© 2018 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein


Idee: Torsten Exter

Herausgeberin der Reihe: Piper Marou


Lektorat: Piper Marou
Korrektorat: André Piotrowski
Umschlaggestaltung: Christian Günther


Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-269-5
Printed in the EU


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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

1 18

Zombie Zone Germany

Blutzoll

Matthias Ramtke


Herausgegeben von Piper Marou

Für Martin.
Weil wir anders handeln würden.

Prolog




Victoria fühlte sich unglaublich schön.

In ihren hochgesteckten Haaren saßen weiße Perlen. Das Make-up dezent, aber aufreizend, die Augen dunkel geschminkt, ihre vollen Lippen leicht betont. Die drei Leberflecken auf der linken Wange deckte es jedoch nicht ab. Sie hatten ihrem Mann schon immer gefallen.

Sie verzichtete auf einen Schleier. Zu kitschig. Ihr Brautkleid in A-Linie und mit V-Ausschnitt war an den Schultern mit Spitze besetzt, fiel elegant und schnörkellos. Ein einfaches Kleid für eine einfache Frau. Es unterstrich ihre Vorzüge und ließ sie strahlen.

Victoria genoss die Momente, als ihr Vater sie in die Kirche führte, alle Anwesenden aufstanden und sämtliche Blicke auf ihr ruhten. Sie war erfüllt von Aufregung und Stolz, in ihrem Kopf kreisten Tausende Gedanken. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie dachte, es müsse jede Sekunde zerspringen.

Ben trug einen sandfarbenen Anzug. Seine Augen glänzten feucht, dabei erinnerte sie sich nicht daran, dass sie ihn jemals hatte weinen sehen. Als er ihr den Ring auf den Finger schob, lächelte er sie verschmitzt an. In dieses Lächeln, in die kleinen Grübchen in seinen Wangen und den Glanz in seinen Augen, hatte sie sich vor einer Ewigkeit verliebt. Sie fühlte sich sicher, zurückversetzt in die ersten Tage ihrer Liebe und sie spürte, dass sie alles richtig machte.

Das Fest fand in einer großen Scheune statt, die eigens für die Feierlichkeit hergerichtet war. Der Saal befand sich im Besitz eines Hotels, das sich auch für das Buffet verantwortlich zeichnete. Die vierundfünfzig Gäste, die sie eingeladen hatten, fanden genügend Platz.

Gegen zehn Uhr schaltete ihr Vater das Hauptlicht des Saales ab, sodass nur noch die bunte Partybeleuchtung ihre flackernden Effekte auf die Gäste warf. Es wurde Zeit für die Hochzeitstorte. Ein Mitarbeiter des Hotels schob die Torte auf einem Wagen in den Saal und die Wunderkerzen um das Meisterwerk herum verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie war ein wahres Kunstwerk. Es tat ihr beinahe leid, sie anschneiden zu müssen.

Als sie zum Messer griff, öffnete sich die Glastür in den Festsaal. Ein Fremder trat zwischen die Gäste. Im bunten Licht konnte sie ihn nicht richtig erkennen, aber er schien in einen Unfall verwickelt gewesen zu sein, denn seine Kleidung war, wenn auch schick, zerrissen und schmutzig. Er rollte den Kopf von einer Seite auf die andere, öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch, der nach Luft schnappte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ihr Gatte.

Keine Reaktion. Der Fremde röchelte kurz, als ob er schlecht Luft bekäme. Die Gäste hielten mittlerweile Abstand zu dem Eindringling. Manche hielten sich die Nase zu oder Servietten vor das Gesicht. Sie bemerkte ebenfalls einen scharfen Gestank, der sich langsam im ganzen Saal ausbreitete.

»Hey, Sie können hier nicht einfach rein. Wenn wir Ihnen helfen können, dann sagen Sie etwas. Und wenn Sie ein Stück Torte wollen, sind Sie herzlich eingeladen, aber das müssen Sie uns schon mitteilen.« Ihr frischgebackener Ehemann ging auf den Fremden zu.

Dann fiel das schwenkbare Licht der Partybeleuchtung auf dessen Gesicht und sie schrie. Alle schrien.

Jetzt schrie sie nicht mehr. Nicht nötig. Alles, was geschehen war, war aus ihrem Kopf gelöscht wie von einer Festplatte. Jetzt zählten nur noch ihre Instinkte, ihr Trieb zu fressen.

