Verräterisches Schweigen

Die Autorin

Astrid Pfister – Foto © privat

Astrid Pfister, geboren 1980 in Westholt, lebt die Liebe zum Schreiben. Vor über 15 Jahren verfasste sie ihre erste Kurzgeschichte und nahm damit an einem Wettbewerb teil. Inzwischen hat sie eine Vielzahl von Kurzgeschichten, Romanen und einen Gedichtband in verschiedenen Verlagen veröffentlicht, unter anderem bei Bastei Lübbe. Die Autorin lebt und schreibt in Herne.

Das Buch

Der schwerste Fall für Verhörspezialist Leonard Lehmann

Hauptkommissar Leonard Lehmann hat schon viele Kriminelle hinter Gitter gebracht. Sein Job ist sein Leben und er vergisst auf der Jagd nach Verbrechern oft alles um sich herum. Deshalb ist er geschieden und sieht seine Tochter Joy nur an den Wochenenden. Wenn überhaupt. Als er gemeinsam mit Joy die Cranger Kirmes besucht, erreicht ihn ein Anruf vom Revier. Bei einer Geiselnahme in einer Herner Bank ist ein Mann erschossen worden. Leonhard wird als Verhörspezialist des Ruhrgebiets dringend gebraucht. Denn irgendetwas stimmt nicht mit dem Geiselnehmer. Leonard übernimmt die Ermittlungen, bei denen seine Loyalität der Polizei gegenüber auf eine harte Probe gestellt wird …

Astrid Pfister

Verräterisches Schweigen

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95819-206-5

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Kapitel 1

Die blutüberströmte Leiche des Rentners lag grotesk verdreht zwischen den Aktenschränken des Abteilungsleiters. Es hatte eines Ausweises bedurft, um ihn als Helmut Weißenberger identifizieren zu können, denn vom Gesicht des Opfers war nicht mehr viel zu erkennen. Nur die in Panik und Todesangst weit aufgerissenen Augen blickten ins Leere. Als der Rentner sich heute Morgen entschieden hatte, die beschauliche Herner Sparkasse zu betreten, hatte er bestimmt nicht im Traum daran gedacht, sie nicht mehr lebend zu verlassen.

Der Polizist warf einen Blick in den Hauptraum der Sparkasse, wo sich gerade der Geiselnehmer widerstandslos Handfesseln anlegen ließ. Wieso tat ein Mensch so etwas? Eine Bank zu überfallen, war das eine … Geiseln zu nehmen schon extremer, aber einen harmlosen alten Mann kaltblütig zu erschießen?

Vor allem war dieser Mord absolut sinnlos gewesen. Die Polizisten hatten die Sparkasse noch nicht gestürmt, das SEK war noch gar nicht eingetroffen, und keiner hatte dem Geiselnehmer gedroht. Er selbst hatte noch nicht einmal Forderungen gestellt gehabt, zu deren Untermauerung er Geiseln hätte umbringen müssen. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn. Was wiederum bedeutete, dass sie es hier höchstwahrscheinlich mit einem Geisteskranken zu tun hatten, was die ganze Sache noch schwieriger machen würde.

Das einzig Positive an diesem schrecklichen Vormittag war, dass sie den Mann hatten stoppen können, bevor er noch mehr Unschuldige umbrachte.

Er wusste, als Polizist sollte er so etwas gewohnt sein, aber er lebte schließlich nicht in New York oder Berlin, sondern in einer kleinen Stadt, die keinerlei Erfahrungen mit Geiselnahme und brutalem Mord hatte. Bis auf den Fall Marcel Heße, der deutschlandweit für Aufsehen gesorgt und die Stadt vor einiger Zeit in einen Ausnahmezustand versetzt hatte.

Er war so wütend, dass er lieber hier in diesem stickigen Büro mit der Leiche blieb, als den Hauptraum der Sparkasse zu betreten. Er befürchtete, dass er sonst den Geiselnehmer mehr als nur grob anfassen würde. Er konnte nicht mit ansehen, wie kaltschnäuzig und cool sich dieser gab. Der Täter wirkte, als wartete er auf den Bus, und nicht, als hätte er gerade einem wehrlosen alten Mann einfach mal so in den Kopf geschossen.

