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Petra Köpping

»Integriert doch erst mal uns!«

Eine Streitschrift für den Osten

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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abrufbar.

1. Auflage als E-Book, September 2018
entspricht der 1. Druckauflage vom September 2018
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de
; mail@christoph-links-verlag.de
Covergestaltung: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag

eISBN 978-3-86284-430-2

Inhalt

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Ist nicht alles schon gesagt?

Warum eine Streitschrift über den Osten Deutschlands notwendig ist

Totengräber der ostdeutschen Wirtschaft?

Die Treuhandanstalt und die Folgen ihrer Politik

Konkrete Folgen der Nachwendezeit

Ungerechtigkeiten, die bis heute bestehen

Von Aufstiegen und Abstiegen

Die Entwertung des ganzen Lebens

Wo sind die ostdeutschen Eliten?

Warum der Westen noch immer den Osten beherrscht

»Es ändert sich doch sowieso nichts« – oder doch?

Folgerungen und Forderungen für den Osten Deutschlands

Anhang

Rede zum Politischen Reformationstag der SPD 2016

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Angaben zur Autorin

Ist nicht alles schon gesagt?

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Warum eine Streitschrift über den Osten Deutschlands notwendig ist

Ich bin in den letzten vier Jahren als sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin im Land viel herumgekommen. Ich habe Hunderte von Gesprächen geführt, in Dutzenden offenen Bürgerrunden gesessen: in aufgebrachten und wutgeladenen Bürgerversammlungen genauso wie mit verzweifelten und hoffnungssuchenden Menschen in meinen Bürgersprechstunden, in Gesprächen am Rande von Veranstaltungen und Demonstrationen oder auch am mittlerweile fast schon legendären »Küchentisch« des sächsischen SPD-Vorsitzenden Martin Dulig.

Und natürlich war ich hier mit vielerlei massiver Kritik, Wut und sogar Hass konfrontiert. Das Thema der Geflüchteten war allgegenwärtig. Ein Zusammenhang wurde schnell hergestellt. Doch es wird dabei oft vergessen, dass die Demonstrationen von Pegida weit vor dem Sommer 2015 starteten, also bevor die vielen Geflüchteten ins Land kamen.

Als langjährige Landrätin und Bürgermeisterin entwickelt man sehr feine Sensoren für gesellschaftliche Stimmungen. Dass sich etwas zusammenbraut, habe ich schon vor sehr langer Zeit gespürt. Doch ich hielt vieles davon für das übliche Schimpfen und Murren, wie ich es seit den 1990er Jahren kenne. Immerhin gab es auch große Krisen und Probleme in den letzten Jahren, teilweise ausgelöst durch dubiose Finanzgeschäfte von Banken und Hedge-Fonds, die auch etwa in Sachsen zu Milliardenkosten für die Bürgerinnen und Bürger wegen des Landesbank-Desasters führten. Hinzu kam die vielfache Kritik an der Niedriglohnpolitik und den Hartz-IV-Regelungen gerade in Ostdeutschland.

Doch ich fühlte mich stets in Sicherheit. Sachsen ist ein Bundesland, dem es gut geht. In vielen Umfragen gaben die Leute an, sowohl mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation als auch mit der wirtschaftlichen Situation des Freistaats sehr zufrieden zu sein. Leicht schwächere, aber durchaus ähnliche Daten gab es im ganzen Osten. Wir haben in Sachsen die geringste Pro-Kopf-Verschuldung aller Bundesländer in Deutschland, im Osten nahmen wir bislang die beste Wirtschaftsentwicklung. Unsere Kommunen haben enorm viel geleistet, auch wenn sie finanziell nicht immer gut dastehen. Und wenn man durch die Dörfer und Städte fährt, sieht man das auch. Ist damit nicht »alles in Butter«?

Offensichtlich nicht. Irgendwann war es nicht mehr das »normale« Murren und Schimpfen. Es schwoll an in einer ungeahnten öffentlichen Erregung, die sich in Bürgerversammlungen, Demonstrationen und Protestwahl zeigte. Ich ging hin, um mehr zu erfahren und das Gespräch anzubieten. So stand ich auch am Rande vieler Pegida-Demonstrationen. Hier und bei anderen Gelegenheiten kamen viele aufgebrachte Menschen auf mich zu und schimpften auf »die da oben«, auf Flüchtlinge und auf »das System«. Einige meinten, die Stimmung sei die gleiche wie 1989.

