Die Story

2015, im Jahr der Flüchtlingskrise:

Eine schöne blonde Frau. Blut auf hellem Marmor.

Vier geraubte Meisterwerke des Barock.

Auf den Straßen Araber und Afrikaner.

An den Grenzen Kontrollen.

Der Ganove Gianni Canali hat Pech. Als er sich darauf einlässt, bei einem Kunstraub in Verona den Transporter zu fahren, stolpern er und seine Komplizen im Museum über eine Leiche. Auf der Flucht nach Bayern gerät Gianni in eine Grenzkontrolle. Dabei ist seine Ladung gleich doppelt gefährlich für ihn.

Die Kommissare Fontanaro aus Verona und Breitwieser aus Traunstein nehmen eiskalte Kunsthändler, skrupellose Schlepper, obskure Oligarchen und einen dubiosen Anwalt ins Visier. Ihre Ermittlungen dies- und jenseits des Brenners scheinen schon zu scheitern. Da geschieht ein zweiter Mord.

Die Autorin

Marta Donato ist Germanistin und Kunsthistorikerin. Sie wurde in München geboren, wo sie heute in einem Medienunternehmen arbeitet. Ihre zweite Heimat ist der Chiemgau. Und ihren Urlaub verbringt sie mit ihrer Familie fast ausschließlich in Italien, einem Land, das wie kein anderes reich ist an Schauplätzen für spannende Romane voller Atmosphäre.

Dass es die Autorin versteht, Flair und Thrill meisterlich zu verbinden, wissen auch die deutschen TV-Zuschauer, seit das ZDF ihren (unter dem Pseudonym Cristina Camera erschienenen) Italien-Krimi Die Gärten der Villa Sabrini verfilmte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Sonntag, 15.11.2015

Verona, 19.30 Uhr

Wo blieb Franco? Ungeduldig kontrollierte Renata Mancini die Zeitanzeige auf dem Display ihres Laptops. Heute sollte er sich wahrlich nicht verspäten! Es blieb ihnen nicht viel Zeit! Sie hob den Kopf, ihr Blick war dabei auf das Fenster und hinaus in die stockdunkle Nacht gerichtet. Konzentriert bemühte sie sich, die letzten Geräusche des Museumsalltags richtig zu deuten. Der Palazzo Contini, in ihm war das Museo Civico d’Arte von Verona untergebracht, hatte eine enorme Ausdehnung über drei Stockwerke. Das riesige Treppenhaus mit Stufen aus Veroneser Marmor übertrug jeden Laut vielfach und deutlich. Der typische Lärm, den die Besucher beim Verlassen des Hauses machten, ebbte allmählich ab. Noch klapperten Schlüssel an die Blechtüren der Schließfächer, hallten Schritte schwerer Schuhe im hohen Gewölbe des Treppenhauses wider. Renata hatte ihr Büro im Erdgeschoss, die Tür zum Gang war nur angelehnt, und so hörte sie Gelächter und Kinderweinen, die Rufe der Museumsdiener im Vestibül, die die Besucher wenig freundlich anwiesen, sich zu beeilen. Eine lange Woche lag hinter ihnen. Das Museumspersonal wechselte zwar fast täglich durch, dennoch war die Luft am Sonntagabend endgültig raus. Studenten der Kunstakademie oder kunstinteressierte Senioren, die sich ihre kärgliche Rente durch einige Stunden Aufsicht aufbesserten, hatten an allen Tagen der Woche Dienst. Sie wollten einfach nur noch nach Hause. Und Renata Mancini bildete keine Ausnahme.

Der Erfolg ihrer Ausstellung über italienische Barockmalerei tat ihr gut. Der prächtige Renaissancesaal im Erdgeschoss, nicht weit entfernt von ihrem Büro, war jeden Tag überfüllt von Besuchern. Doch als Kuratorin der Ausstellung ließ sie es sich nicht nehmen, täglich mehrere Führungen zu machen, die sie Kraft und Zeit kosteten und sie ermüdeten. Nach vier Wochen, so lange dauerte die Ausstellung inzwischen schon, hasste sie ihren vielfach abgespulten Text und die immer gleichen Fragen der Besucher. Jeder Tag lief mehr oder weniger vorhersehbar ab. Und abends fühlte sie sich ausgelaugt und übellaunig.

Renata holte einen kleinen Spiegel aus der Handtasche, die in der untersten, jetzt weit geöffneten Schublade des Schreibtisches lag, und kontrollierte ihr Make-up. Franco war sehr erpicht darauf, dass ihn ein rot geschminkter Mund küsste, ihr Gesicht puppenhaft zurechtgemacht war. Sie hatte nicht vor, ihn zu enttäuschen. Zu viel stand für Renata auf dem Spiel. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, hatte ein langwieriges Studium der Kunstgeschichte hinter sich und vor vier Jahren den Kuratoren-Posten für italienischen Barock am Museum bekommen. Diese Stelle war ihr wahrlich nicht in den Schoß gefallen. Zwei weitere Kandidaten hatten sich auf den begehrten Job Hoffnungen gemacht.

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu und legte glänzend roten Lippenstift auf. Ein junger Kunsthistoriker, der erste Museumserfahrungen aus Mailand mitgebracht hatte, war an seinem offenkundigen Karrierestreben gescheitert. Franco Risi hatte keine Lust gehabt, sich bereits mit fünfundfünfzig Jahren einen kompetenten und ehrgeizigen Nachfolger ins Haus zu holen. Die zweite Kandidatin, Renatas ehemalige Kommilitonin Giulietta Ricchi, hatte doch tatsächlich geglaubt, sie könnte die Stelle ergattern. Doch Museumsdirektor Risi stand nun mal nicht auf vollschlanke Frauen. Dagegen hatten die blonden Haare von Renata es ihm augenblicklich angetan. Keineswegs ihre natürliche Haarfarbe, aber Franco hatte dafür keinen Blick. Giulietta wollte mit ihrem hervorragenden Studienabschluss punkten. Aber weit gefehlt. Für Franco galten andere Werte. Risi war weniger am Intellekt der Bewerberin interessiert, sondern hatte ein Auge für weibliche Reize. Es war nicht schwer für Renata gewesen, den Museumsdirektor zu durchschauen und ihn im Bett von ihren Qualitäten zu überzeugen. Anschließend war es ein Leichtes gewesen, ihn um den kleinen Finger zu wickeln, ihn glauben zu lassen, was für ein toller Hecht er doch immer noch war.

