Über Judith Arendt

Foto: Gudrun Senger

Judith Arendt ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimiautorin. Sie schrieb Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Skagen ist Skagen und doch nicht Skagen.

Ich habe mir erlaubt, das echte Skagen ein wenig

umzugestalten, bis es zu Helle und mir passt.

 

Judith Arendt, Januar 2018

Der Kaffee war noch immer schön heiß. Nicht so heiß, dass er sich die Zunge daran verbrennen, aber doch so, dass er ihn genüsslich schlürfen konnte. Claas griff nach dem Zimtwecken und wollte ihn in den Becher tunken, als er hörte, wie Stig seufzte und ungeduldig mit der Taschenlampe klapperte.

»Es wird Zeit für die Runde. Komm schon, Claas.«

»Hast du Angst, dass du die Geisterbahn verpasst?« Claas stippte den Wecken in seinen Kaffee – jetzt erst recht – und saugte an dem aufgeweichten Gebäck. Ein guter Witz. Er konnte ihn gar nicht oft genug wiederholen. Und er hatte ihn weiß Gott schon oft von sich gegeben. Die jungen Kollegen mit ihrer Ungeduld. Man durfte doch wohl noch in Ruhe seine Kaffeepause machen.

Jetzt stand Stig auf. »Du nervst, Claas. Ich kann auch ohne dich gehen.«

Dieser Stig. Wenn einer hier nervte, dann war er das. Claas war seit fast zwanzig Jahren dabei. Er wusste, wie der Hase lief. Er brauchte sich von den jungen Kollegen nicht hetzen lassen. Das brauchte er wirklich nicht. Andererseits: Wenn dieser Stig jetzt alleine losgehen würde, dann stand das später im Logbuch. Und dann würde es nicht gut aussehen für ihn.

Resigniert schüttete Claas den Kaffee wieder zurück in die Thermoskanne. Dabei stöhnte er, Stig sollte schließlich kapieren, dass er diesen Aktionismus nicht guthieß.

Der junge Kollege aber stand unbeeindruckt an der Tür, die Hand auf die Klinke gelegt. Na, na, dachte Claas, immer langsam mit den jungen Pferden! Erst einmal musste er sich aus dem Stuhl hochwuchten. Zweihundert Pfund Lebendgewicht.

Ärgerlich zerrte Claas an seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Draußen waren es zehn Grad unter null, wenn nicht noch mehr. Warum bestand dieser Jungspund so unbedingt darauf, dass sie ihre Zeiten einhielten?

Du meine Güte, dachte Claas, während er den Reißverschluss bis unters Kinn hochzog und sich die fellgefütterte Mütze auf die kahle Stirn drückte, was sollte denn hier schon passieren?

 

Seit so vielen Jahren drehte er nachts im Tivoli seine Runden. Die »ungewöhnlichen Vorkommnisse«, wie es bei ihnen hieß, konnte er an zwei Händen abzählen. Jugendliche Säufer oder Kiffer, ein Liebespaar, das es sich ausgerechnet im »Nautilus« bequem gemacht hatte, hier und da ein Fuchs, ein paar gebrauchte Spritzen, die die Bahnhofsjunkies über den Zaun warfen – mehr war nicht los gewesen. Da hatte er in seiner Zeit als Streifenbulle in einer Nacht mehr Scheiße gesehen. Sprengstoffalarm, das war noch das Größte, was er als Security-Mann im Tivoli erlebt hatte. Oktober 2001 natürlich, als alle hysterisch durchdrehten wegen der Terroristen. Da hatten er und sein Kollege – den Namen hatte Claas längst vergessen – den Rucksack gefunden. Mitten in der Fressbudenstraße hatte er gelegen. Sie hatten lange darum gestritten, was sie tun sollten. Der Kollege hatte sich schließlich durchgesetzt und den Alarm ausgelöst. Zum Schluss war es der Rucksack eines asiatischen Touristen gewesen. Mit Kamera und Wasserflasche und ein paar T-Shirts. Keine große Sache also. Claas hatte es gleich gewusst.

 

»Gib Gas, alter Mann«, knurrte Stig, der ein paar Meter vor ihm ging und den Strahl der Taschenlampe immer nervös hin und her zucken ließ.

In Erinnerung an seine Dienstzeit entfuhr Claas ein Seufzer. Sein Herz hatte das nicht mehr mitgemacht, diesen Stress. Die Schmerzen im Arm, das Stechen im Brustkorb. Gitta hatte ihn irgendwann dazu gedrängt, Schluss zu machen. Die Ärzte hatten ihn tatsächlich arbeitsunfähig geschrieben. Und dem Grinsen seines Vorgesetzten nach zu urteilen, als der ihn aus dem Dienst verabschiedet hatte, war das nicht ganz von ungefähr gewesen. Die waren froh, dass sie ihn los waren. Das behielt er natürlich schön für sich. Kam immer besser, wenn er von seiner großen Zeit bei der Polizei erzählte.

 

»Hörst du was?«

Der Lichtkegel fuhr die Stände ab, die Holzbuden, aus denen heraus in ein paar Stunden Popcorn und Pölser und Zuckerwatte verkauft wurden. Der Schein der starken Lampe flitzte über das Kettenkarussell zur Rechten. Aber nichts rührte sich, die buntbemalten Stahlrohrsitze hingen bewegungslos an langen Ketten, warteten auf Kinder, die sich schon bald kreischend um die besten Plätze balgen würden.

Klar hörte Claas was. Er hörte sogar sehr viel. Außerhalb des Parks verlief die Vesterbrogade, eine große und viel befahrene Straße, die Kopenhagens Herz durchschnitt. Er hörte den Bahnhof, die Güterzüge, die selbst um diese Zeit, mitten in der Nacht, rangiert wurden. Und er bildete sich ein, die Ratten zu hören, die unter den Fahrgeschäften nach Fressbarem suchten – und fündig wurden. Selbst nachdem die großen Reinigungsmaschinen einmal durch den Park gefahren waren, gab es noch genügend Müll in den Ecken, um ganze Rattenkolonien zu ernähren.