Keine leichten Gespräche, die ich und viele andere versuchten zu führen. Doch ich habe die Angewohnheit, dass ich mein Gegenüber meist frage »Wer sind Sie?« und damit versuche herauszufinden, welche Menschen eigentlich vor mir stehen. Und fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr die »Flüchtlingsproblematik« das alles entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes. Etwas Grundlegenderes. Die Flüchtlinge waren der Anlass, doch der Grund der Erregung war bei vielen offensichtlich älter.

Und da war es wieder: Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Es ging in fast allen Gesprächen um Lebensbrüche. Vor allem berufliche, aber auch private.

An einem Tag raunte mir dann ein aufgebrachter Demonstrant zu: »Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!« Diese Aussage brachte es auf den Punkt: Hier geht es anscheinend bei vielen gar nicht um das Thema Flüchtlinge. Diese waren nur Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik. Damit will ich überhaupt nicht die vielen echten Rassisten entschuldigen oder relativieren. Die NPD, eine klar antidemokratische und faschistische Partei, hat in Sachsen schon einmal 9,2 Prozent erhalten. Mir ist klar, wir haben ein dramatisches Rechtsextremismus-Problem bei uns.

Und dennoch sah ich bei vielen »besorgten Bürgern« eine andere Motivation: Denn bei diesen Menschen, die reden wollen, zeigt sich schnell, dass ihnen in der Vergangenheit nicht zugehört wurde. Niemand hat ihre konkreten Probleme wirklich ernst genommen. Niemand hat ihre Lebensgeschichten gewürdigt. Niemand ist auf sie eingegangen.

Schon sehr lange wird in Deutschland über Fortschritt, Digitalisierung, Globalisierung und all die anderen Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Doch die jüngste Vergangenheit hat bislang niemanden so recht interessiert.

Am Reformationstag, am 31. Oktober 2016, hielt ich meine inzwischen viel zitierte Leipziger Rede. Ich forderte damals: »Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!« Wir müssen uns mit den Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten aus jener Zeit beschäftigen. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit.

Ich bin froh, dass diese Rede einen so großen Widerhall gefunden hat. Ich war mir einerseits sicher, dass ich damit ein wichtiges Thema anspreche. Aber ich war mir andererseits unsicher, wie stark auch andere diese Einschätzung teilen. Und dann zeigte sich: Ich hatte einen wunden Punkt getroffen. Seitdem habe ich Hunderte von Briefen, E-Mails und Nachrichten bekommen, zumeist gefüllt mit Tränen, Wut, Fragen und Hoffnungen. Ich bekam viele Briefe, die mich unterstützen. Übrigens auch aus Westdeutschland. Viele Gesprächspartner waren völlig überrascht, als sie etwa von dem »Problem der geschiedenen Frauen in der DDR« hörten. Davon hatten sie noch nie etwas erfahren. Mancher Journalist schaut nun anders auf Ostdeutschland.

Diese Rede hat eine Debatte angestoßen, die bis heute anhält. Es ist nicht eine dieser schnelllebigen Debatten, die am nächsten Tag durch ein anderes Thema ersetzt wird. Nein, dieses Mal ist es anders: Man redet wieder über den Osten! Und man redet über das Thema der Nachwendeungerechtigkeiten.

Allerdings wurde die Debatte bislang fast ausschließlich im Osten geführt – im Westen hat davon kaum jemand etwas mitbekommen. Im Gegenteil. Im Zuge der Aufmärsche von Pegida und der Wahlerfolge der AfD ergoss sich erneut Spott, Schulmeisterei und Häme über den Osten, was hierzulande zu einer typischen Wagenburg-Mentalität – wie meist in solchen Fällen – führte. In Wagenburgen beginnt man aber keine kritischen Diskussionen unter sich, sondern man verteidigt sich verbissen gegen alle Angriffe. Aber so kommen wir nicht weiter.

Deswegen habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben. Eine Streitschrift für den Osten. Ein Buch, das den Osten versucht zu erklären, aber nicht gegen den Westen gerichtet ist.

