Über Nicholas Shakespeare

Nicholas Shakespeare, 1957 in Worcester/England geboren, wuchs als Sohn eines Diplomaten in Asien und Lateinamerika auf. Heute lebt er im englischen Wiltshire und in Swansea/Tasmanien. Er veröffentlichte mehrere Romane, darunter Sturm und Der Obrist und die Tänzerin, verfilmt unter der Regie von John Malkovich, und eine große Bruce-Chatwin-Biographie. Bei Hoffmann und Campe erschienen bisher Priscilla Von Liebe und Überleben in stürmischen Zeiten (2014) und Broken Hill (2016).

sind die Gesichter all derer, die ich liebte.

 

Wie kannst du sagen, ich sei hässlich?

 

Wjatscheslaw G. Kuprijanow

Jetzt, da ich nicht mehr in Indien lebe, muss ich an heißen Tagen stets an einen großen Swimmingpool in Bombay und an Sylvia Billington denken.

Wir lagen auf Liegestühlen – Sylvia, ihr Mann Hugh und ich –, auf einem Rasenstreifen unmittelbar neben dem Pool, mit Blick auf das Arabische Meer. Es war V-J Day, der Tag des Siegs über Japan im Zweiten Weltkrieg, und Geräusche und Ausblicke verschwammen in der Hitze des Vormittags. Von der Breach Candy Road war das Rauschen des Verkehrs zu hören, und ein schwacher süßsaurer Geruch von Müll hing in der Luft. Wenn ich meine Augen halb schloss, schwand die Welt bis auf ein Rechteck tiefblauen Himmels, das wahrscheinlich eine Spiegelung des Pools war.

Zu jener Zeit – den späten sechziger Jahren – war ich erst seit wenigen Wochen in Indien und als temporäres Mitglied des Breach Candy Swimming Pool Club mit dessen Hierarchien nicht vertraut. Zehn Meter von uns entfernt hatte das Personal des Russischen Konsulats ein Feld mit Netz, das immer dann dort hing, »wenn sie nicht gerade Dissidenten aufhängten«, um es mit Hughs Worten zu sagen. Sie redeten nicht viel, sondern schlugen einen ledernen Volleyball hin und her. Ich sah einen barfüßigen Gärtner mit Khakishorts, der in der Hocke saß und Unkraut zupfte. Etwas näher stritt eine Frau, die noch weißer war als ich und einen

Boinnnngggg!

Sylvia blinzelte angespannt nach oben. Links über uns federte ein muskulöser junger Mann in einer winzigen knallroten Badehose vom Sprungbrett.

Wuuuuusch! Er glitt ins Wasser.

Sekunden später tauchte ein blonder Kopf auf. Der Mann strich sich das Haar nach hinten wie jemand, der gern einen Spiegel hätte, und schwamm dann zu den Stufen für seinen nächsten Sprung.

Nach einem weiteren kurzen Blick auf den Kunstspringer setzte Sylvia ihre Sonnenbrille auf und nahm die Illustrated Weekly zur Hand.

Der Breach Swimming Pool Club lag an der Straße zum Gymkhana Club. Er war abends nie geöffnet, aber an schwülen Tagen kamen die in Bombay lebenden Ausländer oft hierher, um in den kühlen Pool zu springen und anschließend einen Nimbu Pani zu genießen, ein erfrischendes Getränk aus Limetten, Zucker und Wasser, das in Longdrink-Gläsern serviert wird. Abgesehen von einigen Filmstars gab es keine indischen Mitglieder. In den Kreisen, in denen die Billingtons verkehrten, wurde der Club jovial als »Das weiße Loch von Bombay« bezeichnet.

Die Billingtons zählten in jeder Hinsicht zu seinen ältesten Mitgliedern. Sie gehörten sozusagen zur Einrichtung, genauso wie der Planters Chair, der ständig ausgebessert werden musste, oder die glänzenden weißen Teller, von de

Schon bevor ich sie kennenlernte, hatte ich das Bild eines sparsamen, kinderlosen Paars im fortgeschrittenen Alter gewonnen, das in einem bescheidenen Apartment in Malabar Hill lebte. Niemand schien je bei ihnen zu Hause gewesen zu sein, und der Tonfall, in dem das Wort »bescheiden« gesprochen wurde, deutete darauf hin, dass es Gründe gab, warum die Billingtons ihre sozialen Kontakte im Club pflegten.

Dies war erst unsere zweite Begegnung am Pool. Die erste hatte am Samstag zuvor stattgefunden. Ich war am späten Nachmittag an einem Liegestuhl vorbeigelaufen, als ich den forschenden Blick blauer Augen bemerkte, die mich über den Rand einer Zeitschrift ansahen.

»Sie sind nicht zufällig, ––––––––––?« Sie sagte meinen Namen.

»Der bin ich.«

Die Frau nahm ihre Brille ab und stand auf. »Sylvia Billington.«

Ich sah in ein von den Tropen gegerbtes Gesicht. Die Haut unter ihrem Make-up war faltig, als hätte man sie zu sehr gespannt und dann losgelassen, und ihr strohblondes Haar, von dem sie mir später versicherte, es sei einmal »ellbogenlang und rot« gewesen, hatte sich zu dünnen, platt auf dem Schädel liegenden Löckchen verflüchtigt. Sie trug einen jadegrünen Badeanzug, der ihre Brüste betonte.

Sylvia Billington betrachtete sich im Gegensatz zu den übrigen Leuten am Pool nicht als Ausländerin auf Durchreise, sondern als Einheimische mit weit zurückreichenden Wurzeln. Sie war in Indien geboren, als Tochter eines protestantischen irischen Baumwollhändlers. Dort hatte sie auch Hugh kennengelernt und geheiratet, bevor der Krieg ihn weiter nach Osten trieb.

