Über Petra Reski

© Paul Schirnhofer

Petra Reski wurde im Ruhrgebiet geboren und lebt in Venedig. Seit 1989 schreibt sie über Italien – für Die Zeit, Geo, Merian, Focus und Brigitte – und immer wieder über das Phänomen Mafia. Sie drehte einen Film über Mafiafrauen und wurde für ihre Reportagen und Bücher mehrfach ausgezeichnet, in Deutschland zuletzt mit dem Journalistinnenpreis und als »Reporterin des Jahres«. In Italien erhielt sie für ihr Antimafia-Engagement den Premio Civitas und den Amalfi Coast Media Award. Petra Reski hat mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht, zuletzt bei Hoffmann und Campe Von Kamen nach Corleone. Die Mafia in Deutschland (2010), Palermo Connection (2014) und Die Gesichter der Toten (2015).

 

www.petrareski.com

Fußnoten

Namen, Orte sowie Einzelheiten, die Rückschlüsse auf Identitäten zulassen, wurden von der Redaktion geändert.

Palermo Connection

Serena Vitale ermittelt auf Sizilien

Sie hatte sie kommen sehen, im Rückspiegel ihres alten Renault, kein Motorradfahrer außer ihnen trug Integralhelme, sie hatte noch gehofft, sich zu irren, aber da drangen schon die ersten Kugeln in das Blech, ein Geräusch wie Knallfrösche, sie hatten sie überholt, der Typ vom Soziussitz legte wieder auf sie an, sie versuchte zu entkommen, der Wagen geriet ins Schlingern und raste über das Gras am Straßenrand auf einen Acker, sie sprang aus dem Auto, rannte den Abhang hinunter, über ein Feld voller Mohnblüten, sie schossen ihr in die Schulter, aber sie lief weiter, sie zielten auf ihre Beine, sie fiel auf die Knie, auf das Gesicht, sie roch Erde, doch sie stand wieder auf. Sie konnte wieder laufen. Sie konnte springen. Sie sprang, als hätte sie Sprungfedern unter den Füßen, sie sprang höher und höher, über Felder, Straßen und Berge, sie lief in der Luft weiter und blickte nach unten, wo alles ganz klein wurde, bis plötzlich Geschrei ertönte.

Die Fensterläden waren noch geschlossen, die Schreie der Möwen hatten sie geweckt. Frühmorgens, wenn der Müll abgeholt wurde, machten sie einen Höllenspektakel, sie schrien wie wilde Tiere, ein Krach wie im tiefsten Afrika, als wären Löwen, Elefanten und Nilpferde gleichzeitig erwacht. Sie setzte sich im Bett auf und griff nach dem Glas Wasser auf ihrem Nachttisch.

Wenn sie schlief, warteten die Toten auf sie. Der Kollege, der noch versucht hatte, seinen Killern zu entkommen – über ein Feld voller Mohnblüten – und den seine Verfolger am Ende mit einem Schuss in den Hinterkopf niedergestreckt hatten,

Der Richter hatte gewusst, dass er der Nächste sein würde. Serena erinnerte sich noch an den Nachmittag, als er vor ihnen zu weinen begann – er, der nicht einmal auf der Beerdigung seines besten Freundes geweint hatte, den die Mafia siebenundfünfzig Tage vor ihm in die Luft gesprengt hatte. Serena saß mit einem Kollegen in seinem Büro, sie sprachen über Ermittlungen, als der Richter plötzlich mitten im Gespräch aufstand, um den Schreibtisch herumging, sich auf das Sofa setzte, die Hände vor das Gesicht schlug und sagte: Ein Freund hat mich verraten, ein Freund hat mich verraten. Er weinte, im Raum hörte man nichts anderes als sein Schluchzen und ihren Atem. Weder Serena noch ihr Kollege hatten den Mut nachzufragen. Sie redeten sich ein, dass es etwas Persönliches sei. Sie wollten ihm nicht zu nahe treten. Sie hatten Angst. Heute wusste sie, dass es ein Carabiniere-General war, der ihn verraten hatte.

Eine Zeit lang hatte sie nur mit Schlafmitteln schlafen können, zehn nach Orangenblütenessenz schmeckende Tropfen hatten anfangs gereicht, später wurden es mehr, bis es schließlich gar nicht mehr ging, sie brauchte Monate, um von ihnen wieder loszukommen. Eine Zeit lang war es ihr besser gegangen, sie hatte sich eingeredet, es geschafft zu haben, mit einer gewissen Distanz, ja Kälte auf die Geschehnisse zu blicken – wenn man Attentate als Geschehnisse bezeichnen konnte. Aber jetzt, seitdem sie den Prozess führte, war die Wut wieder da, als wäre seitdem nur ein Tag vergangen. Ja, sie führte ein ganz normales Leben. Das Leben einer Kriegsversehrten.

Vor dem Justizpalast saß ein Polizist, von dem es hieß, dass er wegen mentaler Probleme aus dem Dienst entlassen worden sei. Er trug einen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte und schrie jeden an, der das Gericht betrat, die Sekretärinnen und Büroboten, die Polizisten, Carabinieri, Anwälte und Richter. Er hockte auf dem Boden und brüllte: Habt ihr Angst zu reden?, und Wo ist die Demokratie? Und alle, die an ihm vorbeigingen, taten so, als hörten sie ihn nicht.

Die Staatsanwältin ignorierte den Irren, wie sie auch Wieneke übersah, der hier schon seit einer Stunde auf sie wartete und sich eine Antimafia-Staatsanwältin irgendwie anders vorgestellt hatte. Auf jeden Fall nicht mit so hohen Absätzen, auf denen sie erstaunlich schnell die Treppen zum Justizpalast hochlief.

