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Kurt Kardinal Koch/Robert Biel

Was nun,
Herr Kardinal?

Gespräche über Kirche
und Gesellschaft

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1. Auflage 2018

© 2018 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © KNA-Bild

Satz: Finken & Bumiller, Stuttgart

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín, Tschechische Republik

www.bibelwerk.de

eISBN 978-3-460-51041-8

Inhalt

Einführung

I.Aus dem Stammbuch eines Kardinals …

II.Der Weg nach Rom

III.Im Dienst der Päpste

IV.Interreligöse Konflikte

V.Europa an der Schwelle des dritten Jahrtausends

VI.Die Kirche am Karsamstag

VII.Brennpunkte der Kirchenkrise heute

VIII.Reformation oder Reform?

IX.Mut zum Neuen und Unerprobten

X.Zukunft der Kirche und Kirche der Zukunft

Einführung

Rom. Eine Wohnung in der Nähe des Palazzo del Sant’Uffizio, dem Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre, unmittelbar im Schatten des Petersdoms. Es ist die Wohnung von Kardinal Kurt Koch, in der ich zu Gast bin. Die Umgebung prägt die Grundhaltung der Gespräche: Sie verpflichtet beide Gesprächspartner zu Demut und Respekt, sodass ich mich fragte, ob ich ihm, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, wirklich alle Fragen stellen kann, die mich – und, wie ich weiß, viele andere Menschen – bewegen. Darf ich ihn, den Kardinal und „Kirchenfürsten“, zur Stellungnahme auffordern?

Bei all unseren Gesprächen, aus denen das vorliegende Buch entstanden ist, schuf mein Gastgeber ein zuvorkommend freundliches, offenes Klima. Für ihn, so sagte er, sei das uns Gemeinsame – die Priesterweihe – wichtiger als alle kirchlichen Titel, was mich veranlasste, auf die förmliche Anrede „Eure Eminenz“ zu verzichten. Und in dieser brüderlichen Atmosphäre fühlte ich mich ermutigt, auch schwierigere Fragen zu stellen, gemäß dem Motto „Was nun, Herr Kardinal?“ – brennende Fragen zu den Herausforderungen und Problemen, die sich der Kirche heute im 21. Jahrhundert stellen, sowie Fragen zur Zukunft der Kirche und ihren Weg. Die Atmosphäre eröffnete auch den Raum für persönliche Fragen, auf die Kardinal Koch mit einer Offenheit antwortete, die mich darin bestärkte, dass es „Kardinäle zum Anfassen“ gibt.

Kennengelernt hatte ich Kardinal Koch bereits in seiner Zeit als Bischof von Basel. Später, in seiner Zeit in Rom, durfte ich bei einigen Buchprojekten mit ihm zusammenarbeiten. Meine Habilitationsschrift, ausgehend von seinem theologischen Gedankengut verfasst, trägt den Titel: „Karsamstagskirche“1, was seine paschale Vision der Kirche wiedergibt. Kurt Koch reflektiert darin die sogenannte „Theologie der drei Tage“ – eine Denkspur, die ihn mit Hans Urs von Balthasar verbindet, einem anderen Luzerner Kardinal und großen Theologen des vergangenen Jahrhunderts. Diese Begegnungen im Felde der Wissenschaft waren für mich nicht nur anregungsreiche Abenteuer, sondern gelebtes Beispiel einer „Ekklesiologie der offenen Augen“, die von einer tiefen Liebe zur Kirche geprägt ist.

Die Liebe zur Kirche, manchmal „Trotzdem-Liebe“ zu einer menschlichen und öfters allzu menschlichen Kirche, durchzieht wie ein roter Faden das theologische Denken Kurt Kochs. Sie kommt auch in den in diesem Buch versammelten Gesprächen zum Ausdruck. Dem entspricht das Bemühen, in allen theologischen Diskursen und Debatten stets den symphonischen, menschenfreundlichen Klang der christlichen Botschaft durchhörbar zu machen. In diesem Sinne lässt sich Kurt Kochs theologisches Werk auch als „symphonische“ Theologie beschreiben. Nicht zuletzt deshalb haben Etikettenmeister es schwer, ihn einzusortieren, ihn als entweder progressiv oder konservativ abzustempeln. Dem „Grunddreiklang“ der Kirche – Martyria, Leiturgia, Diakonia – entlockt Kurt Koch in der ihm eigenen Virtuosität jene Töne, welche die symphonische Stimmigkeit der christlichen Botschaft unmittelbar spüren lassen.

