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Paul Herbert Freyer

Sturmvögel

Gesamtherausgabe September 2018 © Verlag Neuer Weg

in der Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Alte Bottroper Straße 42, 45356 Essen

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www.neuerweg.de

Gesamtherstellung:

Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Copyright © Eulenspiegel Verlagsgruppe, Berlin, 2018

Originalverlag und Bildnachweis:

Bundesarchiv, Militärverlag Berlin, 1975

ISBN: 978-3-88021-503-0

E-Book ISBN: 978-3-88021-504-7

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Schillig-Reede

Hinterhältiges Spiel

Die »Alte Liebe« von Cuxhaven

Chronologie des Aufbruchs

Die Kabinettssitzung

Das Ankerspill

Gepackte Koffer

Ecke Karlstraße

Die Pistole

Blaujacken voran

Der 9. November

Die lange Nacht

Die Volksmarinedivision

Blutige Weihnacht

Trotz alledem

Anhang

Von großem Wert für das Zustandekommen des Werkes waren die Aussagen von Veteranen, die als Teilnehmer der Novemberrevolution dem Autor ihre Erinnerungen mitteilten; besonders die Erlebnisberichte von Karl Baier.

VORWORT

Sturmvögel – das ist eine gelungene Verbindung von Roman, Tatsachenbericht, Reportage und Dokumentation in Sachen Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland. Ergänzt mit Bildern und statistischem Material.

Das Buch gibt einen sachkundigen Einblick in die Entwicklungen der Novemberrevolution. Ausgehend vom Aufstand der Kieler Matrosen und ihrer Weigerung, die deutsche Flotte zum Angriff auf England auslaufen zu lassen. Das Ende des Gemetzels des Ersten Weltkriegs wird damit eingeleitet.

Auch authentische Geschichten erzählt das Buch. Von Matrosen und Arbeitern, die sich mutig an die Spitze der Novemberrevolution stellen. Es gibt einen tiefen Einblick in die Zeit des Ersten Weltkriegs, eine Zeit, die geprägt ist von Hunger und Massenarmut – und in der mehr und mehr Menschen aufbegehren gegen den imperialistischen Krieg. Zugleich behandelt es die große Anziehungskraft, die ausgeht von der Oktoberrevolution 1917 in Russland und dem Aufbau des Sozialismus unter der Führung Lenins.

»... Die russischen Genossen hatten es 1917 vorgemacht, wie die Kapitalisten und Gutsbesitzer hinweggefegt werden können. Ja, Arbeiter- und Soldatenräte, Matrosenräte in allen Orten mußten auch in Deutschland sein! Aber das Wie bereitete ihm doch Kopfschmerzen. Wem auch nicht in diesen entscheidungsvollen Stunden?« Das geht Karl Baier, einem der Akteure des Romans, durch den Kopf, als er auf der »Alten Liebe« am Kopf der Seebrücke steht.

Die Novemberrevolution brachte bedeutende gesellschaftliche Fortschritte hervor, das weist der Roman nach. Der Kaiser wurde vertrieben, der Monarchie ein Ende gesetzt. Das Wahlrecht für Frauen wurde durchgesetzt, Arbeitervertretungen ermöglicht – und der 8-Stundentag erkämpft.

Aus den Ereignissen und Erfahrungen der Novemberrevolution 1918/19 können wir schöpferisch für heute lernen, dafür gibt das Buch Sturmvögel viele Anregungen und lädt zum Nachdenken ein. Mehrfach wird darin gefragt: Warum war die soziale Revolution nicht erfolgreich? Damit gibt der Roman reichlich Anstöße für Diskussionen, die gerade heute notwendig sind: angesichts räuberischer imperialistischer Kriege und Kriegsvorbereitungen; angesichts einer Rechtsentwicklung vieler Regierungen, die sich verstärkt; angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung. Schließlich: Wie kann bei all dem eine gesellschaftliche Alternative aussehen?

Das Buch fordert den Leser, besonders auch Jugendliche heraus:

• Die wichtigste Lehre: Eine starke revolutionäre Arbeiterpartei ist unabdingbar für den Erfolg der sozialistischen Revolution. Die KPD wurde zu spät gegründet, erst mitten in der Novemberrevolution beim Jahreswechsel 1918/1919. Im Buch heißt es: »Viele Heizer und Matrosen erkannten, daß mit bloßem Aufbegehren gegen den imperialistischen Krieg, gegen den Hunger und gegen die schikanöse Behandlung nichts getan war. Politisches Wissen war notwendig und dazu eine Organisation, die dieses Wissen verbreitet.«

• Der Roman macht auch deutlich: Ein Aufstand und eine Revolution brauchen immer ein klares Programm, eine klare Zielsetzung. Hier waren die Forderungen der Arbeiter-und-Soldatenräte vielfach noch zaghaft. Sie begnügten sich oftmals auf dem Kampf gegen die schlimmsten Auswüchse des Junkertums, der Monarchie und des Kapitalismus.

Schonungslos und entgegen der Geschichtslügen wird die Rolle der Opportunisten und ihr Übergang zur offenen Konterrevolution in der damaligen Führung der rechten Sozialdemokratie dargelegt.

• Und schließlich: Die wichtige Errungenschaft »Arbeiter-und-Soldatenräte« musste auch gefestigt werden und sich gegen alle Versuche durchsetzen, daraus wieder Organe der bürgerlichen Herrschaft zu machen. Es kämpften zwei Richtungen: Revolution, Sturz des bürgerlichen Staatsapparats, Aufbau des Sozialismus – oder Einberufung einer Nationalversammlung als Ausdruck der bürgerlichen Demokratie. Hier hat der Roman auch seine Schwächen. Denn die politischen Ziele der Revolutionäre behandelt er kaum, auf die Charakterisierung des sozialistischen Aufbaus als »Diktatur des Proletariats« verzichtet er.

Als zusätzliche Lektüre bietet sich da Willi Dickhuts Buch »Proletarischer Widerstand gegen Faschismus und Krieg« an. Es enthält einen sehr lesenswerten Abschnitt über die Novemberrevolution. Im Frühjahr 2018 wurde er auch als Broschüre herausgegeben: »100 Jahre Novemberrevolution 1918–2018«.

