.« Da dachte ich bei mir: Das ist wirklich gar nicht gut! Diese Lehrerin hätte nichts fürchten und es ihren kleinen Mädchen sagen sollen, wenn sie wirklich nicht recht hatten.

Und auch jetzt bin ich immer noch derselben Ansicht. Ich gebe zu, dass mir das viel Ungemach einbringt. Es ist ja immer so leicht, die Schuld auf die Abwesenden zu schieben. Das beruhigt sogleich diejenigen, die sich beklagen. Ja, aber … ich mache genau das Gegenteil. Liebt man mich dann deshalb nicht, so nehme ich das in Kauf. Ich sage immer die volle Wahrheit. Wenn man sie nicht hören will, soll man nicht zu mir kommen.

4

Die Güte darf nicht in Schwäche ausarten. Wenn man mit gutem Grund getadelt hat, muss man dabei bleiben. Man darf sich nicht rühren lassen und sich quälen, wenn man sieht, wie eine Schwester leidet und weint, weil man ihr wehgetan hat. Läuft man ihr nach und tröstet man sie, so schadet man ihr mehr, als man ihr nützt. Überlässt man sie dagegen sich selbst, so zwingt man sie, ihre Zuflucht zum lieben Gott zu nehmen, und da muss sie ihre Fehler einsehen und sich verdemütigen. Sonst wird sie sich in solchen Fällen immer wie ein verwöhntes Kind benehmen, das mit den Füßen stampft und schreit, bis seine Mutter kommt, um seine Tränen zu trocknen, weil man sie daran gewöhnt hat, nach einem verdienten Tadel getröstet zu werden.

MAI

Die Briefe vom Mai 1897 sagen nichts über Thereses Gesundheitszustand aus. Aus den spärlichen Hinweisen im Gelben Heft erfahren wir, dass der Husten andauert bis zur Erschöpfung – vor allem in der Nacht. Zu den Zugpflastern kommen Behandlungen mit glühenden Stiften. Die Widerstandskraft der Kranken lässt nach. Seit Mitte Mai muss Therese mehr und mehr auf die Teilnahme am Gemeinschaftsleben verzichten.

Aber noch ist nicht alle Hoffnung auf Genesung geschwunden. In dieser Ungewissheit erreicht die Hingabe der Heiligen ihr volles Maß. Sie wird in diesem Monat zu einem der beherrschenden Züge.

Therese schreibt im Mai acht Briefe beziehungsweise Zettel und vier Gedichte, darunter ihr marianisches Testament: »Warum ich dich liebe, o Maria«.

1. Mai

1

Nicht »der Tod« wird kommen, mich zu holen, sondern der liebe Gott. Der Tod ist kein Gespenst, kein grausiger Knochenmann, wie er auf Bildern dargestellt wird. Im Katechismus steht: »Der Tod ist die Trennung von Seele und Leib.« Das ist alles!

2

Heute war mein Herz von himmlischem Frieden erfüllt. Als mir gestern Abend einfiel, dass nun der schöne Monat der heiligen Jungfrau anfängt, habe ich innig zu ihr gefleht.

Sie waren gestern Abend nicht bei der Rekreation. Unsere Mutter hat uns gesagt, dass einer der Missionare1, die sich zusammen mit Pater Roulland2 eingeschifft hatten, noch vor seiner Ankunft in seiner Missionsstation gestorben ist. Dieser junge Missionar hatte auf dem Schiff die Kommunion empfangen mit den Hostien, die der Karmel Pater Roulland mitgegeben hatte … Und jetzt ist er tot … ohne irgendein Apostolat ausgeübt zu haben, ohne irgendeine Anstrengung auf sich genommen zu haben, zum Beispiel Chinesisch zu lernen. Der liebe Gott hat ihm die Palme des Verlangens verliehen. Da sehen Sie, dass er niemanden braucht.

Damals wusste ich nicht, dass Mutter Maria von Gonzaga Pater Roulland ihr als zweiten geistlichen Bruder übergegeben hatte. Die Worte, die ich hier wiedergegeben habe, hatte Pater Roulland ihr selbst geschrieben. Aber da unsere Mutter ihr verboten hatte, mich ins Vertrauen zu ziehen, sagte sie mir nur das, was sie in der Rekreation gehört hatte.

