Everqueen

Everqueen

Das Tor zur Geisterwelt

 

Nika S. Daveron

Das Buch

 

Ludmillas Leben steht Kopf! Nicht genug, dass sie mit ihrer Mutter aufs Land ziehen und sich nun in einer neuen Schule zurechtfinden muss. Nein, nach dem Tod ihrer Tante sieht sie plötzlich Geister! Schnell erfährt sie von ihrem durchsichtigen neuen Freund Albert, dass dies nicht die Seelen von Verstorbenen sind, sondern Manifestationen starker Gefühle, Wünsche und Gedanken. Von nun an ist es Ludmillas Aufgabe, sich um diese Wesen zu kümmern, denn sie ist die nächste Everqueen.

 

 

Die Autorin

 

Nika S. Daveron hätte nie gedacht, dass es sie einmal in ein komplett eigenes Fantasy-Universum verschlagen würde. Die Worte in ihrem Kopf wollten einfach nicht schweigen, und so lebt sie heute mit dem einen oder anderen Geist zusammen. Wenn ihre Charaktere sie zwischendurch nach Hause lassen, feilt Daveron an ihren zahlreichen anderen Manuskripten, bändigt und bloggt über ihr Pferd oder streift über die Rennbahn.

Impressum

 

 

Originalausgabe | © 2018

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat und Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: Stefanie Kurt

Cover-Finishing & E-Book-Erstellung: Grit Richter

 

 

1

 

 

»Ludmilla? Kein Mensch heißt Ludmilla.«

Der eingebildete Kerl hatte sich drohend vor ihr aufgebaut, und sein affiges Baseballkäppi drohte von seinem Kopf zu rutschen.

»Siehst ja, dass es so ist«, entgegnete sie giftig.

Lachend stieß er seinen Kumpel in die Rippen. »Ludmilla. Klingt wie ‘ne Kuh. Ich glaube, wir nennen dich ab jetzt Kuhmädchen.« Die beiden Idioten knufften einander und kicherten, als wären sie noch in der zweiten Klasse.

»Witzig«, entgegnete sie ironisch und widmete sich wieder ihrem Pausenbrot.

Zweimal hatte Ludmilla das erniedrigende Prozedere schon mitgemacht. Es war immer das Gleiche, wenn man in eine neue Schule kam. Man wurde kritisch beäugt, man wurde gehänselt, und wenn man es sich gefallen ließ, war man ewig die Doofe. Deswegen ignorierte Ludmilla mittlerweile solche Sprüche, denn dann wurde es Kerlen wie denen zu langweilig, sie zu ärgern. Beim ersten Mal hatte sie es noch schlimm gefunden. Beim zweiten Mal war es schon ein alter Hut. Und jetzt war es ihr gleichgültig. Immerhin ging sie jetzt in die elfte Klasse, wenn auch – mal wieder – an einer anderen Schule, weil ihre Mutter nie lange an einem Ort bleiben wollte. Sie war es gewohnt, dass sich am Anfang niemand zu ihr auf die Bank setzte, das war immer so. Aber nach und nach verloren die Mitschüler meistens ihre Scheu. Obwohl dieses Nobelgymnasium nicht gerade einladend war. Natürlich hatte auch das ihre Mutter ausgesucht, es war gut angesehen, aber die Schüler hier trugen die Nase sehr hoch, und überhaupt wäre sie viel lieber auf die nette Gesamtschule gegangen, die sie sich zuerst angeschaut hatten. Dort hatte sie nicht so viele hochnäsige Gesichter gesehen.

»Ey, Kuhmädchen, was hast’n da aufm Brot?«

Ludmilla verdrehte die Augen und wedelte mit ihrem Sandwich vor den beiden herum. »Käse. Habt ihr noch nie gesehen, oder?«

»Haha … Käse«, kicherte der eine dümmlich.

Was auch immer daran so lustig war. Offenbar war das Nobelgymnasium kein Garant für intelligente Mitschüler. Eher das Gegenteil. Wenn man einen Mitschüler schon aufgrund seines Brotbelags mobbte, dann lief hier etwas verdammt schief.

Seufzend wandte sie sich wieder ihrem Pausenbrot zu und ließ ihren Blick über den Schulhof schweifen. Am Trinkwasserspender stand eine große Gruppe Schüler, die gebannt irgendetwas auf dem Boden beobachteten, aber Ludmilla konnte nicht sehen, was es war. Zu dicht standen die anderen Kinder.

Im Schatten der Bäume, links von ihr, nahe dem Zaun, gab es eine Sitzgruppe, wohin sich ein paar kichernde Mädchen zurückgezogen hatten; ansonsten war der Schulhof größtenteils leer. Ludmilla nahm an, dass es damit zusammenhing, dass die Bibliothek den Schülern kostenlos internetfähige Computer zur Verfügung stellte.

Aber ihr behagte der Gedanke nicht, an diesem schönen Augusttag in der Bibliothek zu sitzen und Facebook-Nachrichten ohne Sinn und Verstand in alle Welt zu schicken.

Hinter dem Zaun kräuselten sich kleine Rauchwölkchen, vermutlich von Schülern, die heimlich außerhalb des Schulgeländes rauchten. Durch die dichte Hecke sah man jedoch nicht, wer sich dahinter verbarg. Außerdem gab es von der Hauptstraße davor genug Lärm und Dreck, sodass die kleinen blauen Wölkchen durchaus als Abgase durchgingen.

Als sie endlich fertig war, stopfte sie ihre Lunchbox in die Tasche und kramte nach ihrer Zeitschrift. Nicht, dass sie die Frauenzeitschriften ihrer Mutter gerne las, doch heute Morgen hatte sie auf die Schnelle nichts anderes finden können. Dabei stand in diesen blöden Fetzen sowieso immer nur dasselbe: Schminktipps, Modetrends und die einzig wahre Anleitung, wie man sich vor gemeinen Fältchen um die Augen schützte.

Ihr Handy vibrierte. Ihre Mutter. Natürlich. Die wollte sicher wissen, ob es schön in der Schule war. Ludmilla legte sich schon einmal eine passende Antwort zurecht, dann meldete sie sich mit: »Hallo?«

»Schatz, ich bin’s.«

Sie wusste nicht, wie oft sie ihrer Mutter noch erklären sollte, dass sie die Nummer im Handy gespeichert hatte und damit logischerweise den Anrufer identifizieren konnte.

»Was gibt’s?«, fragte sie ungnädig. Sie würde ihrer Mutter nicht den Gefallen tun, Interesse an dieser schrecklich versnobten Schule zu heucheln.

»Hast du gerade Pause?«, fragte ihre Mutter.

»Ja.«

»Ich weiß, dass es dir sicher unangenehm ist, aber du musst deinen Lehrer fragen, ob du heute früher gehen darfst. Ich schreibe dir auch etwas für die Schule, falls sie Fragen haben …«

»Hä?«, machte Ludmilla. Sie wusste, dass ihre Mutter das hasste; nur deswegen tat sie es.

Aber diese nahm ausnahmsweise keinen Anstoß daran. »Hör zu … Tante Nike ist heute früh gestorben. Man hat mich gerade erst benachrichtigt.«

»Tante Nike?«, fragte Ludmilla ungläubig. Sie konnte sich überhaupt nicht an eine solche Tante in der Familie Weiß erinnern.

