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Eric LeMarque
mit Davin Seay

Miracle Man

Acht Tage im Eis verschollen

Aus dem amerikanischen Englisch von Ilona Mahel

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ISBN 978-3-7751-7415-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2018

Originally published in English under the title:

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben,

INHALT

Über den Autor

Prolog

1  | Frische Spuren

2  | Der Apfel

3  | Optimierungswahn

4  | Hinter dem Rand

5  | Das Tal der Todesschatten

6  | Der Beutel

7  | Feuertanz

8  | Hilf dir selbst

9  | Mama

10  | Zehn Schritte

11  | Verfolgt

12  | Neuanfang

13  | Black Hawk

14  | Eis am Stiel

15  | Whirlpool

16  | 41, 8

17  | Hinterräder

18  | Armer schwarzer Kater

19  | Hope

20  | Offenbarung

Nachwort

Danke

Für Hope, meine liebevolle und wunderbare Frau.
Du hast mir das Leben gerettet, indem du es mit Harmonie
und Gleichgewicht erfüllt hast, wie ich es nie zuvor gekannt hatte.
Ich danke dir für deine liebevolle Fürsorge für unsere Familie.

Du bist mehr als ein Segen, du bist meine Hoffnung!

Eine tüchtige Frau ist die Freude ihres Mannes und seine Krone.
Die Bibel – Sprüche 12, 4

ERIC LEMARQUE hatte eine erfolgreiche Karriere als Eishockey-Profi. Heute ist er Autor, Sportcoach und Suchtberater. Seine Botschaft: Gott tut Wunder. In den USA ist seine Biografi e »6 Below« ein Bestseller und wurde 2017 verfi lmt. Mit seiner Familie lebt er in Los Angeles.

PROLOG

Blindlings stolpernd und strauchelnd kämpfte ich mich durch den brusthohen Schnee. Mein Herz pochte mir gegen die Rippen, gierig saugte ich jeden Atemzug aus der dünnen Luft, als wäre er mein letzter.

Hinter mir waren die Bestien schon in Hörweite. Sie kamen immer näher und schwärmten aus, um mich von allen Seiten angreifen zu können. Eine wilde Meute auf der Jagd nach menschlicher Beute.

Mit ängstlich-wimmernder Stimme schrie ich in die pechschwarze Wildnis. Irgendwo in der unsichtbaren Ferne hallte meine Stimme wider.

»Nein!«

Es war ebenso ein Kampfschrei wie ein Ausdruck völliger Verzweiflung und kläglicher Niederlage. Gegen die wilden Tiere, die in meine Richtung hetzten, war ich machtlos. Ich konnte nicht fassen, dass ich bald sterben würde. Das alles schien wie ein lebhafter, grauenvoller Albtraum, aus dem kein Aufwachen möglich war. Wieder schrie ich, aber dieses Mal war es nicht mehr als ein verzweifelter, unverständlicher Laut. Ich war nichts weiter als ein Tier, ähnlich denen, die mich bald verschlingen würden. Verstand und Vernunft waren verschwunden. Ich war nur noch ein Stück Fleisch, leichte Beute für die wilden Jäger.

Kopfüber stolperte ich in eine tiefe Schneewehe. Es kostete mich einige Mühe, wieder aufzustehen, und es war kaum möglich, vorwärts zu kommen. Jeder Schritt kostete mich unendlich viel Kraft, weil ich immer wieder stecken blieb, bis ich am Ende völlig zum Stehen kam. Meine Beine zitterten und ich spürte, wie sich der nasse Schnee mit meinem Schweiß vermischte. Meine Todesangst lähmte mich. Ich konnte mich nicht bewegen. So würde ich also enden, in einem Wirbel aus scharfen Zähnen und geifernden Mäulern. Während ich reglos dalag und auf den Tod wartete, ging mir ein Gedanke, eine Frage nicht aus dem Kopf:

Wie bin ich hier gelandet?

Die Antwort war einfach: Ich war süchtig nach Pulver.

Bei »Pulver« denkt man vielleicht an Kokain oder Heroin. Aber das, wovon ich rede, ist noch viel schlimmer: Methamphetamin – Speed – eine der gefährlichsten und zerstörerischsten Drogen überhaupt.

Mehr als ein Jahr lang, zu einer sehr prägenden Zeit in meinem Leben, hatte sich meine Welt um kleine Plastiktütchen voller glitzernder, weißer Kristalle gedreht. Mir gefiel der Effekt, den Meth auf mich hatte – die Konzentriertheit und Energie, das Gefühl von unbegrenzter Kraft, jedes Mal, wenn ich eine Linie geschnupft hatte.

In der Hinsicht war ich kaum anders als die abgewrackten Junkies, die man auf der Straße sieht: Hektisch und in Selbstgespräche vertieft, besessen von jedem noch so kleinen Detail und erfüllt von Größenwahn und Selbstüberschätzung. Ich war ein Spinner so wie jeder Drogenabhängige, und ich war genauso auf dem Weg in Richtung Verfall und Tod.

Natürlich durfte mir das niemand sagen. Ich würde natürlich niemals als so ein hohläugiges Wrack mit blutendem Zahnfleisch enden, wie man sie oft in der Unterwelt der Drogenszene sieht. Dafür hatte ich viel zu viel Selbstachtung, war ich zu stolz auf meine körperlichen Fähigkeiten und zu sehr von meiner eigenen Willenskraft überzeugt. Kein weißes Pulver würde je meine eiserne Selbstbeherrschung überwinden.

Bis genau das passierte.

Aber die Geschichte meiner Abhängigkeit ist damit nicht zu Ende. Es gab noch ein anderes weißes Pulver, von dem ich abhängig war, und in gewisser Weise war diese Sucht noch stärker und verführerischer, als mein Verlangen nach Speed je gewesen war.