Januar 2017, Robert Biel

1Vgl. R. Biel, Kościół Wielkiej Soboty. Paschalna wizja Kościoła według Kardynała Kurta Kocha, Tarnów 2012.

Zur Person

Kurt Koch, geboren am 15. März 1950 in Emmenbrücke (Kanton Luzern), nach Studien in München und Luzern Seelsorgetätigkeit, zunächst als Laientheologe, ab 1982 dann als Priester. Von 1989 bis 1996 Professor für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Luzern. Im August 1995 zum Bischof des Bistums Basel gewählt, Bischofsweihe am 6. Januar 1996 durch Papst Johannes Paul II., Wahlspruch: Ut sit in omnibus Christus primatum tenens – Christus habe in allem den Vorrang. Seit 1. Juli 2010 im Range eines Erzbischofs Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen. Seit November 2010 Kardinal und Mitglied verschiedener Kongregationen.

Zahlreiche nationale und internationale Publikationen. „Communio-Preis 2016 für Dialog, Verständigung und Versöhnung“ der Katholischen Akademie Schwerte und Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 2016.

Robert Biel, geboren in Radgoszcz (Südpolen), Priesterweihe in Tarnów (1991). Promotion zum Doktor der Theologie an der Theologischen Fakultät Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck. Habilitation an der Katholischen Universität Lublin (KUL), Thema: Karsamstagskirche. Die paschale Vision der Kirche nach Kardinal Kurt Koch. Seit 1997 Vorträge in Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät und im Priesterseminar in Tarnów. 1998–2006 Direktor des Diözesanverlags Biblos und 2003–2012 Bischofsvikar in der Diözese Tarnów. 2003–2012 zugleich Mitglied des Priesterrates und 2010 auch des Bischofsrates. 2008 und erneut 2013 Vorstand des CCPE (Arbeitsgemeinschaft der Priesterräte Europas). Mitglied des PosT-Netzwerkes der mittel- und osteuropäischen Pastoraltheologen und der Konferenz der polnischen Pastoraltheologen. International als Autor tätig; seine Bücher und Artikel erschienen in Deutschland, Österreich, Schweiz, Ungarn, Luxemburg, Kroatien, Bosnien, Slowakei sowie in Polen. Aushilfspriester in: Pontresina, Saastal und Zermatt. Zur Zeit tätig an der Katholischen Universität zu Lublin (KUL).

Quelle: Verlag Katholisches Bibelwerk

I. Aus dem Stammbuch eines Kardinals …

Nahperspektive – Weltkirche

Herr Kardinal, wir haben beide – wie der heilige Paulus schreibt – „unsere Heimat im Himmel“ – unsere irdischen Heimaten liegen hingegen recht weit voneinander entfernt: die Ihre ist die Schweiz, meine Polen. Einige „polnische“ Spuren lassen sich gleichwohl in Ihrer Vita entdecken …

Das ist eine überraschende Perspektive! Sie spielen vermutlich vor allem darauf an, dass ich am 6. Januar 1996 von Papst Johannes Paul II. zum Bischof geweiht worden bin. Ich war selbst überrascht, als ich die Sukzessionsreihe anschaute und dabei polnischen Namen begegnete. Ich wurde von Papst Johannes Paul II. am 6. Dezember 1995 zum Bischof von Basel ernannt und der Heilige Vater hat gewünscht, dass ich in Rom geweiht werde. Im Bistum Basel hat es damals einige Unruhe gegeben, dass die Weihe nicht in Solothurn stattfinden sollte. Auf der anderen Seite war es auch ein sehr schönes Zeichen: Man ist Bischof einer Diözese und zugleich Mitglied des Bischofskollegiums. In Rom vom Papst am Grab des heiligen Petrus zusammen mit sechzehn anderen Bischöfen aus aller Welt geweiht zu werden, war ein sehr schönes und tiefes Erlebnis.