Ich weiß: Viele können mit einer Ost-West-Debatte nur wenig anfangen: »Spaltet nicht weiter zwischen Ost und West«, sagen mir immer wieder viele, vor allem jüngere Leute. Andere schrieben mir, man soll doch die Vergangenheit ruhen lassen. Man verstehe nicht, wie das den Leuten helfen solle, wenn man deren durchaus nachvollziehbare Trauer jetzt wiederbelebt und ihnen womöglich falsche Hoffnungen macht. Andere sagen: »Das ist 30 Jahre her, kümmert euch um die Zukunft!« Wieder andere entgegnen: »Es ist zu spät, heute aufzuklären«. Und manche sagten mir, wenn man über das Thema rede, dann öffne man die Büchse der Pandora.

Doch es gibt eine Version des griechischen Mythos, dass aus der Büchse der Pandora eben nicht nur alles Übel in die Welt stieg, sondern auch die »Hoffnung« entweichen konnte und so die Trostlosigkeit auf der Erde ein Ende fand. Das Verschweigen hat nichts geändert. Es ist eben nicht alles in Ordnung.

Und ich spüre, dass die bloße Anerkennung der Probleme als solche schon vielen ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern gut tut – und sie allein dadurch schon eine gewisse Wertschätzung spüren. Nicht alle brauchen das, aber viele erleben das sehr positiv. Es gibt die Bereitschaft, Verhärtung und Sprachlosigkeit zu überwinden. Gewiss, Kränkungen und Scham sitzen bis heute tief. Man redet nicht gerne über die damalige Zeit. Die Bezeichnung als »Wendeverlierer«, »DDR-Nostalgiker« oder »Jammer-Ossis« hat die Leute still und stumm gemacht. Und es machte die Menschen erst richtig wütend.

Viele dieser Menschen hatten schlicht keine Lobby. Ihre Probleme wurden negiert, unter den Tisch gekehrt und mit ihren Biografien entwertet. Was sie zu sagen hatten, war es offenkundig nicht wert, verbreitet zu werden. Diese Erfahrung mussten sie immer wieder machen. Und es wird im Nachhinein oft übersehen, wie hart es viele damals traf. Familien gingen kaputt. Arbeitslosigkeit, Scheidungen und psychische Belastungen – das betraf sehr viele. Heute sind die meisten zwar wieder gesundet, aber der Hass auf »das Westdeutsche« und »die Politik« ist bei nicht Wenigen geblieben. Diese Gefühle werden verdeckt von den Umfragen, welche von einer hohen Zufriedenheit der Leute berichten. Es gibt den enormen Anspruch, stolz zu sein auf den Osten. Aber man ist nicht stolz, über den Tisch gezogen worden zu sein. Man ist empfindlich.

Wir konnten miterleben, wie aus der Enttäuschung Verbitterung wurde. Und ich weiß leider auch, dass viele aufgrund der Kränkungen böse, wütend und auch oft ungerecht gegenüber anderen geworden sind, Pöbeleien und Hass freien Lauf ließen. Viele scheinen bereit, sich von der Stimmung anstecken zu lassen, dass man scheinbar das Recht habe, gegenüber anderen Gruppen von Menschen ungerecht zu werden, weil man sich selbst ungerecht behandelt fühlt.

Das Misstrauen ist mittlerweile so groß, dass man leicht denen auf den Leim geht, die weiteres Misstrauen schüren, die behaupten, es gäbe einfache Lösungen. Sie arbeiten mit Angst, Lügen und Halbwahrheiten – wie es damals in der Nachwendezeit manche Betrüger taten, um unnütze Versicherungen oder überteuerte Gebrauchtwagen zu verkaufen. Sie hetzen gegen eine soziale und liberale Demokratie, indem sie an ostdeutsche Frustrationsgefühle appellieren. Wer das zulässt, lässt sich erneut manipulieren.

Alle schlechten Erfahrungen entschuldigen keine faschistischen Positionen. Wer Hass und Rassismus verbreitet und an der Seite jener steht, welche die Demokratie einschränken wollen, wie dies gerade durch Rechtspopulisten in Ungarn, der Türkei oder Polen versucht wird, hat mich zur entschiedenen Gegnerin. Jeder populistischen Neiddebatte gegen schwache Minderheiten wie Flüchtlinge werde ich mich deutlich entgegenstellen.

