Der Bergpfarrer – 455 – Der Ruf des Blutes

Der Bergpfarrer
– 455–

Der Ruf des Blutes

… doch ihr Vater will nichts von ihr wissen

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-678-6

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Marlies Landgraf war eine junge Frau von einundzwanzig Jahren, blondhaarig und sehr hübsch, der Blick ihrer blauen Augen war strahlend und offen. Alles in allem eine ausgesprochen sympathische Erscheinung, und bei ihrem Anblick schlug so manches Männerherz höher.

Kaum ein Mann konnte sich ihrer faszinierenden Ausstrahlung entziehen.

Sie lebte in Bozen. Bis vor vier Tagen war die Welt für Marlies noch in Ordnung gewesen. Vor vier Tagen in der Früh jedoch hatte ihr Vater tot im Bett gelegen. Er hatte in der Nacht einen Herzstillstand erlitten. Fred Landgraf war gerade mal neunundvierzig Jahre alt geworden.

An diesem Tag hatten sie ihn zu Grabe getragen. Die Beerdigung hatte im engsten Familienkreis stattgefunden. Nach dem Leichenschmaus waren Marlies und ihre Mutter zu deren Wohnung zurückgefahren. Natürlich war auch für Augusta Landgraf eine Welt zusammengebrochen. Ihre Augen waren verquollen und gerötet vom vielen Weinen. Sie war psychisch am Ende. Daher hatte Marlies, die eine eigene Wohnung in Bozen bewohnte, beschlossen, die kommende Nacht und vielleicht noch ein paar weitere Tage bei ihrer Mutter zu bleiben, um ihr beizustehen und Trost zu spenden.

Augusta Landgraf, Marlies’ Mutter, war sechsundvierzig Jahre alt. Ihre dunklen Haare ließen nun ihr Gesicht blass wirken, denn Trauer und seelischer Schmerz hatten in den vergangenen Tagen Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, und sie schien seit dem Tod des geliebten Mannes um Jahre gealtert zu sein.

Es war Abend und die beiden Frauen saßen im Wohnzimmer. Vor jeder stand ein Glas voll Mineralwasser auf dem niedrigen Tisch mit der Glasplatte. Marlies hatte lediglich die indirekte Beleuchtung angeschaltet und so war es verhältnismäßig düster in dem Raum. Und diese Düsternis verstärkte den verhärmten Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter.

Beide hingen ihren Gedanken nach. Der Tod Fred Landgrafs war völlig unvermutet gekommen, wie aus heiterem Himmel. Umso größer waren Fassungslosigkeit und Betroffenheit bei allen gewesen. Denn Fred Landgraf schien kerngesund zu sein.

Die Stille in dem Wohnzimmer war fast lastend. Immer wieder warf Augusta Landgraf ihrer Tochter verstohlene Blicke zu. Sie hatte etwas auf dem Herzen, etwas brannte ihr auf der Zunge – das war deutlich zu erkennen.

In ihren müden Zügen arbeitete es. Es war, als musste sie eine innere Hemmung überwinden.

Nun, es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis sie sich überwinden konnte. Obwohl sie leise sprach, sprengte ihre Stimme die Stille, als sie sagte: »Ich muss dir etwas sagen, Marlies. Jetzt, da Fred tot ist, bin ich es dir schuldig, die Wahrheit zu sagen.«

Verständnislos musterte Marlies ihre Mutter. »Welche Wahrheit?«, fragte sie zaghaft und zugleich völlig verunsichert. »Hast du mir etwas verschwiegen, etwas, das vielleicht wichtig für mich ist?«

Sowohl Marlies als auch ihre Mutter sprachen deutsch. Marlies sprach darüber hinaus perfekt italienisch.

Augusta starrte versonnen vor sich hin. Formulierte sie ihre nächsten Worte im Kopf, oder wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte? Vielleicht zweifelte sie, ob sie überhaupt fortfahren sollte.