Frau Vitale, entschuldigen Sie, rief Wieneke, ich bin der deutsche Journalist, erinnern Sie sich? Wir haben …

… telefoniert, wollte er noch sagen, aber da hatte sie schon die Metalldetektorschleuse passiert. Ohne aufzublicken. Wolfgang W. Wieneke (irgendwann hatte er beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und seinen zweiten Vornamen Widukind hinter einem W. zu verbergen) und seinem Fotografen blieb nichts anderes übrig, als hinter ihr herzulaufen. Sie rannte mit einem Aktenstapel unter dem Arm über den Flur, warf sich im Laufen die Robe über ihr Kleid, bis sie kurz vor dem Gerichtssaal wieder umkehrte und zurück zum Büro lief. Und mit einem weißen Lätzchen in der Hand zurückkehrte,

Wieneke und sein Fotograf mussten sich um zwei Plätze auf den Pressebänken zanken, weil die bereits sitzenden Journalisten mit ihren Laptops versuchten, die Reviere zu markieren. Die Zuschauerbänke waren überfüllt, der Saal berstend voll, und wer keinen Platz fand, drängte sich in den Gängen neben Polizisten, Carabinieri und Gerichtsdienern.

Man nennt sie übrigens die Eisheilige, sagte der Fotograf, ein Spitzname, den Wieneke außerordentlich treffend fand. Vor allem wegen der Klimaanlage des Justizpalastes. Draußen schmolz die Sonne den Asphalt, und hier drinnen herrschte sibirischer Winter. Wenn das keine Energieverschwendung war.

Die Journalisten beugten sich über ihre Zeitungen und Smartphones und einer, der für die RAI arbeitete, rief der Staatsanwältin ein vertrauliches Ciao Serena zu, was ihr ein zögerliches Lächeln entlockte. Offenbar kannten sich hier alle, Staatsanwälte, Gerichtsreporter, Antimafia-Blogger und die Mafiaspezialisten der großen Tageszeitungen und Fernsehsender, die, wie der Fotograf betonte, nur zu bedeutenden Prozessen anreisten.

Nun betrat der angeklagte Minister den Saal. Enrico Gambino. Umgeben von einem Hofstaat aus Anwälten, Beratern und Leibwächtern, hielt Gambino so lange inne, bis sich in dem lärmenden Gerichtssaal ein Kreis von Stille um ihn bildete. Er trug ein dunkelblaues Jackett und ein hellblaues Hemd. Die Haare waren weiß und so dünn, dass man seine Kopfhaut darunter rosa schimmern sah. Nachlässig grüßte er einige Journalisten und winkte im Vorbeigehen, ohne sich umzudrehen: ein gestürzter König, getragen von der Gewissheit, dass er am Ende triumphieren würde. Bevor er sich setzte, nickte er der Staatsanwältin hoheitsvoll und herausfordernd zu. Wie ein Regent, der sich den Regeln eines albernen Protokolls auf fremdem Boden fügt.

Heiter plauderte er mit seinen Anwälten und begrüßte eine

Wieneke holte sein neues Moleskine aus der Tasche, machte lustlos ein paar Notizen über die Form des Gerichtssaals, die bedenkliche Kälte, die Farbe des Marmorbodens, die Uniformen der Carabinieri, notierte, dass die Anklage lautete: Mitwirkung in einer mafiosen Vereinigung und Mittäterschaft bei Attentaten – und machte hinter den letzten Anklagepunkt ein kleines Fragezeichen: Der Fotograf hatte betont, dass diese Anklage nicht haltbar sei.

Es ist ein Ding, dass der Prozess überhaupt zustande gekommen ist, sagte er.

Wieneke nickte, obwohl er keineswegs verstand, warum es eine Überraschung sein sollte, wenn es zu einem Prozess gegen einen Minister kam, der wohl genug Dreck am Stecken haben musste, damit man ihn überhaupt anklagen konnte.

Entschuldige mal, sagte Wieneke schließlich, abgesehen davon, dass dieser Gambino verdächtigt wird, mindestens einen Richter aus dem Weg geräumt zu haben, wurde er als Europaabgeordneter schon dafür verurteilt, Milliarden Fördergelder in die Taschen der Bosse geleitet zu haben, für Windkraftanlagen, Staudämme und landwirtschaftliche Kooperativen, die alle nur auf dem Papier existierten.

In erster Instanz, sagte der Fotograf.

Ja, und?, fragte Wieneke.

Bis das Urteil nicht in dritter Instanz bestätigt wurde, ist es nicht rechtskräftig.

Außerdem soll er für die Mafia eine Partei gegründet haben, da wird er ja wohl nicht ganz unschuldig sein, sagte Wieneke.

Der Fotograf betrachtete ihn amüsiert. Wie einen kleinen, netten Hund. Erklär ich dir später, sagte er.

Minister Gambino blickte so entspannt in den Gerichtssaal, als sei die Anklage gegen ihn lediglich eine kleine Wolke,

In Anbetracht dieser für die Staatsanwältin nicht unbedingt ermutigenden Aussichten wirkte sie erstaunlich gelassen. Sie ließ sich keine Anspannung anmerken und blätterte so gelangweilt in den Zeitungen, als säße sie nicht im Gerichtssaal, sondern beim Friseur. Die Schlagzeilen waren an diesem Morgen fast ausnahmslos der bevorstehenden Aussage von Marcello Marino gewidmet, einem abtrünnigen Mafioso, der als Zeuge der Anklage vorgeladen war, um zu beweisen, wie Minister Gambino die gemeinsamen Geschäfte mit den Mafiabossen besprochen habe.

Also, mich wundert, dass dieser Gambino immer noch Minister ist, sagte Wieneke. In Deutschland wäre der nicht mehr haltbar.

Weil es bei euch keine Unschuldsvermutung gibt?

Wenn auch nur ein Zweifel an einem Minister besteht, muss er zurücktreten. Wenn er nicht schon längst im Knast säße. Mindestens in Untersuchungshaft.

Der Fotograf lächelte. Und fragte provozierend: Ah, ihr macht in Deutschland also kurzen Prozess? Vielleicht so, wie ihr das mit der Baader-Meinhof-Bande hingekriegt habt?