»Hier ist was an, Claas! Verdammt, bist du taub?«

Claas meinte zu hören, wie Stig noch leise »Alter Sack« hinzufügte, und konterte im Stillen mit »Wichtigtuer«. Aber er schloss zu seinem Kollegen, der um einiges größer und vor allem durchtrainiert war, auf. Denn jetzt hörte er es auch. Stig hatte recht. Ein unheimliches Quietschen und Rattern drang an seine Ohren. Das war nicht normal, das war ganz und gar nicht normal. Es klang eindeutig danach, als sei eines der Fahrgeschäfte in Betrieb.

Stig vor ihm verfiel in leichten Trab, und Claas spürte ein vibrierendes Gefühl von Panik. Dass der Kollege ihm bloß nicht davonlief! Automatisch fasste er an den Gürtel, an dem der Schlagstock aus Hartgummi hing. Plötzlich nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, links von ihnen, dort, wo der Eingang zu »Minen« war, der Bergwerksbahn für die Jüngeren. Ein Schatten? Da war eine Bewegung gewesen, ganz bestimmt. Claas’ Herz schaltete von Trab in den Galopp, das war nicht gut, das war gar nicht gut. Er hätte keinen Kaffee trinken sollen, aber wer konnte denn schon ahnen, dass er in so eine Scheiße geriet?! Claas wollte Stig zurufen, dass er anhalten solle, aber er bekam nur ein heiseres Krächzen heraus.

Abrupt drehte Stig sich um und richtete den Strahl seiner Stablampe auf Claas. »Hör mal, alter Mann, sollen wir besser gleich die Bullen rufen? Du bist doch schon länger dabei.«

Zum ersten Mal zollte der Arsch ihm Respekt. Ausgerechnet jetzt. Zur falschen Zeit. Claas räusperte sich und bemühte sich, völlig unbeeindruckt auszusehen. »Nein. Lass mal. Vielleicht nur was Technisches. Lass uns erst feststellen, was wirklich los ist. Oder wollen wir vor den Bullen dastehen wie Memmen?«

Stig zog misstrauisch die Brauen zusammen, richtete die Lampe aber gehorsam nach links.

Claas verfluchte insgeheim seine verdammte Schlamperei. Seine Lampe lag noch im Büro. Neben der Thermoskanne. Er hatte sie nicht mitschleppen wollen. Sie brauchten nie eine zweite Lampe. Nie!

Stig änderte die Richtung und lief auf das Bergwerk zu. Das Licht streifte die Zwerge, die mit Hacken und Schubkarren unbeweglich zwischen den Gleisen standen und diabolisch grinsten. Claas schauderte. Er erinnerte sich an die ersten Nächte, die er im Tivoli Dienst getan hatte. Wie unheimlich ihm die große Anlage gewesen war. Die stummen Silhouetten der großen Fahrgeschäfte, die gegen den Kopenhagener Nachthimmel leuchteten. Der Geruch nach Bratfett, Zuckermelasse und Kotze, der in den Budenstraßen hing. Das leise metallische Klimpern der Absperrketten. Kaum wahrnehmbares Quietschen, Raunen und Klappern der Gondeln im Wind. Das Gefühl der Einsamkeit, das ihn angesichts des menschenleeren Vergnügungsparks befallen hatte. Das Leben, das draußen tobte, während sich hier drinnen nur zwei Menschen bewegten, die Security-Männer von Danskeguard.

Aber Herrmann, der alte Kollege, der ihn einarbeitete – damals war Claas der Jungspund gewesen –, hatte nur gelacht und weiter Witze gerissen. Und nach einigen Wochen war das Unwohlsein gewichen. Es war nie mehr aufgetaucht – bis jetzt.

Stig hatte »Minen« jetzt erreicht und leuchtete alle Ecken aus. Er schüttelte den Kopf. »Nee. Da ist nichts. Was hast du gesehen?«

Claas griff sich an die Brust und massierte das Fett an der Stelle, an der er sein tobendes Herz wähnte. »Da hat sich was bewegt. Sah aus, als würde sich jemand verstecken.«

»Scheiße, Mann, ich hör’s noch immer.« Stig leckte sich nervös über die Lippen.

Sie blieben stumm und hielten die Luft an. Das Rumpeln war lauter geworden, es kam von der anderen Seite der »Rutschebanen«. Entschlossen lief Stig los, in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete, und Claas bemühte sich, dem Jüngeren dicht zu folgen. Er keuchte laut, aber trotzdem hörte er deutlich, dass jemand hinter ihm lief – in die entgegengesetzte Richtung. Claas drehte den Kopf und konnte gerade noch erkennen, dass da einer in Richtung Ausgang rannte. Eine dunkle Silhouette, aber sie war zu weit entfernt, um zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Claas zögerte – sollte er rufen? Stig warnen? Umdrehen?

Scheiß drauf, dachte er und versuchte wieder, Anschluss an Stig zu bekommen. Am Ende war die Person bewaffnet. Viel zu gefährlich. So was brachte nur Ärger.

Stig hatte das Ende der »Rutschebanen« schon erreicht und blieb abrupt stehen. Er drehte sich nach Claas um, und aus seinem Blick sprach nackte Panik. Er deutete mit dem Arm, der die Taschenlampe hielt, hinter sich, und Claas wusste schlagartig, von wo der Lärm ausging. Es musste »Galejen« sein, die Wikingerbahn, in direkter Nachbarschaft zu »Rutschebanen«. In dem Fahrgeschäft war nur die Notbeleuchtung angeschaltet, und in dem fahlen orangefarbenen Licht sah er, wie die kleinen hölzernen Wikingerboote in schneller Fahrt rundherumrasten. Jemand hatte die Bahn in Betrieb genommen. Das konnten nur Besoffene gewesen sein, die sich einen Scherz erlaubten.