Aber Marlies’ fast zwingender Blick war auf sie gerichtet, jeder Zug im ebenmäßigen Gesicht der Einundzwanzigjährigen drückte erwartungsvolle Anspannung aus, und als ihre Mutter über Gebühr lange schwieg, drängte sie: »Nun sprich schon endlich, Mama. Von welcher Wahrheit ist die Rede? Du hast A gesagt, nun musst du auch B sagen. Bitte, spann’ mich nicht so auf die Folter.«

Augusta atmete seufzend durch und sie stieß hervor: »Fred war gar net dein leiblicher Vater.«

Marlies starrte ihre Mutter ungläubig an. »Er war net mein Vater?«

»Nein. Er hat die Vaterrolle bei dir übernommen; ohne Wenn und Aber, und er hat dir sogar seinen Namen gegeben. Fred hat dich geliebt wie sein eigen Fleisch und Blut. Aber dein wirklicher Vater ist ein anderer.«

Marlies’ Verstand schien zu blockieren. Ihre Lippen zuckten, sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimmbänder versagten.

Augusta hatte die Augen jetzt gesenkt; sie konnte jetzt dem geradezu verzweifelten Blick ihrer Tochter nicht mehr standhalten.

Ihr ganzes Leben lang hatte Marlies geglaubt, dass Fred Landgraf ihr Vater sei. Sie hatte zu ihm aufgeblickt, er war immer ihr Held gewesen, sie konnte mit ihren Sorgen immer zu ihm kommen, auch noch, als sie schon erwachsen war. Er hatte immer ein offenes Ohr für sie gehabt, immer einen guten Ratschlag oder tröstende Worte.

Dann war er eines Morgens tot im Bett gelegen, und sie, Marlies, hatte sich fast die Augen ausgeweint. Und nun musste sie erfahren, dass in ihren Adern gar nicht sein Blut floss.

Sie glaubte, aus allen Wolken zu fallen und war völlig perplex. Marlies war bis in ihren Kern erschüttert. Denn nach und nach begriff sie die Tragweite dessen, was ihr ihre Mutter endlich anvertraut hatte. Sie strich sich mit einer fahrigen Geste über die Augen, räusperte sich und murmelte: »Fred war für mich der beste Papa, den ich mir nur denken kann. Er wird immer mein Vater sein. Wer auch immer mein wirklich Vater ist, der Platz in meinem Herzen, den ich für meinen Papa reserviert habe, gehört Fred.«

Ihre Mutter begann leise zu weinen. »Ich hätt’ dich vielleicht net einweihen sollen, Marlies. Aber ich hab’ mir gedacht, es wär’ wichtig für dich zu wissen, dass du von einem ganz anderen Mann abstammst als dem, den du immer für deinen Erzeuger gehalten hast. Es – es war ein reicher Bauernsohn aus St. Johann im Wachnertal. Das ist ein kleiner, beschaulicher Ort net weit von Garmisch-Partenkirchen entfernt. Ich war damals dort als Haushaltshilfe und Magd beschäftigt.«

Marlies schaute ihre Mutter stumm an. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Sie war noch immer dabei, es zu verarbeiten.

»Ich hab’ mich mit dem Sohn des Bauern eingelassen. Natürlich hielten wir unser Verhältnis geheim, denn sein Vater hätte nie im Leben geduldet, dass sein Sohn ein armes Madl wie mich zur Bäuerin auf dem reichen Hof macht. Eine Liebesbeziehung zwischen dem Matthes und mir hätte er nicht zugelassen.«

»Und dann bist du schwanger geworden«, murmelte Marlies, die endlich ihre Sprache wieder gefunden hatte.