Die Bischofsweihe in Rom hat dazu beigetragen, dass Sie sich von Beginn an als Teil der Weltkirche erfahren haben?

Ja, die Kollegialität der Bischöfe ist eine grundlegende Erkenntnis des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als Bischof ist man kein Einzelkämpfer. Gerade weil man als Bischof die Verantwortung für eine Diözese trägt, ist man Mitglied des weltweiten Bischofskollegiums. Dass dies bereits bei der Weihe sichtbar wurde, hat mich und mein Verständnis des Bischofsamtes geprägt.

Lassen Sie uns zurückblicken in die Zeit, lange bevor Sie Bischof und später in Rom Kardinal geworden sind: Wann hat Kurt Koch begonnen, daran zu denken, Priester zu werden?

Der Gedanke daran entstand in der ersten Klasse der Grundschule. Mein erster Wunsch war, etwa mit drei Jahren, St. Niklaus zu werden, und dann, mit fünf Jahren, war Musikant mein Berufswunsch. Aber in der ersten Grundschulklasse, mit sieben Jahren, stand für mich fest, dass ich Priester werden wollte. In meiner Heimatpfarrei hatte ich einen sehr guten Pfarrer und es hat mir damals sehr imponiert, was er tat. Da dachte ich mir: „Was er macht, das möchte ich auch einmal sein und tun.“ Dieser Wunsch ist immer geblieben, bis heute. Es ist einer der schönsten Berufe, den man haben kann, auch auf verschiedenen Ebenen. Ich wollte zwar ursprünglich Pfarrer werden, was ich leider nie geworden bin. Denn ich bin als Lehrer an die Theologische Fakultät gekommen, dann Bischof und später Kardinal geworden. Aber für mich ist es entscheidend, dass man als Priester und Seelsorger für die Menschen da ist.

Gelassene Leidenschaft und leidenschaftliche Gelassenheit

Sie haben während Ihrer Amtszeit als Bischof erfahren müssen, wie schwer das bischöfliche Brustkreuz zu tragen ist. Es gibt sicherlich viele Gründe, die dazu beitragen, dass auch der Bischof leiden muss. „Es gilt, das Kreuz eines Bischofs in gelassener Leidenschaft und in leidenschaftlicher Gelassenheit zu tragen“, haben Sie einmal gesagt. Was ist darunter zu verstehen?

Ich kann vielleicht an die letzte Begegnung anknüpfen, die ich mit Papst Johannes Paul II. (1978–2005) vor seinem Sterben hatte. Als er mich fragte, wie es mir gehe, habe ich ihm geantwortet: „Wissen Sie, je länger ich Bischof bin, desto weniger kann ich jemanden verstehen, der das werden will!“ Darauf gab er mir zur Antwort: „Da haben Sie etwas sehr Wahres gesagt, aber es gibt immer noch einige, die das nicht einsehen wollen.“ Das Bischofsamt ist in der heutigen Situation gewiss keine leichte Aufgabe. Denn es ist ein Dienst an der Einheit in einer doch recht stark polarisierten Kirche und Gesellschaft. Dieser Dienst ist deshalb nicht einfach, aber er ist ein schöner Dienst und ihn auszuüben ist eine wichtige Aufgabe. Auch das Kreuz gehört zum Bischofsamt. Jesus selbst hat verheißen, dass wir in seiner Nachfolge auch an seinem Kreuz Anteil erhalten. Und wenn man das Bischofsamt ganz ernst nimmt, kommt die Kreuzesnachfolge von selbst zum Tragen.

Es gibt also kein Christentum ohne Kreuz und es gibt kein Bischofsamt ohne Kreuz?