Allein seine Gattin aus noblem Haus, Contessa Claudia Di Primavera, machte ihr Kopfzerbrechen. Sie hatte in der Ehe entschieden die Hosen an und stand Renatas geplantem Familienglück empfindlich im Wege. Deshalb hatte sie sich für diesen Abend fest vorgenommen, mit Franco ein ernstes Wort zu reden. Er musste sich endlich von seiner Frau scheiden lassen. Was wollte er noch von ihr?

Renata Mancini schob den Spiegel wieder in ihre Handtasche und konzentrierte sich erneut auf die Geräusche im Haus. Endlich Ruhe, Stille im Museum. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern und Franco würde sie noch rasch besuchen, bevor er zu dem blöden Empfang im Palazzo Primavera zurückmusste, den seine Frau anlässlich seines 60. Geburtstags geben wollte. Auch Renata hatte dort pünktlich zu erscheinen, um die seriöse und erfolgreiche Kuratorin zu spielen, die Gäste, die aus der Kunstszene Veronas kamen oder von reichen Industriellen- und Bankiersfamilien oder aus der Politik stammten, mit Charme zu umgarnen. Es galt, ihnen Honig ums Maul zu schmieren, damit sie Spendengelder locker machten. Das Museum musste endlich Ankäufe tätigen, damit es für die Besucher interessant blieb, damit sie einen Grund hatten, wiederzukommen. Franco Risi hatte betont, man möge auf Geschenke zu Gunsten von Spenden für sein Museum verzichten. Er tat ganz so, als gehörte es ihm persönlich. Alles war eingeladen, was Rang und Namen in der Stadt hatte – und was vor allem reichlich Geld besaß.

Doch bevor sie beide sich dem beruflichen Aspekt der Feier widmeten, hatte er sich von Renata ein ganz besonderes, sehr persönliches Geburtstagspräsent gewünscht. Sie war für ihn immer wieder ein unverhofftes Glück, ein Quell steten Hochgefühls. So würde er sie in wenigen Minuten aus ihrem Kostüm schälen, als wäre sie eine zerbrechliche, kostbare Vase aus Muranoglas, ein Geschenk, das in einem kunstvoll verpackten Karton ruhte. Er liebte das verzögerte Vorspiel, genoss die Freude auf ihren Körper in Zeitlupe. Für Renata war das weniger aufregend, vielmehr Mittel zum Zweck. Sie zog den Rubinring ab, den ihr Luca, ihr Verlobter, geschenkt hatte, und steckte ihn in ein Schmucketui, das sie immer in der Handtasche bei sich trug. Luca hatte doch tatsächlich die Stirn gehabt und ihr verboten, an der Party ihres Chefs teilzunehmen. Er hatte ihr eine regelrechte Szene gemacht und ihr mit Entlobung gedroht. Was bildete sich dieser Hungerleider ein? Ihr verbot man nichts! Soweit kam es noch! Sie ließ das Schmucketui zuschnappen und in der Handtasche verschwinden.

Stattdessen steckte sie sich den Brillantring an, den sie vor wenigen Wochen von Franco bekommen hatte mit dem Versprechen, sie bald zu heiraten. An dieses Versprechen wollte sie ihn an diesem Abend einmal mehr erinnern.

Wieder lauschte Renata in die Nacht. Und endlich hörte sie auch sehr leise Schritte. Weshalb schlich sich Franco an? Ein wissendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sicherlich wollte er sie überraschen. Seine Geheimniskrämerei hatte manchmal schon kindische Züge, aber sie würde ihm den Spaß nicht verderben, sich nicht umdrehen. Ein letztes Mal fuhr sie sich ordnend mit den Fingern durch die blonden Haare. Ein Luftzug sagte ihr, dass die Tür in ihrem Rücken weit aufgeschoben wurde. Wirklich albern, das Ganze!

»Finalmente, Franco. Ich dachte schon, du hast mich vergessen! Wir haben nicht viel Zeit, sonst wird deine Frau böse!« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. In diesem Moment spürte sie, wie ein Tuch um ihren Hals geschlungen und von hinten fest zusammengezogen wurde. Eisenhart legte es sich auf ihre Kehle, drückte unnachgiebig auf die Luftröhre und nahm ihr den Atem. Verzweifelt versuchte Renata, mit den Händen das Tuch vom Hals zu zerren. Sie riss den Mund dabei weit auf, in dem vergeblichen Versuch, mehr Luft zu bekommen. Doch anstelle einer kurzen Erleichterung wurde ihr ein Lappen in den Mund gestopft, der sie endgültig in Panik versetzte. Je verzweifelter sie sich wehrte, desto mehr würgte es sie. Wild schlug sie um sich. Doch es half ihr nichts. Mit einem letzten, entschiedenen Ruck, der ihren Kopf nach hinten riss, wurde das Tuch zusammengezogen. Renata verlor die Besinnung. Ein letztes Röcheln, ein letztes wildes Aufbäumen, dann sackte die schöne blonde Frau in sich zusammen.

2

Etwa zur gleichen Zeit hantierte Commissario Antonio Fontanaro mit einem großen Zangenschlüssel herum. Er lag verrenkt auf dem gefliesten Küchenboden und kämpfte mit dem Wasserabsperrhahn unter dem Spülbecken. Eine nagelneue Geschirrspülmaschine, ein deutsches Qualitätsprodukt, wie er seiner Frau Marissa strahlend erklärt hatte, stand mitten im Raum und wartete darauf, endlich angeschlossen zu werden. Deshalb versuchte Antonio, das Wasser abzusperren, damit es ihm beim Abklemmen des Schlauches nicht entgegensprudelte, sich über den Küchenboden ergoss, ihn klatschnass machte und die Einrichtung ruinierte.

Einen solchen Wasserschaden hatten sie gerade hinter sich, weil das alte Gerät undicht geworden war und einen Schwall schäumendes Spülwasser in die Küche geschickt hatte. Nach dem Aufwischen hatten sie einige Mühe gehabt, die Seifenschmiere von den Bodenfliesen und den üblen Geruch aus dem Raum zu bekommen.