Für die Hamburger Geschichts- und Kulturwerkstatt

Rainer Herrmann und Joachim Griesbaum

(Griesbaum-HH@web.de)

SCHILLIG-REEDE

Nebelfetzen und Regenschauer jagen über das bleigraue Wasser des Jadebusens. Gespenstig verschwinden die dunklen Silhouetten der Schlachtkreuzer und Linienschiffe hinter den Nebelvorhängen und tauchen unversehens wieder auf. Für die letzten Tage des Oktober 1918 ist das rauhe Wetter an der deutschen Nordseeküste typisch. Immer wieder schiebt sich zwischen die mächtigen Schiffsleiber in vorsichtiger Fahrt ein neuangekommener Koloß, um Anker zu werfen. Allmählich sind alle schweren Einheiten der kaiserlichen deutschen Hochseeflotte auf Schillig-Reede versammelt. Kohlenprähme, von qualmenden Schleppern gezogen, werden sogleich von kohlebunkernden Matrosen und Heizern bevölkert. Dampfpinassen flitzen zwischen den Schiffen kreuz und quer, sie machen an ausgebrachten Spieren und Fallreeps fest oder streben dem Land zu. Der Anblick der kanonenbewehrten Armada vor Wilhelmshaven hat etwas Drohendes an sich. Doch sind die Schlünde der sich in Ruhestellung befindlichen Turm- und Kasemattgeschütze mit einer Mündungskappe verschlossen, und das Jadewasser wäscht spielerisch an den Bordwänden.

Auf den Schiffen herrscht die übliche Betriebsamkeit. Und dennoch ist es anders als sonst. Gerüchte, Spekulationen, Hoffnungen, gar Zorn und Verbissenheit geben in diesen Tagen dem Dienstablauf eine bisher nicht gekannte Spannung: Warum sind die schweren Schiffe der Hochseeflotte hier unter Dampf versammelt, jetzt, wo der Krieg doch nur noch Tage, vielleicht nur noch Stunden dauern kann?

Auf dem Linienschiff »Thüringen« geht der Bootsmannsmaat der Wache durch die Wohndecks und pfeift zum abendlichen Backen und Banken. Das braucht schon seine Zeit. Die »Thüringen« mit nahezu 170 Metern Länge und rund 23 000 Tonnen Wasserverdrängung gehört zu den vier Schiffen der Helgolandklasse und ist ein modernes Kampfschiff mit je gut 1100 Mann Besatzung. Sie wurde 1911 in Dienst gestellt. Überall, wo der Bootsmannsmaat erscheint, wird er erwartungsvoll angestarrt. Man erhofft von ihm als Wachhabenden Aufklärung, was die Versammlung der Hochseeflotte hier auf Schillig-Reede zu bedeuten habe. Doch jedesmal, wenn er den Routinebefehl ausgesungen hat, zieht er die Schultern hoch und geht weiter. Enttäuscht nehmen die Matrosen die eisernen Bakken und Bänke aus den Verlaschungen und stellen sie auf. Ein Heizer knurrt hinter dem Davongehenden her: »Der Scheißer weiß auch nicht mehr als wir.«

Die Backschafter machen sich mit ihren Schüsseln und den Kannen für die Zichorienbrühe auf den Weg. Vor der Proviantausgabe herrscht Gedränge. Über den verabreichten Fraß regt sich schon längst keiner mehr auf, der Zorn darüber ist permanent. Außerdem werden die Gemüter jetzt von anderem bewegt.

Im Wohndeck der III. seemännischen Division stellt der Backschafter die Abendmahlzeit auf die Back: für jeden einen bescheidenen Kanten dunkles Brot, ein Häufchen Magermilchquark, einen Klecks Margarine und eine dünne Scheibe billige Blutwurst. Zu seiner Backschaft gehören Männer der 30,5-cm-Geschützturmbesatzung »Cäsar« und der 15-cm-Steuerbordkasemattgeschütze. Unter ihnen ist der Obermatrose Alfred Meurer, ein Metallarbeiter aus dem Ruhrgebiet. In den Mannschaftswohndecks wird er »Admiral« genannt. Ursache dieses Beinamens ist wohl nicht so sehr die Tatsache, daß es einen wirklichen Admiral dieses Namens gibt, sondern das Ansehen, das er unter den Mannschaften der »Thüringen« genießt. Er gilt als »Roter«, als »Linker«, der aus seiner Meinung kein Hehl macht. Ursprünglich hatte er sich aus Protest zur SPD-Führung, die diesen Krieg unterstützte, zu den Oppositionellen in der Partei bekannt. Später sympathisierte er mit der Spartakusgruppe unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ungeachtet des Befehls, der jede Parteimitgliedschaft während der Dienstzeit in der Marine untersagte, hielt Alfred Meurer Kontakt zu Gleichgesinnten und vertrat die Interessen der Mannschaften, wann und wo immer er konnte. Deshalb war er auch auf der »Thüringen« zum Vorsitzenden der Menagekommission gewählt worden.

Diese Kommissionen überwachten scheinbar nur die Verpflegung. Aber bald gingen sie auch gegen ungerechtfertigte Strafen und andere Willkürmaßnahmen der verhaßten Offiziere vor. Nach russischem Muster schufen die Matrosen und Heizer ihre illegale Mannschaftsorganisation.

Die Menagekommissionen existierten seit etwa einem Jahr. Nach dem Aufstand der Matrosen und Heizer von 1917 — damals waren Max Reichpietsch und Albin Köbis von der Militärjustiz ermordet worden — hatte man den Mannschaften die Menagekommissionen zugestehen müssen.

Die Offiziere der »Thüringen« fürchteten den »Admiral«, und sie hätten ihn längst kurzerhand zu einem Minensuchkommando abkommandiert, wenn er nicht in seiner Funktion eine Art Immunität besessen hätte.

»Wieder Schlimmeaugenwurst!« Mit hängender Unterlippe deutet ein Matrose auf die schäbige Blutwurstscheibe.