Es bedeutete für sie ein großes Opfer, fast zwei Jahre lang über ihre Beziehung zu diesem Missionar Stillschweigen zu bewahren …

Unsere Mutter hatte sie gebeten, für ihn ein Bild auf Pergament zu malen. Sie hätte sich den Umstand, dass ich ihr als Erste das Malen beigebracht hatte, zunutze machen können, mich um Rat zu fragen und dadurch alles erraten zu lassen. Aber im Gegenteil, sie verbarg sich vor mir, so gut sie konnte. Wie ich später erfuhr, hatte sie das Werkzeug zum Polieren des Goldes, das ich auf unserem Tisch aufbewahrte, heimlich geholt und während meiner Abwesenheit zurückgebracht.

Erst drei Monate vor ihrem Tod erlaubte ihr unsere Mutter, über diese Sache und überhaupt über alles offen mit mir zu sprechen.

7. Mai

1

Heute ist Rekreationstag3, und während ich mich ankleidete, habe ich »Meine Freude«4 gesungen.

2

Unsere Familie wird nicht lange auf Erden bleiben … Wenn ich im Himmel bin, werde ich euch sehr bald rufen … Oh wie glücklich werden wir sein! Wir sind alle mit Kronen geboren …

3

Ich huste! Ich huste! Es klingt, als ob eine Lokomotive in den Bahnhof einfahren würde. Auch ich komme auf einem Bahnhof an, auf dem Bahnhof des Himmels, und ich rufe ihn aus!

9. Mai

1

Ohne uns zu rühmen, dürfen wir wohl sagen, dass uns ganz besondere Gnaden und Erleuchtungen zuteilgeworden sind. Wir sind in der Wahrheit; wir sehen die Dinge in ihrem wahren Licht.

2

Sie sprach über die Gefühle, gegen die man manchmal nicht aufkommt, wenn man einen Dienst erweist und keinerlei Dank dafür erntet.

Auch ich kenne dieses Gefühl, von dem Sie sprechen, glauben Sie mir. Aber es kränkt mich nicht, weil ich auf Erden keinerlei Belohnung erwarte. Ich tue alles für den lieben Gott; so kann ich nichts verlieren und bin immer reichlich belohnt für alle Mühe, die ich im Dienst für den Nächsten auf mich nehme.

3

Würde der liebe Gott meine guten Werke nicht sehen – was unmöglich ist –, so würde mich das ganz und gar nicht betrüben. Ich liebe ihn so sehr, dass ich ihm Freude machen möchte, auch wenn er nicht weiß, dass ich es bin. Weiß er es und sieht er es, so ist er gleichsam verpflichtet, »es mir zu vergelten«, und diese Mühe möchte ich ihm nicht machen …

15. Mai

1

Ich freue mich sehr darüber, dass ich bald in den Himmel komme. Aber wenn ich an das Wort des lieben Gottes denke: »Siehe, ich komme bald und mit mir bringe ich den Lohn, um einem jeden nach seinen Werken zu vergelten«5, dann sage ich mir, dass er bei mir in großer Verlegenheit sein wird. Ich habe keine Werke! Er wird mir also nicht »nach meinen Werken« vergelten können … Was weiter! Er wird mir eben »nach seinen eigenen Werken vergelten …«

2

Meine Vorstellung vom Himmel ist so erhaben, dass ich mich manchmal frage, wie es der liebe Gott wohl anstellen wird, um mich bei meinem Tod zu überraschen. Meine Hoffnung ist so groß und erfüllt mich mit solcher Freude – nicht im Gefühl, wohl aber im Glauben –, dass etwas alle Gedanken Übersteigendes notwendig sein wird, um mich ganz zufriedenzustellen. Lieber als enttäuscht werden, möchte ich ewig bei meiner Hoffnung bleiben.

Ja, ich denke sogar schon daran, mich überrascht zu zeigen, auch wenn ich es in Wirklichkeit nicht sein sollte, um dem lieben Gott eine Freude zu machen. Auf keinen Fall werde ich mir meine Enttäuschung anmerken lassen. Ich werde mich schon so zu benehmen wissen, dass er sie nicht bemerkt. Übrigens werde ich es immer so einrichten, dass ich glücklich bin. Dafür habe ich meine kleinen Kunstgriffe, die Sie kennen. Sie sind unfehlbar … Außerdem genügt es für mich vollkommen, den lieben Gott glücklich zu sehen, um selbst glücklich zu sein.