Im ersten Johannesbrief gibt es die tiefe Stelle, bei der gesagt wird, dass Wasser, Blut und Geist zusammengehören (1 Joh 5,6). Johannes schärft diese Zusammengehörigkeit ein, weil die Gläubigen offenbar nur das Wasser der Taufe und nicht das Blut der Eucharistie beziehungsweise das Blut des Kreuzes als wichtig betrachten. Wenn man aber nur das Wasser der Taufe und nicht das Blut der Eucharistie will, entsteht ein „verwässertes“ Christentum. Und dann ist die Versuchung groß, das Wunder von Kana gleichsam auf den Kopf zu stellen: Während Jesus in Kana Wasser in Wein verwandelt hat, gibt es in der Kirche heute durchaus Tendenzen, den am Kreuz Jesu gekelterten und in der Eucharistie gegenwärtigen Wein wieder in Wasser zu verwandeln. Demgegenüber erinnert Johannes daran, dass es kein Christentum ohne Kreuz geben kann.

Das eigentliche Kreuz eines Bischofs besteht – Ihrer Meinung nach – in der „Sandwich“-Lage, in der sich der Bischof befindet. Er muss zwischen der eigenständigen Physiognomie seiner Ortskirche und seiner Einbindung in die Weltkirche stehen. Diese unvermeidliche Polarität dürfte heute zweifellos jenes Spannungsfeld ausmachen, unter dem ein Ortsbischof am meisten zu leiden hat.

Diese Spannung gehört wesentlich zur Struktur des Bischofsamtes. Der Bischof ist Bindeglied der Katholizität zwischen der Ortskirche, der er vorsteht und die er leitet, und der Universalkirche. Dies ist in der eigentümlichen Verfassungsstruktur der Katholischen Kirche begründet, die man am besten mit einer Ellipse mit zwei Brennpunkten vergleichen kann, nämlich der Einheit der Universalkirche und der Vielfalt der Ortskirchen. Der Bischof hat die Aufgabe, die Anliegen, Leiden und Freuden der Ortskirche in die Universalkirche und die Anliegen der Universalkirche in seine Ortskirche hineinzutragen. Heute besteht freilich bei nicht wenigen Gläubigen die Tendenz, diesen notwendigen Gegenverkehr nicht mehr sehen zu wollen, sondern nur noch eine Einbahnstraße in dem Sinn, dass der Bischof all das, was die Ortskirche beschäftigt, nach Rom tragen, nicht aber das, was die Universalkirche beschäftigt, in die Ortskirche hineintragen soll. Demgegenüber besteht die undelegierbare Verantwortung des Bischofs darin, den Dienst der Einheit zwischen der eigenen Ortskirche und der Universalkirche in beider Richtung wahrzunehmen.

„Christus hat in allem Vorrang“

Als Bischof wählten Sie den Leitsatz: Ut sit in omnibus Christus primatum tenens – Christus hat in allem Vorrang (Kol 1,18). Heute, als Kardinal und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, ziert dieser Spruch Ihr Wappen. Welche Bedeutung hat der Leitsatz für Sie?

Ich habe diesen Leitsatz gewählt, weil ich überzeugt bin, dass die tiefste Krise, die wir heute in der Kirche erleben, nicht eine Krise der Kirche, sondern eine Krise des Christusglaubens ist. Diese Krise besteht im Kern darin, dass viele Christen in Jesus Christus durchaus seine menschliche Seite wahrnehmen und ihn als guten Menschen erkennen und anerkennen, dass es ihnen aber schwerfällt, den christlichen Glauben zu bezeugen, dass Jesus Christus der eingeborene Sohn Gottes ist und dass die Kirche mit diesem Glauben an Jesus Christus steht oder fällt. Um dies in Erinnerung zu rufen, dass Kirche ohne Christus keinen Sinn macht und dass Christus in allem den Vorrang haben muss, habe ich den Satz aus dem Kolosserbrief zu meinem bischöflichen Leitwort gewählt. Dieses Wort behält auch heute seine Aktualität in meiner Verantwortung für die Ökumene. Denn ich bin überzeugt, dass wir Christen nur zueinanderfinden, wenn wir uns gemeinsam in den Glauben an Jesus Christus vertiefen. Je näher wir zu Christus kommen, desto näher werden wir auch zueinanderkommen. Es ist der entschiedene Wille unseres gemeinsamen Herrn, dass seine Jünger eins sein sollen. Wenn wir dem Willen des Herrn treu bleiben wollen, gibt es zur Ökumene keine Alternative. Von daher ist der bischöfliche Leitsatz jetzt auch in meiner ökumenischen Verantwortung sehr wichtig.