»Tante Nike«, erwiderte ihre Mutter ungeduldig. »Berenike. Du kennst doch Tante Nike, du warst da mal in den Sommerferien.«

Ach, die! Ludmilla erinnerte sich nicht wirklich bewusst an diese Tante, denn sie war in den besagten Sommerferien erst drei Jahre alt gewesen. Bei der riesigen Familie ihres leiblichen Vaters fehlte ihr schon lange der Durchblick. Und seit der Scheidung hatte sie von denen sowieso keinen mehr zu Gesicht bekommen. Tante Nike noch viel länger nicht. Sie war immerhin eine ziemlich alte Frau, die allein auf einem Bauernhof lebte und Autos und Handys immer noch für Hexenzeug hielt.

Eigentlich hätte Ludmilla nun traurig sein müssen, doch die Tatsache, dass sie die alte Dame einfach nicht wirklich kannte, unterdrückte das. Betroffener wäre sie gewesen, wenn der nette Postbote gestorben wäre, denn mit dem hatte sie öfter gesprochen. Aber bei Tante Nike war es wie bei den Todesanzeigen in der Tageszeitung: Man las sie, man dachte: Oh! Und das war’s.

»Nicht traurig sein, mein Schatz«, sagte ihre Mutter, weil sie ihr Schweigen falsch interpretierte. »Ich hole dich in einer halben Stunde ab, dann fahren wir zu ihrem Hof.«

»Warum denn das?«, fragte Ludmilla.

»Ihr Nachlassverwalter hat mich angerufen. Sie hat dir etwas vermacht, von dem sie wollte, dass du es sofort nach ihrem Tod erhältst.«

»Mir?« Sie wagte zu bezweifeln, dass die alte Dame sich überhaupt noch an sie erinnerte.

»Ich weiß auch nicht, was es ist, aber der Herr hat gesagt, dass es dringend sei und dass wir noch heute vorbeikommen sollen. Außerdem gibt es da noch ein paar Dinge wegen ihrer Beerdigung zu klären, die ich besser heute noch erledige.«

»Kann das nicht Papa machen?«, fragte Ludmilla genervt. Der Weg zu Tante Nike war weit, sie wohnte irgendwo in einem Eifelkaff, und das war weiter, als sie heute fahren wollte, nicht zuletzt, weil ihr beim Autofahren immer schlecht wurde.

»Ich weiß nicht … Deine Tante und dein Vater hatten wohl Streit. Genaueres hat mir der Nachlassverwalter nicht gesagt. Aber Tante Nike hat wohl verfügt, dass sich dein Vater nicht mehr um sie kümmern darf.«

Merkwürdig, dachte Ludmilla. Normalerweise stand ihr Vater auf gutem Fuß mit jedermann, was bei einer so großen Verwandtschaft eine reichlich fordernde Aufgabe war.

»Ich komme dich in einer halben Stunde abholen«, fuhr ihre Mutter fort. »Denk daran, deinem Lehrer Bescheid zu sagen. Es ist nicht gerade toll, wenn du an deinem ersten Tag schon fehlst, aber er hat sicher Verständnis.«

Ludmilla verabschiedete sich und stopfte ihr Handy zurück in die Tasche. Auch das noch. Ihr Klassenlehrer sah nicht gerade aus, als habe er für irgendetwas Verständnis, höchstens im eigenen Todesfall. Herr Doktor Erkel war unfreundlich und sehr streng. Genauso elitär wie das Gymnasium.

Mit gemischten Gefühlen verließ Ludmilla ihren Platz und versuchte sich daran zu erinnern, wo sich in diesem Gefängnistrakt das Lehrerzimmer befand. Das hatte man ihr gesagt, aber sie hatte es schon wieder vergessen.

 

Als sie in das Auto einstieg, bemerkte sie als allererstes, dass ihre Mutter Schwarz trug. Das gehörte sich wohl so, wenn man in Trauer war, aber sie bezweifelte, dass die alte Dame nach diesem ominösen Sommerurlaub jemals wieder Kontakt zu ihrer Mutter aufgenommen hatte. Deswegen fand sie den Aufzug reichlich heuchlerisch.

Das zweite, was sie bemerkte, war der neue Duftbaum, den ihre Mutter an den Spiegel des Volvo gehängt hatte. Ludmilla hasste Duftbäume inbrünstig und hatte mehrfach darum gebeten, die Mistdinger nicht mehr zu kaufen, aber sie hatte ihre Mutter heimlich im Verdacht, süchtig danach zu sein.

»War’s denn bis jetzt wenigstens schön?«, fragte ihre Mutter, als Ludmilla sich angeschnallt hatte.

»Kann ich nicht sagen«, erwiderte sie.

»Ach, das wird schon.«

Ja … natürlich. Bis zum nächsten Schulwechsel.

Missmutig warf Ludmilla ihre Schultasche auf den Rücksitz und deutete auf das Lenkrad. »Fahr doch. Ich muss trotzdem Hausaufgaben machen, und die kann ich nicht in diesem Nest erledigen.«

»Ich schreibe dir etwas für die Schule, das habe ich doch schon gesagt«, erklärte ihre Mutter gereizt und startete den Wagen. »Ein bisschen mehr Anteilnahme könnte auch nicht schaden.«

»Ich kenne Tante Nike doch überhaupt nicht«, verteidigte sich Ludmilla.

Was konnte sie dafür, wenn sie sich nicht an diesen Urlaub auf dem Bauernhof erinnerte? Tante Nike hatte sich noch nicht einmal an ihrem Geburtstag oder an Weihnachten gemeldet. Sie war einfach eine völlig fremde Person. Warum verstand ihre Mutter das nicht?

»Natürlich. Es hat dir sehr auf dem Bauernhof gefallen«, erwiderte ihre Mutter und schürzte die Lippen.

»Mama, da war ich drei. Da hab ich auch noch auf dem Telefonkabel gekaut.«

Ihre Mutter knurrte etwas von Pubertät und undankbaren Gören, worauf Ludmilla wohlweislich nicht antwortete. Da war Ärger vorprogrammiert, und meist resultierte der in Fernsehverbot. Auch so ein unfairer Zug an ihrer Mutter. Nicht nur, dass sie meist die Wünsche ihrer Tochter völlig ignorierte, nein, sie verhängte auch noch Strafen wie vor zwanzig Jahren, die einem Kind angemessen waren, nicht aber einem Teenager. Und das tat sie immer dann, wenn ihr die Argumente ausgingen. Eindeutig unfair.

»Du musst da links auf die Autobahn«, sagte Ludmilla und deutete auf das blaue Autobahnschild.

»Ich weiß, wo lang ich fahren muss«, fauchte ihre Mutter gereizt, sodass Ludmilla ganz automatisch nach ihrem MP3-Player griff, um die aufkommende schlechte Laune zu übertönen.

 

Der Bauernhof von Tante Nike lag weit außerhalb irgendeiner Siedlung. Und so idyllisch, wie ihre Mutter dieses Bild gemalt hatte, war es ganz und gar nicht. Eher glich das Gehöft einer Bruchbude. Zwei schwarze Autos standen glänzend und neu in der Auffahrt. Ein paar Bäume säumten das Haupthaus, doch waren sie so radikal gestutzt, dass keine Äste oder Blätter mehr übrig waren. Ein Schuppen stand links neben dem wenig imposanten Haus und gammelte muffig vor sich hin. Der Geruch von Stall und Tieren wehte zu Ludmilla hinüber, allerdings auch der Gestank nach Gülle und Kompost. Tante Nike hatte den Hof wohl nicht besonders gut in Schuss gehalten, zumindest nicht in den letzten Jahren.