Doch genauso werde ich mich entgegenstellen, uns Ostdeutsche pauschal als Nazis oder Rassisten abzustempeln. Das ist nicht nur falsch. Es beleidigt all jene, welche sich in Ostdeutschland für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren. Und das ist in Sachsen und anderswo zumeist viel anstrengender und aufopferungsvoller als im demokratiegeübten Westen. Zum anderen erreicht man mit derlei Übertreibung das glatte Gegenteil, denn es treibt viele erst recht in die Arme der Rechtspopulisten.

Viele Menschen wissen überhaupt nichts von den Verwerfungen in Ostdeutschland in den 1990er Jahren und sind von den aktuellen Debatten daher überrascht. Da sind zum einen die in Westdeutschland gebliebenen Westdeutschen, die »keinen Schimmer« von den Umbruchzeiten und ihren Folgen haben, wie Markus Decker in der Berliner Zeitung treffend schrieb.1 Dort hat jeder zwar eine Meinung (»haben doch schon so viel bekommen«), aber in den seltensten Fällen faktisches Wissen, was wirklich in der Nachwendzeit passiert ist.

Und dann sind da die vielen jüngeren Ostdeutschen, denn sie haben mit ihren Eltern in der Regel nur selten über diese Zeit gesprochen. Die wichtige Initiative der »Dritten Generation Ostdeutschland«, welche sich den ostdeutschen Generationenaustausch auf die Fahnen geschrieben hatte2, machte auf dieses Problem aufmerksam, ist inzwischen jedoch still geworden. Nun kamen die vielen jungen Leute, die in den letzten 30 Jahren in die (westdeutschen und teils europäischen) Großstädte zum Studieren und Arbeiten aus dem Osten weggegangen waren, zu Familienfesten, zu Weihnachten, Geburtstagen und Beerdigungen in den Osten zurück – und beide Seiten waren schockiert über die Diskussionen am Küchentisch in Zeiten von Pegida und Diskussionen über Flüchtlinge. Eltern verstanden ihre Kinder nicht mehr, Kinder brachen mit ihren Eltern.

Auch hier kann eine Debatte über die Nachwendzeit Entscheidendes bewirken: Ein 25-jähriger Student aus Dresden schrieb mir beispielsweise: »Mein Vater war nach der Wende ebenso ein Verlierer des Umbruchs. Wir telefonieren oft, und sehr häufig erzählt er mir, warum er sich mit unserem heutigen System nicht anfreunden kann. Für mich ist das immer schwer zu akzeptieren, da ich nur meine BRD und mein Europa kenne, und ich gerne hier lebe. Ich kenne auch noch weitere Wendeschicksale. Doch es hat sich bei mir im Verlauf der Zeit eins geändert: Wo ich früher aufmerksam zugehört und die Menschen verstanden habe, lasse ich heute die einzelnen Schicksale und die Folgen daraus – mit einer gewissen Arroganz – an mir vorbeiziehen. Bei all meiner Wut auf Pegida und dem Unverständnis für einzelne Menschen, habe ich wirklich vergessen und verlernt, zuzuhören und zu verstehen. Das, was ich früher eigentlich getan habe.«3

Gerade solche Briefe haben mich darin bestärkt, offen über Erfahrungen, Ereignisse und Geschichten zu sprechen, die eine ganze Generation geprägt haben.

Mich interessiert: Warum sind das Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik in Sachsen und Ostdeutschland so groß? Woher kommt all die Wut? Weshalb sind Rechtspopulisten hier stärker als im Westen? Ich glaube, dass wir keine hinreichenden Antworten auf diese Fragen finden werden, wenn wir uns nicht ehrlich und offen mit der Nachwendezeit beschäftigen.

Wir brauchen die Aufarbeitung. Die Gefühle und Erlebnisse der Nachwendezeit hängen vielen Menschen im Osten wie ein Klotz am Bein. Und sie werden an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben, obwohl viele weder die DDR noch die direkte Nachwendezeit bewusst wahrgenommen haben.