Dieses Pulver fiel vom Himmel, wenn die Wetterlage haargenau richtig war und die frostige Luft einen so feinen und reinen Staub mit sich brachte, dass man ihn mit einem Atemhauch verwehen konnte. Das Pulver bedeckte alles, überzog Berge und Täler und Abhänge, bis nichts anderes zu sehen war, glitzerte in der Sonne oder breitete sich unter einer tiefen Wolkendecke aus, sodass der Himmel fast die Erde berührte.

Und es war wirklich himmlisch! Schwer zu erklären, wenn man nicht selbst schon einmal auf einem Snowboard gestanden und die reine, leere Fläche betreten hat, wo das einzige Geräusch das leise Surren der Beschleunigung ist und man nichts wahrnimmt außer einer gewichtslosen, schwebenden, beschwingten Heiterkeit.

Ich war süchtig nach Pulverschnee. Die Kristalle waren winzig klein, trocken und leichter als Luft, das polare Gegenteil des dicken, nassen und schweren Schnees, der sich unweigerlich in Matsch verwandelt, sobald man ihn betritt. Frischer Pulverschnee wird in schimmernden Fontänen hochgeworfen, wenn man Kurven und Hakenschläge quer über einen Berggipfel fährt, gleich in den kostbaren Stunden direkt nach einem Schneesturm. Dein Board gleitet mit ungebremster Leichtigkeit darüber; nichts hält dich auf, nichts hält dich zurück. Jeder Eindruck ist verstärkt, jede Sekunde erstreckt sich bis in die Ewigkeit. Du fühlst den Flow unter dir, wenn du fast die Schwerkraft aufhebst in der weiten, weißen Landschaft, wenn du hörst, wie du atmest – oder wie du den Atem anhältst, wenn du zu einem Sprung ansetzt und plötzlich fliegst. Der Wind füllt deine Lungen und die Ekstase der Perfektion überkommt dich.

Es gibt einen Geschwindigkeitsrausch, der durch Meth ausgelöst wird. Und es gibt einen Geschwindigkeitsrausch, wenn sich deine Sinne in frischem Pulverschnee aufladen. Im Prinzip musste ich jedoch gar nicht wählen. Ich war süchtig nach beiden Arten, und in meinem Kopf waren sie miteinander verflochten. Doch bevor ich mich von dieser doppelten Sucht befreien konnte, musste ich beinahe sterben.

Dies ist die Geschichte dieser Nahtoderfahrung: Durch das Tal der Todesschatten hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus. Sie ist eine Geschichte über Sucht, aber sie ist mehr als das. Es geht auch darum, dass du manchmal einen Teil von dir selbst verlieren musst, vielleicht sogar den Teil, den du am meisten liebst, ehe du wirklich weißt, was dich ganz sein lässt. Es ist eine Geschichte darüber, die eigene Stärke genau dann zu finden, wenn du das Limit deines Durchhaltevermögens erreicht hast. Darüber zu erkennen, dass du gewinnst, wenn du niemals aufgibst. Es geht um Gott und den unbegreiflichen, unvorstellbaren Plan, den er für unser Leben hat.

Es gab eine Zeit, in der ich keine Ahnung hatte, wie dieser Plan aussehen sollte. Es gab eine Zeit, in der ich Gott anflehte, er möge seinen Plan bitte ändern. Und dann gab es endlich die Zeit, in der ich mich seinem Plan auslieferte. Sie sind alle Teil dieses Buches, und sie hätten nicht unabhängig voneinander passieren können.

Bis ich die Tortur durchstehen musste, die jede falsche Annahme und jeden simplen Glauben auflöste, an die ich jemals gehalten hatte, war ich davon ausgegangen, dass ich wüsste, wer ich war. Und solange ich mich erinnern kann, hing der größte Teil dieser Identität von meinen Füßen ab.

Das klingt wahrscheinlich seltsam. Wenn man Leute fragt, was an ihnen besonders ist, erwähnen sie wahrscheinlich ihren Charakter, ihre Integrität, ihre geistigen Fähigkeiten, ihr Herz oder vielleicht sogar ihr Gesicht. Aber für mich waren es meine Füße. Sie haben mich in meinem Leben von Sieg zu Sieg getragen, Erfolg für Erfolg für mich angehäuft. Meine Fußarbeit hat mir den Platz in der Mannschaft der Boston Bruins in der National Hockey League eingebracht, ebenso wie den Freudentaumel, die Eishockey-Weltmeisterschaft zu gewinnen und an den Olympischen Winterspielen 1994 im norwegischen Lillehammer teilzunehmen. Alles, was ich als Sportler erreicht habe – und ich habe schon von frühester Kindheit an viel erreicht – hatte auf die eine oder andere Weise mit meinen Füßen zu tun. Selbst auf den Pisten, als professioneller Snowboarder, waren es meine Füße, die das Gefühl des Fliegens, Gleitens und Springens an mich weitergegeben haben. Sie haben es mir ermöglicht, das Terrain zu erobern, mit dem ich mich bei jedem Rennen auseinandersetzen musste, in letzter Sekunde Anpassungen vorzunehmen und die haarscharfen Entscheidungen zu treffen, die das Snowboarden zu so einem instinktiven und spontanen Nervenkitzel machen. Sie waren es, die mich auf dem Teppich gehalten haben, und sie waren es, die mir das Fliegen ermöglicht haben.