Alfred Meurer hat den Vorwurf herausgehört, er war ja auf ihn gemünzt. Er antwortet nicht. Was auch sollte er seinem Kameraden erwidern? Alle seine Auseinandersetzungen mit dem Verwaltungsoffizier über die Verbesserung der Mannschaftsverpflegung waren erfolglos. Die Offiziers- und Mannschaftsküchen blieben nach wie vor getrennt. Er war sehr bald dahintergekommen, daß die Menagekommission von den Offizieren mehr und mehr dazu benutzt wurde, die Mannschaften zu beschwichtigen. Das bedeutete, er, Meurer, mußte versuchen, den Kommissionsmitgliedern bestimmte politische Zusammenhänge zu erklären, damit sie sich nicht vor den falschen Karren spannen ließen. Es war natürlich gar nicht so einfach, die Matrosen und Heizer beharrlich über die Ursachen des Weltkrieges und die Ziele des kaiserlichen Deutschlands aufzuklären.

»Du müßtest wieder mal auf die Pauke hauen, ›Admiral‹, klar?« Der Matrose läßt nicht locker, als man sich endlich zum Essen niedergesetzt hat.

Alfred Meurer winkt ab.

Doch das bringt den Matrosen erst recht auf. Einige nicken ihm sogleich aufmunternd zu.

»Du hast doch von der Schweinerei auf der ›Nürnberg‹ gehört. Hat das Krachschlagen Erfolg gehabt oder nicht?«

Auf dem in Kiel neu in Dienst gestellten kleinen Kreuzer »Nürnberg« hatten es vor Monaten die Offiziere zu weit getrieben. Von der Offiziersküche zur Offiziersmesse führte der Weg durch ein Mannschaftswohndeck. Die Matrosen mußten mit ansehen, wie Braten, Wurstplatten und andere Delikatessen in die Messe gebracht wurden, während man ihre Rationen auf das erbärmlichste reduzierte. Diese Zustände sprachen sich in der Marine alsbald herum, und das Flottenkommando sah sich gezwungen, eine Untersuchung einzuleiten. Damit wurde zwar die Prasserei einigermaßen eingedämmt, aber eine prinzipielle Veränderung der unterschiedlichen Verpflegungszuteilung für Mannschaft und Offiziere trat nicht ein.

So setzt denn Alfred Meurers Antwort gleich den richtigen Akzent. »In der Messe haben sie es ganz gern, wenn wir uns mal wieder über die Fresserei streiten.«

Die Mehrzahl der Matrosen um die Back herum stimmt ihm zu.

Eine ganze Zeit lang kaut nun jeder schweigend an seinem Brotkanten. Alle hängen ihren Gedanken nach. Endlich bricht Hannes, ein stiller, meist zurückhaltender Obermatrose, der schon zu Beginn des Krieges zur Ableistung seiner Dienstpflicht an Bord war und deshalb von allen »Aktiver« genannt wird, das Schweigen: »Irgendetwas Hinterhältiges braut sich zusammen.«

Das trifft den Kern ihrer Gedanken. Die gesamte Backschaft hat den Krieg satt, das Inbereitschaftliegen, das Hungern, das Schikanieren durch die Offiziere. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, endlich nach Hause zu können. Doch was soll das Zusammenziehen der Flotte? Das Heimlichgetue der Offiziere? Sind etwa die Friedensverhandlungen nur Bluff? Was geht eigentlich vor?

Aller Augen sind auf Alfred Meurer gerichtet.

»Wir müssen es herausfinden«, sagt er ruhig und bestimmt. Er steht auf, und mit gedämpfter Stimme wendet er sich an Hannes: »Geh doch mal ‘rum, und trommle die Kommission zusammen. Aber vorsichtig, daß nicht gleich der Leutnant der Wache oder einer der Deckoffiziere Wind kriegt. Wir treffen uns am Steuerbordkasemattgeschütz sieben.«

Der »Aktive« nimmt seine Mütze vom Blechspind und trollt sich davon.

Wenig später haben sich alle Mitglieder der Menagekommission — Matrosen, Heizer, ein Signalgast und ein Torpedomechaniker — in dem engen Raum vor dem 15-cm-Geschütz eingefunden. Am vorderen und am achteren Schott sichtet je ein Mann, um vor unliebsamem Besuch zu warnen, denn offizielle Sitzungen der Kommission sind beim I. Offizier anzumelden. Es ist nicht das erste Mal, daß sie hier illegal zusammenkommen. Man muß sich kurzfassen. So beginnt Alfred Meurer auch gleich ohne Umschweife. »Kameraden! Wir müssen herausfinden, warum die Flotte hier auf Schillig-Reede zusammengezogen wurde. Hat einer vielleicht schon etwas Genaueres feststellen können?«

Ein Matrose meldet sich. »Auf ›König‹ ist die Artilleriemunition ergänzt worden. Ich habe das vom Schlepperführer, der gestern den Kohlenprahm längsseits bugsierte.«

»Winksprüche an Schiff oder Land dürfen nur noch mit Genehmigung des Offiziers der Wache abgesetzt werden«, ergänzt der Signalgast.

Ein Heizer, Maschinist auf der Dampfpinasse, antwortet: »Die verheirateten Offiziere fahren kaum noch an Land. Sie bleiben über Nacht an Bord.«

»Also gut«, kürzt der »Admiral« ab, »keiner weiß Genaues, wenn auch alles dafür spricht, daß eine verdammte Schweinerei geplant ist. Vielleicht passen den Offizieren die Friedensverhandlungen nicht, und sie träumen immer noch von einem Sieg. Vielleicht müssen wir sie zum Frieden zwingen.«

Die Umstehenden nicken. Nur einer hat Bedenken. »Hauptsache, die Mannschaft ist dazu bereit. Die meisten haben nichts weiter im Kopf, als nach Hause.«

»Na und? Dazu ist doch erst recht Frieden notwendig!«, antwortet der »Admiral«.