Was soll das denn jetzt?, wollte Wieneke noch fragen, aber

Die Staatsanwältin ignorierte die Journalisten, den Minister und die Wolke aus Anwälten, Kofferträgern und anderen Dienern. Sie blickte in die Ferne, zur Holzvertäfelung hinter dem Gerichtspodest, wo in goldenen Lettern DAS GESETZ IST FÜR ALLE GLEICH stand und rückte die vor ihr liegenden Aktenstapel zurecht. Lauter verschnürte Ordner, offenbar hatten die hier noch keine Computer, anders war diese Papierverschwendung nicht zu erklären. Zumindest aus ökologischer Sicht war die italienische Justiz eine Katastrophe.

Wieneke hörte die Fernsehjournalisten hinter dem Rücken der Staatsanwältin tuscheln. Sie tat, als bemerke sie es nicht, selbst dann nicht, als einige Journalisten Minister Gambino mit Wangenkuss begrüßten. Für die Journalisten war der Prozess offenbar so etwas wie ein Boxkampf. Trockeneisnebel und Fanfaren, die Vitale trippelnd und seilspringend, der Minister beim Muskelspiel. Mal sehen, ob sie es schafft, ihm einen Haken zu versetzen.

Alle warteten darauf, dass Gambinos Hauptbelastungszeuge in den Saal geführt würde: Marcello Marino, Mafioso aus Brancaccio, Palermos Sumpf – wie Giovanni betonte. Einst halber Analphabet und vielfacher Mörder, reuig infolge einer mystischen Krise, heute Kollaborateur der Justiz, was klang, als würde er mit einer feindlichen Besatzungsmacht zusammenarbeiten.

Endlich ging die Tür auf, und Marino wurde durch den Saal in Richtung Richterpodest geschoben. Es sah aus, als würden Fußballer einen Torschützen feiern, die Leibwächter drängten sich so dicht um ihn, dass außer einem Stückchen dunkelblauen Sweatshirts inmitten des Menschenknäuels nichts von dem Mafioso zu sehen war. Marino wurde hinter einen weißen Paravent geführt, und die Polizisten bauten sich davor breitbeinig zu einem Schutzwall auf. Sie kauten Kaugummi, verschränkten die Arme hinter dem Rücken und blickten mit zusammengekniffenen Augen in den Gerichtssaal.

Der Fotograf rückte näher an Wieneke. Aber anders war die Simultanübersetzung nicht möglich. Normalerweise versuchte Wieneke, körperliche Nähe zu Männern zu vermeiden, weshalb es ihn etwas beklommen machte, Giovannis warmen Atem an seinem Ohr zu spüren.

Zuallererst wünsche ich allen einen guten Tag. Mein Name ist Marcello Marino, geboren in Palermo am 10. Juli 1958. Ich habe zu einer terroristisch-mafiösen Vereinigung gehört, die Cosa Nostra genannt wird, sagte der Mafioso, und es klang, als spreche er von einer Mitgliedschaft in einem Golfclub.

Was meinen Sie mit einer terroristisch-mafiösen Vereinigung?, fragte Serena Vitale, woraufhin sich im Saal Unruhe ausbreitete.

Im Gerichtssaal hielten jetzt alle inne, die Mafiaspezialisten hörten auf zu flüstern, die Blogger klappten ihre Laptops zu, die Gerichtsdiener, die Verteidiger, selbst Minister Gambino blickte einen Wimpernschlag lang auf. Einen Moment lang sah er aus wie ein alter, lahm gewordener Hofhund mit Unterbiss.

Wann sind Sie ein Mann der Ehre geworden?, fragte die Staatsanwältin. Sie sprach den abtrünnigen Mafioso respektvoll mit dem Titel an, den er durch seinen Verrat verwirkt hatte.

Ich hatte schon während der großen Mafiakriege an verschiedenen Einsätzen teilgenommen, als ich noch gar nicht getauft war. Erst als meine Clanchefs im Gefängnis waren, wurde ich ordnungsgemäß aufgenommen und zum Zehnerführer, dann zum Clanchef ernannt.

Für welche Verbrechen wurden Sie verurteilt?

Für Morde, Entführungen, Geiselnahme und verschiedene Attentate, sagte Marino und betonte, dass er alle seine Opfer auf Bestellung ermordet hatte wie ein Soldat: Männer, deren Vergehen darin bestanden hatte, die Ehefrau eines Bosses nicht unterwürfig genug gegrüßt zu haben; zwei Jungs, die bis zu dem Augenblick, als Marino sie strangulierte, gelacht hätten, weil sie das Ganze für eine Verwechslung hielten, ein Junge, der den Fehler begangen hatte, der Freundin eines Bosses die Tasche geklaut zu haben; ein anderer Junge, dessen einzige Schuld darin bestanden hatte, der Sohn eines abtrünnigen Mafiosos zu sein; ein koksendes Clanmitglied, das als wenig vertrauenswürdig galt und deshalb beseitigt werden musste. Erschossen, erwürgt oder in die Luft gesprengt.

Sprechen Sie bitte etwas langsamer, Signor Marino, sagte Serena. Ihre Stimme klang tief und kontrolliert. Manchmal fiel ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, die sie schnell zurückstrich.

Was hat Sie dazu bewogen, Cosa Nostra abzuschwören?,

Daraufhin beschrieb der Mafioso den Pfad seiner Erleuchtung mit einer Inbrunst, als handelte es sich um seine Hochzeitsreise. Ein Pfad, auf dem er sich befinde, seitdem er begonnen habe, im Gefängnis die heilige Schrift zu studieren. Er nannte die Namen jeden einzelnen Gefängnispriesters, dem er begegnet war, beschrieb, wie er als Kind an Gott geglaubt habe, danach aber nicht mehr und pries das Werk Edith Steins – während die Anwälte versunken auf ihren Smartphones herumspielten, der angeklagte Minister den Unterkiefer noch weiter nach vorn schob, der Vorsitzende Richter seine Brille putzte, und ein Journalist auf seinem iPad eine Mail schrieb, die, als er sie abschickte, wie ein startendes Flugzeug rauschte.

Ich habe mein bisheriges Leben dem Bösen geopfert, jetzt wollte ich es in den Dienst des Guten stellen, um den Toten eine Ehre zu erweisen, sagte der Mafioso.