Wie die meisten Leute habe ich meinen Körper und all seine Teile stets als selbstverständlich hingenommen. Ich ging immer davon aus, dass er da ist, wenn ich ihn brauche, und dass er sich so verhält, wie es die Situation erfordert. Meine Ansprüche an meine persönliche Leistung waren immer sehr hoch. Tatsächlich haben meine körperlichen Fähigkeiten und mein sportliches Talent, das mir in die Wiege gelegt worden war, lange Zeit bestimmt, wer ich war, sowohl für mich selbst als auch für andere. Und es schien, dass ich Talent für alles hatte, wozu ich mich anschickte: Angefangen bei Schlittschuhlaufen und Eishockey über Baseball, Basketball, Fußball, Surfen, Skateboarden, sogar bis hin zu Golf. Und natürlich – Snowboardfahren – der Sport, in dem ich meine größten Erfolge feierte. In all diesen Sportarten waren es meine Füße, die mir einige der triumphalsten, unvergesslichsten und aufregendsten Momente meines Lebens beschert haben.

Ich hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, wie mein Leben ohne meine Füße sein würde. Warum auch? Füße fallen doch eigentlich nur dann auf, wenn sie schwitzen oder stinken, oder wenn sie hundemüde sind. Man kreist mit den Knöcheln und wackelt mit den Zehen, ohne darüber nachzudenken. Unsere Füße sind wie eine Verlängerung unseres Wesens, mit ihnen kommen wir herum in dieser Welt – und ohne sie kann der Horizont dieser Welt plötzlich auf ein Nichts zusammenschrumpfen.

1

FRISCHE SPUREN

An diesem Morgen stand ich erst spät auf. Als ich um kurz nach zehn die Augen öffnete und mir klar wurde, wie spät es schon war, hatte ich nur noch einen Gedanken: Die Pisten waren offen – und ich war nicht dabei!

Beim Blick aus dem Fenster wurde mein Frust noch größer: Nach fünf Tagen voller heftiger Schneestürme und dichtem Nebel zeigte sich jetzt ein blauer, wolkenloser Himmel. Der Sturm, der mich eine Woche zuvor zum Mammoth Mountain gebracht hatte, war vorbei. In der Wettervorhersage war von eineinhalb bis über zwei Metern Neuschnee die Rede gewesen. Tatsächlich waren fast fünf Meter frisches Champagnerpulver gefallen. Die Bedingungen waren einzigartig. Dafür lebte ich.

Natürlich lebten dafür auch eine Menge anderer Leute. Als ich aus dem Bett sprang und mich startklar machte für einen ganzen Tag auf dem Snowboard, konnte ich die übermütigen Schreie der Leute draußen schon beinahe hören – wie sie sich die Abhänge runterstürzten, durch die Luft segelten und eine perfekte Abfahrt nach der anderen erwischten. Ich war stolz darauf, morgens immer der Erste am Lift und abends vor Einbruch der Dunkelheit immer der Letzte auf der Piste zu sein. Jetzt war ich gezwungen, mich in die Schlange zu stellen und zu warten, bis ich dran war. Und – was am Schlimmsten war – ich musste durch Schnee fahren, den andere schon vor mir befahren hatten. Ich war ängstlich bemüht, im Grunde genommen besessen davon, so schnell wie möglich an den Berg zu kommen. Über die notwendige Ausrüstung machte ich mir kaum Gedanken. Das war mein erster Fehler.

Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war mein erster Fehler die Einstellung, mit der ich bereits am Berg ankam. Zu jener Zeit war ich arrogant bis zur Gereiztheit; es ging immer und zuerst um mich und meine Pläne. Nach einem Jahr konstanten Drogenkonsums – eine sorgfältig abgestimmte Kombination aus Crystal Meth und starkem Marihuana – hatte ich den Kontakt zum Rest der Menschheit mehr oder minder verloren. Ich war ein Einzelgänger, der Herrscher über eine Welt, die ich gestaltete, wie es mir gefiel, und nach meinen Vorstellungen formte. Mich als Kontrollfreak zu bezeichnen, hätte nicht einmal im Ansatz beschrieben, wie ich mein Leben in strikter Abstimmung mit meinen eigenen Prioritäten lebte. Wenn etwas meinen gehobenen Ansprüchen nicht genügte, ließ ich es einfach links liegen. Und weil Menschen nun mal sehr unberechenbar waren, blieben sie meist als Erstes am Wegesrand zurück.

Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn an dem Tag jemand bei mir gewesen wäre, ein Freund, ein Snowboard-Kumpel – jemand, der mich daran erinnert hätte, langsam zu machen und mich nicht so zu hetzen; dass der Berg auch noch da wäre, wenn ich später käme. Aber ich hatte schon lange aufgehört, die Gesellschaft anderer Menschen zu suchen. Ich war immer allein unterwegs, und das war mir auch sehr recht so. Ich lebte in meinem eigenen Kopf, allein mit meinen Gedanken und meinen Strukturen und mit der Befriedigung, die es mir brachte, perfekt sein zu wollen. Einer meiner Lieblingstrainer pflegte zu sagen: »Erfahrung ist das, was du bekommst, nachdem du es gebraucht hättest.« Und da ich sie nicht hatte, wusste ich auch nicht, dass ich sie brauchen würde.

Dieser Tag auf der Piste würde perfekt werden, und ich hatte schon zu viel davon verpasst. Die Situation war vollkommen inakzeptabel. Hektisch huschte ich durch die Wohnung, die ich mir gemietet hatte, irritiert von dem Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel, und packte planlos ein paar Sachen zusammen, ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich da eigentlich machte.

Wozu auch? Ich war schon Hunderte Male auf diesen Pisten unterwegs gewesen, den Mammoth Mountain kannte ich wie meine Westentasche. Ich hatte so viel Zeit wie nur möglich in diesem atemberaubenden Panorama der Sierra Nevada verbracht, war während der Saison Dutzende Male aus meiner Heimat in Kalifornien hierher gereist. Ich sehnte mich danach, oberhalb der Baumgrenze zu sein, wo man die Krümmung der Erdoberfläche sehen kann. In meinem Kopf gab es eine Landkarte mit den besten Snowboardpisten; Geheimtipps, wo die Schneewehen sich wie gefrorene Wellen über den Hügelrücken zogen; die Orte, wo kaum ein anderer hinkam, wo das Pulver frisch und unbefahren war und auf mich wartete. Ich kannte mich perfekt aus in dieser Gegend, hatte mich komplett eingelebt und war absolut davon überzeugt, jedes noch so schwierige Terrain meistern zu können. Mir gehörte dieser Berg! Zumindest dachte ich das.

Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, waren die Bedingungen optimal. Dementsprechend hatte ich keine Lust, unnötige Kleidung und Ausrüstung mitzuschleppen. Für das wechselhafte Wetter auf dem Berg hatte ich verschiedene Outfits mitgebracht, inklusive eines schweren, wasserdichten Goretex-Anzugs. Aber mir war klar, dass dieser Anzug zu unförmig und sperrig – und für so vollkommenes Wetter wie an diesem Tag vermutlich auch zu warm war. Also entschied ich mich für eine Ripzone-Jacke und eine Skihose mit herausnehmbarem Futter, das ich sofort entfernte. Die verbleibende Außenhose zog ich über meine Baumwoll-Boxershorts, schlüpfte in ein Paar normale Sportsocken und ein Langarmshirt. Dazu griff ich mir eine leichten Mütze, ein paar dünne Handschuhe sowie eine Skibrille. Es war mir wichtig, so leicht wie möglich bekleidet zu sein. Ich zog mich den Temperaturen entsprechend an, die der Wetterbericht angekündigt hatte: etwa 2 Grad minus. Im Skilift würde ich frieren, das wusste ich, aber wenn ich erst auf der Piste war, würde die Bewegung mich warmhalten.

Ich suchte nach meinen Stiefeln, ein Paar Burtons, die ich aus zweiter Hand erstanden hatte. Als ich sie kaufte, konnte ich noch die Schweißfüße des Vorbesitzers darin riechen. Der Typ in dem Laden meinte, sie hätten einem Profi-Snowboarder gehört. Genauso einer wollte ich werden. Ich sprühte sie großzügig mit Lysol ein, was allerdings nicht wirklich half. Aber ich mochte die Stiefel vor allem wegen ihres Schnellschnürsystems, bei dem man ein Rädchen drehte, um die Bindung zu schnüren, wodurch das An- und Ausziehen sehr viel einfacher und schneller geriet. Wie gesagt … ich hatte es sehr eilig, auf den Berg zu kommen.

Auch mein Snowboard war von Burton … das Modell nannte sich »Code«, mit dem Zusatz »164.5«, was sich auf die Länge in Zentimetern bezog. Für jemanden wie mich mit einer Größe von 1, 77 Metern wäre ein kürzeres Board besser gewesen, aber mir gefiel die längere Version besser, weil sie stabiler und leichter zu manövrieren war, beides Eigenschaften, die ich voll auskostete. Seine Form sah ein bisschen aus wie eine Acht oder eine Art Hundeknochen, in der Mitte etwas schmaler und vorne und hinten breit. Es bestand aus laminiertem Grafit, einem sehr harten Material, das Dank seines geringen Gewichts und seiner Widerstandsfähigkeit die Speerspitze der Snowboard-Technologie darstellte. Das Board war mit der Möglichkeit versehen, den Bindungswinkel individuell so einzustellen, dass der Fuß optimal stand.

Das Board war beim Kauf als Mängelexemplar gekennzeichnet gewesen, weil es kleine Schäden in der Lackierung hatte. Dadurch wurde es billiger als ein erstklassiges Modell, was das Ganze für mich zu einer abgeschlossenen Sache machte. Aber bevor ich es kaufte, fragte ich: »Sag mal, Kumpel, kannst du diese Markierung da nicht abschleifen?« Ich wollte nicht, dass jemand merkte, dass ich nur ein zweitklassiges Modell fuhr. Das gehörte zu dem Image, das ich mir aufgebaut hatte, ein Mix aus Egozentrik und Drogenwahn. Tatsache war jedoch, dass ich tatsächlich zu den Besten gehörte, zumindest, wenn ich auf meinem Board stand. Wenn ich die Piste runterfuhr und eine wirklich gute Abfahrt hinlegte, hielten andere an, um mir zuzusehen oder ihre Freunde auf mich aufmerksam zu machen: »Kuckt euch mal den Typ an, der ist unglaublich!« Es galt, einen Ruf zu wahren. Ein Teil davon war sicher mein drogenverseuchtes Ego, doch in meiner Selbsteinschätzung steckte auch ein Stück Wahrheit: Ich hatte eine natürliche Begabung für das Snowboarden.

In meinem Kopf riefen mir noch immer die begeisterten Snowboarder auf der Piste hinterher, während ich kurz meinen Blick durch die Wohnung schweifen ließ, um zu sehen, ob ich noch irgendetwas brauchte. Einen Zwanzig-Dollar-Schein, den ich aus meinem Geldbeutel fischte, um mir davon ein Mittagessen in einer der Imbissbuden entlang der Piste kaufen zu können; vier Stück Bazooka-Kaugummi, die ich im Vorbeigehen von der Küchentheke aufgabelte, um mir während des Snowboardens eine schnelle Zuckerdosis zukommen lassen zu können; mein Handy und meinen MP3-Player, auf dem der Soundtrack für den Tag gespeichert war. Ich hatte sogar genau geplant, welche Playlist ich für welche Abfahrt nehmen würde, meine Bewegungen perfekt auf die jeweiligen Songs abgestimmt, die zu der Zeit in erster Linie aus Hip-Hop und Rap bestanden, vor allem Eminem.