Kapitel 2

Leonard Lehmann seufzte, als er den Verdächtigen durch den Einwegspiegel des Vernehmungszimmers beobachtete. Eigentlich war heute sein freier Tag gewesen, und zwar der erste seit einer gefühlten Ewigkeit, da immer wieder etwas dazwischenkam, wenn er seine zu einem Berg angewachsenen Überstunden in freie Tage umwandeln wollte. Es klang immer toll, wenn Kollegen oder sogar diverse Bürgermeister ihn als DEN führenden Verhörspezialisten von NRW anpriesen, aber die Kehrseite der Medaille war eine gescheiterte Ehe und ein Kind, das er von Herzen liebte, aber nur alle vierzehn Tage am Wochenende sah. Und das er heute wieder einmal hatte enttäuschen müssen. Er sah noch immer den anklagenden und traurigen Blick seiner Tochter vor sich.

Dadurch, dass er gefühlt nonstop arbeitete, blieb ihm auch keine Zeit, mal in eine Bar zu gehen, um eine neue Frau kennenzulernen. Heute Abend hatte er eigentlich ein Date mit einer alten Schulfreundin, die er zufällig bei Facebook wiedergefunden hatte. Und was tat er, anstatt mit ihr gemütlich in seiner Lieblingspizzeria zu sitzen oder den Tag mit seiner Tochter zu verbringen? Er trank literweise scheußlichen Kaffee und verbrachte den Tag und den Abend mit einem weiteren Monster der Gesellschaft.

Manchmal fragte sich Leonard, warum er jemals bei der Polizei angefangen hatte und nicht stattdessen Lehrer oder Supermarktkassierer geworden war. Ein ruhiger Job mit geregelten Arbeitszeiten und einer Familie, zu der er jeden Tag pünktlich zum Essen heimkehren konnte, hätte es doch auch getan.

Aber wenn er ehrlich war, liebte er seinen Beruf trotz all der negativen Aspekte, die damit verbunden waren. Denn das, was er tat, hatte eine Bedeutung. Er half mit seiner Arbeit, die Welt ein Stückchen sicherer, ein Stückchen besser zu machen. Und von welchem dieser »ruhigen und einfachen« Jobs konnte man das schon behaupten? Er hatte im Laufe seiner Karriere den einen oder anderen Verbrecher hinter Gitter gebracht, und auch dieses Mal würde es nicht anders laufen. Sein Ruf eilte ihm voraus, und er wurde mittlerweile nicht nur in ganz NRW angefordert, sondern auch bei kniffligen Fällen im Rheinland hinzugezogen. Die ständige Reiserei hatte seiner Ehe natürlich nicht gutgetan.

Es war eigentlich eine Erholung, zu einem Fall in seiner Heimatstadt hinzugezogen zu werden, in der seine Karriere begonnen hatte. Wobei er nicht so ganz verstand, was er hier zu suchen hatte, denn der Mann im Verhörraum war so offensichtlich schuldig, dass selbst ein Anfänger ihn überführen könnte.

Leonard gab zu, dass das Äußere des Täters nicht vermuten ließ, dass er zu so einer Tat fähig war. Der Mann wirkte geradezu liebenswürdig. Wenn er ihn auf der Straße gesehen hätte, hätte er ihn wahrscheinlich für einen typischen Beamten mittleren Alters gehalten. Schütter werdendes braunes Haar, das an den Schläfen schon graue Strähnen zeigte, und treue blaue Augen hinter einer dicken Brille. Er trug eine braune Stoffhose, ein weißes Hemd und darüber einen brauen Wollpullover.

Nichts von alledem deutete darauf hin, dass dieser Mann heute Morgen die städtische Sparkasse überfallen, alle Leute, die sich darin befunden hatten, als Geiseln genommen und nach einigen Stunden einen älteren Herrn kaltblütig erschossen hatte.

Aber so war es oft. Man sagte ja nicht umsonst: Stille Wasser sind tief. Wie viele Serienmörder in der Geschichte waren gerade deshalb so erfolgreich gewesen, weil sie so harmlos und manchmal sogar attraktiv ausgesehen hatten. Wenn man so jemandem begegnete, sandte der Körper leider keinerlei Alarmsignale aus. Oft waren es gerade die Harmlosen oder die Außenseiter, die eines Tages durchdrehten und ein Blutbad anrichteten. Genau wie in diesem Fall.