»Es klemmt, oder?« Marissa stand schon geraume Zeit hinter ihm und beobachtete skeptisch sein Treiben.

»Was heißt ›klemmt‹?« Antonio hatte einen hochroten Kopf und denkbar schlechte Laune. Kommentare bei den ungeliebten Heimwerkertätigkeiten mochte er gar nicht. Vorsichtshalber hatte er den Hahn aus Chrom mit einem Tuch umwickelt, damit er keine Schrammen und Kratzer bekam, und versuchte, ihn zuzudrehen, aber der Hahn saß fest. Er bewegte sich keinen Millimeter. Resigniert gab Antonio auf und rappelte sich mühsam hoch. Er wollte es nicht wahrhaben, aber zu allem Überfluss schmerzte ihn sein Kreuz.

»Und jetzt?«

»Nichts ›und jetzt‹!« Antonio klopfte seine Jeans aus, als hätte er am Strand gelegen und Adriasand abbekommen. »Ruf morgen Alfredo an, er soll die verdammte Maschine anschließen. Ich gebe es auf!«

»Ha …, Alfredo, Alfredo! Du bist ja nicht da, wenn mir der alte Mann zum hundertsten Mal seine Lebensgeschichte erzählt. Ich kenne sie inzwischen in- und auswendig! Außerdem muss ich ins Büro!«

Marissa war alles andere als einverstanden. Der Pensionist Alfredo war Hausmeister der Anlage, in der die Fontanaros ihre Eigentumswohnung hatten. Schon lange in Pension, verdiente er sich etwas dazu, mähte den Rasen und schnitt die Sträucher im Gemeinschaftsgarten, wechselte Glühbirnen, kümmerte sich um tropfende Wasserhähne und sorgte dafür, dass seine Frau für ihn das Treppenhaus putzte. Marissa unterstellte, dass er seiner Frau keinen Euro für diese Arbeit abgab, die eigentlich er machen sollte. Aber Putzen war ganz eindeutig unter seiner Würde. War er erst einmal in der Wohnung, um irgendetwas zu reparieren, bekam man ihn nicht wieder los. Er redete und redete, wartete auf eine Tasse caffè und schwatzte dann weiter.

»Warum hast du die Maschine nicht einfach komplett mit Montage bestellt? Jetzt kann ich mich darum kümmern und den alten Alfredo bekomme ich als Dreingabe.« Nun war auch Marissas Gesichtsfarbe gerötet.

Antonio blieb ihr die Antwort schuldig. Er hatte sich die 100 Euro Montage sparen wollen. Denn sonst wäre der gute Preis für diese deutsche Wertarbeit dahin gewesen. Marissa wusste das natürlich auch. Außerdem hatte er unterstellt, dass es ein Kinderspiel sein würde, diese blöde Maschine anzuschließen. Wäre es ja auch gewesen, wenn der Hahn nicht festgesessen hätte. Antonio ließ seine Frau wortlos stehen und trat auf den Gang. Er wollte sich im Bad die Hände waschen. Auf halbem Weg dorthin läutete das Festnetztelefon. Immerhin nicht sein Diensthandy, dachte Antonio erleichtert. So war es nicht die Questura, die sich meldete. Das wäre Wasser auf die Mühlen von Marissa gewesen, wenn er jetzt auch noch zu einem Fall gerufen worden wäre.

»Pronto!«

»Ciao, Tonio. Wie geht es euch?«

»Ah, Babbo, wie nett, dass du dich meldest.« Er richtete einen fragenden Blick auf Marissa, die am Rahmen der Küchentür lehnte. Entschieden schüttelte sie den Kopf. Ein längeres Telefonat mit ihrem Vater zu führen, dazu hatte sie keine große Lust. Sie lachte Antonio frech an. Das war ihre Revanche für sein handwerkliches Unvermögen.

»Danke, Babbo, alles in Ordnung. Und was macht ihr heute am Sonntagabend? Seid ihr eingeladen?«

»Was du immer glaubst. Nein, wir haben zu tun. Ich ruf nur an, weil ihr uns heute und morgen nicht erreichen könnt. Die alte Dienststelle hat mich zurückgeholt.«

Antonio glaubte, sich verhört zu haben. Sein Schwiegervater Danilo Angelotti, ehemaliger Commissario Capo in Bozen, inzwischen 67 Jahre alt und seit mehr als fünf Jahren in Pension, herzkrank zudem, sollte alles machen, nur nicht wieder arbeiten.

»Wie meinst du das? Sie haben dich zurückgeholt?«

»Liest du keine Zeitung? Weißt du nicht, was bei uns los ist?«

Antonio hatte keinen blassen Schimmer, worauf Danilo anspielte.

»No, mi dispiace, Babbo

Ging ein Serienmörder in Bozen um? Brauchten sie alle verfügbaren Kräfte, um ihn zu stellen? Aber sein Schwiegervater war nicht fit. Für Observationen oder gar Verfolgungen völlig ungeeignet. Sollte er etwa in der Questura die Stellung halten, am Telefon ausharren? Aber das konnte doch nicht sein. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, pensionierte Kommissare in die tägliche Polizeiarbeit einzubinden. Egal, wie knapp bemessen das Personal inzwischen war. Obwohl, der Staat musste sparen. Keine Frage. Aber soweit war es doch noch nicht gekommen, oder?

»Wir haben riesige Probleme am Bahnhof von Bozen. Täglich kommen Hunderte von Flüchtlingen an. Sie wollen alle weiter nach Deutschland. Aber bevor uns die Österreicher den Brennerpass absperren, müssen wir wenigstens einige von ihnen aufhalten. Ich helfe der polizia di stato am Bahnhof bei der Organisation. Die armen Leute werden aus den Zügen geholt und in Unterkünfte gebracht. Inzwischen haben wir schon keine freien Turnhallen mehr.«

»Ihr nehmt aber keine Afrikaner bei euch im Haus auf, Babbo

Antonio kannte die gastfreundliche Einstellung seiner Schwiegereltern. Er spürte, wie eine leichte Panik in ihm aufstieg. Marissa war blass geworden und kam näher.

»Hältst du mich für senil, Tonio?« Danilos Stimme klang empört und beleidigt zugleich. »Natürlich nicht. Deine Schwiegermutter kocht in einer Turnhalle Tomatensauce in einem Zehnlitertopf und Spaghetti bis zum Abwinken.«

»Wie lange macht ihr beiden denn das schon?«

Danilo lachte am anderen Ende der Leitung.