Bei unserer ersten Begegnung hatte sie beiläufig die »Heldentaten« ihres Mannes erwähnt und wartete darauf, dass ich weiter danach fragte. Sie war sogar ziemlich beleidigt, dass ich nicht mitspielte und mich stattdessen umdrehte, als einer der Russen uns etwas zurief und ich einen Lederball in unsere Richtung hüpfen sah.

Er wurde von einem Mann abgefangen, der mir bis dahin noch nicht aufgefallen war: eine menschliche Bulldogge, offenbar Brite, in weißen Shorts und einem braunblauen Buschhemd. Er sprang vor und warf den Ball mit einer erstaunlich geschickten Bewegung hart und platziert zurück aufs Feld.

Bei der Aktion war seine Zigarette abgebrochen. Er trat die glühende Asche auf dem Boden aus und lief dann in unsere Richtung.

Hugh Billington erschien mir damals und in späteren Unterhaltungen als ein Mann von unaufdringlicher Natur, prinzipientreu, neidlos – und entwaffnend gleichgültig.

»Störe ich?« Er verscheuchte eine Fliege von seiner fleischigen Nase.

»Ich wollte ihm gerade von deiner Zeit in Birma erzählen«, sagte Sylvia.

Das einzige Körnchen Bitterkeit im Leben der Billingtons war Sylvias Enttäuschung darüber, dass Hugh aus seinem »sehr guten Krieg« nicht mehr Kapital geschlagen hatte, als habe er sich vorsätzlich darum bringen wollen. Aber der Stolz auf ihren Mann war rührend.

»Ich muss Lobeshymnen auf ihn singen«, sagte Sylvia zu mir. »Hugh ist so erzogen worden, dass er nicht viel redet, nicht wahr, Liebling? Aber du erinnerst dich an alles.«

Ich glaubte in Sylvias Blick die Intensität ihrer Sehnsucht zu erkennen, hinter dem Bierbauch und den weißen Haarsträhnen den tapferen Mann zurückzugewinnen, der für drei lange Jahre im Dschungel verschwunden war und lebend wieder herausgefunden hatte.

Und ich sah Hughs festen Entschluss, nicht dabei mitzumachen.

Er stand leicht zusammengesunken im Licht der Nachmittagssonne.

»Ich denke, schon«, sagte er, bereits eine neue indische Zigarette paffend, »aber einiges möchte ich gar nicht wissen.«

Und dann: »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

»Haben Sie noch etwas vor später?«, wandte Sylvia sich plötzlich an mich, und bevor ich antworten konnte, fragte

Im einfachen Restaurant des Hotels waren die Billingtons an diesem Abend ziemlich beschwipst. Ich hatte alten Menschen immer gern zugehört, und anscheinend hatte ich ein Interesse an ihrer Geschichte gezeigt. Außerdem gefielen sie mir in ihrer unterschiedlichen Art. Sylvia, die ein knöchellanges Kleid trug und statt des pinkfarbenen einen maulbeerfarbenen Lippenstift aufgetragen hatte, bestritt einen Großteil der Unterhaltung. Ich versuchte Hugh ins Gespräch zu ziehen, indem ich ihn nach seiner Arbeit fragte, aber er gab nur ausweichende Antworten. In diesen Tagen, dreiundzwanzig Jahre nach der Kapitulation Japans, war er, seinen eigenen Worten nach, »eine ganz kleine Nummer«, jemand, den die hohen Tiere vor Ort britischen Geschäftsleuten, die ins Textilgeschäft einsteigen wollten, gern als leutseliges, vertrautes Gesicht präsentierten. »Viele von ihnen scheuen sich zu investieren, weil sie Angst haben, kein Geld zu sehen. Die Inder sind dafür bekannt, irgendwann zu zahlen, aber›irgendwann‹ reichte meiner alten Firma nicht.« Es schien ihm offenbar unwichtig, wie er auf andere wirkte, und das war löblich.

Lebhafter wurde er, als er auf die Russen zu sprechen kam (»nicht besser als die Japsen«). Oder Cricket (er war in seinem Regiment Torhüter gewesen). Oder – nach einigen Bieren – auf den traurigen Zustand, in den Birma abgerutscht war, wo er sich einst bei den Chindits unter General Wingates ausgezeichnet hatte. Das Problem war, dass Hughs Bosse bei Makertich&Co. in jüngster Zeit immer offener von ihm verlangten, er solle seine ihm absurderweise unterstellten lukrativen Kontakte zu Birma ausnutzen.

»Birma ist ein Land, von dem nur wenige Leute etwas wis

Hugh vermittelte den Eindruck, dass sie nicht geantwortet hatten.

 

Unsere zweite Begegnung fand eine Woche später statt, am Morgen des V-J Day. Ich war zum Pool gekommen, um allein zu sein, aber als ich den Rasen überquerte, hörte ich Sylvia etwas in einem unwirschen Ton sagen. Köpfe drehten sich um, und ich erblickte Hughs gequältes Gesicht. Ich sah, dass er nichts dagegen hätte, wenn ich zu seiner Rettung käme.

Anstatt also zu meiner reservierten Liege zu gehen, blieb ich beim Tisch der Billingtons stehen und unterbrach ihren Streit.

»Sieh nur, wer da ist«, sagte Hugh.

»Was für eine Überraschung.« Der Auftritt wirkte ein wenig theatralisch, da Sylvia mich kommen gesehen hatte.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich die Anspannung auflöste, aber schon bald wurde wieder gelacht. Nachdem die Köpfe sich zurückgedreht hatten, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen: Worum ging es hier eigentlich?