»Bestimmt ’ne Wette«, sagte er zu Stig und ging ein paar Schritte näher auf »Galejen« zu. »Betrunkene, Jugendliche, die sich beweisen wollen.«

»Galejen« war eine der alten Bahnen. Eine Holzkonstruktion, in der Mitte ein hölzerner Pfahl, dem Mast eines Schiffes nachempfunden. An einer Stahlkonstruktion waren daran kleine bunte Holzboote angebracht, Wikingerschiffe und Piratenboote. Sie rasten in wilder Fahrt um den Pfahl, rundherum, auf und nieder.

Claas steuerte, um ruhig Blut bemüht, direkt auf das Fahrgeschäft zu, er wusste, wo der Notknopf war, der das Treiben beenden konnte. Aber Stig riss ihn am Arm zurück. Sein Gesicht war aschfahl, der Mund weit geöffnet, er brachte jedoch keinen Ton heraus. Stattdessen starrte er mit aufgerissenen Augen auf die Bahn. Claas folgte seinem Blick, und erst dann sah er, was seinem Kollegen solche Panik bereitete. In einem der kleinen Schiffe saß jemand. Ein Mann mit schlohweißem Haar. Er wackelte wie eine Puppe hin und her, der Kopf fiel mal vor, mal zurück. Beim ersten Mal raste er so schnell an den beiden Männern vorbei, dass Claas nicht sofort bemerkte, was an ihm nicht stimmte, außer den seltsam ruckartigen Bewegungen. Als sich das Boot, in dem der Mann saß, wieder dem Blickfeld von Claas näherte, zwang er sich, genauer hinzusehen.

Der Atem stockte ihm, er spürte das Reißen und Stechen in der Herzgegend, hörte, wie Stig sich auf seine Schuhe

Helle wurde von ihrem Handy geweckt. Es vibrierte unter ihrer linken Gesichtshälfte. Gewohnheitsmäßig legte sie es unter ihr Kopfkissen, damit Bengt nicht geweckt wurde, falls sie angerufen wurde. Zusätzlich stellte sie es auf stumm. Maßnahmen für den Ernstfall, zu dem es so gut wie nie kam, denn sie wurde äußerst selten mitten in der Nacht geweckt.

Skagen war nicht gerade die kriminelle Hauptstadt Dänemarks, und eigentlich gab es nichts, was so wichtig war, dass der diensthabende Polizist Hauptkommissarin Helle Jespers aus dem Schlaf holen musste.

Aber heute vibrierte das Ding, und Helle zog es unter ihrem Kopf hervor. Es klebte an ihrer verschwitzten Wange, anscheinend war es unter dem Kopfkissen hervorgerutscht. Kein Wunder, Helle hatte sich bis vor einer Stunde noch hellwach im Bett gewälzt.

Sie konnte die Augen kaum öffnen, erkannte aber, dass es eine ihr unbekannte Nummer war. Seltsam, denn die Nummer des Handys hatte kaum jemand außer ihren Kollegen. Helle nahm den Anruf an.

»Helle Jespers.«

»Sören Gudmund. Mordkommission Kopenhagen. Helle, wir brauchen deine Unterstützung.«

Eine forsche Stimme, die keine Widerrede zuließ. Helle rollte sich stöhnend über ihre linke Seite aus dem Bett und hielt eine Hand vor den Apparat. Sie wollte nicht, dass Bengt jetzt aufwachte, aber offensichtlich hatte ihr Mann nichts von dem Anruf mitbekommen. Er lag auf dem Rücken und schnarchte mit offenem Mund. Der schwere Rioja hatte sein Werk getan.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mehr als das. Deutlich genervtes Schweigen. Sören Gudmund, dachte Helle und versuchte, ihre eingeschlafenen grauen Zellen zu aktivieren, während sie mit dem iPhone am Ohr ins Bad huschte, kenn ich den?

»Im Gegensatz zu dir haben wir hier in Kopenhagen keinen gemütlichen Nine-to-Five-Job.« Sören Gudmunds Stimme war so eisig, dass Helle augenblicklich fröstelte.

»Ich weiß«, konnte sich Helle nicht verkneifen. »Crime never sleeps.«

»Meinst du das ernst?«

»Hast du es ernst gemeint?« Helle klappte die Klobrille runter und versuchte, sich so hinzusetzen, dass Gudmund nicht hören konnte, was sie gerade tat. Er war ja ohnehin nicht sonderlich gut gelaunt. Aber sie war es auch nicht. Nicht mehr, nach seinem Anruf.

»Okay, noch mal von vorn«, hörte sie sich sagen. Mordkommission, das waren schließlich nicht irgendwelche Dorfbullen, es würde ihr nicht gut bekommen, wenn sie weiterhin so pampig blieb.

Gudmund ließ sich nicht lange bitten. »Ein gewisser Gunnar Larsen wurde gegen drei Uhr heute Morgen im Tivoli aufgefunden. Er kam gewaltsam zu Tode, so viel kann ich mit Gewissheit sagen. Ich habe hier die Information, dass er in deiner Gemeinde gemeldet ist, und möchte dich bitten, den Angehörigen die Nachricht zu überbringen.«

Helle war noch immer darauf konzentriert, so geräuschlos wie möglich zu pinkeln, aber jetzt fiel ihr fast das Handy aus der Hand. Gunnar? Ermordet? Im Tivoli?

Wow.