Verdrängen hilft nicht. Damit verschwinden die Sorgen ja nicht, sie werden nur hinausgeschoben. Das gilt aber nicht nur für den Osten. Es war ein zentraler Fehler, dass westdeutsch geprägte Eliten und Intellektuelle sowie viele ostdeutsche Nachwendepolitiker sich 30 Jahre faktisch geweigert haben, diese Konfliktlinie zu bearbeiten, die ganz Deutschland und besonders den Osten durchzieht. Gleichzeitig war es der Fehler vieler ostdeutscher Kritiker, selbstbezogen nur immer auf den Osten zu schauen und nicht das Bündnis mit anderen strukturschwachen Gebieten im Westen zu suchen.

Über die Probleme der Nachwendezeit zu reden bedeutet ja nicht, die Deutsche Einheit schlecht zu reden. Die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung sind Glücksfälle der deutschen Geschichte, und natürlich ist unheimlich vieles erfolgreich gelaufen. Man denke nur an die Fortschritte im Umweltschutz, beim Ausbau der Infrastruktur, bei der Sanierung der verfallenen Städte, bei der Wiederbelebung der Wirtschaft bis hin zur Ansiedlung moderner Industriezweige. Doch bei alldem dürfen die Menschen nicht vergessen werden, müssen die vorhandenen Gefühle vieler von uns Ostdeutschen ernst genommen werden. Nur wenn Ungerechtigkeiten auch als das benannt werden, was sie sind, und ein Wille erkennbar wird, diese abzumildern, können Demütigungen, Kränkungen und Verweigerungshaltungen überwunden werden. Nur dann kann sich ein demokratisches Gemeinwesen erfolgreich entwickeln. Daher dieses Buch.

Totengräber der ostdeutschen Wirtschaft?

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Die Treuhandanstalt und die Folgen ihrer Politik

Wer über die Wut und die Nachwendezeit reden will, hat es einfach: Er muss einfach das Wort »Treuhand« fallen lassen. Beinahe jeder aus dem Osten kann dazu eine Geschichte erzählen. Aber ist dazu nicht längst alles gesagt, fragen manche Westdeutsche? Gibt es keine anderen Probleme als eine Institution, die es seit fast 25 Jahren nicht mehr gibt?4

Doch, es ist notwendig! Eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie stellt fest: »Die Spuren dieser einschneidenden und erbitterten Konflikte um den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft haben sich tief ins Gedächtnis der damals aktiv Beteiligten (aus West und Ost) gegraben. Die von den hitzigen Konflikten unmittelbar und mittelbar Betroffenen haben die von ihnen nach dem abrupten Ende der DDR erlebten Transformations- und Übergangskrisen keineswegs einfach allmählich vergessen oder verdrängt – ganz im Gegenteil.«5

Und warum es notwendig ist, ist ebenfalls recht einfach zu erklären: So wie die Investmentbank Lehman-Brothers zum Symbol für einen Raubtierkapitalismus, und deren Zusammenbruch zur Metapher der Krisenanfälligkeit des Finanzkapitalismus wurde, so ist die Treuhand für uns Ostdeutsche das Sinnbild des knallharten, über Nacht hereingebrochenen Turbokapitalismus Anfang der 90er Jahre. Wenn heute viele über das Misstrauen in Eliten und Institutionen infolge der Finanzkrise und des Zusammenbruchs von Lehman-Brothers beklagen, kann ich nur sagen: Genau einen solchen Einschlag haben wir Ostdeutschen schon 20 Jahre früher erlebt.

Wenn sich manche fragen, warum die Demokratieunterstützung in Ostdeutschland niedriger ist als im Westen, der kommt an der Politik der Treuhand, der Art und Weise ihrer Transformation der ostdeutschen Wirtschaft, der Nebenwirkungen auf die Gesellschaft und an ihren Skandalen nicht vorbei.

Wir alle sollten noch einmal neu über die Treuhand nachdenken, immerhin wurde sie für die EU 2015 zum Vorbild für die Lösung der Griechenland-Krise. Auch wenn vielerorts von einer »Treuhand 2.0« gesprochen wurde, vermied man den Begriff vorsorglich.6 Ich frage mich schon, wie viele im Osten die rigide Treuhand-Politik gegen Griechenland befürworteten, obwohl sie selbst über das Vorgehen und die Folgen der eigenen Treuhand-Politik klagen?