Sie hob den Kopf, blickte in den Himmel. Wolken verdeckten die Sonne. Der Wind trug einen Geruch zu ihr, sanft, aber bestimmt. Sie schnüffelte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Die anderen witterten es auch. Sie folgte dem Duft wie ein Wolf der Fährte eines verletzten Rehs. Als der Geruch intensiver wurde, begann sie zu rennen. Hin und wieder stolperte sie, das war nicht wichtig. Es zählte einzig und allein die Beute.

Die anderen folgten ihr. Sie wurde überholt, gab einen zischenden Laut von sich. Niemand durfte ihr das Fressen streitig machen, sie wollte das Beste, sie wollte alles. Es begann zu regnen, als ein Haus in Sicht kam.

Sie beschleunigte ihre Schritte, stolperte wieder, fiel in den Matsch, rappelte sich auf, rannte weiter, den Mund weit geöffnet. Maden sprudelten daraus hervor, blieben auf ihrer Brust kleben oder klatschten in den Dreck. Ein lauter Knall ertönte und einer von denen, die sie überholt hatten, wurde zu Boden geschleudert. Sie riss einen Arm des Gefallenen ab, kaute auf dem toten Fleisch herum wie ein Hund auf einem Knochen. Es befriedigte sie nicht, sie wollte die Beute. Warmes, sprudelndes Blut, zartes Fleisch, reißende Sehnen.

Weitere Schüsse, jeder ein Treffer in den Kopf. Egal, sie waren zu viele. Manche erreichten das Haus und sie hörte Gekreische. Die Beute wehrte sich mit allem, was ihr in die Finger kam.

Die Welt war rot vor Verlangen, als sie das Gebäude erreichte, sich durch die toten Leiber wühlte. Die Öffnung, sie musste die Öffnung erreichen. Sie grunzte, schrie wie eine Furie und plötzlich war sie drinnen.

Die anderen machten sich gerade über einen Großen her, doch er roch nicht so aufregend. Sie witterte etwas Frisches, Unverbrauchtes. Sie tappte durch die Zimmer und fand ein kleines Bett. Hier war der Geruch am stärksten. Sie musste sich beeilen, bevor die anderen auftauchten. Keine Zeit zum Suchen, der Hunger wurde stärker.

Sie bleckte die Zähne und lauschte. Ein Winseln, kaum hörbar. Im Schrank. Sie nahm Anlauf, rammte die Türen mit dem Kopf, immer und immer wieder. Es knirschte in ihrem Schädel, sie raste. Das Winseln erlosch, jetzt hörte sie Schreie, roch Tränen und säuerlichen Schweiß.

Das Holz zersplitterte, sie streckte einen Arm durch das entstandene Loch, fingerte nach ihrem Opfer. Die anderen kamen, drängten sich um sie, wollten sie zur Seite schieben. Sie blieb standhaft, ertastete schmierige Haare und fest verschlossene Augen, zusammengepresste Lippen, kleine Ohren und ein flauschiges, lebloses Tier, fest an ein schlagendes Herz gedrückt. Dann packte sie zu und zog ihr Fressen ruckartig an die Öffnung. Sie johlte dabei wie eine Wahnsinnige.

Das Herz pumpte noch, als sie das Kleine aus dem Schrank herauszerrte, ihre Zähne in ein vor Entsetzen und Schmerz starres Gesicht grub und fraß und fraß und fraß.

Eden






»Du hast die Suche also noch nicht aufgegeben.«

»Warum fragst du?«, erkundigte sich Benjamin.

»Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.« Niklas überkreuzte die Beine auf dem Tisch. Er gab gern den Chef. Vor allem vor seinem Bruder, mit dem er sich die Rolle teilen musste.

»Habe ich nicht. Werde ich niemals.« Ben zog sich einen Stuhl heran. Seine beiden Begleiter positionierten sich hinter ihm. Niklas bedachte sie mit einem spöttischen Blick.

»Weißt du, was mir nicht gefällt an der Sache?«, fragte er.