In seinem weichen sizilianischen Singsang klang alles gleich, egal ob er von Salzsäure für die Leichen, von mit Metallteilen vermischtem Sprengstoff oder vom Johannes-Evangelium sprach, seinem Lieblingsevangelisten. Als er die Auferweckung des Lazarus von den Toten und die Erkenntnis des Einsseins mit Gott beschwor, deklamierte er: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben, bis der Vorsitzende Richter endlich eingriff und bemerkte: Ich habe den Eindruck, dass wir jetzt genug zum spirituellen Weg gehört haben.

Die Staatsanwältin bat ihren Kronzeugen, über seine letzten Attentate auszusagen – die Bomben auf dem Kontinent, wie Marino das Festland bezeichnete. Attentate, die für Cosa Nostra ungewöhnlich gewesen seien, weniger, weil man sich da auf fremdem Terrain befunden habe, als wegen der Umstände, unter denen sie stattgefunden hätten.

In diesem Augenblick erstarrte der ganze Gerichtssaal wie schockgefroren. Niemand tippte mehr SMS, der Richter hörte auf, seine Brille zu putzen, man hörte kein Räuspern, kein Füßescharren, kein Klicken von Computertasten mehr, kein Telefon vibrierte, selbst die Klimaanlage hörte auf zu rauschen. Giovanni hielt die Luft an wie ein Apnoe-Taucher.

Die Einzige, die sich im Saal noch bewegte, war die Staatsanwältin. Unbeteiligt und konzentriert wie eine Artistin auf dem Hochseil. Sie schob ein vor ihr liegendes Blatt Papier zur Seite, raffte den weiten Ärmel ihrer Robe etwas zusammen, zog ein anderes Blatt Papier aus einer Akte, und fragte scheinbar ausdruckslos: Wann haben Sie festgestellt, dass zwischen Cosa Nostra und der Politik eine Geschäftsbeziehung bestand?

Daraufhin fing man im Saal an zu murren, nicht nur auf der Anklagebank, sondern auch auf den Pressebänken, ein Protest, der immer lauter wurde, bis der Richter auf den Tisch klopfend um Ruhe bat, um Marcello Marino zu verstehen – der von einem Treffen berichtete, das zwischen Minister Gambino und dem Boss Gaetano Pecorella in einer Bar in Mailand stattgefunden habe. Marino erinnerte sich an jedes Detail – dass er das Auto in der zweiten Reihe geparkt habe, Pecorella einen dunkelblauen Kaschmirmantel getragen und die Bar durch einen Hintereingang betreten habe. Und nach dem Treffen so glücklich gewesen sei, als hätte er im Lotto gewonnen. Pecorella habe im Auto gejubelt: Wir haben alles erreicht, was wir erreichen wollten, dank der Vertrauenswürdigkeit der Leute, mit denen wir jetzt zu tun haben!

Es handelt sich hier ganz eindeutig um eine Meinungsäußerung subjektiver Art, wir können nur nach Fakten fragen, nicht nach subjektiven Betrachtungen, beschied er, woraufhin Serena Vitale mit dem Lächeln einer Klosterschwester hauchte: Selbstverständlich, Herr Vorsitzender.

Ein echtes Schauspieltalent, diese Vitale. Gerade noch Mutter Teresa, dann wieder Pokerface. Mit unbewegter Miene hörte sie zu, wie ihr Kronzeuge dem Gericht nun schilderte, dass Minister Gambino als einer derjenigen beschrieben worden sei, von dem die Zukunft der Cosa Nostra abhänge.

Pecorella sagte, dass wir uns jetzt keine Sorgen mehr um die Zukunft machen müssten, alles sei bereits programmiert. Diese Personen, sagte Pecorella, seien unsere Versicherung für die Zukunft, wir müssten nur etwas Geduld haben und die guten Beziehungen zu ihnen pflegen.

Schließlich bat Serena Vitale den Abtrünnigen darum, zu schildern, wie der mit ihm inhaftierte Pecorella reagiert hatte, als er erfuhr, dass Marcello Marino beschlossen hatte, auszupacken.

Hat Gaetano Pecorella versucht, Sie von Ihrer Entscheidung abzuhalten? Hat man Sie verflucht?

Nein, sagte Marino. Wir mochten uns ja. Er und sein Bruder waren Familie für mich. Sie haben mich verstanden. Und mir angekündigt, einen solchen Schritt ebenfalls in ihren Herzen zu bewegen.

Weil auch sie Reue empfanden?

Marino lachte kurz auf. Sie sagten: Wenn nichts von da kommt, von wo was kommen muss, sieht die Sache auch für uns anders aus.

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren, sagte Serena Vitale.

Nun waren die Verteidiger an der Reihe.

Natürlich fragen wir uns, wie Sie das Leiden des entführten Jungen mit Ihrer Religiosität vereinbaren konnten, die Sie uns heute so erschöpfend geschildert haben, sagte der Anwalt, worauf es Serena Vitale nicht mehr auf ihrem Stuhl hielt. Aber noch bevor sie etwas einwenden konnte, hatte der Richter die Frage des Anwalts bereits abgelehnt.

Daraufhin versuchte der Anwalt es anders. Der Vater des Jungen war zum Abtrünnigen geworden, zum Ruchlosen, zum Dreck – Cosa Nostra wollte ihn durch die Entführung seines Sohnes zum Schweigen bringen, sagte der Anwalt. Ist das richtig?

Ja, das ist richtig, sagte Marino.

Und Sie hatten die Aufgabe, den Jungen zu entführen. Wie können wir uns das vorstellen?

Ich habe mich als Polizist verkleidet, den Jungen von der Schule abgeholt und ihm gesagt, dass ich ihn zu seinem Vater bringen würde.

Und wie können wir uns diese Gefangenschaft genau vorstellen? Würden Sie uns bitte die Einzelheiten beschreiben?

Die Staatsanwältin protestierte. Die Fragen hätten nichts mit dem Prozess zu tun. Der Richter reagierte nicht.

Eine echte Ratte, flüsterte Wieneke.

Wer?, fragte der Fotograf. Der Mafioso oder der Verteidiger?