Ein kränklicher kleiner Apfelbaum stand in der Auffahrt, und Ludmilla zählte gerade einmal drei mickrige Äpfel daran. Toller Bauernhof. Gab es hier überhaupt etwas von Belang? Nicht einmal Tiere konnte sie auf den Feldern dahinter erkennen. Dabei wären die zumindest ein Grund gewesen, Tante Nike zu besuchen, wenn auch posthum.

»Frau Weiß«, begrüßte ein grauer Anzugträger ihre Mutter und schüttelte ihr teilnahmsvoll die Hand, bevor er schließlich Ludmilla musterte. »Mein Name ist Fuchs, wir hatten telefoniert.«

Ludmilla fand, dass der Nachname zu dem Kerl passte. Er hatte eine spitze Nase und irgendwie verschlagene braune Augen. Doch der Rest von ihm war grau. Seine Haut, seine Lippen, ja, sogar seine Zähne … Sie fand ihn auf Anhieb unsympathisch.

»Und das muss Ihre Tochter sein«, brabbelte er in einem monotonen Singsang, als wäre sie keine sechzehn, sondern erst sechs Jahre alt.

»Muss wohl«, erwiderte sie patzig. Wenn sie irgendetwas aus diesen albernen Frauenzeitschriften gelernt hatte, dann war es, dass Teenager in der Pubertät per se dazu gezwungen waren, patzig zu sein. Warum nicht also seinen Nutzen daraus ziehen?

Der graue Fuchs schüttelte ihr nicht die Hand. Stattdessen deutete er mit einer einladenden Geste auf das Bauernhaus, dessen Tür aus den Angeln gehoben worden war.

Entschuldigend deutete er auf diese Großbaustelle. »Normalerweise sieht das hier nicht so aus. Wir lassen das wieder in Ordnung bringen, doch die Verstorbene hat die Haustür ordentlich verriegelt, sodass wir uns gezwungen sahen, sie zu öffnen, damit wir ihren letzten Willen vollstrecken können. Nur keine Angst, wir haben dazu ein Schreiben von der Polizei.«

Ihre Mutter nickte lediglich und folgte dem grauen Mann ins Innere des Hauses. Ludmilla musste husten, so staubig war es drinnen, und ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Tante Nike hatte einen ganz schön abstrusen Geschmack gehabt. Hässlicher Nippes stapelte sich bis zur Decke, ausgestopfte Tiere bewohnten die Regale, und alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt.

»Meine Güte«, murmelte ihre Mutter. »Dein Vater hat nie gesagt, dass es bei Tante Nike so übel aussieht. Immerhin ist sie doch seine Schwester, da hätte er ihr doch eine Putzkraft organisieren können.«

»Wenn ich das so sagen darf«, mischte sich der graue Fuchs ein, »Ihr Ehemann hat wohl mehrfach versucht, seine Schwester zu überreden, doch Frau Stark hat das immer abgelehnt.«

»Hm«, machte ihre Mutter lediglich.

Das war nichts Neues. Ludmilla wusste, dass ihre Mutter gerne ihren Vater für Dinge verantwortlich machte. Zu gerne hätte sie ihm wohl auch noch Tante Nikes häusliche Situation in die Schuhe geschoben. Doch das war absurd, denn ihr Vater hatte noch sieben weitere Geschwister, die sich ebenso um die alte Dame hätten kümmern können. Die Familie Weiß war schließlich riesig. Und Ludmilla freute sich, wenn ihre Mutter mit solchen Dingen ins Leere lief. Sie fand es unverschämt, wie ihre Mutter über ihren Vater sprach. Selber schuld! Sie hatte ihn schließlich freiwillig geheiratet.

»Folgen Sie mir«, bat der graue Fuchs und führte sie in einen Raum, der wohl als Wohnzimmer durchgehen konnte.

»Die Schwester meines Exmannes hat meiner Tochter etwas hinterlassen, haben Sie mir am Telefon gesagt«, begann ihre Mutter, ohne den angebotenen Sitzplatz wahrzunehmen.

Ludmilla konnte sich in etwa ausmalen, was Tante Nike ihr hinterlassen hatte: Wollmäuse, ausgestopfte Tiere und hässliche Clownsfiguren, wie sie sich überall in der Behausung stapelten.

»Das ist richtig, und zwar ganz ausdrücklich. Aber Sie als gesetzliche Vertreterin Ihrer Tochter können natürlich auch verfügen, dass Ludmilla ihr Erbe erst mit achtzehn erhält.«

Glücklicherweise winkte ihre Mutter ab. »Was kann das schon sein? Wohl kaum etwas, was man einem Kind in diesem Alter nicht zumuten kann.«

Glücklicherweise deshalb, weil Ludmilla, trotz ihres Unmuts über die Autofahrerei und den weiten Weg, neugierig geworden war. Vielleicht war es ja doch etwas Spannendes.

Der graue Fuchs nickte und winkte den zweiten Mann herbei, der schweigend auf dem Sofa gesessen hatte. Dass sich da jemand freiwillig hinsetzte …

Der große Kerl war jünger als der Graue, und sein Gesicht war regelrecht überwuchert von seinem Bart, sodass er aussah, als habe er einen Efeubusch verschluckt. Er reichte dem Ersten einen Koffer, der ihn wortlos an Ludmilla weiterreichte.

»Ein Koffer?«, fragte sie verwirrt.

»Der Koffer gehört auch dazu. Und der Inhalt natürlich.« Er lächelte spitz.

»Okay … da schaue ich nachher rein«, sagte sie.

Aus unerklärlichen Gründen hielt sie es für keine gute Idee, den Koffer hier drin zu öffnen. Bescheuert … Aber der Mann war ihr so unsympathisch … Und vor allem schien er furchtbar neugierig zu sein, sodass sie ihm einen Blick in das Innere des Koffers aus Prinzip nicht gönnen wollte.

Sichtlich enttäuscht reichte er ihrer Mutter ein Schriftstück und besprach mit ihr die Formalitäten, während Ludmillas Gedanken um den merkwürdigen Koffer kreisten. Es war nicht einmal ein Koffer im engeren Sinne, vielmehr eine altmodische Reisetasche. Eine, die mindestens fünfzig Jahre alt war, eckig, klobig und ziemlich abgenutzt. Besonders schwer war sie nicht, aber ganz offensichtlich war etwas darin, denn es rumpelte, als sie die Tasche hin und her bewegte. Wenn der graue Fuchs doch so heiß auf deren Inhalt war, warum hatte er dann nicht hineingeschaut? Zwar hatte das Ding einen Verschluss, doch sie zweifelte nicht daran, dass man diesen problemlos öffnen konnte, sofern man nur wollte.

Was konnte also in der staubigen Reisetasche drin sein, das den grauen Fuchs so interessierte? Die Gier war schließlich kaum übersehbar gewesen. Prüfend musterte sie die Tasche. An einem verrosteten Reißverschluss (dass die Dinger überhaupt rosten konnten?!) prangte ein Schlüsselanhänger in Form einer Krone, und der Griff war bereits ein wenig altersschwach. In grauer Vorzeit musste das Ding einmal blau gewesen sein. Jetzt war es schmutzig dunkelgrau. Nur auf der Unterseite ließ sich noch ein Stück des leuchtenden Königsblau erkennen, das die Reisetasche einst gehabt haben musste.