Der Witz daran war nur: Wenn ich dann wirklich unterwegs war und zum Beispiel zu einem Sprung ansetzte, war mir die Musik, die ich vorher so sorgfältig ausgewählt hatte, überhaupt nicht bewusst. Während ich auf die Rampe zufuhr und immer mehr Fahrt aufnahm, nahm ich mir vor, auf den Song zu achten, den ich extra für diesen Moment ausgesucht hatte. Aber sobald ich dann in der Luft war, ergriff mich die Begeisterung komplett, und in meinem Kopf war kein Platz für irgendetwas anderes. Das war einer der seltenen Momente, in denen es tatsächlich passierte: Das ununterbrochene Gequatsche zwischen meinen Ohren wurde ausgeblendet und ich war einfach Teil der majestätischen Leere um mich herum. Wenn ich dann wieder runterkam, fing der dröhnende Rhythmus in meinem Kopf wieder an, und alles war wie zuvor.

An jenem Morgen ließ ich eine Menge Sachen liegen, die ich normalerweise zum Snowboarden mitnehme. Eins davon war ein kleines Funkgerät mit einer Reichweite von etwa zwölf Kilometern, das ich für gewöhnlich eigentlich immer dabeihatte, auch wenn ich auf möglichst viel Gewicht verzichten wollte. Dasselbe galt für ein Gas-Feuerzeug, das ich ursprünglich gekauft hatte, um zwischen den Läufen ein bisschen Hasch rauchen zu können. In der großen Höhe funktionierten die meisten Feuerzeuge nicht, deshalb hatte ich absichtlich nach einem Exemplar gesucht, das auch in der dünnsten Luft eine Flamme produzieren konnte. Auch ein paar Äpfel nahm ich normalerweise mit – zum Essen und um daraus eine behelfsmäßige Pfeife zu schnitzen, aus der ich dann und wann, unter ein paar Bäume gekauert, schnell einen Zug nahm. Dieses Mal trank ich nur schnell ein paar Flaschen Wasser und steckte mir für später noch eine in die Tasche. Ich war aufbruchbereit.

Bis auf eines. Bevor ich die Tür hinter mir zuzog, klopfte ich auf meine Jackentasche, um mich zu vergewissern, dass es noch da war: Ein kleines Plastiktütchen mit einem halben Gramm hochwertigem Crystal Meth. Das war die eine Sache, ohne die ich nirgendwo hinging.

                        

Fast ein Jahr lang hatte ich jeden Tag Meth genommen. Doch als ich am 1. Februar 2004 am Mammoth Mountain ankam, rächte sich das so langsam. Ich gab mich immer noch der Illusion hin, dass ich die Droge unter Kontrolle hatte – und nicht umgekehrt. Aber das eingefallene Gesicht, das mich morgens im Spiegel begrüßte, sagte etwas ganz anderes. Mein Zahnfleisch ging zurück, meine Haut war von einem Ausschlag besiedelt, und mein gehetzter Blick sah mich an, als wäre ich ein paranoider Fremder. Es war nicht mehr zu verbergen: Ich war dabei, meinen Körper zu zerstören. Doch gleichzeitig war ich von all der Energie, welche die Droge in mich pumpte, wie besessen von meiner körperlichen Fitness. In guter – nein, großartiger – Form zu sein, war für mich immer eine Leistung gewesen, auf die ich zu Recht sehr stolz war. Aber es war mir nicht nur wegen des Aussehens oder der Anerkennung als Sportler sehr wichtig, durchtrainiert zu sein. Es machte mir wirklich Spaß, mich fit zu halten, Muskeln aufzubauen und den Endorphinrausch zu spüren, wenn ich über meine Grenzen ging und nach einer neuen, besseren Version von mir selbst strebte. Sport hatte ich an sich schon als Kind geliebt. Was mir jedoch ein wirkliches Erfolgserlebnis brachte, war, meinen Körper zu formen und zu stählen, ihn reaktions- und widerstandsfähig zu machen, damit er jeder Herausforderung gewachsen war. Das machte einen großen Teil meiner Identität aus.

Zum 08/15-Meth-Konsumenten passte das überhaupt nicht. Für diesen war ein zerstörter Körper einfach der Preis, den man für den Rausch bezahlte. Ich aber war nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Ich trainierte weiter, intensiv und methodisch, und warf währenddessen weiter das Gift ein, das mich von innen her auffraß.

Einmal hörte ich eine Beschreibung der Auswirkungen von Crystal Meth, die ich nie vergessen werde. Es ist ungefähr so, als würde man die Räder eines schnellen Autos – zum Beispiel eines Porsches – auf Rollen montieren und den Motor konstant hochjagen, rund um die Uhr, bis er komplett ausbrennt. Das Auto bewegt sich keinen Meter vorwärts, doch der Motor läuft auf Hochtouren.

Ich allerdings war fest davon überzeugt, dass ich vorwärtskam, indem ich mich immer wieder über meine eigenen Grenzen hinaustrieb und die Droge dazu benutzte, dieser rasanten Jagd nach körperlicher Perfektion Energie zu spenden. Für mich begann ein guter Tag damit, ein paar Lines Speed zu ziehen, ein paar Züge aus einer Bong zu nehmen und anschließend ins Fitnessstudio zu gehen. Zwei, drei oder fünf Stunden später war ich auf dem Weg zum Strand, um zu surfen oder Volleyball zu spielen. Im Anschluss wieder mit dem Fahrrad nach Hause oder zurück ins Fitnessstudio, wo ich mich im Whirlpool entspannte. Was mir die Droge an Konzentration und Energie verschaffte, investierte ich vollständig in meinen Körper.