Wo wurde der Junge gefangen gehalten?, fragte der Anwalt.

Erst auf einem Gutshof in Gangi und dann in Castellammare del Golfo. Ich war aber nicht dabei.

Sie waren nicht dabei, aber Sie haben dennoch darüber ausgesagt.

Gilt das auch für Ihre Aussagen über Minister Gambino? Sie machen Aussagen über Situationen, die Sie selbst gar nicht erlebt haben?

Nein, das stimmt nicht, sagte Marino, während Serena Vitale wieder vergeblich versuchte, Einspruch zu erheben.

Es stimmt nicht, dass Sie über Geschehnisse aussagen, die Sie selbst nicht erlebt haben?

Ich wurde ständig auf dem Laufenden gehalten. Unter anderem ging es darum, wie wir den Jungen ernähren sollten. In Castellammare del Golfo war er in das Badezimmer eines Ferienhauses eingesperrt, in die Tür wurde eine Katzenklappe eingesetzt, durch die sie das Essen für den Jungen schoben. Kalte Pizza und belegte Brote. Wir haben ihm später warmes Essen gegeben.

Es war also ein Glücksfall für den Jungen, dass Sie sein letzter Kerkermeister waren?, fragte der Anwalt. Haben Sie jemals mit ihm gesprochen?

Nein, das war uns nicht erlaubt. Wir kommunizierten nur über Zettel mit ihm. Um nicht identifiziert zu werden, trugen wir Sturmhauben. Von Zeit zu Zeit wurde der Junge gepackt, gefesselt und mit einer Kapuze über dem Kopf im Kofferraum zu einem neuen Versteck gefahren, zuletzt zu einem Flecken bei Santa Ninfa.

Wie können wir uns das heute vorstellen: Wenn Sie Ihren Sohn sehen, denken Sie dann an den Jungen, der zwei Jahre lang gefangen gehalten wurde, bis er schließlich von Ihnen erdrosselt wurde?

Der Richter wies die Frage ab. Zu persönlich.

Hätten Sie nicht dafür sorgen können, dass der Junge freikommt?, fragte der Anwalt nun.

Die Chance, dass er die Gefangenschaft überlebt hätte, stand eins zu einer Million, sagte Marino.

Erreicht haben Sie mit der Entführung nichts, sagte der An

Entspricht das Ihrer Aussage?

Ja, sagte Marino.

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren, sagte der Anwalt.

Kurz darauf wurde die Verhandlung beendet. Wieneke klaubte mit steif gefrorenen Fingern seine Sachen zusammen, packte sein Notizbuch in die Fahrradkuriertasche und versuchte sich einen Weg zu Serena Vitale zu bahnen, um sie an das vereinbarte Interview zu erinnern, was aber daran scheiterte, dass sich nun vor ihm die Journalisten um Gambino ballten, der in alle ihm entgegengereckten Smartphones, Mikrophone und Diktiergeräte bellte, dass Serena Vitale eine Fanatikerin sei, eine Irre, eine Hysterikerin. Es sei ein Skandal, dass dieser Prozess von einer Staatsanwältin geführt werde, die dafür bekannt sei, eine Jakobinerin zu sein, eine Rotbrigadistin, eine

Wieneke konnte nur noch sehen, wie Serena Vitale ihre Akten zusammenpackte, Journalisten abwimmelte und sich in Nichts auflöste. Er beschloss, ihr eine SMS zu schicken. Gut, sie war sehr beansprucht, aber wer war das nicht, und schließlich hatte er sich schon vor vier Wochen mit ihr zum Interview verabredet, er hatte ihr Mails geschickt, auf die sie nicht geantwortet hatte, und sie schon von Hamburg aus mit SMS bombardiert, um sicher zu sein, sie zu treffen. Sie hatte zugesagt, ihr Wort galt, sie konnte doch jetzt nicht einfach so tun, als hätte sie seinen Namen nie gehört, diese Schlange.

Endlich keine Birken. Das war sein erster Gedanke gewesen, als er in Palermo aus dem Flugzeug gestiegen war. Wieneke war Allergiker. Seit Jahrzehnten wurde sein Leben von der Pollenflugvorhersage bestimmt. Als Investigativ-Reporter für FAKT hatte Wolfgang W. Wieneke korrupte Geheimdienstler, verfilzte VW-Manager und bestechliche Fußballer zur Strecke gebracht. Er hatte Waffenlieferungen in den Irak aufgedeckt und fast einen Minister gestürzt, aber gegen Birkenpollen war er wehrlos. Als er in der Pollenflugvorhersage gelesen hatte, dass sich die Hauptpollenzeit in diesem Jahr durch die letzten verregneten Wochen verlängern würde, und ihm sein Chefredakteur wegen einer Lappalie blöd gekommen war, hatte er beschlossen, nach Sizilien zu fahren. Scheiß auf die Birken.

Palermo war zwar pollenfrei, dafür aber tropisch heiß, und das im April. Man kann nicht alles haben.  

Wieneke stellte sich in den dürftigen Schatten einer Palme und wartete, dass sein Auto wieder auftauchen würde. Ein Mann mit Schirmmütze und gerötetem Gesicht schlenderte unbeteiligt über das Pflaster. Er verteilte etwas, das es gar nicht gab. Für zwei Euro verkaufte er die Illusion eines Parkplatzes. Wieneke hatte ihm den Autoschlüssel lassen müssen, der Fotograf hatte ihm versichert, dass das kein Grund zur Sorge sei, in Palermo vertrauten alle den illegalen Parkwächtern, weil man sonst abgeschleppt würde. Der Parkwächter hingegen würde mit dem Abschleppwagen verhandeln, un momentino, wer wird denn gleich so fiskalisch sein, würde er sagen, den

Schon auf dem kurzen Weg vom Justizpalast zum Auto hatte Wieneke sein Hemd nass geschwitzt. Im Justizpalast war er der Einzige gewesen, der ein kurzärmeliges, kariertes Hemd trug. Alle anderen Männer trugen trotz der Hitze Sakkos und Krawatten. Und blütenweiße langärmelige Hemden. Tailliert natürlich.