»Ja, das stimmt. Gunnar lebt hier. Er ist Gymnasialdirektor.

Gudmund unterbrach sie. »Also, was ist, kann ich auf dich zählen?«

»Hat sich nicht angehört wie eine Bitte.«

»Richtig. Das sollte es auch nicht sein.«

Sie schwiegen. Sören Gudmund war offensichtlich kein Mann der vielen Worte, dachte Helle. So ein Arsch. Hoffentlich läuft der mir nicht über den Weg.

»Ich komme im Lauf des Tages selbst nach Skagen. Aber ich halte es für besser, wenn jemand aus dem Ort mit der Familie spricht.«

Helle fühlte sich schlagartig müde. Sehr müde. Sie spürte, dass sie höchstens ein, zwei Stunden Schlaf gehabt hatte, und sehnte sich danach, sich wieder zu Bengt ins warme Bett zu kuscheln.

»Klar.« Sie riss sich zusammen und bemühte sich, so beflissen wie möglich zu klingen. »Ich fahr gleich nach dem Frühstück rüber.«

»Wenn ich glauben würde, dass die Sache so viel Zeit hätte, würde ich selbst hinfahren.«

Ein Wunder, dass ihre Hand nicht am Handy festfror, bei dem eisigen Hauch, mit dem Gudmunds Stimme durch den Hörer fuhr.

»Also, es ist halb fünf Uhr morgens«, setzte Helle sich zur Wehr. »Ich glaube, es gibt Uhrzeiten, zu denen man solche miesen Nachrichten vielleicht besser verträgt.«

»So etwas verträgt man nie gut«, gab Gudmund zurück, und Helle seufzte. Leider hatte er recht.

Der Leiter der Mordkommission fuhr fort: »Kann ich mich darauf verlassen, dass du dich unverzüglich auf den Weg machst? Das Protokoll der ersten Befragung mailst du mir bitte, dann kann ich es unterwegs checken.«

Helle klappte den Mund auf, aber so schnell fiel ihr keine

 

Helle pfefferte ihr Handy ins Waschbecken, blieb noch kurz auf der Toilette sitzen und schloss die Augen. Es war Sonntag, sie hatten am gestrigen Abend Freunde zum Essen zu Besuch gehabt und entsprechend viel getrunken. Gegen zwei waren sie ins Bett gegangen, Bengt hatte kaum »Gute Nacht« murmeln können, da hatte sie schon sein Schnarchen gehört. Helle selbst hatte wachgelegen. Wie beinahe jede Nacht. Wachgelegen und geschwitzt. Sich von der einen Seite auf die andere gewälzt, ihre Bettdecke wieder und wieder umgedreht, sodass sie die kühle Seite auf ihrer Haut gespürt hatte. Das Karussell in ihrem Kopf hatte sich gedreht, sie hatte an alles und nichts gedacht. Und langsam gespürt, wie die Kopfschmerzen kamen, die seit einiger Zeit ihr ständiger Begleiter waren. Irgendwann zwischen drei und halb vier musste sie weggedämmert sein.

Und jetzt das.

Gunnar Larsen, was für ein verdammter Scheiß.

Sie kannte Gunnar, er war der Rektor des Gymnasiums in Fredrikshavn gewesen, das ihre Kinder besuchten. Besucht hatten, im Fall von Sina. Leif quälte sich immer noch, und es war nicht ausgemacht, dass er es schaffte. Gunnar Larsen war – ja, was eigentlich? Weder beliebt noch gefürchtet. Er hatte das Gymnasium geleitet, ohne dass man hätte sagen können, wie er das getan hatte, was sein Stil und sein Anspruch gewesen war. Auf alle Fälle ohne Charisma. Bestimmt zwanzig Jahre lang war er die graue Eminenz gewesen. Ein unauffälliger Mann mit Brille. Alles an ihm war durchschnittlich. Größe, Gesicht, Augenfarbe, Klamotten. Selbst sie, die erfahrene Polizistin, hätte ihn kaum beschreiben können. Gunnar hatte keinerlei besondere Merkmale. Wie konnte es sein, dass jemand wie er eines so ausgefallenen Todes starb? Wieso sollte man Gunnar

 

Sie spülte, stand auf und wusch sich die Hände. Den Blick in den Spiegel vermied sie und entschied sich für eine heiße Dusche. Danach wäre sie vielleicht halbwegs am Leben und in der Lage, zu Matilde Larsen, der Witwe, zu fahren und sie mit dieser Hiobsbotschaft aus dem Bett zu werfen.

 

Der heiße Massagestrahl der Dusche auf Schulter und Nacken war wie eine Erinnerung an guten Sex. Helle hätte ewig so stehen bleiben können, eingehüllt in den heißen Dampf, der sich in der Dusche bildete. Aber es half nichts, sie musste gleich da hinaus, ins Leben, in ihr Leben als Hauptkommissarin, und eine Todesbotschaft überbringen.

Tapfer stellte sie die Dusche von Massage auf Regen, von heiß auf kalt. Sie unterdrückte einen Schrei, als die eisigen Tropfen auf sie niederprasselten, schließlich sollte wenigstens Bengt seinen Schlaf bekommen. Dann drehte sie das Wasser ab, schüttelte sich wie ein Hund und rubbelte sich mit dem Frotteehandtuch trocken. Sie wischte einmal über den Spiegel und sah sich selbst entgegen. Nasse halblange Haare, die wirr in alle Richtung abstanden. Müde Augen, die zwischen noch immer geschwollenen Lidern hervorblinzelten. Tiefe Falten um die Mundwinkel und zwischen den Brauen, aber immerhin war die Haut durch die kalte Dusche gut durchblutet und strahlte einen Hauch von Leben aus. Definitiv fünfzig und keine Sekunde jünger.