»Ja.«

»Und dann?«

»Ich hab’s dem Matthes gesagt. Er hat einen Tobsuchtsanfall gekriegt und sofort abgestritten, dass das Kind von ihm sei. Er hat mich als die Allerschlechteste hingestellt und mir ins Gesicht gesagt, dass ich mir einen Vater für mein Kind suchen solle, wo ich wolle, aber net auf dem Raschbichlerhof. Er hat mir noch eine ganze Menge Unverschämtheiten an den Kopf geworfen und mir sogar gedroht. Ich könnt’ was erleben, hat er gesagt, wenn ich seinen Eltern auch nur ein Sterbenswort von meiner Schwangerschaft und unserem Verhältnis erzählen würd’.«

»Und du hast dich einschüchtern lassen, wie?«

»Ich war jung und naiv. Bei Nacht und Nebel hab’ ich den Hof und St. Johann verlassen, wie eine Diebin hab’ ich mich davongeschlichen. Per Anhalter bin ich durch Österreich, über’n Brenner und schließlich bin ich in Bozen gelandet. Hier hab’ ich kurze Zeit wieder als Hauswirtschafterin gearbeitet, aber dann hab’ ich den Fred kennengelernt, und der hat akzeptiert, dass ich das Kind von einem anderen unter’m Herzen trag’. Er war ein guter Ehemann und Vater. Wahrscheinlich war er zu gut für diese Welt, weil er so bald hat sterben müssen.« Augusta schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.

»Hab’ ich dich richtig verstanden, Mama? Mein leiblicher Vater heißt Matthes Raschbichler und lebt in St. Johann?«

»Tatsächlich heißt er Matthias. Aber alle nennen s’ ihn nur Matthes. Er ist acht Jahre älter als ich und müsst’ so um die vierundfünfzig sein. Ich hab’ nie wieder was gehört von ihm. Vielleicht lebt er gar nimmer. Ich weiß nix – gar nix.«

»Matthias Raschbichler«, murmelte Marlies wie im Selbstgespräch vor sich hin. Sie starrte auf einen unbestimmten Punkt im Raum, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Nach einer ganzen Weile stieß sie hervor: »Für mich war das, was du mir eben gebeichtet hast, Mama, wie ein Schlag ins Gesicht. Aber wie gesagt: Fred ist und bleibt mein Vater. Dennoch bin ich dir dankbar, dass du mich net länger im Unklaren gelassen hast.«

Augusta fing wieder an zu weinen. Sie besaß nur noch ein recht dünnes Nervenkostüm nach allem, was in den vergangenen Tagen auf sie eingestürmt war. Die Sechsundvierzigjährige war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und nun hatte sie ihrer Tochter auch noch ein Geständnis gemacht, das möglicherweise deren ganzes Leben auf den Kopf stellte. Sie trug schwer an den Lasten, die das Schicksal ihr auferlegt hatte.

Marlies blieb es nicht verborgen. Einem jähen Impuls folgend erhob sie sich, ging zu ihrer Mutter hin, zog sie mit sanfter Gewalt vom Sessel in die Höhe, schloss sie in die Arme und küsste sie auf die Wange. »Wein’ net, Mama. Das Leben geht weiter. Du darfst die Flinte net ins Korn werfen. Dazu bist du noch viel zu jung. Du wirst es sehen: Alles wird wieder gut. Alles …«

*

Sophie Tappert verließ den kleinen Supermarkt. Es war zehn Uhr vorbei und sie hatte noch nicht einmal mit dem Kochen angefangen, weil sie einige Zutaten erst im Supermarkt beschaffen hatte müssen. In zwei Stunden aber würde schon Max, der Bruder des Pfarrers, zum Mittagessen erscheinen, und auch Sebastian würde mit knurrendem Magen am Tisch sitzen und auf das Mittagsmahl warten.