»Du hörst dich leicht panisch an, mein Lieber. Wir machen das nur dieses Wochenende und wenn nötig auch das nächste. Wir haben uns einer ehrenamtlichen Bürgerinitiative angeschlossen. Die organisiert zusammen mit der polizia die Einsätze. Wir passen schon auf uns auf. Ist meine Tochter auch in der Nähe?«

Antonio kam gar nicht dazu zu antworten. Marissa riss ihm förmlich den Telefonhörer aus der Hand.

»Babbo, bist du auch warm genug angezogen? Auf dem Bahnhof von Bozen zieht es immer. Es ist November!«

Antonio schüttelte sprachlos den Kopf. Seine Frau und ihre Eltern! Ein dream team, das er liebte und das ihn manches Mal absolut verzweifeln ließ. Er ging ins Bad und wusch sich endlich die Hände. Dann griff er in die Tasche seiner Jeans und holte sein Handy heraus. Er würde seinen beiden Frauen eine Freude machen. Giulia, seine Tochter, würde einen Luftsprung vollführen, da war er sich sicher.

»Pizzeria Napoli? … Ja, bitte drei Capricciosa! ... Wann kann ich die pizze abholen? In 15 Minuten? Super, grazie, a dopo!« Antonio schob das Handy in die Hosentasche zurück. Marissa würde nicht völlig einverstanden sein. Denn er würde Giulia erlauben, die Pizzastücke mit der Hand und direkt aus dem Karton zu essen. Das war normalerweise absolut verboten. Bei den Fontanaros herrschten strenge Tischsitten. Doch in Anbetracht der kaputten Geschirrspülmaschine war Marissa sicherlich dazu zu überreden, einmal eine Ausnahme zu machen.

Als Antonio aus dem Bad und in den Gang trat, legte seine Frau den Telefonhörer auf.

»Was sagst du dazu? Was hältst du von den Aktivitäten meiner Eltern?« Ihr Blick war ängstlich. Was erwartete sie jetzt für eine Antwort von ihm?

»Deine Eltern sind erwachsene Leute, sie werden wissen, was sie tun. Ich habe höchsten Respekt vor ihrem Einsatz.«

Sofort verfinsterte sich Marissas Miene. Ganz falsche Antwort. Eigentlich war das klar gewesen. »Und sie sind nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe ehrenamtlicher Helfer, die mit ihnen gemeinsam am Bahnhof stehen oder in der Turnhalle kochen oder Essen verteilen. Ich kann daran nichts Schlimmes finden.«

»Nein, nein, schlimm ist das nicht. Es ist großartig, dass die beiden das machen. Aber was ist, wenn sie krank werden, sich übernehmen, was machen wir denn dann? Hast du dir das mal überlegt?«

Nein, natürlich nicht! Antonio neigte schon von Berufs wegen dazu, die Dinge erst dann wahrzunehmen, einzuordnen, anzupacken, wenn sie tatsächlich passiert waren. Was halfen ihm prophylaktische Sorgen? Mörder konnten erst gefasst werden, wenn sie zugeschlagen hatten. Alles andere war für ihn unsinniger Aktionismus. Er trat an die Garderobe und zog seine warme Lederjacke mit Innenfutter an. Der November in Verona war feucht und kalt. Spaziergänge nachts waren manches Mal kein Vergnügen. Zur Sicherheit holte er sich aus der Schublade der Kommode seine Lederhandschuhe heraus und zog sie an. Alarmiert beobachtete ihn seine Frau.

»Was soll das werden, Tonio? Wo gehst du hin?«

»Ich hole uns pizze, damit meine beiden Damen nicht verhungern müssen. Bin gleich wieder da.« Er zog die Haustür auf, gab ihr noch rasch einen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment verschwunden.

3

21.00 Uhr

Ein schwarzer Fiat Ducato Easy mit blinden, lackierten Scheiben im Laderaumbereich näherte sich dem Museo Civico d’Arte. Gianni Canali hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet, und so glitt das Fahrzeug wie ein Schatten, von Norden kommend, den Lungadige entlang. Es gab kaum Verkehr. Kein Fußgänger ging auf dem Gehsteig entlang. Niemand nahm Notiz von dem Lieferwagen. Gianni spähte durch die Windschutzscheibe. Der dunkle Asphalt schluckte das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung. Nebel kam in Schwaden von der Etsch herauf. Er hüllte Gebäude, Straßen und Plätze ein und legte sich als nasser Film auf die Windschutzscheibe.

Gianni betätigte die Scheibenwischer, damit er die Abzweigung nicht verpasste. Der Palazzo Contini stand an einer Straßenecke. Urplötzlich tauchte das wuchtige Renaissancegebäude mit seiner rustizierten Fassade im Nebel auf. Fast wäre er daran vorbeigefahren. Nur durch ein heftiges, wenig elegantes Manöver schaffte er es gerade noch, in die Seitenstraße abzubiegen. Er hörte die Männer, die im Laderaum hockten, schimpfen und fluchen. Gianni Canali grinste in sich hinein. Sollten sie ruhig ein wenig hin- und hergeworfen werden. Ihm war die ganze Sache suspekt. Und er verfluchte sich, dass er wieder einmal nicht nein gesagt hatte und wider besseres Wissen mitmachte. Eines nicht so fernen Tags würde die Polizei sie alle verhaften und einsperren.

Auf der Rückseite des Palazzo war in die hohe Mauer ein Metalltor eingelassen, das, wie verabredet, offen stand. Canali lenkte den Transporter durch die Einfahrt und hielt dicht an der Hauswand in unmittelbarer Nähe einer Eingangstür, die in die rückwärtigen Räume des Museums führte. Er stellte den Motor ab und wartete. Er sah zum Seitenfenster hinaus und beobachtete durch das offenstehende Tor die Straße. Eine kleine Laterne über dem Mauerbogen spendete spärlich Licht. Die wenigen Läden und Handwerksbetriebe, die sich in der Nebenstraße befanden, waren am Sonntagabend längst geschlossen. Privatleute wohnten kaum in dem Viertel und Touristen kamen nur untertags vorbei, um sich die Ausstellungen des Museums anzusehen. Für den schwarzen Transporter interessierte sich keine Menschenseele.