»Das war es schon?«, holte die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken.

»Mehr gibt es da nicht zu regeln«, erwiderte der graue Fuchs höflich, schielte aber schon wieder zu Ludmillas neuer Errungenschaft hinüber.

Die beiden tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, während Ludmilla die beiden Herren beobachtete. Der graue Fuchs heuchelte zumindest Aufmerksamkeit, während er mit ihrer Mutter sprach, aber Efeugesicht starrte unverhohlen auf ihre Erbschaft.

»Können wir gehen?«, fragte sie unvermittelt, den Koffer, der eigentlich keiner war, fest an sich gepresst.

Ihre Mutter warf ihr einen bösen Blick zu. Vermutlich fand sie es taktlos, dass Ludmilla so schnell wieder nach Hause wollte, aber ihr war einfach unwohl in diesem Haus, im gleichen Raum mit diesen zwei Kerlen.

Als ihre Mutter keine Anstalten machte zu gehen, verließ sie schließlich mit ihrer Erbschaft das bedrückende, staubige Wohnzimmer. Mochte ihre Mutter auch schimpfen; das war ihr egal. Keine weitere Sekunde würde sie in einem Zimmer mit diesen gierigen Kerlen verbringen.

Vielleicht hatten sie sich längst die wertvollsten Teile von Tante Nikes Erbe unter den Nagel gerissen und den Inhalt ihrer Reisetasche gegen etwas von weniger Wert getauscht. So etwas hatte sie neulich erst im Krimi gesehen. So abwegig waren diese Fälle nicht.

Neugierig lugte sie in eines der zahllosen Löcher hinein, als sie draußen wieder im warmen Sonnenlicht stand, doch das nützte nichts. Nicht einmal die Augustsonnenstrahlen erreichten das Innere der Tasche.

Bevor sie die Tasche nun doch öffnen konnte, trat ihre Mutter, gefolgt von Herrn Fuchs und seinem Assistenten, ins Freie. Schnell ließ Ludmilla die Tasche sinken, damit die Herren sie nicht noch einmal dazu aufforderten, sie zu öffnen.

»Können wir?«, fragte sie ihre Mutter.

Die nickte lediglich und schüttelte den beiden Männern die Hand.

Erst als sie und Ludmilla wieder im Auto saßen, machte sie ihrem Ärger Luft. »Was sollte denn dieses Benehmen?«, fragte sie gereizt.

»Die waren unfreundlich«, erklärte Ludmilla.

Obwohl die beiden Nachlassverwalter streng genommen nicht unfreundlich gewesen waren. Eher unheimlich …

»Waren sie überhaupt nicht. Kannst du dich nicht einmal normal aufführen? Ich hätte nicht übel Lust, dir diese alberne Tasche wieder wegzunehmen, da du noch nicht einmal die Grundformen der Höflichkeit zeigst. Nicht einmal bedankt hast du dich.«

»Bei wem?«, konnte Ludmilla sich nicht verkneifen zu fragen. »Wenn es hilft, dann werde ich Tante Nike in mein Abendgebet miteinbeziehen.«

»Ludmilla!«, schimpfte ihre Mutter. »Hör auf, so zynisch daherzureden. Ich bin deine Mutter! Und wenn du dir nicht gleich einen anderen Ton angewöhnst, dann nehme ich dir das dreckige Ding wieder ab. Da ist ohnehin vermutlich nur Schund drin.«

Ludmilla biss sich auf die Lippen, obwohl sie ihrer Mutter gerne gesagt hätte, dass es ein ziemlich unsinniges Unterfangen war, für Schund hundert Kilometer weit zu fahren.

 

Ludmilla wusste selbst nicht so recht, warum sie die Reisetasche auf der Fahrt immer noch nicht geöffnet hatte; aber ihre Mutter drängte sie nicht dazu, also tat sie es nicht. Genaugenommen vergaß sie die Tasche sogar bis nach dem Abendessen. Erst da fiel ihr auf, dass sie immer noch im Flur lag.

Ihre Mutter war unterdessen unheimlich wortkarg. Vermutlich war sie immer noch verstimmt, weil Ludmilla sich auf Tante Nikes Bauernhof so schlecht benommen hatte. Manchmal zog ihre Mutter diese Beleidigte-Leberwurst-Nummer ab und wartete dann auf eine Entschuldigung. Aber danach stand ihr ganz und gar nicht der Sinn. Also verlief ihr Abendessen mehr als leise. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, während Ludmilla an ihrem Wurstbrot kaute. Auch das war ein Streitthema im Hause Weiß. Ludmilla fand, dass eine warme Mahlzeit zum Tag gehörte und dass vor allem ihre Mutter dafür verantwortlich war. Schließlich war sie ihre Mutter! Mütter taten doch so etwas!

Also nahm sie sich fest vor, morgen einen Stopp bei der Wurstbude gegenüber der Schule zu machen, und erhob sich.

»Hast du gefragt, ob du aufstehen darfst?«, knurrte ihre Mutter.

»Mama, ehrlich, wann habe ich das letzte Mal fragen müssen?«

Was hatte sie denn heute nur? Ihr Vater hätte sie bremsen können, da war sich Ludmilla ganz sicher. Aber der war ja nicht da …

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Geh in dein Zimmer. Ich möchte dich heute Abend nicht mehr sehen. Und mach deine Hausaufgaben.«

Empört trampelte Ludmilla nach oben. Sie selbst hatte doch gesagt, dass es ihr lieber wäre, Hausaufgaben zu machen, statt des blöden Ausflugs, bei dem es als Lohn nichts als eine abgewrackte Reisetasche gab. Reisetasche! Ludmilla wirbelte herum und nahm das dreckige Ding mit nach oben.

In ihrem Zimmer warf sie die Tasche auf ihr Bett und begutachtete prüfend ihr Reich. Natürlich, ihre Mutter hatte einfach nur die Kartons mitten in den Weg gestellt und sonst nichts gemacht. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich diverse Topfpflanzen, die ihre Mutter ihr aufs Auge gedrückt hatte. Dabei überlebten die Dinger nicht deshalb, weil Ludmilla sich so gut um sie kümmerte; ihre Mutter tat es selbst.

Ärgerlich räumte sie ihren Schreibtisch frei, knallte missmutig die Pflanzen auf das Fensterbrett und starrte böse in den Garten hinaus. Scheißstadt, Scheißschule, Scheißleben!

Dann nahm sie sich die Reisetasche zur Brust. Die kleine Krone klimperte gegen den Griff. Vorsichtig wog Ludmilla sie in der Hand. Ganz schön schwer. Das waren doch nicht wirklich echte Diamanten? Staunend betrachtete sie den Anhänger von allen Seiten, doch etwas Ungewöhnliches konnte sie daran nicht finden. Eigentlich war er nur kitschig und alt.

Sachte legte sie die Tasche auf den Schreibtisch und ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. Ob sie sie einfach öffnen sollte? Irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen. Vermutlich würde ihr nur der Muff vergangener Zeiten entgegenwehen. Dabei überkam sie jedoch ein so feierliches Gefühl, dass sie glaubte, irgendwie müsse man diesen Moment zelebrieren.