Und so belog ich mich selbst. Egal, wie hart ich trainierte, egal, wie wild entschlossen ich war, in Form zu bleiben – es war unmöglich, den zerstörerischen Effekt zu kompensieren, den die Droge auf mich hatte. Was anfangs ein toller Nebeneffekt gewesen war – die Tatsache, dass das Meth meinen Appetit gezügelt hatte und ich so schön schlank geblieben war –, entwickelte sich nun zu einem gefährlichen Gewichtsverlust und der Unfähigkeit, mich so zu ernähren, wie es für meine Aktivitäten angemessen gewesen wäre. Ich wurde hager und hohläugig, die klaren Anzeichen dafür, dass es durch die Sucht immer weiter abwärtsging.

Was noch schlimmer war: Ich fing an, meine motorischen Fähigkeiten zu verlieren. Oft war ich nicht in der Lage, meine Gedanken und Impulse in Handlungen umzusetzen. Ein paar Wochen vor meiner Reise zum Mammoth Mountain hatte ich mir spät abends ein Bier aufgemacht und wollte es mir gemütlich machen, um meiner Zweitlieblingsbeschäftigung zu frönen – im Internet surfen. Eine Stunde später fiel mein Blick auf das Bier. Es war immer noch da, wo ich es hingestellt hatte, unberührt. Ich hatte es komplett vergessen. Als ich es dann tatsächlich in die Hand nehmen wollte, stellte ich eine seltsame Unkoordiniertheit zwischen meinem Gehirn und meinen Muskeln fest. Mein Kopf sendete zwar ein Signal an meinen Körper, aber irgendwo unterwegs ging etwas schief. Es war, als wäre mein Arm an einem Faden angebunden, der ihn zurückhielt. Ich war zu einer Marionette meiner Sucht geworden.

Ein Teil von mir hatte Angst vor dem Menschen, der ich geworden war, aber einem anderen Teil von mir war das alles komplett egal. Ich hielt mich für absolut unabhängig, so lange ich nur immer das kleine Plastiktütchen mit dem weißen Pulver bei mir hatte. Mein Status als Einzelgänger wurde noch dadurch untermauert, dass ich irgendwie vergessen hatte, wie man überhaupt mit Menschen interagierte. In Kneipen oder auf Partys redete ich zu laut, zu schnell oder zu lang, bis die Leute um mich herum zurückwichen und mich skeptisch beäugten.

Im Lauf der Zeit nahm mein Kontakt mit der Außenwelt immer rapider ab. Auch das war mir egal. Ich war sowieso lieber allein, machte mir Trainingspläne und kümmerte mich um die tausend kleinen Details meines so perfekt durchgeplanten Lebens. Irgendwann wurde es zu einer richtigen Herausforderung, überhaupt noch rauszugehen. Es waren buchstäblich Stunden der Vorbereitung nötig, bis ich das Haus verlassen konnte. Das Wasser in der Dusche musste die exakt richtige Temperatur haben, alle Shampoo- oder Duschgel-Flaschen mussten in exakt der richtigen Reihenfolge aufgestellt sein. Für die Rasur brauchte ich ewig, kämmte mein Haar, bis es absolut perfekt saß. Es war ein Riesenakt, das richtige Outfit auszusuchen, denn es gab ja Dutzende von Kombinationsmöglichkeiten, und als ich dann endlich so weit war, kam es sehr oft vor, dass ich schlussendlich doch lieber zu Hause blieb und bis zum Morgengrauen auf die Computertastatur einhackte. Ich gab alles, um weiter meine Trainingspläne im Fitnessstudio einzuhalten und zum Strand zu gehen, aber selbst diese Aktivitäten unternahm ich allein und musste sie jedes Mal bis ins Detail planen.

Es gab nur eine Sache, die mich aus der Enge meines selbst gewählten Exils herausholte. Die Freude am Snowboarden ist so elementar und tief, dass ich in den paar Minuten auf dem frischen Pulver mich und meinen Kristallpalast für einen Moment vergessen konnte. Da kann man jeden fragen, der ernsthaft Snowboard fährt. Falls ein Snowboarder überhaupt Worte dafür findet, versucht er vielleicht, das Gefühl der Schwerelosigkeit zu erklären, dieses Laufen auf dem Wasser, das sich über deine Füße in deinem ganzen Körper ausbreitet und dich trägt. Wenn es eiskalt und trocken ist, die Bedingungen also perfekt sind, dann wirst du wie von unsichtbarer Hand geschoben, abgefedert durch den Schnee, der sich in jeder Kurve wie ein Regenbogen aufbaut. Manchmal ergeben sich sogar die Kurvenschläge wie von selbst: Dann fährst du durch die Bäume, leicht zurückgelehnt, und lässt das Board einfach frei laufen und die Richtung vorgeben, spürst die Kontur des Berges nach und fädelst wie von selbst durch den Wald. Wenn das passiert, du einfach nur die Fahrt genießt, ist es leicht, die Kontrolle abzugeben und sich tragen zu lassen. Du bist dann Teil der Natur, und sie ein Teil von dir.

Es klingt wahrscheinlich paradox: Ich war Sklave einer Droge, die mir das Gefühl totaler Kontrolle gab – ich betrieb einen Sport, der jedes Verlangen nach Kontrolle eliminierte. Ich trainierte meinen Körper und gleichzeitig zerstörte ich ihn. Ich war ein Sportler und ein Süchtiger. Wahrscheinlich gibt es in jedem Leben Widersprüche, aber ich war ein Extremfall. Mein ganzes Leben drehte sich darum, meine Grenzen auszutesten. Dabei hatte ich ein paar bemerkenswerte Leistungen vollbracht. Aber irgendetwas fehlte. Ich war auf der Suche, aber ich wusste nicht einmal, wonach.

2

DER APFEL

Wohin ich an diesem kalten, klaren Morgen im Februar unterwegs war, hatte viel damit zu tun, wo ich herkam.