Ich sehe auf Ihrem Kardinalswappen drei Kochlöffel, einen Stab, in der Mitte einen dreiblättrigen grünen Zweig und eine Friedenstaube. Könnten Sie die Bedeutung erklären?

Die Kochlöffel weisen auf meinen Namen hin. Der Stab gibt den Baslerstab wieder. Ich wollte dieses Zeichen bewahren, da ich Bischof von Basel war, als Papst Benedikt XVI. mich berufen hat, nach Rom zu kommen. Als besonderes Zeichen für die ökumenische Verantwortung, die mir übertragen ist, habe ich die Taube mit dem grünen Zweig gewählt, und zwar als Zeichen dafür, dass der Kern der ökumenischen Aufgabe im Dienst am Frieden unter den Christen und zwischen den Kirchen besteht. Ökumene ist Versöhnungsarbeit, um auf diesem Weg die Einheit der Christen zu fördern.

Als Bischof haben Sie Ihr Wappen. Auch Adelige haben meistens ein Familienwappen und es ist in adeligen Kreisen üblich, dies zu zeigen. Sie haben in diesem Zusammenhang einmal geschrieben, dass wir als Christen eigentlich alle adelig sind, weil wir „von der Geburt zum Tod“ heißen.

Ja, wir leben „von und zu“: von der Geburt zum Tod und von der Wiege bis zum Grab. Dies ist die adelige Natur des Menschen, freilich in einem theologischen und nicht genealogischen Sinn. Denn dieser Adel ist allen Menschen gemeinsam.

II. Der Weg nach Rom

Abschied von Basel

Bevor Sie nach Rom berufen worden sind, waren Sie Bischof in Basel. Bereits Papst Gregor XVI. (1831–1846) soll geseufzt haben, dass „die Diözese Basel die schwierigste der Welt“ sei! Hirtendienst in der Kirche in der Schweiz, die ihre „Bräuche und Missbräuche“ hat, ist sicherlich keine leichte Aufgabe.

Sie beziehen sich auf eine Aussage von Papst Gregor XVI., der seinem Legaten in der Schweiz den Rat mitgegeben hat, man müsse die guten Bräuche der Schweizer schätzen, aber man müsse leider auch ihre Missbräuche tolerieren. Diese Aussage wurde freilich in einer schwierigen, kulturkämpferischen Zeit gemacht. Zudem dürfte es sich nicht einfach um einen Sonderfall der Schweiz handeln. Jedes Land hat wohl seine Bräuche und Missbräuche. Und in jedem Land dürfte die Gefahr gegeben sein, dass man zwischen Bräuchen und Missbräuchen nicht unterscheiden, sondern auch die Missbräuche als gute Bräuche betrachten will.

Es gibt aber immer noch so etwas wie eine helvetisch-katholische Kirche oder besser gesagt eine helvetische Art, Kirche zu sein.

Es ist eine Grundversuchung der Kirche in jedem Land, das Katholische mit der eigenen Nation zu identifizieren. Dahinter steht zunächst durchaus ein positives Anliegen. Denn die entscheidende Herausforderung für eine gute Weitergabe des Glaubens besteht darin, dass es zu einer fruchtbaren Inkulturation in dem Sinne kommt, dass der Glaube in die jeweilige Kultur eingepflanzt werden kann. Zum Problem wird dieser Vorgang dann, wenn eine Kirche sich ganz mit der eigenen Kultur identifiziert und sich abschottet und nicht mehr offen ist im Geben und Nehmen im Hinblick auf andere Weisen des kirchlichen Lebens. Doch auch diesen Fehler dürfte es nicht nur in der Schweiz geben. Es kann in diesen Sinn auch eine „polnisch-katholische“ oder „slawisch-katholische“ Kirche geben.