Wenn sie jetzt noch einen Espresso bekäme, würde sie sich vielleicht unter Menschen wagen können.

Sie schlich sich leise zurück ins Schlafzimmer, aber das Ehebett war leer. Stattdessen stieg ihr ein warmwürziger Duft

Am liebsten hätte sie sich gemütliche Schlupfhosen und ein kuschliges Sweatshirt übergeworfen, aber die Mission, die ihr bevorstand, verlangte eine andere Kleiderordnung. Das hellblaue Hemd, schwarze Hose, dazu ein dicker blauer Polizeipullover. Helle betrachtete sich im Spiegel. Furchtbar. Die Hose spannte an Bauch und Oberschenkeln, der grobgestrickte Pullover mit dem engen Halsausschnitt ließ ihre Brüste geradezu monströs wirken. Nein, die Dienstuniform war alles andere als kleidsam. Aber es ging auch nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.

Sie strich sich die halbnassen Haare hinters Ohr, legte ein bisschen Rouge, Wimperntusche und Lipgloss auf und überlegte sich im Stillen, was sie Matilde sagen sollte. In so einem Fall war jedes Wort grundfalsch. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie Hinterbliebene vom Tod eines Angehörigen unterrichten musste. Aber zum Glück war das in den dreißig zurückliegenden Dienstjahren nicht allzu häufig vorgekommen. In ihrem Distrikt gab es nicht oft Tote. Verkehrsunfälle, Herzinfarkte, Badeunfälle. Vielleicht ein Einbruch. Vor ein paar Jahren hatte es nach dem Frühlingsfest eine Messerstecherei gegeben, einer der jungen Burschen hatte es nicht überlebt.

Die schrecklichste Todesnachricht, die sie jemals hatte überbringen müssen, war die des ermordeten Mädchens gewesen. Wenn die Bilder der Kleinen und ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge erschienen, trieb es Helle unweigerlich Tränen in die Augen. Noch so viele Jahre später.

Gottlob war sie damals nicht allein gewesen. Der Fall hatte sich in ihren Anfangsjahren zugetragen, als sie noch in Fredrikshavn gewesen war. Ingvar, der Chef der Polizei, war mit ihr zu den Eltern gefahren. Der gute alte Ingvar. Er hatte die Mutter wortlos in den Arm genommen. Dieser Zwei-Zentner-Bär.

 

In der Küche schob Bengt ihr ein großes Glas warmen Chai-Tee hin, bevor er sich wieder an den Herd stellte. In der gusseisernen Pfanne brutzelte ein dottergelber Pfannkuchen, den Bengt sogleich routiniert wendete, kurz stocken und dann auf den Teller gleiten ließ. Er gab etwas von der Beurre au caramel salé darauf, die er selbst gemacht hatte, rollte den Pfannkuchen zusammen und stellte ihn vor Helle auf den hölzernen Tresen. Dann setzte er sich ihr gegenüber.

Helle streckte eine Hand aus und fuhr ihrem Mann zärtlich über den dichten Wikingerbart. »Geh wieder ins Bett.«

Er nickte, nahm ihre Hand und küsste sie. »Einer muss es ja warmhalten.«

Helle biss voller Verlangen in den köstlichen Pfannkuchen und murmelte mit vollem Mund: »Ich weiß nicht, ob ich so schnell zurückkomme.«

Ihr Mann zog nur die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf. In den vielen Jahren ihrer Ehe hatte er gelernt, dass es nicht gut war, sie zu fragen, was passiert sei. Vieles durfte Helle nicht erzählen, und er vermied es, sie in einen Gewissenskonflikt zu bringen. Entweder erzählte sie aus freien Stücken, oder er begnügte sich mit ihrem Schweigen. Ohnehin war Bengt Jespers nicht der neugierige Typ. Klatsch und Tratsch interessierten ihn nicht, und oft wunderte sich Helle, wie es jemand schaffte, einen Job als Sozialpädagoge so gut zu machen wie Bengt, obwohl er an seiner Umwelt nicht das geringste Interesse zu haben schien.

Die warme Karamellbutter tropfte aus dem Pfannkuchen, und Helle wischte sie mit dem Finger vom Teller. Sie war verrückt danach, und gerade, wenn sie verkatert war oder

Er öffnete ein Auge und nickte. Dann stand er auf, ging um den Tresen herum und legte seine kräftigen Arme um sie. Helle küsste ihren Mann aufs Ohr und gab ihm einen Klaps auf die Boxershorts. Gehorsam trottete der todmüde Grizzly zurück ins Schlafzimmer.

Helle gönnte sich noch eine zweiminütige Verschnaufpause. Sie umklammerte das Teeglas mit beiden Händen und blickte durch die Panoramascheiben auf die Silhouette der Dünen. Das Meer konnte sie nicht sehen, dafür war es noch zu dunkel, aber die hellen Sandhügel direkt am Haus mit den Schneeresten darauf schimmerten blass.

Mit diesem Haus am Strand hatten sie sich einen Traum erfüllt. Ursprünglich hatte hier der Fischerschuppen ihres Großvaters gestanden, und es hatte einige Jahre, viele Schreiben an die Behörde und noch mehr Nerven gekostet, um eine Baugenehmigung an der Stelle zu bekommen. Aber sie hatten es geschafft – ganz ohne Bestechung –, die alte Hütte abgerissen und das Holzhaus gebaut. Bengt hatte fast alles selbst gemacht, zusammen mit Nikolas, der das Haus entworfen hatte. Es war Helles Seelenort, und je länger sie hier wohnte, desto weniger wollte sie das Haus verlassen. Jeden Morgen zögerte sie ihren Aufbruch zur Arbeit ein paar Minuten hinaus, um noch ein bisschen Behaglichkeit und Ruhe zu tanken. Wenn sie abends nach Hause kam, fielen alle Sorgen von ihr ab, kaum trat sie über die Schwelle des Hauses.