»Ach, was soll’s«, sagte sie dann laut vor sich hin und öffnete die Tasche einfach. Ein warmer Lufthauch stieg daraus empor. Ludmilla musste husten, doch ansonsten geschah überhaupt nichts. Ein wenig enttäuscht lugte sie in die Tasche. Es war jedoch so dunkel darin, dass sie nichts erkennen konnte.

Seufzend knipste sie ihre Schreibtischlampe an und richtete den Strahl in das Innere der muffigen Erbschaft.

Ein kleiner Flakon befand sich darin, eine angelaufene Gabel, ein rotweißer Ball und eine Streichholzschachtel. Enttäuscht leerte sie den Inhalt auf ihrem Schreibtisch aus und verstaute die Tasche unter ihrem Stuhl.

Der Flakon war blau, und auf dem Verschluss prangte genau so eine Krone, wie auch eine die Tasche zierte. Auch diese hier war mit glitzernden Steinen besetzt; sie sah allerdings viel kostbarer aus als die andere. Zwar war das Ding kitschig, aber doch irgendwie nett. So etwas hatte nicht jedes Mädchen. Die Form des Flakons war schlicht, der Geruch des Parfums allerdings schwer und gar nicht mädchenhaft.

Na, ja, sie musste es ja nicht benutzen. Der Flakon war trotzdem cool.

»Danke, Tante Nike«, sagte sie laut in die Stille ihres Zimmers. Als sie die restlichen Gegenstände betrachtete, fügte sie grinsend hinzu: »Das Parfum ist ja nett, aber was hast du dir bei dem Rest gedacht?«

Natürlich bekam Ludmilla keine Antwort, doch ohne es begründen zu können, fühlte sie sich jetzt besser. Die Gabel, den Ball und die Streichholzschachtel legte sie neben die Parfumflasche, die stark nach Kirsche roch. Kein Wunder, sie hatte das Gefäß auch gar nicht richtig verschlossen. Vorsichtig drehte sie den Stöpsel nach rechts und schnupperte erneut. Der Geruch verblasste augenblicklich.

Schade, dachte Ludmilla. Ein bisschen hatte sie gehofft, dass sich in Tante Nikes Nachlass irgendetwas Spannenderes befunden hätte. Aber nun waren es doch nur die Sachen einer alten, etwas verwirrten Dame.

2

 

 

Am nächsten Morgen fühlte sich Ludmilla, als sei sie den ganzen Weg in die Eifel zu Fuß gelaufen. Gestern Abend war sie definitiv zu lange wach geblieben, aber sie hatte die Menge ihrer Hausaufgaben unterschätzt. Wie gemein, wenn man direkt am ersten Tag in einem solchen Wust versank. Ihre Lehrer hielten wohl nichts von Welpenschutz.

Gähnend fand sie sich am Frühstückstisch ein. Ihre Mutter war gerade dabei, Kaffee zu kochen. Sie hatte sich bereits ausgehfertig gemacht.

»Ich lasse dich ungern allein, aber ich muss heute schon früh ins Büro«, sagte sie.

»Macht nichts«, nuschelte sie undeutlich zwischen ihrem Toast hervor. »Was gibt’s denn da so Wichtiges?«

»Wir haben ein Meeting.«

Ihre Mutter arbeitete in einer Werbeagentur, da ging es öfter mal außerhalb der regulären Arbeitszeiten hoch her. Das war nichts Neues.

»Und?«, fragte ihre Mutter auffordernd, während sie sich Kaffee einschenkte.

»Was und?«

»Na, Tante Nikes Erbe.«

»Oh«, machte Ludmilla. Das hatte sie wirklich vergessen. »Ein Parfum. Sieht total cool aus, mit viel Glitzer und Zeugs. Aber es riecht nicht so gut.«

»Hm«, machte ihre Mutter. »Sonst nichts?«

»Nur unnützer Quatsch. Ein Streichholzbriefchen, ein Ball und eine Gabel«, kicherte Ludmilla, und ihre Mutter stimmte mit ein. Wenigstens war sie nicht mehr so zickig wie gestern Abend.

»Dein Vater hat mir gesagt, dass Tante Nike zuletzt ein wenig verwirrt war. Nimm es ihr nicht übel.«

Ludmilla schüttelte den Kopf. »Tue ich auch nicht. Das Parfum ist wirklich ganz hübsch.«

Ihre Mutter warf einen Blick auf die Uhr und zuckte zusammen. »Verdammt«, fluchte sie ganz mutteruntypisch und raffte ihr Jackett und ihre Tasche zusammen. »Ich muss los. Trödel nicht rum auf dem Schulweg, sei nicht frech zu den Lehrern und hab einen schönen Tag.« Hastig drückte sie ihr einen Kuss auf die Stirn und stürmte nach draußen.

Irgendwie wirkte ihre Mutter heute verwirrt. Ludmilla zuckte mit den Schultern und stopfte sich den Rest ihres Toasts in den Mund, bevor sie ins Badezimmer ging. Vielleicht hätte sie gestern nicht so frech zu ihrer Mutter sein sollen … Auch das noch: Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen. Was für eine lästige Institution.

Seufzend griff sie nach ihrer Zahnbürste, dem Shampoo und dem Duschgel, bevor sie in die Dusche stieg. Ihre Mutter schimpfte zwar ständig, wenn sie sich unter der Dusche die Zähne putzte, aber mal ehrlich: So wurde man doch viel schneller fertig, als wenn man das nacheinander erledigte.

Sie drehte das Wasser auf heiß und prustete laut, als ein Schwall kaltes Wasser sich über ihre Schultern ergoss. Dieser verdammte Boiler, der war wirklich ein Folterinstrument.

Aber das Wasser wurde nicht wieder wärmer, im Gegenteil, es blieb so kalt wie vorhin. Ärgerlich schlug Ludmilla gegen die Armatur, doch es geschah nichts. Schließlich gab sie es auf und stellte das Wasser aus. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, was sie machen musste, wenn das Wasser nicht richtig erhitzt wurde, aber so ganz sicher war sie sich nicht mehr.

Sie warf sich ein Handtuch über und hüpfte mit tropfenden Haaren über die Badezimmerteppiche. Der Raum befand sich direkt unter dem Dach, sodass Ludmilla in die Schräge hineinkriechen musste, um den Boiler zu erreichen. Doch als sie um die Ecke lugte, erstarrte sie. Da stand jemand!

Erschrocken sprang sie zurück. Oh, Gott! Das musste ein Einbrecher sein! Mörder, Vergewaltiger … Die wildesten Dinge schossen ihr durch den Kopf. Warum war ihre Mutter jetzt nicht da?

Vorsichtig warf sie einen Blick um die Ecke. Die Person stand immer noch unter der Schräge beim Boiler, hatte ihr jedoch den Rücken zugewandt. Hastig zog sie das Handtuch höher und sah sich nach einer Waffe um. Aber in ihrem Badezimmer gab es überhaupt nichts, was man als Waffe hätte benutzen können! Ihr wurde heiß und kalt, und langsam steigerte sich ihre Angst in Panik. Sie hatte das Gefühl, gleich losschreien zu müssen.

Und wenn sie ganz einfach davonschlich? Vielleicht bemerkte der Einbrecher sie dann gar nicht … Ganz leise näherte sie sich der Tür.

»Bleib doch noch etwas«, sagte eine Stimme.