Zum anderen gibt es auch bei uns eine Art »vernebelte Erinnerungskultur«. Die oben genannte Studie schreibt ein wenig wissenschaftlich-verklausuliert, die Treuhand sei »vom kurzfristigen vereinigungspolitischen Blitzableiter« zu einer »erinnerungskulturellen ›Bad Bank‹ geworden, in die viele einstmals direkt oder indirekt betroffene Ostdeutsche ihre weitgehend unverarbeiteten Umbruchserfahrungen mental ›auslagern‹ konnten«.7 Anders formuliert: Alles, was damals schief ging, wurde einfach mit dem Wort »Treuhand« beschrieben, letztlich aber nie differenziert aufgearbeitet – weder persönlich, noch gesellschaftlich. Die Treuhand wurde so zum »negativen Gründungsmythos« Ostdeutschlands, der neben dem positiven Gründungsmythos der »Friedlichen Revolution« stand. Doch während die »Friedliche Revolution« Jahr um Jahr gefeiert wurde, schwieg man über die Treuhand – mit ausgesprochen »bedenklichen Rückwirkungen auf die politische Kultur«.8

Dabei ist zuerst festhalten – und auch die meisten von uns Ostdeutschen wissen das nicht: Die Treuhand ist keine Westerfindung. Es war die letzte Volkskammer, der klar war, dass man das ostdeutsche Wirtschaftssystem total reformieren musste. Mit der Einrichtung einer Treuhandanstalt wollte man verhindern, dass sich ehemalige SED-Eliten die Filetstücke aus dem damaligen Volksvermögen herausschnitten und überhaupt das Volksvermögen anderweitig verlustig ging.9 Und in der Tat, schaut man nach Osteuropa, so finden sich dort heute überall reiche Oligarchen, die sich in der damaligen Nachwendzeit durch Korruption, Vetternwirtschaft, Skrupellosigkeit und kriminelle Machenschaften Firmen-Imperien sicherten. Nun mögen manche einwenden, was macht es für einen Unterschied, ob im Zuge der Privatisierungen westdeutsche Millionäre reicher wurden, oder ob es besser war, ostdeutsche Oligarchen zu verhindern? Aber gerade der Blick auf Osteuropa zeigt, dass jene Oligarchen bis heute den dortigen Demokratien eher geschadet als gut getan haben.

Nach der Entscheidung der schnellen Deutschen Einheit als Beitritt der DDR zur Bundesrepublik übernahmen westdeutsche Politiker das Treuhandanstalt-Konzept: »Altgediente bundesdeutsche Manager und Unternehmer sollten in weitgehender Eigenregie die Planwirtschaft im Modus beschleunigter Massenprivatisierungen durch eine (Soziale) Marktwirtschaft ersetzen«, so der Historiker Marcus Böick. Dies war angelehnt an das Idealbild einer bundesdeutschen »Wirtschaftswunderzeit« unter Ludwig Erhard. Über den Weg einer marktwirtschaftlichen Schocktherapie erhoffte man sich, »ein zweites, ein ostdeutsches Wirtschaftswunder«.10 Man dachte, es läuft wie 1948: Man macht eine Währungsreform, dann sind die Schaufenster wieder voll, und das Wirtschaftswunder kommt. Sehr schnell merkte man jedoch, genau das funktioniert nicht.

Zugleich wurde die Treuhand bewusst politisch so besetzt und ausgerichtet, wie es die wirtschaftsliberale Bundesregierung von CDU und FDP wollte. Der Osten wurde zum Versuchsfeld neoliberaler Politik in einer Art, die damals im Westen auf heftigsten Widerstand gestoßen wäre. Und wir Ostdeutschen waren auf diesen Kapitalismus null vorbereitet, auch wenn viele schnell lernten. So sei er halt, »der Westen«, dachten viele. Konservative Hardliner aus Bayern und Baden-Württemberg frohlockten hingegen, endlich ohne Gewerkschaften, gesellschaftliche Beteiligung und »Sozial-Klimbim« ihre nationalliberale Agenda politisch durchsetzen zu können.