Als der Mann die Bank betreten hatte, hatte ihm wahrscheinlich keiner der dort Anwesenden auch nur einen Blick geschenkt. Und wenn die Polizei ihn nicht rechtzeitig überwältigt hätte, wären sie jetzt vielleicht alle tot.

Obwohl dieser Fall von äußerster Brutalität und Skrupellosigkeit zeugte, sah Leonard nicht, warum gerade sein Verhörtalent hier vonnöten war. Schließlich war der Mann mitten in der Sparkasse überwältigt worden, im selben Raum mit dem Mann, den er erschossen hatte, und alle Geiseln hatten bezeugt, dass er die Sparkasse am Morgen überfallen hatte. Wie bitte schön sollte er sich aus dieser Nummer wieder herausreden? Selbst der teuerste Anwalt würde keine mildernden Umstände erreichen können, geschweige denn einen Freispruch.

Leonard seufzte noch einmal tief, während er an sein verpasstes Date dachte und daran, wie der Abend vielleicht hätte ausklingen können. Dann trat er in den angrenzenden Verhörraum. »Hallo, mein Name ist Kriminalhauptkommissar Leonard Lehmann. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Wie mir die Kollegen sagten, verzichten Sie auf einen Anwalt. Ich informiere Sie hiermit aber noch einmal darüber, dass Sie das Recht haben, das Gespräch jederzeit zu unterbrechen und einen Anwalt anzurufen. Können Sie sich keinen eigenen Anwalt leisten, wird Ihnen vom Gericht einer gestellt. In Ordnung?«

Mark Jankowitz bejahte leise.

»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Durst, deshalb habe ich Ihnen einen Kaffee mitgebracht«, sagte Leonard. Im Laufe seiner Karriere hatte er seine Verhörmethode perfektioniert und war inzwischen Experte. Zuallererst beobachtete er die Person eine ganze Weile, um sich einen Eindruck von ihr zu verschaffen, erst dann entschied er, wie er vorgehen würde. Und in diesem speziellen Fall hatte er beschlossen, die Masche des verständnisvollen und freundlichen Polizeibeamten durchzuziehen, um so das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. Dieser sollte das Gefühl haben, dass Leonard durchaus nachvollziehen konnte, warum er die Tat begangen hatte, und dass der Mann ihm ohne Probleme alles darüber erzählen konnte. Sollte diese Technik nicht funktionieren, hatte Leonard noch unzählige andere in petto.

Der Mann blickte Leonard mit ernstem Gesicht an, und dieser registrierte die zusammengesunkene Körperhaltung, die hängenden Schultern und die blutunterlaufenen Augen. Dieser Mann war am Ende seiner Kräfte, was dem Kriminalhauptkommissar nur recht war. Vielleicht hatte er ja Glück, und der Mann gestand innerhalb kürzester Zeit, sodass Leonard sein Rendezvous doch noch angehen konnte.

Er setzte sich dem Täter gegenüber, nahm einen Schluck des ekelhaften Gebräus, das die Dienststelle Kaffee nannte, und schlug dann seine Unterlagen auf.

Auch sein Gegenüber griff nach dem mitgebrachten Kaffeebecher und trank einen Schluck, verzog aber sofort angewidert das Gesicht. Aus den Augenwinkeln nahm Leonard wahr, dass der Mann so sehr zitterte, dass er kaum fähig war zu trinken.

Auch das war nichts Untypisches. Wenn es sich nicht gerade um einen passionierten Serienkiller handelte, konnte ein Verbrecher während seiner Tat noch so abgebrüht sein; wenn er erst einmal ein paar Stunden in einem Verhörzimmer saß, verwandelte er sich schnell in ein zitterndes Häufchen Elend.

»Vielen Dank für den Kaffee«, flüsterte der Mann kaum wahrnehmbar.

»Kein Problem«, entgegnete Leonard. »Laut der Notizen meines Kollegen heißen sie Mark Jankowitz, sind fünfundvierzig Jahre alt und wohnen hier in Herne. Ist das korrekt?«

Sein Gegenüber nickte mit gesenktem Blick.

Leonard sah ihn intensiv an und sagte dann: »Und stimmt es, dass Sie heute Morgen um neun Uhr dreißig, genau zur Öffnungszeit, die Sparkasse in der Herner Innenstadt betreten haben?«

Abermals nickte der Mann.