Ist es Ihnen schwergefallen, das Bistum Basel zu verlassen? Als Bischof von Basel haben Sie oft von den „zeitraubenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Polarisierungen“ in der Diözese gesprochen. Angesichts der Bedingungen, unter denen der Bischof von Basel seine Aufgaben wahrnehmen musste, haben Sie sich auch die Frage stellen müssen, ob Ihnen dies noch weitere 15 Jahre „ohne Ermüdungserscheinungen“ möglich wäre. In diesem Zusammenhang ist verständlich, dass Sie Basel vermutlich mit einem weinenden und einem lachenden Auge verlassen haben …

Natürlich war es nicht einfach, nach fünfzehn Jahren Verantwortung als Leiter des Bistums Basel die Diözese zu verlassen – trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die es gegeben hat. Auf der anderen Seite wäre es auch eine Herausforderung für mich und für die Diözese gewesen, nochmals fünfzehn Jahre Bischof von Basel, also insgesamt dreißig Jahre, zu sein. Von daher war es auch eine gewisse Erleichterung, als Papst Benedikt XVI. mich nach Rom berief, um die Verantwortung für den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen zu übernehmen. Ich habe zwar zunächst ein bisschen gezögert und ihm gesagt, dass ich überrascht sei, weil er doch sicher wünsche, dass ich in Basel bleibe. Doch er gab mir zur Antwort: „Das stimmt, doch fünfzehn Jahre genügen.“ Mit der Berufung nach Rom nochmals etwas Neues beginnen zu können, war deshalb auch eine schöne Herausforderung.

Aber Sie haben sicher immer noch viele guten Kontakte mit Basel. Ecclesia Basilea ist doch Ihre Braut.

Die Diözese bleibt natürlich in meinem Herzen und in meinem Denken. Es kommen auch immer wieder Menschen aus der Diözese Basel und überhaupt aus der Schweiz, die nach Rom pilgern, zu Besuch zu mir, sodass es viele Begegnungen gibt. Auf der anderen Seite muss ich selbst achtgeben, dass ich nicht zu häufig in der Schweiz bin und auch nicht alle Einladungen annehmen kann, weil mein Verantwortungsgebiet jetzt die ganze Welt ist. Zudem sollte man nicht, wie auch jeder Pfarrer, der seine Pfarrei verlassen hat, immer wieder an seinen ehemaligen Wirkungsort zurückkehren. Dies gilt auch für einen Bischof, obwohl ich mit meinem Nachfolger als Bischof von Basel in einer sehr guten Beziehung stehe.

Mehr Demokratie in der Kirche?

Sie verkörpern in sich zwei Wege der kirchlichen Amtsübernahme: Sie wurden – aufgrund eines alten Konkordats – zum Bischof gewählt und zum Vorsitzenden des Päpstlichen Rates ernannt. Ich denke, Ihre demokratische Wahl zum Bischof hat paradoxerweise mehr Aufsehen erregt als die undemokratische Ernennung. Was befürworten Sie in der Kirche: demokratische Wahlen oder Ernennungen?

Bei meiner Ernennung zum Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen habe ich viele Zeichen der Freude erfahren, auch darüber, dass ein Schweizer diese Aufgabe übernehmen kann. Es gab auch negative Stimmen, die sich dahingehend geäußert haben, dass sie froh sind, dass ich endlich die Schweiz verlasse …

Nun zu Ihrer Frage: Die Kirche kann natürlich ihrem Wesen gemäß keine Demokratie sein, und zwar bereits deshalb nicht, weil nicht über alles abgestimmt werden kann. Die Kirche lebt auf dem Fundament des Evangeliums und des apostolischen Glaubens, die ihr vorgegeben sind. Wir können nicht demokratisch darüber abstimmen, ob Jesus auferstanden ist oder nicht. Auf der anderen Seite können auch in der Kirche Formen der demokratischen Mitbestimmung durchaus Platz haben, wie dies auf der höchsten Ebene der Fall ist, nämlich bei der Papstwahl, bei der nach einer Mehrheit entschieden wird, oder eben auch bei der Wahl des Bischofs von Basel.