Ich spürte die Nachmittagshitze und die nach wie vor aufgeladene Atmosphäre, als Sylvia mir von dem himmelschreienden Unrecht erzählte, das Hugh widerfahren war.

»Hugh wurde für seine Verdienste in dem Land mit dem Victoria-Kreuz ausgezeichnet«, sagte sie. »Und was hat er nun davon? Er bewirbt sich um ein Visum, und sie antworten ihm nicht einmal!«

»Das Victoria-Kreuz?« Ich konnte meine Bewunderung nicht verbergen. Ich hatte eher an eine Auszeichnung für besondere Verdienste gedacht wie den Distinguished Service Order oder Ähnliches.

»Sehen Sie!« Ihr Zorn war gerechtfertigt. »Aber wenn es nach Hugh ginge, würde er die ganze Sache am liebsten vergessen. Er geht nicht einmal mehr zu den jährlichen Gedenkgottesdiensten.«

»Bist du sicher, dass du kein Sandwich möchtest, Liebling?«, fragte Hugh.

»Nein, ich gehe ins Wasser. Aber vielleicht möchte er eins.« Sie drängte mich, einen Stuhl heranzuziehen und mit ihrem Mann ein getoastetes Sandwich zu essen.

Sylvia nahm ihre Badekappe, die mit Plastikblüten bedeckt war, und stülpte sie um, bevor sie sie aufsetzte. »Erzähl es ihm, Hugh. Nicht mir. Es sind Dinge, über die du durchaus reden kannst.«

Sie stand auf und schob ihre Zehen in ein Paar Flip-Flops.

»Mein Mann kann Ihnen erzählen, was er in der Nacht des 15. Juni 1944 gemacht hat.«

Und so öffnete sich Hugh mir ohne größeres Drängen bei einem Glas Bier und einem Steak-Sandwich, das wie immer zu lange gebraten hatte, wie wir einhellig feststellten. Ich fragte mich, ob der V-J Day der Auslöser war. Oder ob er seine Frau zufriedenstellen wollte. Irgendeine Art von Zu

»Meine Frau will, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung setze. In Wahrheit möchte ich nicht mehr zurück nach Birma. Nicht einmal um ihretwillen.« Er schielte zum Pool hinüber, wo das Rund ihrer Badekappe wie ein Zyklopenauge aus dem Wasser ragte. Dann sagte er im gleichen nüchternen Ton, mit dem er seinen Witz über die Russen gemacht hatte: »Ich würde Sylvia nur ungern allein lassen. Sie kommt allein nicht gut zurecht.«

 

Das Beeindruckendste an Hugh Billington war vielleicht die Gleichgültigkeit, die er für sein eigenes Heldentum empfand. Nachdem er mir erzählt hatte, wofür er das Victoria-Kreuz verliehen bekommen hatte, streckte er sich auf der Liege aus und sagte: »Ich werde mal ein Nickerchen machen.«

Ich hatte beabsichtigt, mich vor Sylvias Rückkehr davonzustehlen, aber ich saß immer noch da, als ein dunkler Schatten über meinen Brustkorb fiel und ich in Erwartung einer hungrigen Krähe abwehrend meine Hand hob.

»Und? Hat er Ihnen alles verraten?«

»Ich glaube schon.«

Sylvia sah auf die ausgestreckte Gestalt ihres Mannes, die Augen geschlossen, ein Rest Bratensoße am Mundwinkel. Er war ein kräftiger Mann, der wendig sein konnte, wenn er es wollte. Dennoch war es schwer sich vorzustellen, wie diese Arme und Beine durch Matsch und Dunkelheit robbten, um elf seiner Männer zu retten; und das, nachdem

»Hugh?«

Er nickte, ohne sich zu rühren oder seine Augen zu öffnen.

»Ich bin froh. Es ist wichtig, dass die Leute es wissen.« Sie wandte sich an mich. »Er ist so bescheiden, dass man schreien möchte. Natürlich hat er mir die Details erspart, aber es war auch so kaum zu ertragen.« Seine Stimme nachahmend, beugte sie sich näher zu mir, damit er ihr Flüstern nicht mitbekam. »Stellen Sie sich die schlimmste, grausamste Art vor, auf die man Menschen quälen kann. Und nun verdoppeln Sie diese. Das Schlimmste, und noch mal das Schlimmste.«

Hugh brummte etwas, damit sie schwieg.

»Was Hugh getan hat, war außergewöhnlich«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. Ich kannte viele Kriegsgeschichten, aber kein Beispiel für so große Tapferkeit und Selbstlosigkeit; und das lag nicht daran, weil ich diese hier aus dem Mund des Betroffenen gehört hatte.

Sylvia zog ihre Badekappe ab und schüttelte ihr Haar. »Man würde es nicht glauben, wenn man ihn so sieht, nicht wahr? Es macht mich immer rasend, wenn er es mir überlässt, sein Loblied zu singen.« Sie griff nach einem Handtuch und betupfte ihr vom Wasser glänzendes Dekolleté. »Ich laufe nicht in der Gegend herum und bitte die Leute, ihm zuzuhören, wissen Sie.« Sie starrte mich auf eine Weise an, die andeuten sollte, dass Hugh mir durch sein Reden eine seltene Ehre erwiesen hatte und dass es nur sehr wenige waren, die von der Tapferkeit ihres Mannes wussten, jenes

»Nein, er ist ein wahrer Schatz«, sagte sie, und der Liegestuhl knarzte, als sie sich hineinfallen ließ.