»Was meinst du? Doch nicht etwa die Zombies? Was könnte einem daran nicht gefallen?«

»Dass du dich aufführst, als wärst du etwas Besseres. Habe ich etwa eine Leibwache? Wir sind Menschen, Benjamin. Nicht mehr wert als alle anderen Bewohner Edens.«

»Dich hat man bis jetzt auch noch nicht versucht zu töten.« Ben lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Er hasste diese Predigten. Es war schwer genug auch ohne Ratschläge seines großen Bruders.

»Du bist ein Heuchler. Du sitzt hier in deinem Zimmer in dieser Villa, hast mehr Platz als die anderen, die nur einen zugeteilten Bereich für sich beanspruchen dürfen. Du rauchst mehr als eine Schachtel am Tag. Du hast sogar Alkohol.« Ben beugte sich wieder vor, tat so, als ob er den Stuhl, auf dem Niklas saß, zum ersten Mal sah. »Und ist das etwa Leder? Bequem, nicht wahr, Eure Majestät?«

Niklas kniff die Augen zusammen und nahm die Beine vom Tisch. »Spar dir deinen Sarkasmus. Ich habe mehr gelitten, als du dir vorstellen kannst. Ich habe mir ein bisschen Luxus durchaus verdient.«

»Wir haben alle gelitten. Du nicht mehr als ich, wir nicht mehr als die beiden hier und jeder Mensch, der in Eden wohnt. Deine Sturheit bringt dir deine Familie nicht zurück!«

Niklas seufzte, stand auf und ging zum Fenster. Sein Zimmer bot den besten Blick auf die Stadt. Vor Urzeiten Hohenstein-Ernstthal, ein behaglicher Ort, der sich an den Pfaffenberg schmiegte, jetzt Eden, ein durch das Militär und die Untoten verwüstetes Eiland in einem Meer aus grauen Bäumen. Verbrannte Erde. Früher hatten hier fünfzehntausend Menschen gelebt, einmal jährlich den Motorrad-Grand-Prix auf dem Ankerberg gefeiert, die Rennfahrer auf dem Sachsenring angefeuert und Bücher von Karl May gesammelt. Jetzt wohnten hier noch knapp achthundert Leute. Die uneinsichtige Rennstrecke wurde komplett gemieden und Karl May war nur eine Legende aus einer besseren Zeit.

»Du hast recht«, begann Niklas, »und genau deshalb werde ich dir nicht helfen.« Er drehte sich zu seinem Bruder um, bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick. »Die Menschen hier verdienen ihren Frieden. Wir haben hart dafür gekämpft und viele Opfer gebracht, und jetzt stehen wir hier. Aus Trümmern haben wir eine neue Stadt gegründet, haben ihr einen Namen gegeben, der den Menschen Hoffnung schenken soll. Es ist schlimm genug, dass wir die Stadt teilen mussten, weil wir uns zu oft wie kleine, zankende Kinder benommen haben. Du hast dein eigenes Eden mit deiner eigenen Bevölkerung. Such in deinen Reihen nach Hilfe und lass den Leuten hier ihren Frieden.«

Benjamin stand auf und wandte sich zum Gehen. Er musste sich zusammenreißen. Es brachte keinem etwas, wenn er Niklas jetzt windelweich prügelte.

»Reden kannst du, das muss man dir lassen. Aber du bist ein Feigling. Da draußen wütet der Tod und ich weiß, dass sie irgendwo dort ist. Scheiße, gerade du müsstest wissen, wie ich mich fühle! Mir ist klar, dass sie zu ihnen gehört, aber der Arzt wird sie heilen.«

»Es gibt keine Heilung. Das ist eine törichte Vorstellung und deine Forschung verbraucht viel zu viele Ressourcen. Ganz zu schweigen davon, dass es riskant ist.«

»Das Leben ist riskant geworden, das stimmt. Fällt dir zeitig auf, Bruderherz.« Ben trat durch die Tür, drehte sich aber noch einmal zu Niklas um.

»Wir haben ein Abkommen. Paragraf drei. Zusicherung gegenseitiger Hilfe in Krisensituationen. Victoria gehört zur Familie und sie ist in Gefahr. Ich werde sie nicht in dieser Hölle lassen.«

»Wir sind alle in der Hölle, Benjamin«, meinte Niklas. Er seufzte und sah ihm nach, wie er das Haus mit seinen beiden Begleitern verließ, die Hände zu Fäusten geballt.

Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass sein Bruder wieder zurück in seinem Teil von Eden war, dann schnappte er sich den Mantel vom Haken und machte sich auf den Weg.

Ben war unberechenbar. Er führte ein hartes Regiment und unterstellte alles dem vermeintlich höheren Ziel, Victoria zu finden. Niklas musste seinem Bruder Einhalt gebieten, bevor etwas passierte, das mit ein bisschen Hirnschmalz hätte verhindert werden können.

Er trat auf die schlammige Straße, blickte in den Himmel. Es schien, als ob selbst das Wetter infiziert worden wäre. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal die wärmenden Strahlen der Sonne im Gesicht gespürt hatte. Jeden Tag nur eine schwere graue Wolkendecke, aus der in unregelmäßigen Abständen Regen nieselte. Es gab keine Jahreszeiten mehr, das Leben war farblose Tristesse.

Niklas schlug den Kragen seines Mantels hoch und machte sich auf den Weg. Sein Ziel befand sich am anderen Ende der Stadt, was einen Fußweg von gut fünfzehn Minuten bedeutete. Eigentlich mied er den direkten Weg durch das Zentrum und hielt sich lieber in der Nähe der Grenzzäune und -mauern auf, die von den Überlebenden in den ersten Monaten nach der Gründung Edens aufgebaut worden waren. Bei den an der gesamten Grenze verteilten Wachposten fühlte er sich sicher, mitten in der Stadt konnte alles passieren. Aber heute hatte er es eilig. Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub.

Er folgte dem aufgerissenen Asphalt Richtung Stadtmitte. Die Ruinen der Häuser glotzten ihn aus schwarzen Fenstern an und dennoch wohnten in einigen Menschen. Ab und zu sah er den flackernden Schein von Feuerstellen in den verwahrlosten Gärten, die mancherorts notdürftig bewirtschaftet wurden. Auf kleinen Feldern wurde angebaut, was pflegeleicht und einfach zu beschaffen war.

Skelettierte Autos standen am Straßenrand. Die Bewohner hatten die Fahrzeuge auseinandergenommen und Brauchbares verwertet. Ein alter Mann in zerschlissenen Jeans und mit einer Wollmütze auf dem Kopf lächelte ihm freundlich entgegen. Er erwiderte das Lächeln knapp, hastete weiter.

Der zentrale Platz seines Teilgebietes von Eden kam in Sicht. Lose Pflastersteine, Schlamm und zwischen den Fugen wucherndes Unkraut bildeten einen rechteckigen, abschüssigen Marktplatz. Ein vor Jahren versiegter Brunnen stand links des ehemaligen Rathauses. Die Sandsteinfigur einer Magd, die einen Krug auf einer Schulter trug, war nur noch mit Mühe als solche zu erkennen, aber immerhin stand sie noch.

Der Trostlosigkeit und den Zeugnissen einer besseren Welt zum Trotz lebten hier die meisten Menschen in dicht aneinandergedrängten Häusern. Die verschiedenfarbigen Fassaden waren verblasst, die Scheiben vieler Fenster gesprungen. Die Dächer hatten Löcher, die Häuser verfaulten von innen heraus. In alten Bäckereien und Cafés, in den beiden Eisdielen und im Hotel Drei Schwanen, das kurz nach der Sichtung der ersten Untoten vom Militär als Stützpunkt verwendet worden war, hatten sich die Menschen Zimmer eingerichtet. Es stank nach verdorbenem Fleisch und ranzigem Wasser.

Und trotzdem oder gerade weil sie um ihren Verlust wussten, hatten die Menschen ihren Mut noch nicht verloren. Wimpel aus bunten Flicken spannten sich über den Markt und flatterten im Wind. Jene, die das Material dafür auftreiben konnten und wollten, hatten sich kleine Verkaufsstände gebaut und boten Waren im Tausch gegen andere an. Geld besaß keinen Wert mehr.

Zwei Kinder, nicht älter als vier und damit beinahe hineingeboren in eine Welt aus Angst und Verzweiflung, spielten zwischen den Ständen. Eine Frau mit nur einem Bein saß auf Pappe auf dem Boden und nahm dankbar eine Dose gebackene Bohnen entgegen, die ihr ein Mann mittleren Alters reichte. Niklas sah Menschen, die lachten und sich unterhielten, die Dosennahrung gegen Kleidung tauschten, die sich halfen und unterstützten. Er wusste, dass noch nicht alles verloren war.