Heute sind – besonders in den westlichen, demokratisch geprägten Gesellschaften – immer lautere Stimmen zu hören, die sagen, dass die Kirche demokratischer werden sollte …

Nach meiner Überzeugung muss die Kirche nicht demokratischer, sondern synodaler werden. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Denn Demokratie ist das Verfahren zur Ermittlung von Mehrheiten, während Synodalität das Bemühen darstellt, bei einem Problem zu Entscheidungen zu kommen, die nicht mehrheitlich, sondern einmütig gefasst werden. In diesem Sinn braucht die Katholische Kirche mehr synodale Gefäße, was auch Papst Franziskus sehr am Herzen liegt. In seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ (2013) hat er betont, dass Ökumene bedeute, voneinander zu lernen, und dass wir auch und gerade von den Orthodoxen Kirchen mehr Synodalität lernen können. Denn die Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden, die gemeinsam auf dem Weg sind (synodos), und eine Gemeinschaft, die zugleich synodal und hierarchisch verfasst ist. Dabei handelt es sich nicht um einen Gegensatz. Ein gesundes Gleichgewicht zwischen Synodalität und Hierarchie zu finden, ist vielmehr eine elementare Herausforderung, vor der die Katholische Kirche immer wieder steht.

Bei Ihrer Ernennung zum Vorsitzenden des Päpstlichen Rates waren viele zufrieden, was bei den kirchlichen Ernennungen selten der Fall ist. Papst Benedikt XVI. hat, so denken viele, einen Herkules der Ökumene gefunden, vor dem alle Respekt haben. Gottfried Locher, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK), bezeichnete Ihre Ernennung als Glücksfall für Rom, da Sie die Reformationskirchen besser als die allermeisten katholischen Bischöfe rund um den Globus kennen. Sie wissen auch um die reformierten Vorbehalte gegenüber dem Vatikan und das ist sicherlich eine gute Voraussetzung für einen rücksichtsvollen Dialog.

Als Papst Benedikt XVI. mich gebeten hat, diese Aufgabe zu übernehmen, und ich zunächst ein bisschen gezögert habe, hat der Heilige Vater geantwortet: „Dann muss ich weitere Argumente auf den Tisch legen.“ Das erste Argument war dabei, dass er in dieser Aufgabe einen Bischof möchte, der die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften nicht nur aus Büchern, sondern aus der eigenen Erfahrung kennt. Diese Aussage hat deutlich gezeigt, dass Papst Benedikt XVI. der Dialog mit den aus der Reformation hervorgegangenen Glaubensgemeinschaften ebenso wichtig ist wie der Dialog mit den Orthodoxen Kirchen.

Die Schweiz ist nach Deutschland das zweite Reformationsland. Von den Zahlenverhältnissen her ist es paritätisch, in der Vergangenheit noch mehr als heute. In dieser Situation liegt auch der Grund für mein frühes ökumenisches Interesse. Bereits als Kind habe ich erfahren, wie Katholiken und Protestanten nebeneinander und immer mehr auch miteinander leben und wie viele konfessionsverschiedene Ehen es gibt. Diese Wahrnehmung ist für mich ein wesentlicher Impuls gewesen, mich für ökumenische Fragen zu interessieren.

Dialogfähigkeit als bischöfliche Tugend

Sie haben einmal geschrieben, dass Sie als Priester vor allem Ihre Lippen gebraucht haben, als Bischof die Ohren. Was brauchen Sie als Kardinal und „Ökumeneminister“ am meisten?