Sylvia ließ das Handtuch ins Gras fallen und löste die Träger ihres Badeanzugs. Dann tauchte sie ihre Finger in eine flache blaue Dose und begann ihre Waden und Schienbeine mit Nivea-Creme einzureiben.

Wie viele von uns, sah auch Sylvia sich noch so, wie sie vor zehn Jahren gewesen war. Sie hatte sich mir zugewandt, um sicherzustellen, dass ich ihr zusah, und vielleicht auch, um anzudeuten, dass sie einmal eine gutaussehende Frau gewesen war. Aber ich war dreißig, sie Mitte fünfzig. Ich fand sie sexuell nicht begehrenswert oder auch nur aufreizend – nicht in diesem Moment.

»Sie holen sich einen Sonnenbrand.«

Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Sylvia sich vorgebeugt und rieb meine Schultern mit Nivea ein. Die sanfte Art, mit der sie die Creme verrieb, sagte mir, dass mein Rücken verbrannt war, und ihr Atem, dass sie einen Schluck Gin getrunken hatte.

»In gewisser Weise war es auch für mich ein harter Krieg«, sagte sie mit tiefer Stimme und sah hoch.

Ich wartete gespannt darauf, dass sie fortfuhr, als ihr Gesicht plötzlich erstarrte. Sie hatte den Kunstspringer oben verschwommen wahrgenommen.

Man konnte diesen großen blonden Idioten einfach nicht ausblenden. Wo auch immer man sich in der Nähe des Pools aufhielt und mit jemandem redete, stets sah man aus dem Augenwinkel seine leuchtend rote Speedo-Badehose.

Er lief zum Ende des Sprungbretts, straffte seinen Körper und blickte auf uns herab.

Sein Brustkorb sah aus wie eine Tafel Fabrikschokolade. Er trat auf das Brett, machte einen Salto in der Luft und tauchte elegant ins Wasser.

In seiner Eitelkeit erinnerte er mich an einen Jungen aus meiner Schulzeit, ein ständiger Störenfried im Unterricht, aber auf dem Sportplatz wendig und konzentriert.

»Kennen Sie ihn? Er müsste in Ihrem Alter sein.«

»Er heißt Jonathan«, sagte ich. »Er kommt aus Michigan und arbeitet in einer Werbeagentur.«

»Das weiß ich«, erwiderte Sylvia mit ihrem spitzen Mittelklasse-Akzent. Sie drückte den Deckel auf die Dose. »Möchten Sie einen Drink?« Ich vermutete, sie hatte vergessen, was sie sagen wollte, woraufhin unser Gespräch versandete.

Ich winkte einen Kellner herbei, bestellte unsere Drinks und ließ sie auf meine Rechnung setzen.

Sylvia wirkte teilnahmslos. Sie war dankbar, dass ich die Tapferkeit ihres Mannes erkannt hatte. Gleichzeitig war sie auf seltsame Weise verunsichert, dass Hugh mit mir gesprochen hatte.

Sylvia nahm ihre Zeitschrift. Aber statt darin zu lesen, blickte sie zu dem Springer hinüber. Vielleicht dachte sie an ihre abenteuerliche Jugend. Bumm! Platsch! Und schon ist sie vorüber.

Während er auf dem Brett federte, erschienen mir seine Bewegungen wie die dynamische Abfolge von Körperkonturen auf einem futuristischen Gemälde. Zumindest wurde viel technisches Können gezeigt. »Wie ein Hockney«, sagte ich. »Der ist auch mit Pools groß rausgekommen.« Ich erwähnte eine Ausstellung, die ich in London gesehen hatte, doch schon im nächsten Moment war es

In dem Augenblick legte sie ihre Zeitschrift zur Seite, nahm ihre Sonnenbrille ab und wandte sich ihrem Mann zu.

»Liebling, darf ich mir eine Zigarette … Oh … Er ist eingenickt.«

Sie griff unter seine Liege und angelte sich die Packung. Dann zog sie eine Zigarette hervor.

»Ich habe einmal einen Maler gekannt.«

 

Während Hugh in Birma seine »Heldentaten vollbracht hatte«, hatte Sylvia in Delhi eine Affäre mit einem indischen Maler gehabt, für den sie als Aktmodell saß.

Ich weiß nicht, wie vielen Leuten sie die Geschichte erzählt hatte. Vermutlich nicht vielen. Aber Sylvia hatte etwas von ihrem Schwung verloren, und ich fragte mich, ob sie ihn dadurch wiederzugewinnen hoffte, dass sie mir ein Abenteuer aus ihrem Leben anvertraute.

»Sein Name war Bhero Sethi. Er war nicht besonders bekannt. Wir liebten uns sehr.«

Sie zog einen Aschenbecher heran und entzündete ein Streichholz. Ihre Wangenknochen traten hervor, als sie an der Zigarette zog.

»Er hatte einen indischen Spitznamen für mich, der einzige Spitzname, den ich je hatte. Er nannte mich – oh, jetzt komme ich nicht drauf. Es macht mich rasend, wie mir in meinem Alter die Wörter entfallen. Warten Sie, er fällt mir gleich wieder ein.« Aber dem war nicht so.

Ich war irritiert, dass sie mir ihre Geschichte unmittelbar neben ihrem schlafenden Mann erzählen wollte, und sah immer wieder zu Hugh hinüber.

»Ich liebte seine Energie. Das vermisst man am meisten, wenn man älter wird. Ich werde nicht erklären, wie es dazu kam. Ich hatte seit einem Jahr nichts von Hugh gehört. Bhero sah, dass ich mich nach Nähe sehnte. ›Wohin verschwindet dein Lächeln, wenn du nicht lachst?‹, sagte er.«

Rauch strömte aus ihren Nasenlöchern. Die Falten in ihrem Gesicht schienen auf wundersame Weise zu verschwinden. Sie sah jünger aus.