Ludmilla stieß einen Schrei aus, wirbelte herum und flüchtete in den Flur. Telefon! Polizei anrufen! Sofort! Wo war das Scheißteil?

»Nicht weglaufen«, rief die fremde Stimme, nun viel näher. Dabei hatte sie überhaupt keine Schritte gehört. Hilfe!

»Gehen Sie weg!«, brüllte sie angriffslustig. »Ich habe schon die Polizei gerufen, und ich bin bewaffnet.«

Wie lächerlich das klang, wenn man bedachte, dass sie nur mit einem Handtuch bekleidet im Flur stand und nicht einmal wusste, wo dieses dämliche Telefon war.

Schwer atmend sah sie sich nach allen Seiten um, doch der Mann war nicht zu sehen. Sie konnte sich in ihr Zimmer schleichen und die Tür verschließen, aber so ein Einbrecher hatte sicherlich kein Problem damit, auch diese Tür zu öffnen. Irgendwie war er ja auch ins Haus gekommen!

»Gehen Sie weg«, schrie sie noch einmal und machte einen Schritt auf die Treppe zu. Nur da unten konnte sie vor ihm flüchten. Aber wenn sie jetzt nach unten trampelte, dann verriet sie sich.

»Ich will dir doch nichts Böses«, sagte die Stimme, nun erneut viel näher. »Bleib hier.«

Ludmilla sah sich erneut um. Wo war er denn? Und wieso konnte er sich so lautlos bewegen? Prüfend blickte sie in den Ankleidespiegel ihrer Mutter, aber um die Ecke sehen konnte sie damit nicht.

Doch hinter ihr bewegte sich etwas. Mit einem Schrei fuhr sie herum und schlug reflexartig nach dem Angreifer, spürte jedoch nur heiße Luft. Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten, doch ihre nassen Füße ließen sie auf dem Laminat ausrutschen, und sie fand sich auf dem Boden wieder. In ihren Ohren klingelte es. Sie hatte sich übel den Kopf angeschlagen.

Doch trotzdem sah sie mit eigenen Augen, wie der Fremde … ja … Was eigentlich? Er kletterte gerade aus der Wand heraus. Sie hatte im Spiegel nur seine Schultern und seinen Kopf gesehen, denn der Rest seines Körpers hatte bis gerade noch in der hässlichen, geblümten Tapete gesteckt. Sie musste sich eine Gehirnerschütterung zugezogen haben. Eine andere Erklärung gab es nicht.

»Entschuldige«, sagte der Fremde, der eindeutig zu jung für einen Einbrecher war. Oder? Er mochte vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie sein, aber in der Zeitung hieß es ja oft, dass kriminelle Jugendbanden Verbrechen begingen.

»Bleib weg!«, kreischte Ludmilla, mittlerweile den Tränen nahe.

Panisch sah sie sich um, doch hier gab es eindeutig nichts, was sie als Waffe einsetzen konnte. Hilflos griff sie nach einer der Zeitungen, die ihre Mutter fein säuberlich im Flur gestapelt hatte, und warf sie nach dem Einbrecher, doch sie erlebte ihren nächsten Schock. Die Zeitung prallte lediglich an der Wand hinter ihm ab und fiel mit einem hohlen Plumpsen auf den Boden. Ihn selbst berührte sie nicht. Sie ging einfach durch ihn durch.

Ungläubig schüttelte Ludmilla den Kopf. »Das kann doch gar nicht sein«, stammelte sie.

Mittlerweile hatte sich der Fremde vollständig aus der Wand geschält und stand nun auf dem Laminat. Aber irgendwie wirkte er nicht besonders … real. Ludmilla fiel kein besseres Wort ein. Er wirkte fast ein bisschen durchsichtig.

»Dass ihr alle immer so schreien müsst«, schimpfte er und klopfte sich das Hemd ab.

Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Sein Haar war beinahe schwarz, genau wie seine Augen. Er hatte einen schmalen Mund, keine Bartstoppeln wie andere Jungs in dem Alter, und eine spitze Nase. Eigentlich sah er sogar ganz nett aus …

»Es wäre echt einfacher, wenn man euch verraten dürfte, was auf euch zukommt. Aber das gehört ja wohl dazu.«

»W-was …?«, stotterte Ludmilla.

Dann wurde ihr bewusst, dass sie immer noch mit ihrem Handtuch auf dem Boden lag, und sie sprang auf.

»Nicht wieder weglaufen, okay?«, sagte der Fremde.

Misstrauisch musterte sie ihn. »Du bist in unser Haus eingebrochen. Nenn mir einen guten Grund, warum ich nicht weglaufen sollte.«

»Ich bin nicht eingebrochen«, entgegnete er empört. »Ich war schon da. Ich kann doch nichts dafür, dass du mich erst jetzt siehst.«

»Wie … du warst schon da?«

»Ich bin schon lange hier. Deine Tante hat mich schon bei eurem Einzug hergeschickt.«

»Meine Tante?«

»Deine Tante Berenike. Da, wo ihr gestern die Sachen abgeholt habt.« Er sprach mit ihr, als wäre sie irgendwie zurückgeblieben, und das ärgerte Ludmilla maßlos.

»Was heißt denn geschickt? Wer bist du überhaupt? Und was bist du?«

»Ich heiße Albert. Ich bin ein Geist.«

»Wie bitte?«, fragte sie fassungslos. Aber es passte zu der Sache mit der Zeitschrift. Die war glatt durch ihn durchgegangen.

Er schüttelte unwillig den Kopf. »Hab ich doch gesagt. Ich bin Albert. Und ich bin ein Geist.«

»Es gibt keine Geister«, antwortete sie trotzig.

»Dann muss ich eine Geisteskrankheit sein. Oder was ist sonst der Grund dafür, dass du mit mir sprichst?«

Darauf wusste Ludmilla nichts zu erwidern.

»Gewöhn dich lieber dran. Ich bin nicht der Einzige.«

»Hier im Haus?«, keuchte sie.

»Nein. Aber sonst so … auf der Welt. Es gibt überall Geister. Es gibt sogar außerordentlich viele von uns.«

»Du bist also tot?«

»Nein …« Wieder schüttelte er auf diese merkwürdige, unwillige Art den Kopf. »Ich hab noch nie gelebt.«

»Aber Geister …«, begann sie verwirrt, doch Albert schnitt ihr das Wort ab.

»Ihr Menschen habt überhaupt keine Vorstellung davon, was Geister sind. Immer diese blöden Geschichten von den Verblichenen. Das wünschen sich die Menschen wohl. Aber wir sind eben Geister. Schon immer gewesen, nie gelebt, nie gestorben.«

»Du bist ganz schön unhöflich dafür, dass du bei uns eingebrochen ist«, wagte sich Ludmilla vor. Wenigstens hatten sich ihre Atmung und ihr Herzschlag ein wenig beruhigt. Albert sah wirklich nicht wie ein Verbrecher aus.

»Ich war schon hier. Bist du schwerhörig?«

»Hör mal … Albert. Du bist einfach aus der Wand gekommen und hast mich … beim Duschen bespitzelt. Das ist weder für einen Menschen noch für einen Geist besonders nett. Ich ziehe mich jetzt an, und dann reden wir noch mal, in Ordnung?«, versuchte sie es diplomatisch, für den Fall, dass nicht jeden Moment die Rettungssanitäter erschienen, um sie aus dem Koma zu wecken.