»Zwei Schock handfester Genossen an Bord wäre besser.«

Was soll Alfred Meurer darauf erwidern? Er weiß es doch selbst nur zu gut: Mit Hurra auf den Lippen waren die meisten Soldaten 1914 in den Krieg gezogen, und die SPD-Mitglieder hatten treu und brav in den Parteibüros ihr Parteibuch abgegeben. Jede Versammlungstätigkeit war von den Behörden untersagt. Die Volksmassen waren einer widerlichen chauvinistischen Hetze ausgeliefert. Die sozialdemokratische Presse beschränkte sich auf Kriegsberichterstattung. Die bekannten sozialdemokratischen Führer schwiegen. Offen blieb, wie die Arbeiter den Kampf gegen den Krieg nach seinem Ausbruch weiter führen sollten. War es ein Wunder, daß sie jetzt den schönen Worten der rechten sozialdemokratischen Prediger vom baldigen Verständigungsfrieden und der Aussöhnung der Klassen auf den Leim gingen? Viele zehrten von diesen Illusionen. In ihren Köpfen trieben die revolutionären Phrasen vom Sozialismus die eigenartigsten Blüten. Die Folge war Unentschlossenheit, Schwanken. Und es waren auch in der Flotte nicht allzu viele, die mit ihrem Dokument nicht auch ihren klaren Blick verloren hatten.

»Ich wäre schon mit zwei Dutzend zufrieden«, entgegnet Meurer lächelnd, und ernst werdend, fährt er fort: »Ich habe versucht, mit meinem Freund, dem Obermatrosen Karl Baier in Cuxhaven, Verbindung aufzunehmen. Über einen Werftarbeiter, der vor einigen Tagen mit einer Arbeitsgruppe an Bord war. Aber ich bin nicht sicher, ob es klappen wird.«

»Und ein Brief? Verschlüsselt, meine ich«, wirft einer ein.

Alfred Meurer winkt ab. Seit Sommer 1917 wurde die Postzensur in der Marine offiziell eingeführt. Alle vom Schiff abgehenden Sendungen werden kontrolliert und mit einem Stempel versehen. Versuche, verschlüsselte Nachrichten hinauszuschmuggeln, haben die erfahrenen Schnüffler nur noch eingefuchster werden lassen.

Die Anwesenden wissen, wer Karl Baier ist. Der »Admiral« war vor zwei Jahren mit ihm in Wilhelmshaven auf einer illegalen Versammlung zusammengetroffen. In heftigen Debatten ging es um den revolutionären Ausweg aus dem Krieg. Karl Baier glaubte an die Kampfbereitschaft der Massen. Mit seinen politischen Freunden, den Bremer Linken, plädierte er für Aktionen gegen die Machtzentren der Bourgeoisie. Es schien, als ob einige unter ihnen mit dem Kopf durch die Wand rennen wollten. Ungeduld und radikaler Trotz sprachen aus ihnen, aber auch eine gewisse Unerfahrenheit und mangelnde politische Reife. Aber sie redeten die aufrichtige, ehrliche Sprache klassenbewußter Arbeiter. Alfred und Karl empfanden sofort Sympathie füreinander, vor allem wohl, weil sie spürten, daß ihre politischen Ansichten weitgehend übereinstimmten.

Karl Baier spielte in seiner Minensuchdivision in Cuxhaven eine ähnliche Rolle wie der »Admiral« auf der »Thüringen«.

»Machen wir es kurz«, nimmt Meurer den Faden des Gesprächs wieder auf. Er wendet sich an den Oberheizer. »Du gibst Obacht, welche Offiziere mit der Pinasse an Land oder an Bord fahren. Habe ein Ohr auf das, was sie sagen!«

»Topp«, sagt der Oberheizer und hebt den rechten Daumen nach oben. Und zum Signalgast sagt Meurer: »Du schreibst alle Wink- und Morsesprüche mit, auch die von anderen Schiffen.«

Ein Matrose bekommt die Anweisung, Verbindung mit den Fallreepsmatrosen zu halten, um genau festzustellen, was um den Wachoffizier vorgeht.

Rundum verteilt der »Admiral« seine Aufträge. Schließlich fragt er: »Wer hat Verbindung zur Offiziersmesse?«

»Ich«, antwortet ein Matrose. »Ein Kumpel von mir ist Messegast. Er ist aus meiner Heimatstadt. Aus Zwickau. Zuverlässig.«

»Gut. Rede mit ihm! Es kommt darauf an zu erfahren, worüber sich die Offiziere unterhalten.« Ein wenig nebenbei fügt er hinzu: »In den letzten Tagen geht es dort ohnehin hoch her.«

»Mach ich. Da kannste dich drauf verlassen, ›Admiral‹, einwandfrei«, stimmt er in selbstbewußtem Sächsisch zu.

»Also, dann los!« Meurer beschließt die illegale Zusammenkunft der Menagekommission. Während die Männer auseinandergehen, fügt er noch rasch hinzu: »Jede Wahrnehmung sofort zu mir, auch in der Nacht!«

Bald ist der Raum des 2. Steuerkasemattgeschützes wieder leer. Nur das Klatschen des Wassers ist gedämpft zu hören, wenn es draußen an die Bordwand schlägt.

Der Pfiff »Klar bei Hängematten« ist im Schiff längst verhallt. In den Wohndecks der Mannschaften herrscht Ruhe. Nur die Lüfter summen leise. Dennoch ist die Luft beißend und stickig. Die Durchgangsschotten bleiben im sicheren Heimatgewässer ständig geöffnet. Ölschmierdunst aus den Maschinenräumen dringt ein und zieht durch die Mannschaftswohndecks. Die Ausdünstungen der auf engem Raum Zusammengepferchten tut das übrige. Zwei, drei Matten hängen übereinander. Ab und an schnarcht einer oder stöhnt im Traum. Die spärliche Nachtbeleuchtung erhellt nur unzureichend den Laufweg. Immer wieder stolpert eine der sich ständig ablösenden Ankerwachen über irgendeinen Schraubenverschluß im Eisendeck oder rennt mit dem Kopf gegen das Segeltuch einer Hängematte. Doch den ins Schwanken geratenen Schläfer regt das nicht weiter auf, er kennt diese Störungen zur Genüge, und in einigen Sekunden ist er wieder in tiefem Schlaf versunken. Das Klappern der Seestiefel auf den eisernen Planken verliert sich in der Ferne.