Die Klimaanlage des Autos funktionierte auch nicht richtig. Wie hatte doch der Pilot kurz nach der Landung gesagt, als die Flugzeugtreppe ewig auf sich warten ließ: Wir sind in Italien! Wieneke knöpfte sich das Hemd auf. Und gedachte des ersten Chefredakteurs seines Lebens, Jürgen Schulze-Oberloh vom Westfälischen Anzeiger, genannt Schloh. Als Wieneke sein Volontariat antrat, hatte Schloh gesagt: Wenn alle im Smoking kommen, dann kommst du im Trainingsanzug. Und wenn alle im Trainingsanzug kommen, dann kommst du im Smoking. Wenn alle rot sind, dann bist du schwarz. Und wenn alle schwarz sind, dann bist du rot. Ein Journalist hat sich nicht gemein zu machen.

Schloh war es auch gewesen, der Wieneke damals gefragt hatte: Willst du es ruhig und besinnlich, oder willst du an die Front? Front bedeutete: Lokalredaktion Dortmund und Dienst bis Mitternacht. Wenn er nicht gleich im Polizeiwagen schlief. Auf Schlohs Schreibtisch in Dortmund hatte noch eine Flasche mit schottischem Single Malt Whisky gestanden, auf dem Schreibtisch des jetzigen Chefredakteurs von FAKT stand eine Teekanne. Daneben lag das Buch, das er mit dem Außenminister geschrieben hatte. Wieneke wollte Minister stürzen, und sein Chef machte Bücher mit ihnen.

An einem jener grauen Hamburger Morgen war Wieneke mal wieder in das Büro des Chefredakteurs gepilgert, um ihm ein Thema vorzuschlagen. Es dauert noch etwas, hatte Tillmanns Sekretärin gesagt, eine mollige Kölnerin, die, wie Wieneke fand, etwas zu aufreizend mit dem Hintern wackelte,

Wieneke setzte sich in den Ledersessel vor Tillmanns Schreibtisch und drehte sich so, dass er das Licht im Rücken hatte. (Wichtig bei Gehaltsverhandlungen: Immer mit dem Rücken zum Licht sitzen!) Und doch: Kaum hatte er sich gesetzt, fühlte er sich wie ein Mitarbeiter eines Callcenters, der an diesem Tag zum vierzigsten Mal hört, dass er sich die Option für die Flatrate sonst wohin stecken könne. Er blätterte in seinen Unterlagen, in dem Ermittlungsbericht, den Auszügen aus dem Handelsregister und den Artikeln der Lokalzeitungen, die er in Klarsichthüllen geordnet hatte. Als Tillmann endlich die Tür hinter sich schloss, begann Wieneke mit seinen Erklärungen, noch bevor Tillmann am Schreibtisch saß.

Ein befreundeter Polizist hatte ihm den Tipp gegeben. Es ging um einen sizilianischen Bauunternehmer, der seit vierzig Jahren in Dortmund lebte und eine beeindruckende Karriere vom Eisverkäufer zum Großinvestor gemacht hatte. Als Betreiber der VAT Consulting baute der Sizilianer Altenheime auf ehemaligen Truppenübungsplätzen, Kasernengeländen oder Industriebrachen, deren Entsorgung ebenfalls von dem Sizilianer übernommen wurde.

Ist eine sehr spezielle Art von Entsorgung eben, stellte Wieneke abschließend fest, nachdem er auf der Sesselkante sitzend das investigative Potenzial der Geschichte für FAKT erklärt hatte.

Schon verstanden, sagte Tillmann und wärmte seine Hände

Das bedeutet, dass die Entsorgung keine ist. Die Altenheime werden auf Böden gebaut, die voller Schwermetalle, Nitrate, Cyanide, Nitroaromaten und Aminoaromaten stecken, erklärte Wieneke.

Ich habe das begriffen, lieber Widukind. Auch wenn ich kein Chemiker bin, nehme ich an, dass es giftig ist.

Tillmann lächelte. Und entblößte dabei seine Zähne, Mäusezähnchen, die erstaunlich schief standen und von graubrauner Farbe waren, wie man sie eigentlich nur bei Alkoholikern oder Heroinsüchtigen findet. Wieneke fragte sich, was ihn mehr anwiderte: Das falsche Lächeln oder dieses genüsslich dahingehauchte Widukind. Niemand außer Tillmann wagte es, Wieneke bei seinem verhassten zweiten Vornamen anzusprechen.

Wo früher Sprengstoffe, Munition und Giftgas gelagert war, findet heute Seniorengymnastik statt!

Wieneke schob die Artikel der Lokalpresse über den Schreibtisch zu Tillmann, wobei er die geometrische Ausrichtung der Bleistifte in Unordnung brachte. Die Dortmunder Lokalpresse war sich nicht zu schade, den Mist mit Endlich erster Spatenstich auf ehemaligem Standortübungsplatz Red Barracks. VAT Consulting investiert 12,5 Millionen Euro für »Seniorendomizile« zu betiteln.

Muss man sich mal vorstellen, sagte Wieneke. Kleine Kollegenschelte. Kommt immer gut.

Tja, sagte Tillmann, drehte sich auf seinem Stuhl von Wieneke weg und blickte so interessiert auf die Regenwolken, als bemerke er dieses grandiose Naturschauspiel zum ersten Mal. Wieneke sah sich gedrängt, noch etwas draufzulegen. Einen Köder, den Tillmann schlucken würde. Und schon hör

Tatsächlich?

Tillmann drehte sich wieder zu Wieneke hin.

Sachsensumpf ist immer eine gute Bank.

Und wie lange ist das her?, fragte Tillmann.

Was?, fragte Wieneke.

Die Bestechung in Sachsen.

Wieneke blätterte in seinen Unterlagen.

Ist ’ne Weile her.