Jede Menge Erfahrung – gute, schlechte und sehr schlechte – hat mich gelehrt, dass nichts durch Zufall passiert. Die Umstände, die mich bald an die Schwelle zwischen Leben und Tod bringen würden, hatten mich mein Leben lang zielsicher an diesen Punkt geführt. Das war mir zu jenem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar, schließlich war ich viel zu beschäftigt damit, endlich auf die Piste zu kommen. Erst im Nachhinein konnte ich klar und deutlich sehen, wie ich an das Ende eines langen Weges gekommen war. Und damit an die Schwelle der nächsten Reise.

Wenn ich einen Zeitpunkt nennen müsste, an dem ich zum ersten Mal über meine Bestimmung nachgedacht und realisiert habe, dass mein Leben einen Sinn hat, würde ich einen Moment in meinem vierten Lebensjahr wählen. Ich weiß es noch ganz genau: Es war ein sonniger Tag in Südkalifornien in der Vorstadt von West Hills, ganz am Ende des San Fernando Valley. Ich war auf dem Dreirad unterwegs und trat in die Plastikpedale, was das Zeug hielt, als ich plötzlich etwas entdeckte, das mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Der Anblick zweier Nachbarskinder auf der anderen Straßenseite faszinierte mich. Beide hatten einen merkwürdigen Stab in der Hand, der am Ende leicht gebogen und flach war. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie schossen eine dicke, schwarze Scheibe hin und her und versuchten dabei, aneinander vorbeizuschießen. Dieser Moment hat mein Leben für immer verändert. Was auch immer sie da taten, das wollte ich auch tun!

Ich hatte Hockey entdeckt. Oder vielleicht hatte es auch mich entdeckt. Wie auch immer: Es war Liebe auf den ersten Blick.

Im Prinzip hatte ich da schon eine ziemlich bewegte Kindheit hinter mir – zumindest, so weit ich das beurteilen konnte, denn ich hatte ja keinen Vergleich. Es erschien mir völlig normal, dass ein Kind in meinem Alter schon auf zwei Kontinenten gelebt hatte, zwei Sprachen beherrschte und überhaupt eine Doppelidentität hatte, die ein solches Leben mit sich bringt. Mein Vater, Phillip, war Franzose und hatte meine Mutter, Susan, in New York kennengelernt. Sie verliebten sich, heirateten und kehrten für kurze Zeit nach Frankreich zurück, wo ich im Juli 1969 in Paris geboren wurde.

In meiner Wahrnehmung bin ich absolut und vollständig Amerikaner. Doch auf der anderen Seite sollte auch meine französische Identität später in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen, sowohl beruflich als auch privat. Durch sie habe ich einen weiteren Blick auf die Welt bekommen, Dinge aus einer anderen Perspektive sehen können und Chancen bekommen, die sich mir sonst nicht geboten hätten. Ich fühle mich beschenkt durch diese doppelte Herkunft und habe die damit verbundenen Möglichkeiten voll ausgenutzt.

Mein Vater war gelernter Koch, spezialisiert auf Backwaren, und nachdem wir zurück in die USA gezogen waren – als ich noch fast ein Baby war –, begann er eine erfolgreiche Laufbahn in der Gastronomiebranche. Er zog mit seiner kleinen Familie nach Los Angeles und eröffnete zwei sehr erfolgreiche Unternehmen: Papillion in der Bourbon Street und The Bicycle Shop Café, das er über 35 Jahre lang leitete. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört, wie ich unter den Tischen herumgekrochen bin und die Kunden terrorisiert habe.

Aber bevor wir nach Südkalifornien zogen, wohnten wir noch für eine Weile bei den Eltern meiner Mutter in Florida. Dort traf ich zum ersten Mal einen der Menschen, die mich in meinem Leben am meisten geprägt und beeindruckt haben: meinen Großvater. Ex-Amateurboxer, Rettungsschwimmer, in vier verschiedenen Sportarten in der College-Mannschaft aktiv gewesen, aufgewachsen in der schäbigen Gegend von Hell’s Kitchen in New York City. Ein Priester hatte meinem Großvater das Boxen beigebracht, damit er seine dreizehn Geschwister gegen die harten Jungs aus der Nachbarschaft verteidigen konnte. Genau diese abgebrühte, gradlinige Art brachte er später auch mir bei. Mein Großvater war zäh, sowohl körperlich als auch geistig, ein Kind der Wirtschaftskrise, der Kampf und Elend gewohnt war. Ich weiß noch genau, wie ich einmal weinend nach Hause kam, weil mich jemand auf dem Nachhauseweg gehänselt hatte. Mein Großvater meinte daraufhin lediglich: »Wieso kommst du nach Hause und beschwerst dich? Gib dem Typ eins auf die Nase, dann wird er dich nie wieder ärgern!« Eine Stunde später klopfte es an der Tür meines Großvaters. Es waren die Eltern des Jungen, der mich gehänselt hatte. Sie wollten sich über mein Verhalten beschweren. »Gut«, antwortete mein Großvater, »wird auch Zeit, dass ihm mal jemand zeigt, wo’s langgeht.«

Unter Eishockeyspielern sagt man: »Du wirst nicht zäh durch die Kämpfe, die du gewinnst, sondern durch die Kämpfe, an denen du teilnimmst.« Das hätte sein Motto sein können. Ihm war nie etwas in den Schoß gefallen, und seine unbeugsame Entschlossenheit war sein größtes Geschenk an mich. Es war genau diese Beharrlichkeit, die ich mir während der Tortur, die mir schon bald am Mammoth Mountain bevorstand, wieder und wieder ins Gedächtnis rief. In vielerlei Hinsicht habe ich es dem Geist meines Großvaters und dem schroffen Eigensinn, den er auch in mich eingepflanzt hat, zu verdanken, dass ich noch am Leben bin.