Zur selben Zeit ist die Offiziersmesse hell erleuchtet. Der Messevorstand, der von den zweiundvierzig Offizieren der »Thüringen« gewählte I. AO — der Erste Artillerieoffizier —, ein Korvettenkapitän, hatte für Hafen- und Reedeliegzeiten 01.00 Uhr als Messeschluß bestimmt. Daran hält man sich jedoch seit Tagen nicht mehr. Der Nachturlaub für die Offiziere wurde vom Kommandanten weitgehend eingeschränkt. Kaum einer der Offiziere hat Lust, die Abende und Nächte in den Kammern zu verbringen. Lieber findet man sich in der gut eingerichteten Messe zusammen.

Aber es ist nicht nur der Drang nach Geselligkeit, der die Offiziere die Nächte gemeinsam verbringen läßt. Man führt eifrig politische Debatten, äußert Ansichten und Vermutungen über den Fortgang des Krieges, denn aus verschiedenen Stäben der Flotte ist so manches durchgesickert. Die älteren Offiziere, offensichtlich mehr wissend als die jüngeren, suchen immer wieder die hochgehenden Wogen zu dämpfen, vor allem dann, wenn einer der Messegäste den Raum betritt, um abermals die leeren Flaschen in den Eiskübeln mit vollen zu vertauschen oder um eine Sandwichplatte herumzureichen.

Leutnant zur See von Penkwitz ist einer der jüngsten Offiziere auf der »Thüringen«, nicht nur an Lebensjahren, sondern auch an Dienstalter. Er ist gerade zwanzig geworden und hat erst vor wenigen Wochen den Ärmelstreifen erhalten. In der Marine herrscht Offiziersmangel, der Verschleiß war besonders in den letzten Kriegsjahren groß. Dennoch verhinderte das Offizierskorps, daß in der Marine — ähnlich wie im Heer — der »Feldwebelleutnant« eingeführt wurde, von ein paar Ausnahmen abgesehen. Die Dünkelhaftigkeit der Seeoffiziere geht teilweise sogar so weit, daß sie nicht einmal die technischen Offiziere als gleichberechtigt betrachten. Sie nehmen lieber den Mangel an Ausbildung und Lebenserfahrung in Kauf, nur um nicht auf die Söhne der Junker und renommierten Familien im Seeoffizierskorps zu verzichten. Man will um jeden Preis sein Image als »erster Stand« im deutschen Kaiserreich erhalten.

Der blasierte junge Herr von Penkwitz befindet sich in diesen Tagen in Hochstimmung. Das bewirkten gewisse Andeutungen über ein Vorhaben der Seekriegsleitung, die bis zu ihm durchgesickert sind. Da er es nicht versteht, seine Gefühle im Zaum zu halten, spricht er dem Alkohol mehr zu, als er vertragen kann. Auch heute Nacht ist es wieder so. Schwankend strebt er dem Messeausgang zu, um sich zu übergeben.

Der sächsische Messegast Gubich schnappt den torkelnden Leutnant im Gang vor der Pantry. Gubich war Kellner im Hotel Wagner in Zwickau, deshalb wurde er zum Messedienst abkommandiert. Er kennt diesen Zustand zur Genüge. Fängt der Kerl hier an zu kotzen, muß er es aufwischen. Also hinaus mit ihm an Deck, zur Reling.

Respektlos packt Gubich den Leutnant am Kragen und zerrt ihn den Gang entlang. »Wieder vollgetankt?«

»Jawoll«, lallt der Leutnant, »wie’n Sprittleichter.«

»Und warum?«, fragt er harmlos.

»Ver ... stehst du nicht ..., du Kuli.«

Das Gangschott fliegt auf. Kalter Nachtwind bläst dem Leutnant ins Gesicht. Er will zusammensacken. Doch Gubich zerrt ihn an Deck und reißt ihn hoch.

»Was verstehe ich nicht, he? Das wollen wir erst mal sehen!«

Ganz dicht zieht er den Leutnant an sich heran. Ihre Gesichter sind kaum einen Zoll voneinander entfernt. Gedämpfter Lichtschein fällt aus dem Gang an Deck hinaus.

»Also?« Gubich schüttelt ihn unsanft.

»Wir laufen aus.«

»Wohin?«

»Gegen den Tom ... Tommy«, beginnt von Penkwitz zu lallen, den Bruchteil einer Sekunde lang kämpft er um Nüchternheit. Doch die Faust hält eisern fest.

»Wann?«

»Noch diesen Monat.«

Schon packt Gubich den Leutnant im Genick und beugt ihn über die Reling. Während der Leutnant sich entleert, steigt nun doch Erregung in dem Matrosen auf, von den Knien bis zum Hals. Kurzerhand bugsiert er den Leutnant durch den Gang in die Messe zurück. Willenlos und erschöpft läßt es der Betrunkene geschehen.

Einige Augenblicke lang steht Gubich allein vor der Pantry. Er zieht seine Taschenuhr. Sie zeigt kurz nach 02.00 Uhr. Entschlossen dreht er sich um, stürmt hinaus an Deck, hastet davon, läßt sich Niedergänge hinunterfallen, bis er das Wohndeck der III. seemännischen Division erreicht hat. Den ersten Besten, den er in einer Hängematte erwischt, rüttelt er hoch.

»Wach auf, Mensch!«

»Laß mich!«

»Sabbel nicht. Wo schläft der ›Admiral‹?«

»Da«, weist er die Richtung, dreht sich um, daß die Hängematte heftig ins Schaukeln gerät.

Gubich stolpert weiter. Noch zweimal muß er fragen, bis er im Halbdunkel den Obermatrosen findet.

»He, ›Admiral‹!«

Alfred Meurer ist sofort hellwach, obwohl er bereits zweimal diese Nacht geweckt wurde. Einmal vom Signalgasten, der ihm über die letzten Morsesprüche berichtete, und ein andermal meldete ihm ein Heizer, daß der Leitende Ingenieur befohlen habe, am kommenden Tag alle hölzernen, also brennbaren Gegenstände von Bord zu schaffen.

»Was gibt’s?«

»Gubich, Messegast.«

»Weiß Bescheid.«

Der Matrose senkt die Stimme zu kaum hörbarem Flüstern: »Ich habe eben von einem besoffenen Leutnant erfahren, daß die Flotte noch im Oktober auslaufen soll. Gegen die Engländer.«

Meurer richtet sich ruckartig in seiner Hängematte auf.