3

Ich hatte mit ihr über gewisse Andachts- und Tugendübungen gesprochen, die von den Heiligen empfohlen werden, mich aber entmutigen.

Für mich finde ich nichts mehr in den Büchern außer im Evangelium. Dieses Buch genügt mir. Mit Entzücken höre ich auf jenes Wort Jesu, das mir alles sagt, was ich zu tun habe: »Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen.«6 Dann finde ich den Frieden nach seiner beseligenden Verheißung: »… Und ihr werdet Frieden finden für eure Seelen.«

Während sie den letzten Satz aussprach, nahmen ihre Augen einen himmlischen Ausdruck an. Sie hatte in das Wort des Herrn das Wort »kleinen« eingefügt und dadurch seinen Charme noch erhöht:

»… und ihr werdet Frieden finden für eure kleinen Seelen …«

4

Man hatte ihr einen neuen Habit gegeben (den, der aufbewahrt ist). Zu Weihnachten 1896 hatte sie ihn zum ersten Mal angezogen. Dieser Habit – es war der zweite seit ihrer Einkleidung – passte ihr sehr schlecht. Ich frage sie, ob ihr das unangenehm sei:

Nicht im Geringsten! Das stört mich genauso wenig, wie wenn er von einem Chinesen 2000 Meilen entfernt von uns wäre.

5

Ich werfe die guten Körner, die mir der liebe Gott in meine kleine Hand gibt, rechts und links meinen Vöglein7 zu. Dann mag es gehen, wie es will. Ich kümmere mich nicht mehr darum. Manchmal ist es, als hätte ich nichts ausgestreut; andere Male bringt es Nutzen. Aber der liebe Gott sagt zu mir: »Gib, gib immerzu, ohne dich um das Ergebnis zu kümmern.«

6

Gern möchte ich nach Hanoi8 gehen, um für den lieben Gott viel zu leiden. Ich möchte dorthin gehen, um ganz allein zu sein, um auf Erden keinerlei Trost zu haben. Aber der Gedanke, ich könnte dort nützlich sein, kommt mir nicht einmal in den Sinn. Ich weiß sehr wohl, dass ich gar nichts vollbringen könnte.

7

Letzten Endes ist es mir gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe. Ich sehe nicht recht, was ich nach dem Tod noch über das hinaus bekommen sollte, was ich schon in diesem Leben habe. Ich werde den lieben Gott sehen, das ist wahr! Aber mit ihm vereinigt bin ich schon vollkommen auf dieser Erde!

18. Mai

1

Man hat mich aller Ämter enthoben; da habe ich mir gedacht, mein Tod wird für die Gemeinschaft keinerlei Störung bedeuten.

»Schmerzt es Sie, dass die Schwestern in Ihnen ein unnützes Mitglied sehen werden?«

Oh, das ist meine geringste Sorge, das ist mir wirklich gleichgültig!

2

Als ich sie so krank sah, tat ich alles, was ich konnte, um für sie bei der ehrwürdigen Mutter Dispens von den Totenoffizien9 zu erlangen.

Oh bitte, hindern Sie mich nicht, meine »kleinen« Totenoffizien zu beten. Das ist alles, was ich für die Schwestern im Fegefeuer tun kann, und es strengt mich wirklich nicht an. Manchmal habe ich am Ende eines Stillschweigens10 einen kleinen Augenblick; es ist eher eine Entspannung für mich.

3

Ich brauche immer eine Arbeit, dann mache ich mir keine Sorgen und verschwende nie meine Zeit.

4

Ich hatte den lieben Gott gebeten, er möge mich bis zu meinem Tod am Leben der Gemeinschaft teilnehmen lassen, aber er will es nicht! Ich bin überzeugt, ich könnte sehr gut zu allen Gebetszeiten gehen. Ich würde deswegen nicht eine Minute früher sterben. Manchmal scheint mir, wenn ich nichts gesagt hätte, würde man mich nicht für krank halten.