»Wissen Sie, was er bei unserer ersten Begegnung sagte? ›Haben Sie ein Porträt von sich auf dem Dachboden?‹ Oh, Bhero konnte seine Passion nie verheimlichen. Genauso wenig wie ich. Als ich einmal einen Faltenrock trug, verglich er meine Taille mit einem Knallbonbon. Stellen Sie sich das vor!« Sie legte eine Hand auf mein Handgelenk.

Erneut inhalierte sie mit hohlen Wangen. In der Erinnerung sah sie ihn vor sich. »Nicht dick, nicht dünn – was Mutter einen ›ordentlichen Kerl‹ nannte. Leicht blutunterlaufene Augen. Ergraute Schläfen. Spärliches schwarzes Haar auf der Brust, ein Muttermal auf der Hüfte. Als Kind war er an Hirnhautentzündung erkrankt und musste Beinschienen tragen, wodurch ein Bein leicht verkümmerte, aber er achtete darauf, es in meiner Gegenwart nicht nachzuziehen.«

Sie kannten sich schon sechs Monate, bevor er sie fragte, ob sie für ihn Modell sitzen wolle. »Er konnte sonst bloß Prostituierte als Modelle finden, also sagte ich ja. Damals

»Wie sollten Sie denn werden?«

»Oh, brav. Brave Mädchen behalten ihre Kleider an. Als ich Hugh kennenlernte, dachte ich: achtzehn – Zeit, meine Unschuld loszuwerden.«

Ihre Stimme klang unbekümmert, aber ihr Blick war ernst. Ehe ich mich’s versah, führte ihre Schilderung mich über blanke Stufen in ein Künstleratelier im Westen Delhis. Sie beschrieb eine kleine Veranda. Einen gelb changierenden Seidenvorhang, der den Raum teilte. Ich sah zu Hugh hinüber.

»Ich liebte den Kreidegeruch im Vorhang. Ich liebte ihn einfach.«

Er hatte ein paar Bleistift- und Pastellskizzen in verschiedenen Posen gemacht. »Mal stehend, mal liegend, mal mitten im Raum sitzend, auf einem Stuhl, seinem Bett, was immer er sagte. Mach dies oder mach das … Oh, wie nannte er mich damals nur?« Ein Wurm heißer Zigarettenasche fiel ins Gras, als sie den Spitznamen mit einer Handbewegung heraufbeschwören wollte.

»Namen, Namen, um drei Uhr in der Früh fallen sie einem wieder ein.«

Ihre kleinen blauen Augen glühten und hatten sich geweitet. Eins nach dem anderen fing sie die Bilder ein, die die Vergangenheit ihr bereitwillig zuwarf. An eins dieser Bilder klammerte sie sich mit besonders leidenschaftlicher Wehmut. Sie trug es vor sich her wie ein randvolles Glas Gin, von

Die Skizzen dienten als Vorstudien für ein ganz bestimmtes wollüstiges Ölgemälde.

»Bhero war von der Idee besessen, es sollte sein ›Opus magnum‹ werden – das Bild, mit dem er der Nachwelt in Erinnerung bleiben würde. Er arbeitete ein ganzes Jahr lang daran. An einem einzigen Gemälde! Er sagte mir immer wieder, es sei die große Chance für seinen Durchbruch. Ich vermute, alle Künstler behaupten das.«

Sylvia lächelte amüsiert, dann wurde sie wieder ernst. Sie brauchte einen Verbündeten, der sie behutsam hinter den nach Kreide riechenden Vorhang begleitete, in das schmale Hinterzimmer, wo sie für ihn Modell gesessen hatte.

»Ich kam mir als etwas sehr Besonderes vor«, sagte sie mit feuchten Augen. »Er wollte mich so malen wie diese Frau auf dem Gemälde in London, Sie wissen schon, die dem Betrachter den Rücken zuwendet.«

»Die Venus vor dem Spiegel von Velázquez?«, sagte ich nickend.

Sie lächelte leicht, aber ohne jeden Anflug von Humor. »Allerdings sollte ich mich dem Künstler zuwenden …«

Zwei Schritte von uns entfernt bewegte Hugh sich im Schlaf.

Sie beugte sich weiter vor, sodass ihr Kinn beinahe ihre Knie berührte. »Wie gesagt, wir liebten uns sehr – das war mehr als bloße Leidenschaft.« Ihre Stimme klang zunehmend weicher. Ich schob meinen Kopf näher zu ihr. Wir atmeten die gleiche Luft vor ihrem Gesicht. »Es ging nicht um Sex. Oh, in gewisser Weise schon, aber andererseits auch wieder ganz und gar nicht. Für jemanden Modell zu sitzen bedeutet ein wechselseitiges Geben und Empfangen.

»Wie ging es aus?«

»Furchtbar.« Ihr Arm sank langsam herab. »Als Hugh zurückkam, hatte ich größte Schwierigkeiten, zu ihm zurückzufinden. Aber er war im Krieg gewesen …«

»Haben Sie Bhero wiedergesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht hatte einen schmerzlichen, düsteren Ausdruck angenommen. Sie starrte auf ihre glänzenden Schienbeine, dann auf ihren Mann, bevor sie zu mir aufschaute. »Aber ich habe sein Gemälde gesehen.«

 

Einige Jahre nach dem Krieg waren die Billingtons Gäste in einem Militärklub in Delhi gewesen. Nach dem Essen gingen sie in die Offiziersbar.