HINTERHÄLTIGES SPIEL

Das Linienschiff »Kaiser Wilhelm II.« mit 11 150 Tonnen Wasserverdrängung ist ein alter Kasten. Schon bald nach seiner Indienststellung im Jahre 1900 stellte sich heraus, daß es mit seinen vier 24-cm-Doppelturmgeschützen und 17,5 Knoten Höchstgeschwindigkeit den Anforderungen eines modernen Kriegsschiffes — wie alle fünf Schiffe dieses Typs, die zu gleicher Zeit gebaut worden waren — nicht entsprach. Daher wurde es 1910 umgebaut. Ein schlagkräftiges Schiff wurde aber trotzdem nicht daraus. 1916 wurden alle Schiffe dieses Typs desarmiert. Die »Kaiser Wilhelm II.« wurde an einem abgelegenen Kai von Wilhelmshaven festgemacht und diente fortan verschiedenen Stäben als Wohnschiff. Im Sommer 1918 quartierte sich der Stab des Flottenchefs, Admirals von Hipper, darauf ein.

Nach Tagen hektischer Betriebsamkeit herrscht auf dem Wohnschiff in den Vormittagsstunden des 27. Oktober plötzlich merkwürdige Ruhe. Eine gespannte, knisternde Ruhe.

Kapitänleutnant Mindermann sitzt in einem Ledersessel, die Beine lang ausgestreckt. Sein Arbeits- und Wohnbereich ist ein geräumig hergerichteter Admiralstabsraum. Auf Tischen, Regalen und an den Wänden hängen oder liegen See- und Lagekarten, aufgeschlagene Ordner, Berichtsbogen, Formulare und andere Papiere. Wiederholt reibt sich der Kapitänleutnant mit den Handflächen die Schläfen, eine Eigenart, die sich — trotz seiner Abgebrühtheit — immer dann zeigt, wenn seine Nerven besonders beansprucht werden. Niemand an Bord, nicht einmal der Befehlshaber, weiß, ob Mindermann sein wirklicher Name ist. Er ist auf Veranlassung der Seekriegsleitung vor wenigen Wochen zum Stab der Hochseeflotte kommandiert worden. Anhand von Spionagemeldungen, der Funküberwachung, der Aufklärungsergebnisse der Luftschiffe und Marineflieger und internationaler Meldungen hat er geheime Listen über Stärke, Bewaffnung, Geschwindigkeit, Aktionsradius, Aufenthaltsorte und Einsatzbereitschaft der britischen Marineeinheiten anzufertigen.

Keiner im Stab der Hochseeflotte ahnt, wie ungeheuer groß das geplante Risiko ist. Und das ist genau das, was Mindermanns Nerven strapaziert. Im Unterbewußtsein zählt er fortwährend die Schritte des Postens vor der Tür, den man zur absoluten Sicherung des Raumes aufgestellt hat; immerhin wäre hier zu erfahren, wo überall deutsche Agenten tätig sind. Deshalb darf auch niemand den Raum betreten. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her. Eine halbe Stunde mag so vergangen sein. Schließlich wird Mindermann das Stupide des Schrittezählens bewußt, er steht auf, nimmt seine Mütze und verläßt den Raum. Während er die Tür abschließt, reißt der Posten, ein Maat, die Hacken zusammen. Mindermann nimmt gar keine Notiz davon. Er strebt dem Oberdeck zu, um frische Luft zu schnappen.

Rauher, feuchter Herbstwind bläst ihm ins Gesicht. Er achtet nicht darauf. Tief saugt er die Luft ein, dabei sucht er sich zu erinnern. Seine Leutnantszeit taucht vor ihm auf, damals, kurz vor dem Kriege, auf dem neuerbauten Panzerkreuzer »Moltke«. Wie stolz war er auf sein Schiff, wenn es mühelos durch die See zog. Kein noch so gehöriges Wetter konnte ihn auf Brückenwache stören. Zu Anfang des Krieges hatte ihn dann ein Stabsoffizier seiner Kombinationsgabe wegen, wie man sagte, in eine Geheimdienststelle geholt. Das war ihm zunächst gar nicht recht. Es verwunderte ihn, warum man gerade auf ihn verfallen war. Er wollte lieber auf einem Frontschiff bleiben und damit den Sieg für Kaiser und Reich erstreiten. Als Sohn eines Landrates, eines aktiven Mitglieds im »Alldeutschen Verband«, lebte er von Kindheit an in der Vorstellung, daß Deutschland die Weltherrschaft und ein riesiges Kolonialreich zu beanspruchen hätte. Doch bald schon verschaffte ihm der Dienstwechsel Genugtuung, und außerdem erfuhr er hier Zusammenhänge, die ein Frontoffizier nicht einmal ahnte. Damit stieg freilich schon wieder Nervosität in ihm auf. Gerade die Kenntnis der wahren Lage machte ihn zunehmend unruhiger, in den letzten Tagen nahezu bis zur Unerträglichkeit. Sollte alles nun ein Ende haben, ein ganz unrühmliches womöglich? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Sein ganzes bisheriges Leben wäre sinnlos gewesen.

So in Gedanken, ist ihm entgangen, daß unten an der Pier ein Auto vorfuhr. Erst das Seitepfeifen des Bootsmannsmaaten der Wache läßt ihn aufmerken. Eilig kommt der Befehlshaber der U-Boote, Kommodore Michelsen, die Stelling herauf. Er macht Front und hebt salutierend die Hand zur Mütze. Jetzt bemerkt Mindermann auch den Flottenchef, Admiral von Hipper.

Der Admiral, den Mantel mit den hellblauen Aufschlägen nur über die Schulter geworfen, sieht unmutig den ihm entgegeneilenden Kommodore an.

Kapitänleutnant Mindermann kann nur wenig vom Gespräch der beiden hören, eigentlich nur Wortfetzen der stets etwas poltrigen Stimme des Admirals.