Ich hoffe, dass in der Zwischenzeit Gleichgewicht zwischen Mund und Ohr möglich geworden ist. Natürlich braucht man auch und gerade in der Ökumene das Ohr. Man muss zuhören, um welche Anliegen es sich handelt, auch wenn sie nicht immer deutlich artikuliert werden. Man wird auf der anderen Seite aber auch immer wieder zum Reden und zum Stellungnehmen eingeladen. Dies ist nicht immer eine leichte Angelegenheit. Denn im Dienst der ökumenischen Verantwortung ist oft viel Diplomatie gefragt. Manchmal ist es eher eine diplomatische als eine theologische Aufgabe. Hinter dieser Wahrnehmung steht freilich etwas sehr Positives, weil man ökumenische Dialoge über theologische Fragen nur führen kann, wenn ein guter Boden für geschwisterliche und freundschaftliche Beziehungen gegeben ist. Wir unterscheiden in der Ökumene zwischen dem Dialog der Liebe und dem Dialog der Wahrheit. Unter dem Dialog der Liebe verstehen wir das gegenseitige Sich-Kennenlernen, den Austausch und die Pflege von geschwisterlichen Beziehungen. Sie sind eine wichtige Voraussetzung, um den Dialog der Wahrheit führen zu können. Auf der anderen Seite können wir beim Dialog der Liebe nicht stehen bleiben. Denn es geht in den ökumenischen Beziehungen nicht nur darum, dass ein guter Modus Vivendi im Zusammenleben der Christen und Kirchen gefunden wird, auch wenn dies sehr wichtig ist. In den ökumenischen Bestrebungen geht es aber vor allem auch um die Einheit im Glauben und dazu gehört auch der theologische Dialog.

Wohnsitz im Flugzeug

Der österreichische Theologe Wilhelm Zauner (1929–2015) hat sich einmal beklagt, dass die Bischöfe zu viel unterwegs seien, dass sie von allen guten Eigenschaften Gottes vor allem seine Allgegenwart nachzuahmen versuchten. Sie sind als „Ökumeneminister“ viel auf Reisen und haben Ihren Wohnsitz beinahe im Flugzeug. Sind Sie ein Opfer dieser Dienstmobilität?

Papst Franziskus hat mir einmal eine Antwort auf diese Frage gegeben. Weil er in einer Ansprache vor neu ernannten Bischöfen betont hat, sie sollten nicht „vescovi di aeroporto“ sein, keine Flughafenbischöfe, habe ich ihm in einem Gespräch gesagt, dass ich in meiner Aufgabe ein Flughafenbischof sei. Darauf meinte er, ich sei kein Flughafenbischof, sondern ein „cardinale di aeroporto“ im Dienst der Ökumene, und dies sei gut so.

Ein Ortsbischof soll gewiss nicht viel auf Reisen sein, weil seine primäre Verantwortung die ihm übertragene Ortskirche ist. In meiner Aufgabe bin ich aber für die ökumenischen Dialoge auf Weltebene zuständig und diese kann man nicht am eigenen Pult führen, sondern sie müssen vor allem in Begegnungen stattfinden. Als ich Papst Franziskus am Beginn seines Pontifikats gefragt habe, wo er den Schwerpunkt in der Ökumene setzen will und was er dementsprechend auch von mir erwartet, hat er mit einem Wort geantwortet: „fratellanza“ – Geschwisterlichkeit. Sie verwirklicht sich in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen, die in anderen kirchlichen Glaubensgemeinschaften leben.

Es sicher nicht einfach, so viele Flugmeilen zu bewältigen. Aber ist es nicht auch eine Bereicherung, neue Kulturen und neue Länder kennenlernen zu können?

Mühsam und ermüdend sind oft die lange Warterei auf den Flughäfen und Verspätungen oder wenn Flüge gestrichen werden. Auf der anderen Seite weitet das Reisen den eigenen Horizont. Es ist sehr schön und bereichernd zu sehen, wie verschieden und doch in Einheit die Katholische Kirche in der ganzen Welt lebt und wie die verschiedenen christlichen Glaubensgemeinschaften ihr kirchliches Leben gestalten. Der schönste Lohn in meiner ökumenischen Verantwortung ist die Horizonterweiterung.

Vorbildlicher Schüler eines vorbildlichen Lehrers

Im Jahr 2010 lud Papst Benedikt XVI. Sie ein, vor seinem Schülerkreis zu referieren … Sehen Sie sich als vorbildlicher Schüler dieses bedeutenden Theologen?

Papst Benedikt XVI. hat mich im Jahre 2010 eingeladen, vor seinem Schülerkreis Vorträge über das Zweite Vatikanische Konzil zu halten. Ich bin mir damals vorgekommen wie ein Klavierschüler, der vor Mozart spielen soll. Es war aber für mich eine sehr schöne und bereichernde Erfahrung. Anschließend hat der Heilige Vater mich eingeladen, im Schülerkreis weiterhin dabei zu sein.