»Heute ist alles fest in indischer Hand; aber gleichzeitig britischer als die Briten selbst – Holzvertäfelung, Regimentsfahnen und alles andere. Hugh bekam einen Whisky angeboten, ich nahm auch einen. Die übliche Unterhaltung. Der kommandierende Offizier tat so, als spräche er mit Hugh – banaler Small Talk –, aber ich sah an seinem Blick, dass er in Gedanken bei mir war und sich zweifellos Chancen ausrechnete, wenn mein Mann einmal auf einer längeren Dienstreise wäre. Dann sagte er: ›Ich habe da noch was Besseres. Black Label! Drüben in meiner Junggesellenbude.‹

Die Tonlosigkeit ihrer Stimme verriet mir, dass alles, was Sylvia mir bisher erzählt hatte, ein Vorspiel zu jenem Gang über den Hof gewesen war.

»Wir durchquerten einen Raum und kamen an ein angrenzendes Zimmer, das abgeschlossen war. ›Das ist meine Höhle, in der ich meine militärischen Feldzüge plane‹, sagte er, als er die Tür öffnete. Mit leuchtenden Augen und in leicht laszivem Ton fügte er für mich hinzu: ›Welche Geheimnisse dieser Raum erzählen könnte!‹

Wir gingen hinein. An den Wänden die üblichen Schwerter und Dolche und ein mit Einlegearbeiten verziertes afghanisches Gewehr. Es gab ein Sofa, über das eine Decke geworfen war. Und als Schmuckstück des Zimmers dieses ziemlich großformatige Gemälde in einem Zierrahmen an der rückseitigen Wand. Ich ging darauf zu und sah zu meinem Entsetzen – mich selbst. In der Horizontalen. Mit roten Haaren.«

Sie suchte meinen Blick, um sicherzugehen, dass ich verstand.

»Ich ging weiter, aber tatsächlich war ich wie erstarrt. Mein Herz raste, mein Gesicht brannte wie Feuer, und gleichzeitig durchfuhr mich ein eisiger Strahl …

Unser Gastgeber zeigte mit der geöffneten Flasche in der Hand auf das Bild und war gespannt auf unsere Meinung. ›Nun, wie finden Sie es? Ich habe es in Nangloi erworben, von einem heruntergekommenen Kerl, der ein Bein nachzog.‹ Er lachte. ›Er wollte es nicht verkaufen, aber ihm blieb keine andere Wahl.‹

Er ließ sich einen Moment Zeit und bemerkte dann auf seine joviale Art: ›Wenn es um moderne Kunst geht, bin ich überfragt.‹«

Ich stellte mir Sylvias Erleichterung vor und sagte etwas in dieser Richtung zu ihr. Aber sie lächelte nur schwach.

»Inzwischen war ich fünfzehn Jahre älter«, sagte sie schließlich. »Das kann eine ziemlich lange Zeit sein.«

Ich sah sie verwirrt an.

Ihre Stimme klang brüchig, und sie hatte Tränen in den Augen.

Sylvias Hoffnung, ich würde verstehen, währte nur wenige Sekunden. Ihre Stimme war ein grimmiges Flüstern. Ich spürte die Hitze ihres Atems auf meinem Gesicht. Mit einem Mal schien sie vollkommen nüchtern. Als wäre sie selbst mitten im Dschungel. »Es ist schwer zu erklären … aber in dem Moment spürte ich schlagartig, dass mich nichts mit der Pose dieser Frau verband. Nicht das kleinste bisschen.« Ihr Mund zitterte.

Ich streckte meine Hand aus und berührte ihren Arm. Plötzlich konnte ich mir die Szene genau vorstellen: ihr Entsetzen, dass Hugh sie auf dem Bild erkennen würde, und dann, fast im gleichen Moment, der viel größere Schmerz, dass er sie nicht erkannt hatte. Und hinter der Angst und Traurigkeit ihre Sorge um Bhero Sethi und die Umstände, die ihn dazu gezwungen hatten, sich von seinem Opus magnum zu trennen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie, legte ihre Hand auf meine und drückte sie. »Ich weiß nicht, warum ich so aufgewühlt bin. Ich habe einen anständigen, guten Mann, meinen

Ich sah kurz zu ihrem schlummernden Helden hinüber. »Sind Sie sicher, dass er Sie auf dem Bild nicht erkannt hat?«

»Damals war ich das – bedenken Sie, wie unwahrscheinlich eine mögliche Verbindung war. Später dann war ich überzeugt, dass er mich sehr wohl erkannt hatte und mich schützen wollte. Und heute? Ehrlich gesagt, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Ich habe so lange mit der Ungewissheit gelebt, dass ich sie inzwischen akzeptiere.«

Boinnnngggg!

Wir zuckten beide zusammen. Links von uns zitterte das Sprungbrett mit einem gewaltigen Beben nach, wie ein im Schulpult eingeklemmtes Lineal nach einem festen Schlag. Nachher war ich mir sicher, er war nur deshalb so hoch gesprungen, um unsere Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Die Stille, die zwischen den vertrauten Geräuschen des Absprungs und des Eintauchens im Wasser lag, wirkte in ihrer Verlängerung umso tiefer. Ich erinnere mich an den seltsamen Anblick meiner Hand unter ihrer und dass Sylvia jäh aufblickte. Allerdings nicht zu dem Springer.

»Neelam!«, rief sie laut. »Das war der Name.«

Wuuuuusch!

Er klatschte unsauber auf dem Wasser auf, sodass ein Sprühregen über dem Rasen auf uns niederging.

Hinter ihr schreckte Hugh hoch. Er richtete sich in seiner Liege auf und sah sich blinzelnd um.

»Schon gut, Liebling«, sagte Sylvia und wandte ihr Gesicht ab.