»Nein ... Abwarten ... Nicht vor spätem Nachmittag.«

Mindermann ist sofort klar, was der Kommodore will, weshalb er sich sogar eigens auf den Weg hierher begeben hat. Entsprechend des großangelegten Planes haben seine U-Boote den längsten Marschweg. Er ersucht um Erteilung des Einsatzbefehls, wenn seine Boote zum vorgesehenen Zeitpunkt die entsprechenden Seeräume erreichen sollen. Die Zeit drängt.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle lauschen, verläßt Mindermann das Oberdeck. Zudem ist die Mittagszeit heran. Da er aber keine Lust hat, die Mahlzeit an Bord einzunehmen und in gespannt nervöse Gesichter zu sehen, beschließt er, die Genehmigung — wie es in diesen Tagen Vorschrift ist — für einen Landgang einzuholen.

Im Standortkasino der Seeoffiziere herrscht reger Betrieb, wie eigentlich immer um die Mittagszeit. Seit einigen Tagen aber ist es hier besonders voll. Es gibt ja auch viel zu debattieren und manche Neuigkeit zu erfahren. Was wird nun mit dem Krieg? Soll er wirklich zu Ende sein? Aus den Presseberichten verschiedenster Couleur und den wuchernden Gerüchten über die Friedensverhandlungen ergibt sich nur ein sehr verworrenes Bild. Die Besucher des Kasinos tragen durchweg Empörung zur Schau. Nach ihrer Meinung ist die Marine vollkommen intakt; gewiß, von einigen Elementen in den Mannschaftsdienstgraden abgesehen, die sich aber rasch isolieren und ausschalten lassen, wie damals 1917. Warum also Friedensverhandlungen? Warum wird das Instrument Flotte nicht in letzter Stunde eingesetzt, um das Ruder des Kriegsglückes noch herumzureißen? In allen Räumen und Foyers des Kasinos wird eifrig darüber diskutiert.

Kapitänleutnant Mindermann hat Mühe, im Speisesaal einen Platz zu finden. Endlich entdeckt er in einer Nische einen unbesetzten kleinen Tisch. Er möchte mit seinen Gedanken allein sein. Ihn stört das allgemeine aufgeregte Geschwafel. Auch stört ihn das Konzert der Standortkapelle, das aus einem Raum neben der Terrasse in den Speisesaal dringt. Nicht etwa, weil es makaber ist, daß die ganzen Kriegsjahre hindurch und besonders in diesen Tagen eine Kapelle zur Erheiterung der Seeoffiziere beizutragen hat, sondern einfach, weil es den vorherrschenden Lärm verstärkt. Er verschwendet auch keinen Gedanken daran, als er die Speisekarte zur Hand nimmt, Eicremesuppe, Kalbsmedaillon und als Nachtisch Birnenkompott mit heißer Schokolade übergossen bestellt, was sich wohl in den Blechtellern der Mannschaften draußen auf der Reede befindet.

Während er die Suppe löffelt, stellt er auf einmal fest, daß das Besteck in seiner Hand leicht vibriert. Er versucht, über die Wirkung seiner angespannten Nerven zu lächeln, doch es gelingt ihm nicht. Seit Stunden schon befindet er sich in diesem Zustand. Was wird der Tag heute bringen? Seiner Meinung nach wird sich an diesem 27. Oktober das Schicksal des Reiches entscheiden. Das heißt, für ihn ist die Entscheidung im Grunde schon gefallen, und es kommt nur noch auf das Gelingen an. Vor einer Woche hatte es begonnen, am 22. Oktober. Das Erinnern fällt ihm beinahe schwer, als sei es wer weiß wie lange her. Aber in den fünf Tagen hat er so angestrengt gearbeitet, nahezu alle Nächte hindurch, daß er jedes Zeitmaß verloren hat.

An diesem 22. Oktober also waren sie im großen Lageraum auf »Kaiser Wilhelm II.« zusammengerufen worden. Dem waren interne Besprechungen mit Flottenchef von Hipper vorausgegangen. Knisternde Spannung herrschte, als Kapitän zur See von Levetzow, der Vertreter der Seekriegsleitung, den Befehl Admiral Scheers, die gesamte Flotte zum Gewaltstoß in letzter Stunde gegen Großbritannien einzusetzen, bekanntgab. In großen Zügen erläuterte er zunächst die Aufgabenstellung: Die Geschwader der Hochseeflotte dampfen westwärts in die Hofden, nähern sich der flandrischen Küste und beschießen die feindlichen Stellungen. Sollte sich die britische Flotte damit noch nicht aufgefordert sehen, ist nordwärts zu steuern und die englische Küste unter Feuer zu nehmen. Das werde den Gegner unbedingt veranlassen, den Kampf anzunehmen. Die leichten Kreuzer, gedeckt durch Zerstörer und Torpedoboote, haben durch Auslegen von Minengürteln den Vorstoß abzusichern. Alle verfügbaren U-Boote werden eingesetzt, um in mehreren Linien die Anmarschwege der britischen Flotte zu blockieren und zu versenken, was vor ihre Rohre komme. Erscheine die gegnerische Flotte dann, sei sie zu stellen und in direkter Kanonade zu vernichten, zumindest entscheidend zu dezimieren.

Einige Augenblicke herrschte Stille in dem niedrigen Raum. Keiner der Stabsoffiziere wagte etwas zu sagen, als brauche es seine Zeit, bis sich Hochstimmung zu artikulieren vermag. Kapitänleutnant Mindermann war es plötzlich, als sähen ihn alle an. Deshalb räusperte er sich schließlich und sagte, nicht etwa im Tonfall des Bedenkens, sondern als Konstatierung eines Tatbestandes und nicht ohne Stolz: »Seit der Skagerrakschlacht hat der Bestand der englischen Flotte unablässig zugenommen. Sie dürfte gegenwärtig an Tonnage und Feuerkraft mehr als das Doppelte der unseren betragen.«

Dennoch entstand der Eindruck, daß durch diese Bemerkung die aufkommende freudige Erregung beeinträchtigt würde. Admiral von Hipper jedenfalls fühlte sich in diesem Augenblick, eingedenk der Verantwortung, die ihm als Befehlshaber oblag, zu einer Meinungsbekundung veranlaßt. In näselndem, schnarrendem Tonfall — eine Manier der preußischen Offizierskaste — verkündet er: »Wir werden siegen. Anderenfalls werden wir der Schmach einer Niederlage den Untergang in Ehren vorziehen.«