Gianni öffnete die Wagentür, stieg aus, umrundete den Transporter und entriegelte die rückwärtige Tür zum Laderaum. Sofort sprangen drei schwarz gekleidete Gestalten heraus. Sie trugen, genauso wie Gianni Canali, Overalls und Turnschuhe. Ihre Gesichter waren zum größten Teil von Sturmmützen bedeckt. Nur für Augen und Mund gab es Schlitze. Mit wachsamen Blicken kontrollierten die Männer die Umgebung. Ihre Hände hatten sie in Handschuhe gesteckt. Es war schwer, die drei dunklen Gestalten voneinander zu unterscheiden. Ihre Kleidung war identisch und sie waren ähnlich groß gewachsen. Gianni lehnte die Türen zum Laderaum des Transporters nur an, damit sie ihn später ohne Lärm und ohne Probleme öffnen konnten. Dann trat er zu den anderen, die schweigsam beieinander standen. Neben ihnen hatte er immer ein mulmiges Gefühl. Er war der Kleinste und Zierlichste, das war ihm schmerzlich bewusst. Im Ernstfall würde er sich gegen einen Angriff von nur einem von ihnen nicht wehren können. Er durfte keine Fehler machen, sonst war er geliefert. Gianni sah zum Gebäude, damit seine Kumpel ihm das Unbehagen nicht ansahen. Im Museum war alles dunkel.

»Auf was warten wir noch?« Vittorio Todisco, der Anführer und Boss der vier, gab den Startschuss. Er griff in seine Hosentasche und zog einen dunklen, flachen Gegenstand heraus, den er Gianni hinhielt.

»Klemm den Magneten zwischen die beiden Flügel der Metalltüren der Einfahrt, damit die Tore nicht zufallen, es aber so aussieht, als wären sie geschlossen! Capisci? Wir wollen nicht, dass uns jemand Gesellschaft leistet. Und dann setz deine Mütze auf oder willst du unbedingt erkannt werden?«

Gianni fühlte, wie er rot wurde. Vittorio Todisco behandelte ihn immer, als könne er nicht bis drei zählen. Und genau deshalb unterliefen ihm Fehler, die dem anderen recht gaben. Wortlos ging er zur Einfahrt, befestigte den Magneten und lehnte die Tore behutsam aneinander. Ein letzter Blick die Straße entlang zeigte ihm, dass alles ruhig war, niemand spazieren ging. Dann holte er die Mütze aus der Seitentasche des Overalls und stülpte sich das Wollteil über. Als er wieder zum Wagen zurückging, hörte er, wie Vittorio kommandierte:

»Lasst uns die Sache rasch erledigen!«

»Verdammt kalt!«, bemerkte Livio Ferrari, der Mann für Spezialaufträge, und rieb die Handschuhe aneinander. Seine dunklen Augen, die durch die Schlitze der Wollmütze spähten, sandten einen prüfenden Blick auf seine Mitstreiter. Ein ziemlich zusammengewürfelter Haufen war das.

»Dann mach ich mich mal an die Arbeit!« Ferrari drehte sich um und ging auf den Hintereingang zu. Entlang der Gebäudemauer verlief eine mäßig hohe Buchsbaumhecke. Livio Ferrari machte unter den Blicken der anderen genau drei gleich lange Schritte und griff dann ins Gebüsch. Ein kurzer, banger Augenblick, in dem Gianni Canali hoffte, dass das Unternehmen genau jetzt sein Ende fand, verstrich und Livio zog eine Plastikkarte zwischen den kleinen Blättern hervor. Er hob sie hoch, wie zum Beweis, dass es nun losgehen konnte. Die Kumpel blieben reglos stehen und warteten wie verabredet.

Livio Ferrari hielt die Chipkarte an einen roten Sensorknopf, der sich zum Schutz vor der Witterung hinter einer kleinen Glasscheibe befand. Gleichzeitig zog er an der Tür des Hintereingangs, die sich anstandslos öffnen ließ. Livio schlüpfte hinein und die Tür fiel ins Schloss. Jetzt mussten sie abwarten. Vittorio Todisco sah alle Augenblicke auf die Uhr.

»Merda!« fluchte er schließlich leise vor sich hin.

Warum dauerte das so lange? Gianni hatte kein Zeitgefühl. Er zwang sich, nicht auch immer wieder auf die Armbanduhr zu sehen. Livio musste dort drinnen die Kameras und die Alarmanlage ausschalten, alles vorbereiten, damit sie ungestört im Museum arbeiten konnten. Der Komplize war bekannt für seine Gründlichkeit. Er ließ sich die Zeit, die er brauchte, damit es zu keiner Panne kam. Gianni war ihm dankbar dafür. Endlich öffnete sich die Tür erneut und Livio Ferrari winkte ihnen.

Gemeinsam betraten sie das Museum. Livio hielt eine lange Stableuchte in der Hand und ging voraus in Richtung Vestibül.

»Gianni, du bleibst hier!«, wandte sich Vittorio Todisco wieder an den Fahrer, der Schmiere stehen sollte. So hatten sie es am Abend zuvor besprochen. Beute machten die anderen. »Hast du mich verstanden? Du gibst uns ein Zeichen, wenn sich hier was tut. Wenn irgendwer auftaucht, den wir nicht gebrauchen können.« Streng musterte er Gianni. »Das wirst du ja wohl hinbekommen, oder?«

Der Fahrer presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen Kommentar. Er war von Anfang an gegen die ganze Aktion bei Nacht und Nebel gewesen. Und das wusste Vittorio Todisco nur zu gut. Bisher hatte Gianni nur kleine Diebstähle begangen oder ein bisschen mit Koks gedealt. Das, was Todisco und die beiden anderen vorhatten, war entschieden eine Nummer zu groß für ihn. Aber er hatte doch gar keine andere Wahl. Er brauchte das Geld, das ihm Vittorio Todisco versprochen hatte. Für sich, für seine Eltern und Geschwister, die in Neapel lebten und oftmals nicht wussten, wie sie über die Runden kommen sollten.