Wärme stieg in Wienekes Gesicht. Die Unterlagen in den Klarsichthüllen gerieten ins Rutschen. Eine Hülle glitt auf den Boden, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, fielen auch die anderen herunter. Wieneke fühlte Tillmanns Blick auf seinem Rücken, als er wie ein Käfer über den Teppichboden kroch, die Seiten zusammenklaubte und sich darum bemühte, sie wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Mit rotem Gesicht stand er auf. Er setzte sich zurück in den Ledersessel, wieder mit dem Rücken zum Licht, und las schweigend in den Kopien. Als ihm nichts anderes mehr einfiel, sagte er so überrascht, als würde er es zum ersten Mal bemerken: Ach, echt schon zehn Jahre.

Nach zehn Jahren durften Urteile nicht mehr erwähnt werden. Damit die Resozialisierung nicht gefährdet würde. Und der Mafiasack besser seinen Geschäften nachgehen konnte. Mist. Eigentlich hätte er hier einfach aufstehen können. Er selbst hatte Tillmann den Stich zuspielt. Scheiß-Sachsensumpf. Stattdessen blieb er wie ein Schaf sitzen. Und gab dem Kamillenteetrinker die Gelegenheit, das anzuwenden, was er wahrscheinlich während des letzten Wochenendseminars im Harz zum Thema Mitarbeitergespräche geübt hatte: offene Gesprächskultur, Vertrauen, Fairness. Die Nummer. Obwohl er nicht zuhörte, konnte er nicht verhindern, dass Fetzen von lieber Widukind an ihm kleben blieben, dieses Hamburger Sie

Es ist zwar ehrenvoll, einen gesellschaftlichen Missstand zu beklagen, dies bedeutet aber keineswegs, subjektiv zu berichten. Berichterstattung darf nie subjektiv sein.

Wieneke fragte sich, was daran subjektiv sein sollte, wenn er aus Ermittlungsberichten zitieren würde, die belegten, dass ein Mafioso auf verseuchtem Grund Altenheime baute.

Ihre Geschichte ist nicht sexy genug. Seniorendomizile, Schwermetalle und ein italienischer Unternehmer, von dem Sie keineswegs wissen, ob er ein Mafiosi ist.

Mafioso, sagte Wieneke.

Wie bitte?, fragte Tillmann.

Mafiosi ist Plural, es heißt Mafioso.

Herrgott, Sie machen es sich wirklich schwer, Widukind. Es geht darum, dass nicht jeder Italiener ein Mafioso ist. Wenn Sie eine Geschichte über die Mafia schreiben wollen, dann bringen Sie mir ein Interview mit einem echten sizilianischen Mafioso, alles andere ist doch Quatsch.

Als Wieneke aufstand, fiel sein Blick auf die Kanne mit dem Kamillentee. Aber anstatt die Kanne zu nehmen und den Inhalt auf Tillmanns Schreibtisch zu gießen, kroch er schon wieder auf dem Boden herum, weil eine weitere Klarsichthülle heruntergerutscht war.

Tillmann drehte sich genervt zum Fenster und vertiefte sich in die Betrachtung der Regenwolken. Sein Drehstuhl quietschte. Auf einem kleinen, gläsernen Teller lagen drei vertrocknete Kamillenteebeutel.

 

Als Wieneke in den Wagen stieg, stieß er versehentlich eine Frau an, die ihn anfunkelte, als hätte er versucht, ihr die Handtasche zu klauen. Scusi, murmelte Wieneke, und schon lächelte die Italienerin. Geht doch nichts über Sprachen. Beschwingt

Der Verkehr war so zäh wie am Morgen, aber das störte ihn jetzt nicht, denn im Radio wurde dieses neapolitanische Lied gespielt, dieser Schmachtfetzen, den Francesca ihm einmal vorgesungen hatte, und dem er seitdem verfallen war. Seit Francesca wusste er: Italienerinnen konnten knallhart sein. Einerseits. Andererseits steckte sie hier in jeder Oleanderblüte, in jedem Meeresglitzern, in jedem Hauch des warmen Frühlingswindes. Wieneke hatte nie eine wirkliche Chance bei ihr gehabt, das war ihm schnell klar geworden. Nicht wegen seines Aussehens, nein, was sein Aussehen betraf, war er mehr der Gérard-Depardieu-Typ. Jedenfalls hatte Francesca das einmal festgestellt, und Wieneke hoffte, dass sie den jungen Gérard Depardieu meinte. Aber besser Charakter und etwas verknautscht, als diese sizilianischen Mafia-Schönlinge.

Ein Wagen schnitt ihn beim Überholen, ohne dabei den Blinker zu setzen. Entlang der Straße loderte das Gelb der Mimosen, und da, wo die Fahrbahndecke aufgebrochen war, leuchtete rosarotes Unkraut. Das Navi führte durch eine Gegend voller würfelförmiger, arabisch anmutender Häuser, durch eine Allee mit Ficusbäumen, die zu einem Tunnel zusammengewachsen waren und schließlich zu der Uferstraße, an der Kinderkarussells standen. Auf dem Meer tanzten Schaumkronen, und auf dem schmalen Strand lagen noch Algen, die von den Winterstürmen angetrieben worden waren. Der Strand wurde von Strandwächtern gereinigt, blau-weiß gestreifte Badekabinen waren bereits aufgestellt. Am Ende des Kais ragte eine marmorne Madonna aus dem Meer.

Das von der Sekretärin gebuchte Hotel hatte sich als Siebzigerjahre-Relikt entpuppt, mit leichtem Ostblock-Charme, schlecht riechenden Kunstledersesseln und abblätterndem Putz, aber die Lage war unschlagbar: Vor dem Fenster lag die Bucht von Mondello, dahinter warf ein Berg seinen Schatten auf den Strand, das Meer war fototapetentürkis.

Wieneke zog ein paar Bahnen im Hotelpool (vierzig, um genau zu sein. Macht einen Kilometer. Große Befriedigung. Herausragende sportliche Leistung) und beschloss, seine Vanillezigaretten und die Unterlagen einzupacken und in einem Café an der Strandpromenade zu lesen. Endlich spürte er Sonne auf der Haut, ohne dabei zwanghaft an Birkenpollen denken und nach dem Nasenspray tasten zu müssen.