Dieser Ausbruch war nun aber wahrlich nicht geeignet, das Aufkommen erhabener Gefühle zu fördern. Konteradmiral von Trotha begriff das sofort, deshalb fügte er nüchtern und kalt hinzu: »Zumindest wären dann die Flotte und Zehntausende ihrer Männer dem Zugriff einer möglichen Revolution entzogen. Sie ist wohl unausbleiblich, wenn Deutschland den Krieg verliert.«

Diesen Zynismus vermochte kaum einer der Anwesenden auch nur annähernd in seiner ganzen Konsequenz zu begreifen. Am ehesten vielleicht noch von Levetzow. Er kannte die Situation des Reiches und seine dürftigen Chancen, den Kriegsausgang noch zu wenden. Deshalb versuchte er auch das vom Stabschef der Flotte angedeutete brisante Thema beiseite zu schieben. »Selbst wenn wir in der Schlacht beträchtliche Verluste hinnehmen müßten, so würden wir auf jeden Fall dem Gegner starke Schläge versetzen. Das muß sich auf die Friedensverhandlungen auswirken. Der Gegner würde spüren, daß wir nicht wehrlos sind und seine Friedensbedingungen reduzieren.«

Damit hatte das Gespräch einen Punkt erreicht, der bisher noch nicht erörtert wurde.

Ein Stabsoffizier fragte auch sogleich: »Findet der Angriffsbefehl die Zustimmung Seiner Majestät und des Reichskanzlers?«

Es war unverkennbar, daß von Levetzow eine derartige Frage vorausbedacht hatte, als er formulierte: »Nach Fertigstellung der Angriffsunterlagen wird sie die Seekriegsleitung selbstverständlich zur Genehmigung vorlegen. Die Seekriegsleitung ist sich der Zustimmung sicher.«

Das war deutlich genug. Man brauchte also deshalb keine weiteren Fragen mehr zu stellen.

Von Levetzow beendete dann auch bald seine Ausführungen mit einigen Hinweisen: Strengste Geheimhaltung sei erstes Gebot, nur die Admirale, die ein Geschwader befehligten, seien vorerst einzuweihen. Der Chef der Seekriegsleitung, Admiral Scheer, habe sich vom Großen Hauptquartier in Spa nach Berlin begeben. Der Operationsplan sei so schnell wie nur irgend möglich auszuarbeiten und ihm vorzulegen, wenn er es befehle. Man würde diesbezüglich in Verbindung bleiben.

In der vergangenen Nacht war nun dieser Befehl eingetroffen. Die Operationsunterlagen sollten zur Einsichtnahme nach Köln gebracht werden. Die Flotte also wird den Krieg entscheiden! Im Flottenstab herrschte Hochstimmung. Sie ließ auch gar kein Verwundern darüber aufkommen, daß die geheimen Pläne nicht in Berlin, sondern in Köln vorzulegen waren, noch dazu auf dem Bahnhof. Admiral Scheer wollte dort auf der Rückreise nach Spa kurz Station machen. Deshalb hatte sich der II. Admiralstabsoffizier letzte Nacht von Wilhelmshaven aus mit den Unterlagen auf den Weg begeben.

Warum Köln statt Berlin, sinniert Mindermann. Sollte der Chef der Seekriegsleitung vom Kaiser aus innenpolitischen Erwägungen heraus — immerhin glich Berlin einem Pulverfaß — plötzlich keine Zustimmung erhalten haben? Sehr unwahrscheinlich. Zum Abblasen des ganzen Unternehmens hätte es nur eines simplen Fernschreibens bedurft. Das ist also nicht zu befürchten. Nur der Zeitpunkt, wann der Flottenvorstoß beginnen soll, steht noch offen. Aber in wenigen Stunden, nach der Rückkehr des II. Admiralstabsoffiziers aus Köln, wird er bekannt sein.

Kapitänleutnant Mindermanns Gedanken werden jäh unterbrochen. Einige Tische weiter gibt es eine erregte Debatte. Soviel er den Wortbrocken entnehmen kann, hat irgendein Seeoffizier zwei waffentechnische Offiziere, einen Leutnant und einen Oberleutnant, zum Mittagstisch mit ins Kasino der Seeoffiziere gebracht, obwohl sie doch ihr eigenes im Standort hätten. Das Unerhörteste aber, die beiden seien nach Einnehmen der Mahlzeit noch eine ganze Zeit sitzen geblieben, um der Musik zu lauschen. Das sei eine unglaubliche Mißachtung des »Seeoffizierskorps«. Wortführer ist ein Fregattenkapitän. Sogar der Kasinooffizier, Kapitän zur See Meysing, muß herbeikommen, um die Wogen zu glätten. Er versichert, er werde selbstredend dem Standortältesten Meldung über das ungebührliche Verhalten der beiden technischen Offiziere erstatten.

Mindermann genießt nur einen Augenblick lang, daß er selbst dieser exklusiven Kaste angehört, die sich in diesen Räumen bewegen darf, wie es ihr beliebt. Doch angesichts der spannungsgeladenen Situation dieser Tage findet er den Vorgang albern. Vielleicht gibt es in wenigen Stunden keine Veranlassung mehr, sich über das Verhalten zweier Waffenoffiziere zu erregen. Mindermann steht auf und verläßt das Kasino.

Bald sitzt der Kapitänleutnant wieder in seiner Kammer. Wiederum hat er die Beine lang ausgestreckt und raucht eine Zigarette nach der anderen. Der Aschenbecher ist bis obenhin mit Kippen gefüllt.

Endlich klopft eine Ordonnanz an seine Tür und überbringt den Befehl, unverzüglich im großen Lageraum zu erscheinen.

Als Mindermann eintritt, steht Admiral von Hipper halb aufgerichtet an der schmalen Stirnseite des großen Tisches. Neben ihm steht sein Stabschef, Konteradmiral von Trotha. Auf den Stirnglatzen beider Admirale spiegelt sich der Schein des Lampenlichtes.