»Wenn du dann umgänglicher bist, bitte ich darum.«

Ludmilla ließ Albert nicht aus den Augen, als sie hinüber zum Badezimmer ging, um sich wenigstens den Bademantel zu holen. Ach, verdammt, schon halb acht. Sie kam auf jeden Fall zu spät zur Schule, der Bus war schon vor fünf Minuten abgefahren. Ihre Mutter würde sie umbringen.

Aber sie wagte es nicht, sich noch einmal unter die Dusche zu stellen, um sich die Haare zu waschen, denn Albert konnte schließlich jeden Moment verschwinden!

Mit dem Bademantel ihrer Mutter kehrte sie in den Flur zurück. Albert war noch da. Er betrachtete interessiert die Zeitungen.

»Da geht’s rein«, sagte sie kühl und öffnete ihre Zimmertür.

Vielleicht hatte Albert gar nicht unrecht, und er war eine Geisteskrankheit, die sie pünktlich zu Tante Nikes Tod heimgesucht hatte. Geisteskrankheit hin oder her, sie konnte sich genauso gut in ihrem Zimmer mit Albert unterhalten. Denn antun konnte er ihr ja wohl kaum etwas, wenn er gar kein echter Mensch war.

»Dann mal los«, forderte sie ihn auf. »Was ist dieses Geisterding?«

Albert seufzte und sah sich im Zimmer um. Schmollte er? »Bei deiner Tante war es echt schöner.«

Ludmilla fragte sich, was Albert für einen fürchterlichen Geschmack haben musste, wenn er Tante Nikes Haus als schön bezeichnete. Das Ding war ein Fall für die Profi-Entrümpler im Fernsehen.

»Vielleicht wär’s gar nicht schlecht, wenn du da hin wieder zurückgehst. Ich weiß nicht, was ich mit einem Geist soll.«

»Das geht nicht«, antwortete Albert.

Ludmilla fand es merkwürdig, dass er einfach mitten im Raum stehen blieb, direkt neben ihren Umzugskartons. Dann kam ihr der Gedanke, dass der Junge vielleicht einfach gar nicht sitzen konnte.

Ihre Haare tropften auf ihre Bettwäsche, aber sie beachtete es nicht. Jetzt war sie neugierig und wünschte sich beinahe, dass all das hier nicht die Folgen einer schweren Gehirnerschütterung waren.

Im Ernst, sie fand immer die Mädchen und Jungs in Büchern und Filmen blöd, die nie an fremde Wesen glauben wollten und sich vehement dagegen sträubten. Immer hatten sie und ihre beste Freundin Steffie sich geschworen, dass sie viel cooler darauf reagieren würden, wenn sie eines Tages erfuhren, etwas Besonderes zu sein oder auf übersinnliche Wesen trafen.

»Also, wenn du hierbleiben willst, dann musst du mir aber ein paar Fragen beantworten«, forderte sie.

»Schieß los«, sagte Albert.

»Du sagst, du bist nicht tot, aber ein Geist. Wie funktioniert denn das?«

»Ich bin eine … hm … Das ist schwer zu erklären.« Er fuhr sich durch das schwarze Haar, das für einen Geist ziemlich modisch geschnitten war. Seltsam.

»Versuch’s mal. Ich komme eh schon zu spät.« Ludmillas Panik war mittlerweile vollends in Neugierde umgeschlagen. Ein Geist! Bei ihr zu Hause!

»Wir sind … ein Gefühl. Eine starke Obsession. Eine Wahnvorstellung. Wir sind ein Teil der Menschen.«

»Das ist aber vage«, antwortete Ludmilla.

»Besser kann ich das nicht erklären. Sieh mal, warst du schon einmal verliebt?«

»Klar.« Normalerweise sprach sie nicht darüber, aber Albert war ja nur ein Geist … oder eben eine Krankheit, oder wenigstens eine Gehirnerschütterung.

»Manchmal wird das richtig heftig. Und manchmal wird es sogar krankhaft. Kennst du diese verrückten Teenies, die ihren Star anhimmeln und pausenlos an ihn denken?«

Ludmilla biss sich auf die Zunge. Hoffentlich sah er keinen Zusammenhang zwischen den Postern an ihrer Wand und dem, was er gerade gesagt hatte. Streng genommen schwärmte sie nämlich auch für einen Star, auch wenn es nur ein Formel-1-Fahrer mit dem schönen Vornamen Sebastian war.

»Wenn es ganz arg wird, dann wird ein Geist geboren. Und der bleibt bestehen, selbst wenn das Mädchen erwachsen wird und ihren Star vergisst.«

»Geister sind also Träume von verliebten Mädchen?«

»Nein. Nicht nur … War doch nur ein Beispiel. Aber ich bin so einer. Es gibt nicht nur Geister, die aus Liebe erschaffen wurden. Es gibt welche, die aus Rache erschaffen wurden. Manche aus einer fixen Idee, die den Menschen vollends beherrscht. Oder aus einem Wunsch. Und ganz selten auch mal einen, den ein Mensch erschaffen hat, weil er krank ist. Geisteskrank eben. Die sind ein wenig anstrengend, das gebe ich zu.«

»Wer … die?«

»Na, die Geister, die aus Geisteskrankheiten geboren wurden. Glaub mir, die sprechen kaum einen Satz geradeaus, und sie … Also, die riechen auch irgendwie streng.«

Ludmilla musste gegen ihren Willen lachen. Ihre Gehirnerschütterung war zumindest unterhaltsam. Wie auf Kommando bemerkte sie nun auch die dicke Beule auf ihrem Hinterkopf. Schade. Das hier klang so toll. Das konnte doch nicht nur an einem Sturz aufs Laminat liegen.

»Und was tust du jetzt bei mir?«, fragte sie.

»Hab ich doch schon zweimal gesagt. Deine Tante hat mich vor ihrem Tod hergeschickt.«

»Aber warum?«

»Weil du eine Everqueen bist.«

»Eine was?«

»Everqueen.« Er fuchtelte ungehalten vor seiner Stirn herum. »Krone! Parfum! Everqueen!«

Krone … Parfum … »Das hat mir Tante Nike hinterlassen«, sagte sie verblüfft.

»Ah, es klingelt wohl«, entgegnete Albert.

»Was ist eine Everqueen?«

»Deine Tante war eine. Sie kümmert sich um Geister. Weißt du, die können manchmal nicht so gut selbst auf sich aufpassen. Nicht alle, aber die meisten eben. Sie brauchen jemanden, der in der realen Welt hin und wieder hilft.«

»Was haben sie denn mit unserer Welt zu schaffen?«

»Na, was wohl? Sie wollen, dass man ihnen Gehör schenkt. Weißt du, wie unbefriedigend es für einen Geist ist, wenn er seinen Daseinszweck nicht erfüllen kann?«

»Aber du hast doch gesagt, dass sie Gefühle sind. Wie soll ich denn dabei helfen?«

»Ich sagte ja nicht, dass du allen helfen musst, aber die Everqueen kümmert sich schon immer um sie. Manchmal muss sie nur Streit schlichten oder ihnen eine neue Bleibe suchen. Oder eine neue Aufgabe. Sie verändern. Das lernst du mit der Zeit. Deine Tante war eine ganz vorzügliche Everqueen.«

»Wie kann man denn Geistern helfen? Kann ich den Menschen, der dich erschaffen hat, dazu bringen, mit seinem Star zusammenzukommen? Nebenbei … was war denn das überhaupt für ein Star?«

Jetzt grinste Albert sogar. »Das klappt eh nicht, meine Schöpferin ist schon sehr lange tot. Wirklich lange.«

»Und in wen war sie verliebt?«, fragte Ludmilla neugierig.