Gianni war in der Hoffnung nach Verona gegangen, Arbeit zu finden, ein Auskommen zu haben, das ihm und seiner Familie endlich ein besseres Leben ermöglichte. Doch nun war er schon fast zwei Jahre da und er war noch keinen Schritt weiter. Todisco, der einen Handwerksbetrieb für Elektroinstallationen besaß, gab ihm hin und wieder Gelegenheitsjobs. Obwohl Gianni gelernter Elektriker war, wollte Todisco den ›dahergelaufenen‹ Neapolitaner, wie er ihn scherzhaft nannte, nicht anstellen. Der Scherz hatte inzwischen einen Bart, und Gianni konnte das dumme Gerede um seine Herkunft nicht mehr hören. Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass die Norditaliener unter sich blieben, keine gut bezahlten Stellen für die Süditaliener hergaben. Da musste schon jemand ein ausgewiesener Spezialist sein, dass er Fuß fassen konnte. Oder er brachte genügend Geld mit und machte sich selbstständig. Doch Gianni kannte niemanden aus seiner Heimatstadt, dem das gelungen wäre.

Die beiden anderen, die bei dem Coup noch mitmachten, stammten aus dem Umland von Verona. Emanuele Marchi war Hilfsarbeiter bei Todisco, hatte dafür aber ein riesiges Mundwerk. Livio Ferrari, der Bodybuilder war und über eine beeindruckende Fitness verfügte, hatte eine Ausbildung zum Elektroniker gemacht. Während Gianni nur mit Stromleitungen etwas anfangen konnte, war Livio durchaus in der Lage, Alarm-, Klima- und Telefonanlagen zu programmieren. Er war ein cleverer, stiller Zeitgenosse, der genau wusste, was er wollte – und der Kopf ihrer Aktion. Ihm hatten sie die Planung zu verdanken.

Gianni Canali ließ die anderen ziehen und stellte sich an die Hintertür. Sie war aus Stahl und mit fünf Bolzen versehen. Wer keine Chipkarte hatte, kam hier nicht hinein. Wen bitte schön, sollte er hier aufhalten? Es war Sonntagabend. Alle Museumsangestellten waren längst zu Hause. Keiner würde Lust verspüren, nochmals nach dem Rechten zu sehen. Weshalb auch? Wer die Chipkarte für sie hinterlegt hatte, wusste Gianni nicht. Und es interessierte ihn auch nicht.

Direkt neben dem Eingang befand sich ein Standaschenbecher, der offenbar von allen Rauchern, die im Museum arbeiteten, genutzt wurde. Zumindest war er randvoll mit Kippen. Ungläubig starrte Gianni Canali auf das Grab der vielen Glimmstängel und fragte sich, wann es das letzte Mal geleert worden war. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Sein nervöser Magen rebellierte, als er den widerlichen Geruch schließlich doch einatmete! Das fehlte gerade noch, dass er sich hier übergeben musste. Dann hatte er bei Vittorio endgültig ausgespielt. Dieser hatte mit Zigarettenqualm überhaupt kein Problem, rauchte er doch selbst wie ein Schlot. Gianni drückte sich die rechte Hand auf die Nase, um dem Nikotingestank zu entgehen. Er lehnte sich an die Wand und wartete. Nur die Schritte der Kumpel waren zu hören, als sie über den Steinboden in Richtung Vestibül und Ausstellungsräume gingen.

»Verdammte Scheiße!«, tönte es von drinnen. Vittorio gab sich gar keine Mühe, leise zu sprechen. »Bist du des Wahnsinns, Livio? Deshalb warst du so lange beschäftigt?«

Gianni Canali löste sich von der Wand und ging auf Zehenspitzen in den Gang. Als er das Vestibül erreichte, linste er um die Ecke.

Rechts von ihm befand sich der große Ausstellungsraum, in dem die wertvollen Gemälde des italienischen Barock aufgehängt waren. Doch bis dorthin würde er gar nicht kommen. Die drei Männer vor ihm standen breitbeinig wie eine Wand nebeneinander und versperrten ihm die Sicht. Ihre Köpfe waren angespannt nach vorne gebeugt, sie schienen etwas am Boden zu studieren. Gianni schlich sich noch näher heran, auch wenn ihm ganz und gar nicht wohl war in seiner Haut. Er sollte doch unter keinen Umständen seinen Platz am Hinterausgang verlassen. Lautlos ging er in die Hocke und spähte zwischen den O-Beinen der anderen hindurch. Gut, dass sie alle Fußball spielten. So hatte er beste Sicht. Und dann hielt er sich schnell den Mund zu, damit nicht auch er einen überraschten Ruf ausstieß. Niemand schien ihn zu bemerken. Zu sehr waren seine Kumpel über ihren Fund erschrocken. Am Boden lag eine junge blonde Frau mit eingeschlagenem Schädel. Blut hatte sich um ihren Kopf herum verbreitet und eine dunkelbraune Lache gebildet, die auf dem hellen Marmorboden ekelhaft deutlich sichtbar war. Gianni kämpfte nun ernsthaft mit Brechreiz und schluckte mehrmals schnell hintereinander.

»Merda!«, stieß Todisco nochmals hervor. Sein Wortschatz war definitiv eingeschränkt. »Du willst uns wohl hier die Show vermasseln?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das auf mein Konto geht?«, fragte Livio Ferrari gefährlich ruhig. »Für wie blöd hältst du mich?«

»Wenn dir die Braut in die Quere gekommen ist, fragst du doch nicht lange, ob das blöd ist, ihr den Schädel einzuschlagen? Oder wolltest du vielleicht mit ihr verhandeln?« Vittorio Todisco lachte trocken auf. »Was machen wir jetzt mit ihr?«

»Nichts machen wir mit ihr!« Livio hob den Kopf und sagte sehr bestimmt: »Aspetta! Niemand fasst die Frau an, verstanden! Wir holen uns die vier Bilder wie abgemacht. Eines nach dem anderen. Wir steigen über die Leiche. Keinesfalls treten wir in die Lache. Habt ihr das verstanden? An unseren Schuhen darf kein Blut kleben.«

Vittorio Todisco ließ ein unterdrücktes Knurren hören. Er war sichtlich nicht begeistert von dieser Lösung.