Der Historiker Marcus Böick hat in seiner Darstellung über die Treuhand zudem festgestellt, dass viele Treuhand-Manager aus westfälischen Unternehmen kamen und diese den in ihren Augen »zu sozialen« Strukturwandel im Ruhrgebiet vor Augen hatten, der für viele Ökonomen viel zu langsam und mit teurer staatlicher Subventionierung vollzogen wurde. Eine Wiederholung eines solch langsamen, behutsamen Prozesses wollte man verhindern. Während im Westen ein »sozialdemokratischer«, über die SPD hinausgehender Konsens bestanden hatte, eine einvernehmliche und soziale Lösung in den Regionen des Strukturwandels zu erreichen, gab es im Osten keine Kraft, die sich hier entgegenstemmen konnte.

Die Treuhand hatte außerdem den angenehmen Nebeneffekt, dass sie zum Blitzableiter für die Wut von uns Ostdeutschen wurde. Wenn sie nicht schon vor der Deutschen Einheit gegründet worden wäre, der Machtpolitiker Helmut Kohl hätte sie erfinden müssen. Denn die Folge ist, dass im Anschluss die Deutschen nicht über die strukturellen Ungerechtigkeiten einer marktradikalen Politik redeten, die »Privat vor Staat« und »jeder ist seines Glückes Schmied« predigte. Auch nicht über Niedriglohn und Niedrigrente. Nein, die Wut richtete sich allein gegen die Manager der Treuhand, aber nicht gegen die marktradikale Politik dahinter. Interessanterweise funktionierte diese Strategie der CDU und FDP auch nach der letzten Finanzkrise: Es war nicht der weitgehend unkontrollierte Finanzkapitalismus als solcher, sondern es waren einzelne Banker und Manager, die moralisch falsch gehandelt hätten.

Bei der Treuhand kam ein grundsätzlicher Strickfehler hinzu: Anders als vom DDR-Parlament gedacht, wurde die Treuhand zur »Anstalt des öffentlichen Rechts« – quasi ohne Aufsicht, eine Art »undemokratische Nebenregierung«11. In der schon zitierten Studie wird treffend die bis heute empfundene Ohnmacht im Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er-Jahren beschrieben, deren Gegenstück in einer »fremden Allmacht« zu finden ist: »Wenn man so will, bündeln sich gerade in den hier untersuchten Rückblicken auf die Treuhandanstalt und ihre Aktivitäten individuelle Überwältigungserfahrungen vieler älterer Ostdeutscher gegenüber einer stets als fern, kalt, anonym und arrogant erlebten Obrigkeit.«12 Erst als nach 1993 die Massenprivatisierungen der Treuhandpolitik zum überwiegenden Teil schon abgeschlossen waren, kam die Treuhand durch Skandale und Protestaktionen wie in Bischofferode massiv unter Druck. Es waren die unter internationaler Anteilnahme sogar im Hungerstreik befindlichen Kumpel von Bischofferode, welche wenigstens eine leichte Änderung der Politik der damaligen Bundesregierung erzwangen. »Die Politiker in Bonn nahmen erstmals zur Kenntnis, dass die neoliberale Politik der ›Privatisierung um jeden Preis‹ nicht zu ›blühenden Landschaften‹, sondern zur Deindustrialisierung der neuen Bundesländer führen würde.« Es wird oft vergessen, dass erst zu diesem Zeitpunkt erstmals die Forderung politisch unterstützt wurde, wenigstens die industriellen Kerne zu retten.13 Selbst CDU-Politiker sprachen nun auf einmal von der »kalten Fratze des Kapitalismus«. Das Beispiel Kaliabbau in Bischofferode offenbarte, wie man eine »am Boden liegende Firma aus dem Westen auf Kosten einer ostdeutschen saniert«. »Kein zweites Mal fühlten sich so viele in den neuen Ländern so sehr über den Tisch gezogen. Die Ost-Identität der Neunziger, das Gefühl, verloren zu haben, speiste sich auch aus diesem Fall. Der Schacht im Eichsfeld, ohne trefflichen Grund von der Treuhand geschlossen, damit eine westdeutsche Firma ihre Marktmacht behalten kann.«14