»Diese verdammten Amerikaner.«

»Reg dich nicht auf. Es ist alles in Ordnung.« Sie wischte sich mit dem Handtuch über die Stirn und die geschwol

Hugh entspannte sich. Er sah zu mir herüber. »Hat sie mir vergeben?«

Aber er hatte ihr Gesicht gesehen.

»Syl?«

»Es ist nichts, Hugh«, sagte sie gereizt. »Er hat mir eine absurde Geschichte erzählt, die mich zum Weinen gebracht hat.«

1

Isabel suchte die Felder nach Clem ab, als sie etwas hörte, das wie Hagel klang. Sie richtete das Fernglas auf das Scheunendach. Ein Vogel, der auf dem steilen Blechdach nach Halt suchte. Er rutschte auf der hinteren Seite herunter, arbeitete sich mühsam zum First empor und stand schwankend im Wind.

Sie ließ das Fernglas sinken, holte den ersten Band von Birds of La Plata und blätterte darin nach einer Illustration, die zu den schiefergrauen Federn passte. Sie kannte die Namen aller Vögel, die sich auf der Scheune niederließen. Es ärgerte sie, dieses eine Exemplar nicht identifizieren zu können. Ein Halsband-Wehrvogel, vermutete sie.

Chauna torquata. Der Text war ohne Abbildung. Enttäuscht las sie W.H. Hudsons Beschreibung, in der sein prächtiger Gesang mit dem Klang eines Fagotts verglichen wurde.

Der Vogel schob seinen Schnabel unter einen müden Flügel, und mit einem Mal verspürte sie, sozusagen an seiner Stelle, einen unerklärlichen Hunger. Am liebsten wäre sie sofort zur Scheune gerannt, um dort ein Scone für ihn zu zerbröseln. Einzig der Gedanke an ihren Mann hielt sie zurück. Wo war Clem nur?

Der Vogel erhob sich und flog mit schwerfälligen Schlä

Sie stand da und suchte die Felder nach einem Pritschenwagen ab.

Der Hügel war kahl, die Holzapfelbäume waren kahl, von den Sonnenblumen auf den Feldern waren nur noch Reihen starrer Strünke geblieben, die bis zum Horizont reichten. Der Sturm wütete weiter und zerrte mit solcher Gewalt an der Windmühle hinter dem Haus, dass sie das Klingeln des Telefons vor einer Stunde zunächst überhört hatte.

Zumindest war es kein Sandsturm. Vor zwei Wintern waren sie morgens wach geworden und hatten die Farm unter einer dicken Aschedecke vorgefunden. Clem hatte ausgerechnet, dass der Vulkan in Chile ihn neunhundertdreiundsiebzig Schafe gekostet hatte – eins für jede Meile bis zum Mount Fitzwilliam.

Am Horizont stieß das feuchte Braun der Felder mit dem Grau des Himmels zusammen. Sie wusste stets, ob jemand sich durch Clems Reich bewegte. Ob zu Pferde, im Pick-up oder zu Fuß, sie verfolgte sie alle durch ihr Fernglas. An diesem Nachmittag bewegte sich nichts. Ein vielversprechender Schemen neben der Scheune entpuppte sich als einsamer Kirschbaum. Kein Mensch weit und breit.

Als sie das Fernglas absetzte, verspürte sie unvermittelt einen Stich und setzte sich.

»Schau niemals zurück«, sagte sie zu sich selbst. »Die Vergangenheit ist ein Habicht, der dir die Augen aushackt.«

Beim Geräusch eines Motors sprang sie auf.

 

Clem war um sechs Uhr früh nach San Julián aufgebrochen, um Wolle zu verkaufen.

Sie konnte es kaum erwarten unter ihrem Regenschirm und fragte: »Wie viel?«

Gestern Abend, nach der Radiosendung, hatte er die Hoffnung geäußert, fünfundzwanzig Pesos pro Kilo zu bekommen.

Er sah geradeaus, wo der Regen auf die Haube prasselte. »Zwölf.«

Sie senkte den Blick. »Ein Mann hat angerufen. Der Transporter ist unterwegs.«

»Aber er sollte am Mittwoch kommen.« Seine Stimme klang gepresst. »So war es abgemacht.«

Der Schlachter kam aus Puerto Deseado, um die jungen Stiere zu töten. Zweimal im Jahr verwandelte sich die Scheune für einige Stunden in ein Schlachthaus.

Sie lief um die Kühlerhaube herum, öffnete die Tür, klappte ihren Schirm zu und stieg ein. Zwölf, dachte sie. So wenig war es noch nie.

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«, fragte Clem.

»Nur, dass sie unterwegs sind und heute Nacht eintreffen. Spätestens morgen früh.«

»Kann sein, dass ich morgen nicht hier bin«, brummte er. Seit er seine Männer entlassen hatte, war Clem auf Gelegenheitsarbeiter von der Küste angewiesen. Sie waren nicht immer zuverlässig.

 

Er hielt mit laufendem Motor vor der Küchentür und wartete darauf, dass sie ausstieg.

»Wenn sie heute Nacht kommen, bringe ich besser gleich die Stiere in den Stall.«

Aber er setzte bereits den Pick-up zurück.

 

Es dauerte drei Stunden, bis Clem die Stiere im Stall hatte. Als er schließlich erschien, goss er sich einen Whisky ein. Seine Pfeife war im Regen ausgegangen. Er klopfe sie über dem Rost aus, stopfte sie neu und vergaß sie dann neben der Spüle. Seine Züge waren verschwommen, als regnete es wenige Zentimeter vor seinem Gesicht und als wäre der Sturm, der seit fünf Tagen anhielt, nicht über seine Felder, sondern zwischen ihnen beiden hinweggegangen.