»Niemand zieht die Handschuhe aus!«, kommandierte Livio Ferrari weiter. Die anderen nickten nur, wohl dankbar, dass einer die Initiative ergriff. Gianni Canali trat den Rückzug an, verschwand hinter der Mauerecke, spähte aber gleich wieder ins Museum, damit ihm ja nichts entging. Er sah Vittorio Todisco dabei zu, wie er seine Stableuchte, die er mit einer Schlaufe an seinem Gürtel befestigt hatte, losmachte und Fotokopien der Bilder, die sie auftragsgemäß stehlen sollten, aus der Hosentasche zog. Im hellen Schein seiner starken Leuchte verschwanden die Männer im Ausstellungssaal. Die Lampe von Livio lag am Boden und beleuchtete die tote Frau. So konnten sie alle sehen, wohin sie treten durften und wohin nicht.

Gianni Canali kehrte auf leisen Sohlen zurück. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen und so besah er sich die Tote genau, fühlte dabei eine Mischung aus Faszination und Ekel. Die Frau musste sehr hübsch gewesen sein. Das konnte man noch erkennen, obwohl ihr Schädel zertrümmert war. Hatte wirklich Livio diese ungeheure Tat ausgeführt? Mit einer solchen Brutalität? Ihm schauderte. Mit welchen Leuten hatte er sich eingelassen? Blut und Knochensplitter hingen in den langen, blonden Haaren der Toten. Giannis Blick glitt weiter über ihren Körper. Dabei fiel ihm ein blitzender Gegenstand auf. Ihr linker Arm ruhte auf ihrem linken Oberschenkel. An der Hand lachte ein Brillantring Gianni geradezu an. Hingerissen starrte er darauf und fragte sich, was das Schmuckstück wohl wert war. Wie viele Euro er wohl dafür bekäme? Sicherlich mehr als die 3.000, die Todisco ihm für den Einsatz in dieser Nacht versprochen hatte. Noch war gar nicht ausgemacht, ob sich sein Chef an die Vereinbarung halten würde. Außerdem musste Gianni noch einen weiteren Auftrag später in der Nacht ausführen, der ihm schwer im Magen lag und den er liebend gern verweigert hätte. Doch er wusste jetzt schon, dass ihm dazu der Mut fehlen würde.

Aus dem Ausstellungsraum drangen Geräusche und Gianni hörte weitere Flüche. Davon hatte Vittorio mehr auf Lager, als Gianni sich merken konnte. Es würde nicht mehr lange dauern und zwei seiner Kameraden würden das erste Gemälde herausschleppen. Dann musste er seinen Posten an der Tür wieder bezogen haben. Ungestüm riss er sich den Handschuh von der rechten Hand und zog blitzschnell das Schmuckstück vom linken Ringfinger der Toten. Dann drehte er sich um, eilte den Gang entlang, schob dabei den Brillantring in die Hosentasche seiner Jeans, die er unter dem Overall trug, und erreichte gerade noch rechtzeitig seinen Platz, als er Schritte über den Steinboden kommen hörte. Dann erschienen auch schon Emanuele und Livio mit dem ersten Gemälde, einem Porträt, wenn Gianni das richtig sah. Beflissen öffnete er für die beiden die Hintertür zum Innenhof und beobachtete, wie sie das Kunstwerk in den Laderaum des Transporters schoben.

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Montag, 16.11.2015

Kiefersfelden/Kufstein, 2.00 Uhr

Kommissar Georg Breitwieser lehnte an der Wand im Büro der Grenzstation Kiefersfelden/Kufstein und starrte blicklos in den mit alten Möbeln und Stahlschränken eingerichteten Raum. Die Hände hatte er in seine graumelierte Wollhose geschoben, denn irgendein Witzbold hatte die Heizung gedrosselt. Nachtabsenkung! Sonntagsbetrieb! Sparmaßnahme! Georg fror, war hundemüde und sein Magen meldete sich knurrend und immer nachdrücklicher. Er kam sich vor wie in seiner Anfangszeit als junger Kriminalbeamter in München, als er sich in der Ettstraße mit drei Kollegen einen spartanisch eingerichteten Raum teilte und dem Hauptkommissar der Mordkommission zuarbeitete. Mit Dienstzeiten jenseits des Normalen. Damals hatte er noch geglaubt, dass wenig Schlaf und viel Arbeit nur Anfängern zusetzen. Er hatte auf spannende Fälle gehofft, auf wichtige Einsätze und spektakuläre Festnahmen. Doch es gab Wochen, da war er so müde und erschöpft nach zwölf und mehr Stunden, dass er sich wie ein uralter Mann vorkam. In der Hauptsache verbrachte er damals die Zeit beim Warten im Auto bei Observationen, bei Schreibtischarbeit mit langweiligen Formularen und erkennungsdienstlichen Aufgaben. Das war wenig aufregend und brachte weder Ruhm noch Ehre ein. Die Arbeit hatte sich verändert, klar, er hatte mehr Festnahmen hinter sich, als er zählen konnte, sehr viel mehr Verantwortung, weniger Mitarbeiter als sein damaliger Vorgesetzter und überhaupt keinen Dienstplan mehr.

Seit Freitagabend waren Oberinspektor Florian Huber und er in Kiefersfelden abgestellt, Sondereinsatz zur Absicherung der Grenze nach Österreich. Georg schüttelte resigniert den Kopf und drehte sich nach seinem Kollegen um. Florian Huber saß auf einem der unbequemen Holzstühle in der ansonsten verwaisten Amtsstube, hatte die Arme schützend vor der Brust verschränkt, offenbar war auch ihm kalt, und schnarchte leise, aber hörbar vor sich hin. Er hatte der Müdigkeit nachgegeben und war vor über einer Stunde eingenickt. Georg konnte es ihm nicht verdenken. Es gab Vergnüglicheres, als Wache zu schieben.

Als Kriminaloberrat Alois Pfaffenrieder am Freitagvormittag in Georgs Büro gestürzt war, selbstverständlich ohne anzuklopfen oder sich gar vorher anzukündigen, hatte ihm schon nichts Gutes geschwant. Immer, wenn sein Vorgesetzter auf der Bildfläche erschien, gab es Ärger, Arbeit oder beides zusammen.

»Kollege Breitwieser«, polterte Pfaffenrieder auch sofort los, »wir haben Order vom Bundesinnenministerium.«

Das allerdings kam eher selten vor. Georg wappnete sich. Den Ordner, den er gerade aus der Regalwand zog, schob er wieder zurück und setzte sich vorsichtshalber auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Es war immer gut, ein schützendes Möbel zwischen sich und den Kriminaloberrat zu bringen.