Der Blick über die Dünen zum Meer und dem weiten Himmel darüber, der Schwedenofen in der Ecke, in dem außer in den Sommermonaten immer ein Feuer prasselte, der dicke weiße Wollteppich, in dem man seine Zehen vergraben

 

Aber leider warteten dort draußen alles andere als paradiesische Zustände. Jemand hatte Gunnar Larsen getötet. Gewaltsam zu Tode gebracht, wie Gudmund sich ausgedrückt hatte. Weitere Details hatte er für sich behalten. Es wäre hilfreich für Helle gewesen, mehr zu wissen, aber offensichtlich wollte der Leiter der Kopenhagener Mordkommission sie nicht an seinem Herrschaftswissen beteiligen. Trotz dieser spärlichen Informationen musste Helle das Gespräch mit der Witwe führen.

Sie gab sich einen Ruck, stellte den Becher mit dem Chai ab und verließ das Haus.

 

Gunnar Larsen und seine Frau wohnten am anderen Ende des Ortes in einer kleinen Seitenstraße. Helle Holzhäuser mit rotem Dach, die eines wie das andere aussahen. Typische dänische Sommerhäuschen, wie sie die vielen Touristen, die im Sommer nach Skagen strömten, liebten.

Aber jetzt war es Winter, stockfinster und acht Grad unter null. Die Straße lag wie ausgestorben da, in keinem der Häuser brannte Licht. Helle stieg aus dem warmen Polizeiauto und suchte die Hausnummer der Larsens. Es war das letzte Haus in der Sackgasse, im Vorgarten stand ein Überbleibsel von Weihnachten, ein kleiner Baum mit Lichterkette. Ansonsten war das Häuschen schmucklos, nirgends ein Hinweis auf seine Bewohner. Kein Kranz hing an der Tür, kein selbstgetöpfertes Namensschild, keine Fußmatte mit einem humorvollen Spruch. Das Haus war wie Gunnar Larsen selbst: durch und durch nüchtern.

Helle holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses breitete sich ein schriller Ton aus, und kurz darauf ging das Licht an. Durch das kleine Fenster neben der Eingangstür sah Helle, dass jemand die Treppe

»Wer ist da?« Eine Frauenstimme klang gedämpft durch die Tür.

»Polizei Skagen, Helle Jespers.«

Das blasse Gesicht Matilde Larsens erschien in der nun halb geöffneten Tür. Der Blick, mit dem sie Helle bedachte, sagte deutlich aus, dass Matilde wusste, dass etwas geschehen war. Kein Erschrecken, keine Verwunderung lag darin, eher Vorahnung.

»Entschuldige, wenn ich so früh störe. Darf ich reinkommen?«

Matilde nickte schwach und raffte instinktiv den Ausschnitt ihres Flanellnachthemds mit einer Hand zusammen. Wortlos ließ sie die Eingangstür los, drehte sich um und ging vor Helle ins Wohnzimmer. Dort machte sie Licht und ließ sich schwer in einen Ohrensessel fallen.

Helle nahm auf dem Sofa gegenüber Platz.

»Gunnar?«, fragte die Frau und wich dann rasch Helles Blick aus. Ihre Augen wanderten zum Fenster, und es schien, als wartete sie gar nicht auf eine Antwort.

Helle nickte. Sie versuchte abzuschätzen, wie die Frau, die ihr gegenübersaß, die Nachricht vom Tod ihres Mannes aufnehmen würde. Matilde schien nicht im Mindesten überrascht, dass mitten in der Nacht die Polizei an ihrer Tür klingelte.

»Ich habe einen Anruf aus Kopenhagen bekommen. Es tut mir leid, Matilde. Aber Gunnar ist ums Leben gekommen.«

Die Frau schwieg. Sie nickte unmerklich und starrte weiter in die Dunkelheit hinter dem Fenster.

Helle wartete ab. Sie beobachtete Matilde genau, nahm jede Regung in dem blassen Gesicht wahr. Aber sie wurde nicht schlau daraus. Die Witwe von Gunnar Larsen musste um die sechzig sein, aber sie hatte ein altersloses

Jetzt wandte sie ihr Gesicht wieder zu Helle, in ihren Augen standen Tränen. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

»Gunnar wurde heute Nacht im Tivoli gefunden«, sagte Helle so behutsam wie möglich. »Leider weiß ich nichts über die genauen Umstände seines Todes, aber …«

Matilde Larsens Augen wurden plötzlich ganz groß, sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Erst langsam und ungläubig, dann immer heftiger. »Im Tivoli? Das kann nicht sein! Das kann nicht Gunnar … was sollte er da tun?«

Helle stand auf und kniete sich neben den Stuhl der anderen Frau, nahm behutsam deren Hand.

»Ich weiß, das ist jetzt sehr schwer für dich. Aber im Laufe des Tages kann ich dir sicher mehr sagen.«

Matilde entzog ihr die Hand. Sie atmete schwer. So ungewöhnlich gelassen und fast schon desinteressiert sie gewesen war, als Helle bei ihr auftauchte, so heftig reagierte sie nun. Rasch erhob sie sich aus dem Stuhl und lief im Wohnzimmer hin und her. Sie schüttelte immer noch den Kopf und schien darüber nachzudenken, was sie soeben erfahren hatte.

Helle wunderte sich, dass Matilde keine Fragen stellte. Da sie selbst keinerlei Details kannte, wollte sie auch nicht näher darauf eingehen, also fragte sie Matilde, ob sie ihr einen Tee machen könne. Und ob sie jemanden benachrichtigen solle, der sich kümmern könnte. Da die Frau nicht darauf reagierte, blieb Helle einfach sitzen. Die Witwe stand unter Schock, und sie wollte sie nicht alleinlassen. Also reden.