19. Mai

»Warum sind Sie heute so fröhlich?«

Weil ich heute früh zwei »kleine« schmerzliche Erlebnisse hatte. Wirklich sehr schmerzlich … Nichts ist besser geeignet, mir »kleine« Freuden zu verschaffen, als solch »kleine« Leiden …

20. Mai

1

Man sagt mir, ich werde mich vor dem Tod fürchten. Das kann wohl sein. Niemand hier misstraut seinen Gefühlen mehr als ich. Ich stütze mich nie auf meine eigenen Gedanken; ich weiß, wie schwach ich bin; aber ich will das Gefühl auskosten, das der liebe Gott mir jetzt gibt. Es wird noch genug Zeit sein, am Gegenteil zu leiden.

2

Ich zeigte ihr eine Fotografie von ihr:

Ja, aber … das ist der Umschlag; wann wird man den Brief sehen? Oh wie gern möchte ich den Brief lesen! …

Vom 21. bis zum 26. Mai

1

Mir gefällt Théophane Vénard11 noch besser als der heilige Aloisius von Gonzaga, weil sein Leben ganz gewöhnlich war, das des Heiligen dagegen außergewöhnlich. Außerdem ist er selbst es, der spricht, während beim Heiligen ein anderer erzählt und ihn sprechen lässt; deshalb weiß man von seiner »kleinen« Seele fast nichts.

Théophane Vénard liebte seine Familie sehr und auch ich liebe meine »kleine« Familie sehr. Ich verstehe die Heiligen nicht, die ihre Familie nicht lieben … Wie sehr liebe ich meine jetzige Familie! Wie sehr, wie sehr liebe ich mein Mütterchen.

2

Ich werde bald sterben. Aber wann? Oh wann? … Es ist nicht so weit! Ich bin wie ein kleines Kind, dem man immer einen Kuchen verspricht. Man zeigt ihn ihm von fern, aber sobald es näher kommt, um ihn zu ergreifen, zieht sich die Hand zurück … Aber im Grunde bin ich bereit zu leben, zu sterben, gesund zu werden und nach Cochinchina12 zu gehen, wenn der liebe Gott es will.

3

Nach meinem Tod soll man mich nicht mit Kränzen umgeben wie Mutter Genoveva.13 Sagen Sie allen, die mir welche besorgen wollen, es wäre mir lieber, sie würden mit diesem Geld Negerkinder loskaufen. Darüber würde ich mich freuen.

4

Früher habe ich sehr darunter gelitten, dass ich teure Medikamente nehmen musste; jetzt aber macht mir das nichts mehr aus – im Gegenteil. Ich habe nämlich im Leben der heiligen Gertrud gelesen, dass sie es gern tat, weil sie sich sagte, es wird denen nützen, die uns Gutes tun. Dabei dachte sie an das Wort unseres Herrn: »Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«14

5

Zwar bin ich überzeugt, dass die Medikamente mich nicht gesund machen werden, aber ich habe mich mit dem lieben Gott dahin verständigt, dass er sie den armen kranken Missionaren zugutekommen lässt, die weder Zeit noch Mittel haben, sich zu pflegen. Ich bitte ihn, er möge ihnen durch die Medikamente, die ich einnehme, und durch die Bettruhe, die ich genießen muss, an meiner statt die Genesung schenken.

6

Man hat mir so oft gesagt, ich sei tapfer, und das ist so wenig wahr, dass ich mir sagte: Schließlich kann man doch nicht alle Welt Lügen strafen! Und so habe ich mich mithilfe der Gnade daran gemacht, diese Tapferkeit zu erwerben. Ich habe es gemacht wie ein Krieger, den man zu seiner Kühnheit beglückwünscht, der aber sehr gut weiß, dass er ein Feigling ist; schließlich werden ihm diese Komplimente so peinlich, dass er sie wirklich verdienen will.

7

Wie viele Gnaden werde ich für Sie erbitten, wenn ich im Himmel bin! Oh, ich werde dem lieben Gott so lange in den Ohren liegen, bis ihn meine Zudringlichkeit zwingt, meine Wünsche zu erfüllen, wenn er mich zunächst auch eigentlich abweisen wollte. Diese Geschichte steht im Evangelium …15

8

… Wenn die Heiligen mir nicht so viel Zuneigung bezeugen wie meine Schwesterchen, so wird das sehr hart für mich sein … Dann werde ich mich in einen kleinen Winkel stellen und weinen …

9