Der Regen hatte seine Ohren gerötet, und ihr stieg der bittere Geschmack feuchten Tabaks in die Nase. Sie hatte sich ihre Worte im Stillen schon zurechtgelegt. »Sind es die Australier?« Das ganze letzte Jahr über hatte es einen Wollüberschuss in Australien gegeben. »Unterbieten sie uns immer noch? Zwölf sind es noch nie gewesen.«

Er saß am Küchentisch und zog erst den einen, dann den anderen Stiefel aus und ließ sie unter dem Tisch liegen. »Ich weiß nicht, woran es liegt«, war alles, was er sagte. Früher einmal hatte er sich heiser geredet.

»Hast du dem Preis zugestimmt?«

Er nickte kaum merklich.

Nach dem Essen, Fünf-Bohnen-Eintopf mit Reis, saß er weiter schweigend da. Er hatte einen weißen, gerippten Pullover an mit den grauvioletten und schwarzen Streifen seiner Schule und eine cremefarbene, aufgekrempelte Flanellhose. Es war die Art von Kleidung, die er bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, die er immer trug.

Seine Füße steckten in olivgrünen Samtschlappen.

»Sag nicht, sie haben immer noch Angst vor Vulkanasche?«, bohrte sie nach.

»Was hast du heute gemacht?«, fragte er schließlich.

Isabel zögerte mit der Antwort. »Ich habe einen neuen Vogel entdeckt.«

Sie mied seinen vorwurfsvollen Blick und redete munter weiter. »Zuerst dachte ich, es sei ein Halsband-Wehrvogel, aber die Flügel waren zu grün.«

Er schob laut seinen Stuhl nach hinten. »Wir verpassen das Stück«, sagte er.

Er nahm sein Glas, ging hinüber ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein. Fünf Minuten später gesellte sie sich zu ihm.

» … mit Ian Carmichael als Lord Peter Wimsey …«

Wegen des Sturms war der Empfang heute Abend schlecht. Gut war er nie. Sie saß Clem gegenüber, der unter dem kreisförmigen Porträtbild seines Vaters saß, und sie lauschten gemeinsam der abwechselnd anschwellenden und dann wieder ganz verebbenden Stimme des Schauspielers aus London. Clem hörte zu, als verstünde er auch diese stillen Passagen. Seit fast einer Woche saßen sie so beieinander. Isabel hatte längst den Faden verloren. Manchmal hörten sie minutenlang gar nichts.

»Was passiert gerade, Clem?«

»Pssst.«

Sie sah die plumpe Art, in der er sein Glas schräg in der Hand hielt. Früher einmal war er unter diesem Cricket-Pullover schlank gewesen. Nur seine Beine, die steif in den Schlappen steckten, hatten ihre schlanke Form behalten.

Wieder eine längere Funkstille.

Sie begegnete dem Blick ihres Schwiegervaters, aufgemalt auf den Deckel eines Heringsfasses. Es war stets die gleiche Geschichte. »Hast du deine Zeit auch auf diese Weise verbracht?«, wollte sie sein altes Gesicht fragen. »Genau so?« Immerhin hatten Clems Eltern ein Kind gehabt, um das sie sich kümmern mussten, zumindest bis sie es aufs Internat schickten.

Clem und sie hatten nur sich selbst, den BBC World Service und die Bücher.

Die Stimme von Lord Peter Wimsey kehrte in den Raum zurück. Sie schloss die Augen, tat so, als würde sie zuhören, aber in Gedanken erklomm sie einen riesigen Berg Wolle.

Nachdem das Hörspiel zu Ende war, erhob Clem sich aus seinem Sessel und stellte das Radio ab. Sie nahm sein Glas und trat zu ihm ans Klavier. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, ohne dass er reagierte.

»Noch einen?«

»Ich mach schon.«

Er ging schwerfällig aus dem Raum, und sie dachte zum tausendsten Mal, Armer Clem, durch seine Erziehung für immer gezeichnet. Er hatte keine leuchtenden Farben, keinen prächtigen Federschmuck. Er war ein ganz normaler Mensch, aber er hatte auch nicht behauptet, etwas Besonderes zu sein.

Sie hörte Clem in der Küche niesen. Er würde sie mit sich herabziehen, wenn es ihr nicht gelänge, ihn seiner trüben Stimmung zu entreißen. Sie spähte auf das Regal hinter dem Klavier. Heute Abend fiel ihr nur ein Mittel ein, seine Laune

Zu keinem Zeitpunkt ihrer achtjährigen Ehe, selbst in seinen finstersten Momenten, hatte er dem Ruf seiner Lieblingsheldin widerstanden.

Als Clem ins Zimmer zurückkehrte, saß Isabel unter der Leselampe. Die Geschichte, die aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag, war vor einem Jahrhundert geschrieben worden, aber sie kannte sie Wort für Wort auswendig. Strahlend sah sie ihn an, fest entschlossen, ihm eine Freude zu machen und ihn aufzuheitern.

»Soll ich Fürstin Tatjana sein?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Transporter hat sich vermutlich verfahren. Ich mache besser Licht an der Scheune.«

2

Sie hatten sich »im Flug« kennengelernt, wie er gern sagte. Er war zur Beerdigung seiner Mutter nach England geflogen, das erste Mal, dass er seit seinem Schulabschluss dorthin zurückkehrte.

Sie war Stewardess. Sie hatte beide Flüge begleitet, aber auf keinem war ihr Clem Caskey aufgefallen. In ihrer Version, die sie gelernt hatte für sich zu behalten, waren sie einander in der Lobby eines Hotels in Buenos Aires begegnet.