Als sie Maria Erbling, die Witwe des früheren Poststellenleiters von St. Johann auf ihrem altmodischen Fahrrad kommen sah, verdrehte sie die Augen und dachte: ›Die schon wieder! Kann ich denn net zum Einkaufen gehen, ohne dass mir das alte Tratschweib in die Händ’ rennt. Was wird’s denn heut’ wieder alles wissen? Na ja, allzu lang gib ich mich net ab mit ihr.‹

Da war die Erbling schon heran, sprang von ihrem Fahrrad und rief: »Grüß Sie Gott, Frau Tappert! Sagen S’ mal, bin ich Ihnen was schuldig? Sobald ich aus dem Haus geh’, um einzukaufen, treff’ ich Sie.«

›Das kommt mir auch so vor!‹, durchfuhr es Sophie. »Tja«, sagte sie, »in St. Johann kann man sich halt kaum aus dem Weg gehen. Jetzt muss ich aber machen, dass ich heimkomm’, denn mittags kommt der Max und da muss ich ein Essen auf den Tisch bringen können.«

»Der wird net gleich vom Fleisch fallen«, versetzte Maria Erbling. »Ist Ihnen was zu Ohren gekommen, Frau Tappert, dass die Moser Tanja und der Enkel von der alten Hohenegger Traudl ein Paar sind?«

»Nein, davon weiß ich nix.«

»Kürzlich hat man die beiden einträchtig nebeneinander aus dem Dorf spazieren sehen. Und als sie zurückgekommen sind, sollen sie sogar Händchen gehalten haben.«

Sophie Tappert zuckte mit den Achseln. »Und wenn schon: Die beiden sind doch alt genug für so was. Und ein schönes Paar würden s’ auch abgeben. Ich find’ daran nix Schlimmes.«

»Und was ich noch gehört hab’: Die alte Traudl lässt die obere Wohnung herrichten. Haben S’ eine Ahnung, Frau Tappert, wer da einziehen wird? Der Harald lebt doch in Innsbruck, und die Moser Tanja hat doch auch ihre Wohnung.«

»Ich hab’ keine Ahnung, Frau Erbling.« Sophie wusste sehr wohl, dass Dr. Severin Kaltenecker die Wohnung im Haus der Traudl Hohenegger gemietet hatte. Aber sie hütete sich, der Erbling ein Sterbenswort darüber zu sagen. Das hätte Ratsch und Tratsch Tür und Tor geöffnet. Denn Maria Erbling war dafür bekannt, dass sie alles, was sie hörte, unverzüglich verbreitete. Wollte man, dass sich etwas besonders schnell herumsprach, brauchte man es nur der Maria Erbling unter dem Siegel der Verschwiegenheit anzuvertrauen.

Maria Erblings Augen glitzerten. »Da bin ich gespannt, wer bei der Traudl einzieht. Sie wird sich doch auf ihre alten Tag’ net noch einen Hausfreund angelacht haben.«

»Wenn ich mir alles Mögliche vorstellen kann«, versetzte Sophie Tappert, »das net. Irgendwann werden S’ es schon erfahren, warum die Traudl die Wohnung renovieren lässt.« Im Geiste fügte Sophie hinzu: ›Und dann hast wieder was zum Erzählen, alte Tratsch’n. Wie kann man sich bloß den ganzen Tag mit anderen Leut’n beschäftigen?‹

»Ich hab’ auch gehört, dass der Ulrich zweimal da gewesen sein soll. Beim zweiten Mal soll er ziemlich wutentbrannt davongefahren sein. Die Weißgerber Kathl hat’s mir erzählt. Die Traudl hat ihr schon mal angedeutet, dass der Ulrich Geld von ihr wollt’. Wegen Geld wird er sie wohl wieder angepumpt haben, aber die Traudl hat ihm scheinbar was gepfiffen.«

»Ich hab’ keine Ahnung«, erklärte Sophie Tappert. »Interessiert mich auch net. Es wird immer gleich so viel vermutet und geredet.«

»Man red’t ja net, man sagt ja bloß. Und im Grund’ ist’s mir auch wurscht«, behauptete Maria Erbling. »Es ist je net so, dass ich’s unbedingt wissen müsst’, weil ich neugierig wär’.

»Haargenau, Frau Erbling. Jetzt muss ich aber weiter. Das Essen …«

*