Als 2014 die bis dahin geheim gehaltenen Verträge zwischen der Kasseler Kali und Salz AG und der Treuhandanstalt von 1993 von einer Thüringer Zeitung an die Öffentlichkeit gebracht wurden, bestätigten die unglaublichen Vereinbarungen einen jahrelang gehegten Verdacht. Was nur Gerücht gewesen war, stellte sich nun nach mehr als 20 Jahren als Wahrheit heraus: Die Treuhandanstalt hatte dem Konzern K + S die ostdeutschen volkseigenen Betriebe geradezu angedient, der Konzern bemächtigte sich ihrer. Die Gegenleistung: halbgare, nicht eingehaltene Beschäftigungsgarantien. Nicht einmal die Altlasten musste der Konzern tragen, der Freistaat Thüringen zahlt noch heute Millionen für die Umweltschäden. Gab es allerdings mit der Veröffentlichung der geheimen Verträge einen bundesdeutschen Aufschrei? Eine Intervention des Bundespräsidenten? Eine aktuelle Stunde im Bundestag? Nein, gab es nicht.

»Man hat potenzielle Ostkonkurrenz beiseitegeräumt«

Und ich glaube, am Beginn einer Aufarbeitung muss es ein Geständnis der westdeutschen Politik und der Wirtschaft geben: Ja, im Osten haben westdeutsche Unternehmen sich in hohem Maße eine potenzielle Konkurrenz vom Hals gehalten. Die ostdeutsche Nachfrage war wichtig, das ostdeutsche Angebot wurde beiseitegedrängt.

In der Rückschau erscheinen alle Unternehmen als bankrott oder ruinös. Doch es existieren eben sehr viele glaubhafte Berichte, dass manche dieser Unternehmen hätten gerettet werden können – und bei manchen Käufen westdeutsche Unternehmen nur den Markt bereinigten und sich so einer billigen Konkurrenz entledigten.

Für den bekannten wirtschaftsliberalen Ökonom Hans-Werner Sinn, bis 2016 Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, ist völlig klar, dass viele westdeutsche Firmen »die ostdeutschen Firmen häufig nur [gekauft hätten], um potenzielle Konkurrenten aus dem Ausland gar nicht ranzulassen. Häufig wurden die Firmen einfach dicht gemacht anschließend. Das war ein großes Versäumnis der deutschen Vereinigungspolitik.«15 Von 1600 bis Ende April 1991 verkauften Unternehmen gingen mehr als 1500 an westdeutsche Unternehmen und kaum an ausländische Unternehmen.16

Der Historiker Philipp Ther hat in seinem Buch über die »neue Ordnung auf dem alten Kontinent« die volkswirtschaftlichen Gründe dafür beschrieben: Es waren durch den Zusammenbruch des gesamten Ostblocks auf einmal einfach zu viele ostdeutsche und osteuropäische Unternehmen auf dem Markt, so dass infolge dieses Überangebots Unternehmen verschleudert worden seien. Deshalb habe es fast zwangsläufig Marktbereinigungen zum Wohle westdeutscher Investoren gegeben. Es sei oftmals darum gegangen, einen potenziellen Konkurrenten vom Markt zu drängen.17

Nehmen wir die ehemalige Margarethenhütte im ostsächsischen Großdubrau. Sie war damals Arbeitsstätte für 800 Menschen in einer strukturschwachen Region bei Bautzen. Diese Keramikfabrik hat zu DDR-Zeiten Hochspannungs-Isolatoren hergestellt, die zu 80 Prozent in die ganze Welt, und also auch in den kapitalistischen Westen exportiert wurden. Laut den damaligen Ingenieuren war die Fabrik mit modernen Maschinen aus der Schweiz ausgestattet.

Wahrscheinlich war vielen Mitarbeitern nach der Wiedervereinigung klar, dass einige Arbeitskräfte wegfallen würden. Aber die meisten waren eben doch überzeugt, dass man für die neue Zeit gut aufgestellt wäre.

Plötzlich hieß es aber über Nacht, der Betrieb müsse geschlossen werden. Es wurde behauptet, alles sei völlig veraltet und marode. Doch das ist nicht alles: Die ehemaligen Ingenieure erzählten mir, wie nachts die wichtigsten Betriebsunterlagen und Porzellan-Rezepturen sowie die letzten Mitarbeiterlöhne samt Tresor weggeschleppt und auch die wichtigsten Maschinen ausgebaut wurden. Ich kann nur wie die ganze Belegschaft vermuten: das geschah zugunsten der Konkurrenz.