Die erste Gelegenheit, diese Beharrlichkeit zu demonstrieren, bot sich, kurz nachdem ich so fasziniert diesen Kindern beim Straßenhockey zugesehen hatte. In den Tagen danach hatte ich meine Eltern angefleht, angebettelt und zu überreden versucht, mir eine Hockey-Ausrüstung zu kaufen und mich in der örtlichen Hockeymannschaft anzumelden. Dazu muss man sagen, dass es zu der Zeit für die meisten Leute ziemlich unvorstellbar war, in Kalifornien Eishockey zu spielen. Wie man sich denken kann, konnte der Sport nicht wirklich Fuß fassen in einer Gegend, die für endlose Sommer bekannt ist. Hockeyspieler, ganz zu schweigen von der Infrastruktur, um sie zu unterstützen, gab es eigentlich nicht. Erst als der große Wayne Gretzky 1988 zu den LA Kings kam, wurde Eishockey in Kalifornien so richtig beliebt. Die steigende Beliebtheit von Inlinern half ebenfalls: Mit ihnen konnte man Geschwindigkeit und Action simulieren, wie es sonst nur auf einem gefrorenen Teich möglich war, und man konnte spontane Hockeyspiele organisieren.

Ich lebte im Land des Surfens und der Sonne. Tatsächlich ging ich auch sehr gerne zum Surfen an den Strand oder fuhr mit dem Skateboard durch die Gegend, wie so viele Kids in Kalifornien. Aber erst auf einer der wenigen Eisbahnen in der Gegend, in einem Einkaufszentrum am Topanga Canyon Boulevard, nicht weit von unserem Haus entfernt, wusste ich: Ich war angekommen! Wenn man mich damals gefragt hätte, was ich denn mal werden wolle, wenn ich groß wäre, hätte ich ohne zu zögern geantwortet: Eishockeyspieler! Obwohl ich eher klein und stämmig war, konnte mich nichts davon abbringen. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich auf dieser Eisbahn. Schon früh am Morgen war ich da, weil es der einzige Zeitraum war, zu dem man üben konnte, bevor die Bahn für alle geöffnet wurde.

Um ehrlich zu sein: Meistens wartete ich nicht einmal bis zum Morgen. Ich schlief in meinen Hockeyklamotten, in Bettwäsche mit den Logos meiner Lieblingsteams, und war so gleich parat, wenn meine Mutter mich weckte, um mich zur Eisbahn zu fahren. Sie und mein Vater haben meine Begeisterung für Eishockey von Anfang an uneingeschränkt unterstützt. Diese Unterstützung zeigte sich in den vielen Stunden, die sie am Rand des Eishockeyfeldes verbrachten, sowie an den großen Geldsummen, die für meine ehrgeizigen Ziele investiert werden mussten. Schon damals griff ich nach den Sternen: Für mein Trikot suchte ich die berühmte Nummer vier von Bobby Orr aus. Meine Farben waren selbstverständlich die der legendären amerikanischen Eishockeydynastie der Boston Bruins – ein Team, für das ich kurioserweise später sogar selbst spielen sollte.

Ich war acht Jahre alt, als meine Eltern sich scheiden ließen. In den Jahren danach wechselte ich zwischen ihren Wohnorten hin und her. Die Zeiten, in denen ich bei meinem Vater lebte, brachten mich auf den Geschmack der wahren Dekadenz von Hollywood. Sein Restaurant war zu jener Zeit der Nabel des Nachtlebens in L. A., wo ich meine ersten Kontakte mit Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll hatte.

Mein Vater, mit seiner ziemlich altmodischen europäischen Macho-Art, war kein besonders gutes Vorbild für einen Jungen in meinem Alter. Mit zwölf ließ er mich sein Auto fahren, mein erstes Marihuana und Kokain probierte ich im Hinterzimmer seines Restaurants.

Es gab eine Menge williger junger Kellnerinnen, und die Leitung des Restaurants hatte eine Frau in den Dreißigern inne, die mich verführte, als ich 15 Jahre alt war. Als ich meinem Vater erzählte, dass ich Sex mit ihr gehabt hatte, lachte er nur. »Gut«, sagte er. »Dafür sind Frauen da.« Später habe ich herausgefunden, dass auch er mit ihr geschlafen hatte. Das Ganze war irgendwie unheimlich, aber diese Erfahrung hat mich vor allem gelehrt, dass es okay ist, sich einfach zu nehmen, was man will. Menschen waren dazu da, benutzt zu werden.

Bei meiner Mutter sah die Welt ganz anders aus. Sie hatte Jack White geheiratet, einen professionellen Cartoon-Zeichner aus Windsor, Ontario (Kanada), der zufällig auch mein Eishockey-Trainer war. Wie mein Großvater hatte auch mein Stiefvater einen großen Einfluss auf mein Leben. Er war ein geborener Motivator, der – so denke ich – den Spruch »Just do it« schon benutzt hat, lange bevor er ein Werbeslogan wurde. Er ließ keine Ausreden gelten, Blasen an den Füßen oder schmerzende Knöchel kümmerten ihn kein bisschen. »Mach weiter!«, schrie er dann. Und das tat ich. Er brachte mir bei, was die entscheidende Mischung ist, um im Spiel erfolgreich zu sein: eine Kombination aus körperlicher und mentaler Vorbereitung verbunden mit purer Freude daran, was der Eishockeysport zu bieten hat – Geschwindigkeit, Spannung und vor allem Spaß.

Mein Einstieg begann als Torhüter, weil das die perfekte Position ist, um das Spiel zu verstehen und zu erkennen, wie sich eine Taktik entwickelt und mit welcher Strategie man gewinnen kann. »Dein bester Angriff ist deine beste Verteidigung«, war das Mantra meines Stiefvaters.