Matilde Larsen blieb abrupt stehen und dachte nach. Helle war erleichtert, dass sie noch zu ihr durchdringen konnte.

»Ich weiß nicht, Freitagmittag?« Matilde wirkte verwirrt. Hilfesuchend sah sie zu Helle. »Ich habe ihn zum Bahnhof gefahren.«

»Okay. Warum zum Bahnhof?«

»Einmal im Jahr …« Matilde stockte, verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Helle wartete ab und legte eine Hand behutsam auf das Knie der Älteren. Schließlich hob Matilde Larsen wieder den Kopf und fuhr fort.

»Einmal im Jahr trifft er sich mit ehemaligen Kollegen aus ganz Dänemark. In Kopenhagen.«

Helle nickte und machte sich Notizen. »Um wie viel Uhr ging sein Zug, kannst du dich erinnern?«

Matilde blickte verloren zu Boden. Sie ließ die Hand, mit der sie den Ausschnitt des Nachthemds festgehalten hatte, sinken. »Mir wird schlecht«, flüsterte sie.

Helle war mit einem Satz bei ihr und fasste die Frau um die Schultern. Sie führte sie hinaus in den Flur, und Matilde steuerte mit ihrer Hilfe die Gästetoilette an. Dort sank sie auf die Knie, umklammerte die Kloschüssel und begann zu würgen. Helle kniete sich hinter sie und streichelte ihr den Rücken. Sie würde Matilde Larsen nicht alleinelassen können, die jetzt laut in die Kloschüssel schluchzte und am ganzen mageren Körper zitterte.

Helle zog ihr Handy aus der Hosentasche und überlegte, welche Kollegin sie hierherbestellen sollte. Amira, die junge Polizeianwärterin aus Afghanistan oder doch lieber Marianne, die Mütterliche. Sie entschied sich für Letztere. Ihre Sekretärin Marianne war knapp über sechzig und litt laut eigenem

Die Schluchzer wurden jetzt weniger, auch das Zittern, und Matilde Larsen ließ den Kopf gänzlich in die Schüssel sinken. Sie murmelte jetzt leise vor sich hin, aber Helle konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie hatte sich gerade entschlossen, Matilde wieder aufzuhelfen und sie im Wohnzimmer auf das Sofa zu betten, als die verzweifelte Frau den Kopf hob und laut und vernehmlich sagte: »Ich war es. Ich bin schuld. Es ist alles nur wegen mir.«

 

Eine gute Stunde später ließ Helle sich erschöpft auf den Stuhl in ihrem Büro sinken. Trotz des dicken Pullovers und der maximal aufgedrehten Heizung fror sie erbärmlich. Übermüdung. Ihre Lider waren schwer, der Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen – was durch die stickige Heizungsluft in ihrem kleinen Kabuff nicht gerade besser wurde –, und sie hätte am liebsten die Stirn auf die Schreibtischplatte sinken lassen und wäre eingeschlafen.

Stattdessen nippte sie an dem Kaffee, den ihr Kollege Jan-Cristofer ihr gerade in die Hand gedrückt hatte, und schaltete den Computer an.

Sie musste ein Protokoll des Gesprächs mit Matilde Larsen für Gudmund schreiben. Helle versuchte, darüber nachzudenken, ob und wenn ja wie sie das Quasi-Geständnis der Witwe im Protokoll erwähnen sollte. Wenn sie es unter den Tisch fallen ließ, wäre das höchst riskant. Am Ende erwähnte Matilde einem anderen Polizisten gegenüber, vielleicht sogar Sören Gudmund selbst, dass sie doch schon ein Geständnis abgelegt hatte.

Auf der anderen Seite war Helle sich völlig im Klaren darüber, dass das, was Matilde unter Schock von sich gegeben hatte, nicht als »echtes« Geständnis zu werten war. Denn als Helle es im Zuhause der Larsens endlich geschafft hatte,

 

Jetzt saß Helle in ihrem Büro und musste diplomatisch begründen, warum sie Matilde Larsen nicht gleich mit auf die Polizeiwache zur Vernehmung genommen hatte. Sie nippte am Kaffee, und während der PC langsam hochfuhr, entschied sich Helle für die Formulierung, dass die Witwe des Ermordeten nicht in geistig klarer Verfassung war und unter Schock stehend sich selbst bezichtigte, am Tod ihres Mannes schuld zu sein – dabei war sie jedoch von Selbstmord ausgegangen.

 

Doch Helle kam gar nicht dazu, ihr Protokoll zu Papier zu bringen. Sören Gudmund war ihr zuvorgekommen und hatte ihr seinerseits bereits Unterlagen geschickt, nämlich nähere Details über den Fundort des Toten, die mutmaßliche Todeszeit und vor allem: die Todesursache.

Der kandierte Apfel, der tief in Mund und Rachen des Opfers steckte, war nicht ursächlich schuld am Tod von Larsen gewesen. Er war an einem Herzstillstand gestorben, der aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb eingetreten war, weil der

Helle spuckte augenblicklich den bitteren Kaffee in den Papierkorb.

Gut gemacht, gut gemacht, das hat es gut gemacht.

Es kann stolz auf sich sein, aber wirklich!

Ob es eine Belohnung bekommt?

Eine kleine Süßigkeit, weil es so brav gewesen ist. Weil es seine Arbeit getan hat.

Vielleicht Popcorn? Oder kandierte Früchte?

Aber es muss vorsichtig sein, wenn es sich aus der Deckung wagt. Es darf kein Risiko eingehen.

Überall Bullen.