»Sie müssen meine Fragen bitte laut und deutlich beantworten, damit sie richtig aufgezeichnet werden können.«

»Ja, das habe ich«, antwortete Mark Jankowitz mit zittriger Stimme.

»Und stimmt es, dass Sie alle anwesenden Personen als Geiseln genommen haben?«

Der Mann zögerte einen Augenblick. »Jein.«

»Jein?«, wiederholte Leonard verwirrt. »Was soll das denn heißen, Jein?«

»Ich wollte sie nicht als Geiseln nehmen, ich wollte doch nur das Geld!«, entgegnete Mark Jankowitz.

»Und Sie dachten, Sie spazieren einfach in die Sparkasse hinein, nehmen das Geld an sich und gehen dann in aller Seelenruhe nach Hause?«, fragte der Kriminalhauptkommissar zynisch. Als der Mann keine Antwort gab, sprach Leonard weiter: »Und weil Sie nur so harmlose Absichten hatten und eigentlich noch nicht einmal Geiseln nehmen wollten, dachten Sie, wenn Sie schon einmal dabei sind, könnten Sie auch gleich eine der Geiseln erschießen?«

Mark Jankowitz hielt den Blick weiterhin auf seine Hände gesenkt, die nervös mit dem Pappbecher spielten, und schüttelte abermals den Kopf.

Langsam war Leonard mit seiner Geduld am Ende. Würde er dem Mann ab jetzt jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen müssen? Dann würden sie ja noch ewig hier sitzen.

»Wie gerade schon gesagt, ein Rekorder nimmt unser gesamtes Gespräch auf, deshalb reicht es nicht aus, nur zu nicken. Sie müssen Ihre Antworten klar und deutlich aussprechen.«

»Nein«, stieß der Geiselnehmer hervor.

Leonard runzelte die Stirn. »Was nein?«

»Nein, ich habe so etwas nicht im Traum gedacht, und nein, ich habe keine Geisel erschossen!«

Leonard verlor jetzt seine aufgesetzte Ruhe und schlug mit der Faust auf den Tisch. Genau diesen Schwachsinn hatte Jankowitz auch schon den anderen Polizisten aufgetischt. »Sie wollen mir also weismachen, Sie hätten keine Geisel erschossen?«

Der Mann nickte, erinnerte sich dann aber offenbar an die Ermahnung des Kriminalhauptkommissars und sagte deutlich: »Nein, ich habe keine Geisel erschossen!«

»Dann muss ich mir die blutüberströmte Leiche von Helmut Weißenberger, die wir in einem der Büros gefunden haben, wohl eingebildet haben … zusammen mit den acht Geiseln, die allesamt gehört haben, wie Sie geschossen haben!« Leonard schäumte innerlich vor Wut. Er hatte unzählige Jahre Erfahrung in seinem Job, und er war wirklich gut. Er kannte all die psychologischen Tricks der Verbrecher und konnte sich auf jeden davon mühelos einstellen. Er analysierte sein Gegenüber, fand dessen Schwachstelle und machte sie sich anschließend zunutze. Er wusste immer genau, bei welchem Angeklagten es ratsam war, ruhig und freundlich zu reagieren, und bei wem er den knallharten Polizisten rauskehren musste, der notfalls auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Bei manchen half es auch, sich als Verbündeter darzustellen, der nur zu gut verstehen konnte, warum der Täter getan hatte, was er getan hatte.

Aber diese Art von Täter hatte ihn schon immer zur Weißglut getrieben. Diese nach außen hin so harmlosen Männer, die den Anschein erweckten, keiner Fliege etwas zuleide tun zu können, aber die in Wirklichkeit die abscheulichsten Monster von allen waren. Und dann dachten sie auch noch, dass sie einen für dumm verkaufen konnten.

Aber nicht mit ihm! Er saß schließlich am längeren Hebel, und er würde Jankowitz jetzt erst einmal schmoren lassen. Mal schauen, ob er nach ein paar Stunden immer noch bei Laune war, ihn anzulügen.

Und dabei hat der Tag so gut begonnen, dachte Leonard, als er zur Kaffeemaschine ging, um sich einen neuen Becher von der Säure einzuschenken.