»In Mozart.«

»Was?«

»Du kennst Mozart nicht?«

»Doch, natürlich … aber …« Ludmilla wollte sich jetzt nicht die Blöße geben, Albert zu fragen, wie lange seine Schöpferin schon tot war, denn sie konnte sich an Mozarts Geburtsdatum überhaupt nicht erinnern. Dabei war sie sich sicher, das im Musikunterricht schon mal gehört zu haben.

»Die, die also Mozart angehimmelt hat, hat dich erschaffen?«, fragte sie noch einmal nach. »Das klingt ja echt merkwürdig. Wie würde man dir denn helfen können?«

»Gar nicht. Mein Schöpfer ist tot, ich kann mich nicht mehr verändern, und ich bin deswegen nicht einmal böse.«

»Ein Geist kann sich nur verändern, wenn der, der ihn erschaffen hat, noch lebt?«

Albert nickte. »Ja. Dann kann er seinen Schöpfer noch beeinflussen. Mit denen muss man manchmal sprechen, sonst machen sie die Menschen total verrückt.«

»Und das ist meine Aufgabe?«

Er nickte erneut.

»Weil ich diese Tasche habe?«

»Du hast diese Tasche, weil du eine Everqueen bist«, erwiderte Albert kryptisch. »Das liegt bei euch in der Familie.«

»Ähm …«, machte Ludmilla. »Und wie geht das jetzt weiter?«

»Tja … am besten gewöhnst du dich daran, dass du jetzt Geister sehen kannst. Du ziehst sie gewissermaßen sogar an. Das Parfum sorgt dafür.«

»Und wenn es leer ist?«

»Kann nicht passieren.«

Ludmilla betastete ihre Frisur. Die Hälfte ihrer Haare war nass und klebte an ihrer Kopfhaut. »Und was ist mit dir?«

»Hat sich so ergeben, dass ich mich seit ein paar Jahrhunderten um die neue Everqueen kümmere. Und ihr ein bisschen helfe. Manche Geister sind sehr aufdringlich.«

»Gibt es noch mehr von meiner Sorte?«

»Weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich habe jedenfalls nie gleichzeitig eine zweite kennengelernt.«

»Und was muss ich jetzt tun?«

»Nichts. Das ergibt sich einfach so.«

»Das ist aber mal vage. Ich dachte, du machst das schon ein paar Jahrhunderte. Im Erklären bist du nicht gerade gut.«

»Sonst noch was zu meckern?«, entgegnete Albert säuerlich.

»Nein, nein«, antwortete Ludmilla schnell. »Ich kann mir das nur gar nicht so richtig vorstellen.« Dann fiel ihr etwas anderes ein. »Was ist mit den anderen Gegenständen aus Tante Nikes Erbe?«

»Das sage ich dir dann, wenn du sie benutzen musst.«

Toll … echt. So war das in den Phantastik-Büchern oder -Filmen auch immer. Es wurde etwas angedeutet, aber wenn man dann neugierig wurde, nicht erklärt. Unfair!

»Okay, Albert. Und was ist mit dir? Bleibst du jetzt hier?«

Er nickte. »Ich müsste das nicht. Aber es gibt nur Chaos, wenn ich es nicht tue. Vor Ewigkeiten wollte eine Everqueen mich nicht im Haus haben. Sie ist irgendwann wahnsinnig geworden und von einer Brücke gesprungen.«

Ludmilla schauderte. Das klang aber nicht eben nach einem coolen Job. »Warum denn das?«

»Weil die Geister ungefragt in ihr Haus gekommen sind. Einfach so, wie sie wollten.«

»Das bist du auch.«

»Geht ja nicht anders, es gibt immer ein erstes Mal.«

»Ja, aber ich verstehe nicht … Irgendwann muss sie sich doch daran gewöhnt haben.«

»Waren keine besonders netten Geister zu dem Zeitpunkt unterwegs«, entgegnete er düster.

»Ich verstehe nur Bahnhof. Kannst du das nicht vernünftig erklären?«, versuchte Ludmilla ihn zu überreden.

»Sagt dir das Dritte Reich etwas?«

»Ja, in Geschichte sprechen wir nie über etwas anderes.«

»Weißt du, der Geist, der aus Hitlers Gedankengut entsprungen ist, der ist echt nicht … Also … das musst du selber sehen. Und es gibt viele Geister aus dieser Zeit.«

»Auszeit … Hitlers Geist wird mich heimsuchen?«

Ungeduldig schüttelte Albert den Kopf. »Nein, nicht sein Geist. Aber der Geist, der aus der Idee geboren wurde, in Polen einzumarschieren. Oder der andere, der daraus entstanden ist, dass er Juden zu Sündenböcken machte. Und dann gibt es da noch die jüdischen Geister – Rachegeister … Ich sag’s dir, das sind alles düstere Genossen.«

»Aber das ist doch alles so lang her. Warum sind sie denn noch da?«

»Na, weil wir uns irgendwann zwangsläufig von unserem Schöpfer lösen müssen. So ist eben das Gesetz.«

»Verschwinden manche von ihnen auch einfach wieder?«

Albert nickte. »Die, die nicht stark genug sind, um ohne ihren Schöpfer zu überleben, die verschwinden einfach wieder und lösen sich auf.«

»Das ist ganz schön verwirrend«, murmelte Ludmilla. »Sag mal … kannst du dich nicht setzen? Oder willst du nicht? Es macht mich ganz nervös, wenn du da so stehst.«

»Ich könnte so tun, als ob«, antwortete er und ließ sich in einer merkwürdigen Position auf ihrem Schreibtischstuhl nieder, die Füße beide auf der Sitzfläche, die langen Beine angewinkelt und den Oberkörper hinuntergebeugt, wie ein Buckliger. Ob er wohl noch nie irgendwo gesessen hatte? Na ja, vielleicht ging das als Geist auch gar nicht.

»Können andere euch sehen? Oder fühlen oder so etwas?«, fragte sie, weil ihr etwas Neues eingefallen war.

»Nein. Manche Menschen sind ein wenig sensibler, die können ein bisschen was fühlen, aber mehr auch nicht.«

Erneut warf Ludmilla einen Blick auf die Uhr. Sie sprach bereits seit einer Stunde mit Albert. Oh Mann, ihre Mutter würde ausflippen, wenn sie erfuhr, dass Ludmilla heute die Schule geschwänzt hatte. Andererseits konnte sie ihr ja eine weinerliche Geschichte von einem gemeinen Treppensturz auftischen; die Beule war schließlich immer noch da.

»Albert, kann ich dich noch etwas fragen?«

»Erwartungsgemäß kannst du das, ja.« Er fuchtelte mit beiden Händen über ihrem Schreibtisch herum, als wolle er sich die verschiedenen Gegenstände ansehen, aber nicht einmal einen Bleistift konnte er hochheben.

»Solltest du dich damit nicht abgefunden haben?«, fragte sie vorsichtig.

Albert zuckte mit den Schultern. »Manche können Sachen bewegen. Ich nicht …«