Es kann heute nicht im Schuppen schlafen, es muss sich ein neues Plätzchen suchen. Ein oder zwei Nächte.

Besser, es geht ein paar Tage nach Christiania. Da kann es immer untertauchen.

Aber dann muss es weitermachen, muss seine Arbeit machen. Darf nicht ruhen. Darf die anderen nicht vergessen!

Hat sich so einen schönen Plan gemacht.

Gutes Kind!

Braves Kind!

Das brave Kind bekommt eine Belohnung. Nur das brave.

Brav, brav, brav.

Aber es belohnt sich selbst, es macht jetzt den Plan selbst, es weiß, was es tut.

Es ist nicht umsonst hierhergekommen, das brave Kind.

Die weite Reise!

Alles hat das Kind gut gemacht. Hat alles geschafft, das brave Kind.

Den ersten.

Das gute Kind wird belohnt.

Popcorn?

Oder ein kandierter Apfel?

Die Polizeistation von Skagen lag an der Ausfallstraße nach Fredrikshavn. Ein flacher Bungalow aus den Sechzigern, der Linoleumboden grün wie Galle. Kleine Räume links und rechts des geraden Gangs, der vom Eingang zur Arrestzelle führte. Vor zehn Jahren hatte Helle eine zusätzliche Wand einziehen lassen, damit nicht jeder, der zu Besuch kam, gleich in den Gang stürmte, sondern von Marianne, die über den so geschaffenen Empfangstresen herrschte, aufgehalten wurde.

Eine Maßnahme, die nicht unbedingt notwendig gewesen war, aber allen ein Gefühl der Struktur und Wertigkeit gab.

Marianne war der Filter, an dem die Bagatelldelikte – Beschwerden über Lärmbelästigung, das Laub des Nachbarn oder falsch parkende Touristenautos – aufbrandeten und nur das wirklich Wichtige weitergeleitet wurde. Einfache Diebstähle, betrunkene Jugendliche oder verbale Beleidigungen durften sich die ersten beiden Zimmer links und rechts des Gangs teilen. In dem einen saßen Ole, Helles politisches Sorgenkind, und Amira, erstes Ausbildungsjahr. Jan-Cristofer, der bereits mehrere Jahre auf dem Buckel hatte und mit Helle seit ihren gemeinsamen Anfangsjahren Dienst schob, saß in dem Kabuff gegenüber. Zwei Schritte weiter auf dem gallegrünen Flur waren die Toiletten und erst danach das Chefzimmer von Helle links, die Arrestzelle rechts.

Keine Kaffeeküche. Kein Archiv. Kein separater Raum für Verhöre.

Alte Akten stapelten sich überall, wo auch nur ein Zentimeter Platz war. Oder wo Marianne Platz schuf. Tag für Tag räumte sie beständig Papierstapel von hier nach dort. Von

Verhöre – oder Befragungen, wie Helle es lieber nannte – wurden in den Dienstzimmern geführt. Oder bei einer Zigarette im Garten. Was so Garten genannt wurde. Ein Grünstreifen rund um den Bungalow, drei weiße Plastikstühle und ein Aschenbecher aus Beton.

Kaffeeküche wozu?

Marianne brachte ihre Thermoskanne mit. Damit versorgte sie Ole und Jan-Cristofer, Amira trank Tee, den sie sich mit ihrem Wasserkocher zubereitete. Helle hatte einen Porzellanfilter und goss per Hand auf. Wer Kaffee trinken wollte, musste sich eine abgespülte Tasse aus der Toilette holen, dort stapelte Marianne sie nach dem Abspülen auf dem karierten Geschirrhandtuch auf der Ablage unter dem Spiegel.

 

Helle goss zum dritten Mal heißes Wasser in den Filter mit dem Kaffeepulver. Sie mochte diese Art der Zubereitung, die Zeit, Sorgfalt und Aufmerksamkeit erforderte, viel lieber als die komplizierte Bedienung des »Biests«, wie sie die monströse italienische Gaggia-Kaffeemaschine zu Hause nannten.

Der Duft des frisch gebrühten Kaffees erfüllte den kleinen Raum und verdrängte den Geruch von altem Papier, das sich an den Wänden stapelte, dem Fisherman’s-Friend-Bonbon, das Jan-Cristofer lutschte, damit niemand roch, dass er noch immer eine Fahne hatte, und dem blumigen Parfum Mariannes.

Helle beobachtete, wie das Wasser am Rand des Filterpapiers schäumte und dann langsam durch das Kaffeepulver sickerte, bis nur noch eine dunkle lehmige Masse

Als der letzte Tropfen versickert und in der Kanne gelandet war, setzte Helle den Filter behutsam ab, nahm die Kaffeekanne und drehte sich um. Vier Gesichter blickten ihr erwartungsvoll entgegen.

Mord. Kaum einer ihrer Leute hatte das hier bisher erlebt. Hier in Skagen. Einzig für Helle und Jan-Cristofer war es in ihrer langen Berufslaufbahn nicht das erste Mal, dass sie mit gewaltsam zu Tode gebrachten Menschen konfrontiert wurden. Helle hatte Selbstmörder gesehen, Drogenopfer, aber auch – angefangen mit dem kleinen Mädchen – Tote, die durch Gewalt anderer gestorben waren. Wie auch der Junge auf dem Frühlingsfest. Aber nichts war auch nur annähernd so makaber gewesen wie die Art des Todes von Gunnar Larsen. Das war weit entfernt von Routine, und Helle ahnte, dass es in den kommenden Tagen und Wochen aufregend werden würde – für sie alle.

»Mord. In Skagen!« Ole hibbelte auf seinem Stuhl herum. Der junge Beamte hatte ein unbestimmtes Glitzern in den Augen, guckte aufgeregt von Helle zu seinen Kollegen und konnte nicht still sitzen.