Auf dem Weg zur Piazza wich er kleinen Jungs auf frisierten Vespas aus, die zentimeterdicht an ihm vorbeifuhren, weshalb er froh war, seine Fahrradkuriertasche schräg über die Brust gehängt zu tragen. Die Fischrestaurants an der Uferstraße waren noch geschlossen, er fragte sich, ob er hier auch etwas anderes als Fisch essen konnte. Der Geruch von Fisch erinnerte ihn immer an den Tod. Er betrat einen Tabakladen an der Piazza und stellte erleichtert fest, dass er hier Nachschub an Vanillezigaretten finden würde. Beim Verlassen des Ladens fiel ihm ein kleiner Hausaltar auf, der in die Wand eingemauert war. Ein ewiges Licht flackerte vor dem Foto eines Mannes, daneben lag ein Palmzweig und ein Bild von Padre Pio. Auf die Mauer gegenüber hatte jemand Accendimi la vita gesprayt: Zünd mir das Leben an.

Serena Vitale saß unter einem Frisierumhang und einer Plastikfolie, die Haare strähnchenweise in Alufolie verpackt und roch den beißenden Geruch des Wasserstoffperoxids, das gerade auf ihrem Kopf wirkte. Sie blätterte in den Zeitungen, die auf ihrem Schoß lagen. Alle berichteten an diesem Morgen darüber, wie Gambino in einer Verhandlungspause Meiner Meinung nach gehört Serena Vitale in Behandlung in das Mikrophon eines Radiosenders gebrüllt hatte. Rote Zecke, Rotbrigadistin, Jakobinerin: Gambino verlor die Fassung. Er war nervös. Das war ein gutes Zeichen. Denn dann würde er Fehler machen.

Franco begutachtete den Zustand ihrer Strähnchen, faltete die Folie wieder zusammen und nickte befriedigt.

Stellina, ich sage dir: Es läuft sehr, sehr gut. In ein paar Minuten spüle ich die ersten aus. Du wirst sehen, dein Leben wird danach ein anderes sein.

Ich verlasse mich ganz auf dich, sagte Serena. Eine gewagte Äußerung. Über der Eingangstür zu Francos Salon hing ein riesiger Pappmachékopf, der früher eine Geisterbahn geschmückt hatte, mit Haaren dick wie Bootstaue und starr blickenden kobaltblauen Augen.

Meiner Meinung nach warst du in deinem Herzen immer schon eine Blondine, stellina mia. Blond ist keine Haarfarbe, sondern eine Lebenseinstellung, ich passe dein Haar nur deinem Naturell an.

Als Franco die ersten Strähnchen an ihrem Hinterkopf aus

Brünett macht blass, sagte Franco. Hast du deine Kollegin Angela gesehen? Mittlerweile sieht sie aus, als ob sie in einem Kellerverlies gehalten würde.

Als Serena wieder auf dem Frisierstuhl saß und darauf wartete, dass das Wasserstoffperoxid den letzten brünetten Rest aus ihr tilgen würde, blätterte sie weiter durch die Zeitungen. Die linke Presse titelte: GAMBINO ALS BOTSCHAFTER VON COSA NOSTRA. Oder: DER PROTAGONIST DER GROSSEN INTRIGE UND: SIZILIEN ALS GEISEL DES MINISTERS und fasste ihren Prozess in einer Spezialbeilage zusammen (4 Jahre Ermittlungen, 120 Gerichtsordner mit Ermittlungsakten, 12 abgehörte Telefonanschlüsse, 4 Kronzeugen, 35 Zeugen). Die rechte Presse widmete ihr Aufmacher mit Überschriften wie: DIE LÜGEN DER VITALE ODER DER EINSAME KAMPF EINER FRUSTRIERTEN FRAU und zitierte Gambino mit den Worten: Wenn ich krank werde, hat mich die Vitale auf dem Gewissen. Ein Gesundheitscheck habe vor kurzem ergeben, dass seine Prostata vergrößert sei: Man geht mir hier seit Jahrzehnten auf den Sack, sagte er.

Angesichts der Tatsache, dass es Richter gab, die in juristischen Fachblättern die Frage stellten, was schwerer zu ertragen sei, die Mafia oder die Mafiaprozesse, konnte die Prostata des Ministers nicht auch noch ihr Problem sein.

Franco imitierte den Klang einer Fanfare und sagte: Jetzt ist es so weit.

Während er ziemlich ruppig ihre Kopfhaut massierte, spürte Serena, wie ihr etwas Wasser den Rücken hinunterlief. Franco schrubbte mit einem staubsaugerähnlichen Ding über ihren Kopf, um das Wasser aus den Haaren zu saugen und rief in den Salon: Schaut euch das an! Ich habe nichts anderes getan, als die Blondine in Serena Vitale freizulegen!

Serena hätte sich gewünscht, dass ihr Vater diesen Prozess erlebt hätte. Er war dafür verantwortlich, dass sie Staatsanwältin geworden war. Seht sie euch an, sie wird mal Richterin!, hatte er bei ihrer Taufe gerufen. Die Verwandten lächelten noch heute gequält, wenn davon die Rede war. Sie hätten Verständnis dafür gehabt, wenn er seiner Tochter prophezeit hätte, eine gefeierte Schauspielerin zu werden. Wenn es sein musste, auch Sängerin. Oder Dichterin, schlimmstenfalls. Aber Richterin? Eine, die sich zum Büttel eines Staates machte, der ihnen ferner war als Araber, Aragonesen und Bourbonen zusammen?

Ihre Mutter hatte zwar nicht gewagt, das Vermächtnis ihres verstorbenen Mannes infrage zu stellen, aber auch sie wunderte sich, warum Serena ausgerechnet Antimafia-Staatsanwältin werden wollte, wenn es eine Laufbahn als Scheidungsrichterin auch getan hätte. Sie glaubte nicht, dass Gesetze etwas gegen die Mafia ausrichten konnten. Schon gar nicht, wenn diese Gesetze durch ihre Tochter verkörpert wurden. , sagte sie auf Sizilianisch: Kümmer dich um deinen Kram, dann wirst du hundert Jahre alt.