Mit vor Stolz geschwollener Brust schlenderte er über den Marktplatz und nahm jeden Kubikzentimeter der Atmosphäre in sich auf. Sein Werk! Er hatte den Leuten Hoffnung gegeben, Menschlichkeit in eine von Gewalt beherrschte Welt gebracht, und die Bewohner nahmen das Geschenk dankbar an. Eden. Tatsächlich ein passender Name. Er wusste, dass Benjamins Stadtteil nicht derart florierte, und konnte die Schadenfreude nicht gänzlich unterdrücken. Dieser verdammte Holzkopf setzte alles aufs Spiel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Kontrolle verlor und ganz Eden in den Tod riss.

Von einigen Bewohnern wurde er als der erkannt, der er für sie sein musste: der Messias. Er schüttelte ein paar Hände, lächelte, umarmte Frauen und Kinder, unterhielt sich kurz mit den Menschen, brachte Neuigkeiten in Erfahrung, lauschte Problemen und Sorgen. Er würde sich darum kümmern, versprach er. Und das würde er wirklich. Gleich nachdem er seine privaten Angelegenheiten bereinigt hatte. Ruhm kam schließlich nicht von allein, dafür musste man hart arbeiten.

Er verließ den Marktplatz in südlicher Richtung und folgte dem Verlauf der Straße bergab. Da die alte Stadt an den Hang eines Berges gebaut worden war, teilte nun auch Eden dieses Schicksal und Niklas musste aufpassen, dass er auf den glitschigen Steinen nicht ausrutschte. Hier hatten sich zu besseren Zeiten Geschäfte aneinandergedrängt: eine Buchhandlung, ein Laden für Spielzeug und Modellbau, ein Schuhgeschäft, Kaufstätten für Haushaltswaren und Dekoartikel – kurz: Die kleine Einkaufsmeile hatte vor allem durch Lokalität und Vielfalt bestochen. Nun gähnten Löcher in den Schaufenstern und ein beißender Wind fegte die Straße entlang und schien die Freudlosigkeit unterstreichen zu wollen.

Nach wenigen Minuten betrat Niklas die einzige Kneipe Edens, die sich in der ehemaligen Drogerie befand. Zum Untoten stand auf einem Brett über dem Eingang. Nicht sehr originell, aber er ließ den Leuten ihren Spaß. Zugeständnisse waren unverzichtbarer Teil der Diplomatie.

Das Gasthaus besuchten nur wenige, was vor allem daran lag, dass der Alkohol zu stark und das Bier sehr rar war. Die Vorräte an alkoholischen Getränken waren so gut wie erschöpft. Was seine Promillezahl nicht verdoppelt hatte, war verdorben und ungenießbar. Der Wirt des Untoten versuchte sich darin, den Alkohol selbst herzustellen, aber dafür benötigte man Hefe. Ein seltenes Gut.

Niklas setzte sich an einen fleckigen Tisch, studierte die Speisekarte. Viel Auswahl gab es nicht, aber neben dem üblichen Essen aus der Dose konnte man auch einen einfachen Salat und sogar verschiedene Arten Fisch mit Kartoffeln bestellen. Hinter der Kneipe musste der Wirt einen Teich angelegt haben und einen kleinen Acker besitzen.

Ein dünner Mann mit Glatze und dunklen Ringen um die Augen erschien vor ihm.

»Herr Niklas Jäger! Es freut mich, Sie hier zu sehen!« Der Wirt streckte seine Hand aus. »Was kann ich Ihnen bringen? Ich habe noch eine Flasche Bockbier da, falls Sie den Drang nach etwas Besonderem verspüren. Gersdorfer natürlich. Mittlerweile eine feine Rarität!« Er grinste verschwörerisch, machte einen kleinen Knicks.

»Nein, Didi. Ich möchte nichts trinken und auch nichts essen.« Niklas legte die Karte beiseite, beugte sich über den Tisch. Sein Bruder hatte den Blick für das Wesentliche verloren. Es wurde Zeit, Eden wieder zu vereinen, und zwar unter seiner Führung.

»Ich möchte deine Tochter sprechen. Sei so gut und sag ihr, dass ich hier bin. Und sie soll sich beeilen, die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«