»Die Lage an den österreichischen und bayerischen Grenzen ist dramatisch. In Reichenhall und Passau geht seit Tagen schon nichts mehr. Das Ministerium fordert alle Dienststellen auf, sich an der Aufnahme und Registrierung der Flüchtlinge zu beteiligen. Vor allem ist auf Schlepperbanden und unkontrollierten Grenzübertritt zu achten.«

Georg schloss genervt die Augen. Pfaffenrieder tat ganz so, als wäre das Problem fünf Tage alt und er müsste nun seine Beamten auf neues, völlig unerwartetes Terrain vorbereiten. Tatsache war, dass Florian Huber und Georg schon in den vergangenen Wochen zusätzlich Dienst in Bad Reichenhall gehabt hatten und aktiv daran beteiligt waren, die nach langen Fußmärschen an der bayerischen Grenze gestrandeten Flüchtlinge zu kontrollieren und in die Aufnahmeeinrichtungen weiterzureichen. Ihm lag der letzte Einsatz von vor drei Tagen noch im Magen, als sie einen Krankentransport für eine hochschwangere Frau aus Syrien organisiert hatten. Georg hatte in der darauffolgenden Nacht kein Auge zugetan. Kein Leichenfund in seiner langen Dienstzeit hatte ihn nachts derart beschäftigt wie die Bilder der traumatisierten, völlig verängstigten Frau, die mit zwei weiteren Kindern frühmorgens um 3 Uhr mitten in einem Pulk Syrer in Reichenhall über die Grenze gestolpert war, sich unter den Schmerzen der einsetzenden Wehen vor ihm gekrümmt hatte und dann unvermittelt zusammengebrochen war. Wenn er nur daran dachte, hörte er erneut ihr Stöhnen und das Weinen ihrer Kinder, als stünden sie neben ihm.

Umso mehr regte er sich über die Wichtigtuerei Pfaffenrieders auf, der so tat, als wüsste Georg nicht ganz genau, was da erneut auf ihn und seinen Kollegen zukam, ganz so, als hätten sie diese Sonderdienste noch nie geleistet.

Georgs abwehrender Blick ließ Pfaffenrieder unwillkürlich einige Schritte zurückweichen. Doch dann legte der Kriminaloberrat richtig los: »Breitwieser, kommen Sie mir jetzt nicht mit Dienstplänen, Vorschriften und Arbeitszeiten, verstanden! Die Lage erfordert unseren vollen Einsatz.«

Wann tat es das nicht? »Habe ich irgendetwas gesagt? Ich jedenfalls hab nichts gehört!«

»Sie brauchen gar nichts zu sagen, Breitwieser, Ihr Blick genügt mir vollständig. Und werden Sie nicht spitzfindig. Das mag ich nicht!«

Georg konnte es nicht verhindern, dass sich nun doch ein kleines Lächeln auf sein Gesicht stahl. War ja großartig, wenn er den Kriminaloberrat mit einem Blick verunsichern konnte.

»Sie werden mit Oberinspektor Huber heute ab 18 Uhr in Kiefersfelden an der Grenzstation gebraucht. Außerdem stellen wir zwei VW Busse und einen Streifenwagen mit vier Polizeibeamten zur Verfügung, um die Flüchtlinge zu uns nach Traunstein in die Polizeiinspektion zu bringen und um erste erkennungsdienstliche Maßnahmen zu ergreifen. Sie alle bilden, unter Ihrer Leitung, Breitwieser, eine Einsatztruppe mit dieser Spezialaufgabe. Vorzugsweise ist auf Schlepper, die in privaten PKWs, LKWs und Kleintransportern Geflüchtete über die Grenze bringen wollen, zu achten.«

Na, das ist ja auch etwas ganz Neues, dachte Georg genervt und fühlte, wie sein Puls an Geschwindigkeit zulegte. Es war nicht die Aufgabe an sich, die ihn ärgerlich machte, sondern die Art und Weise, wie Pfaffenrieder sich bei der Auftragsvergabe gebärdete. Inzwischen stützte sich sein Vorgesetzter schwer auf dem Schreibtisch ab. Auf seiner Stirn stand der Schweiß. Das hatte Georg kommen sehen. Deshalb lehnte er sich so weit wie möglich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Der Geruch von Pfaffenrieder war ihm zuwider. Wie üblich war der Mann für die beheizten Diensträume viel zu warm angezogen. Ohne Trachtenjoppe aus festem Walkstoff sah man den Kriminaloberrat in der zweiten Jahreshälfte nie. Und die dichte, graue Wollhose gehörte seit Monaten schon zum festen Outfit für dessen Alltag in der Polizeiinspektion Traunstein. Gott sei Dank verpasste ihm Frau Pfaffenrieder wenigstens jeden Tag ein frisches Oberhemd.

»Sie wissen, was zu tun ist?«

»Ich nehme an, das Gleiche wie vor einer Woche in Bad Reichenhall, und vor zwei Wochen und vor drei Wochen. Oder irre ich mich?«

Pfaffenrieder richtete sich wieder zur vollen Größe auf und musterte Georg mit seinen kleinen Augen, die unter schweren Oberlidern lagen.

»Selbstverständlich! Und wenn möglich mit mehr Erfolg, wenn ich bitten darf. Die Beute an Schleppern war ja gering, wenn ich mich recht erinnere. Das kann doch nicht so schwierig sein, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Wir müssen das Übel an der Wurzel packen.«

Die Wurzel des Übels lag, Georgs Meinung nach, in Syrien, im Irak, in Libyen und den nordafrikanischen Staaten. Wer es einmal bis nach Italien, Griechenland oder an die serbische Grenze geschafft hatte, brauchte keine großen Schlepperorganisationen mehr. Zur Not ging es auch tagelang zu Fuß oder mit der Eisenbahn weiter. Wie das aussah, konnte jeder Interessierte täglich am Fernseher beobachten.

Doch Georg hatte keine Lust und keine Ausdauer mehr gehabt, sich auf eine weitere Diskussion mit Pfaffenrieder über die Flüchtlingsproblematik einzulassen. Schwerlich hatten sie da die gleiche Auffassung.

So warf er jetzt einen letzten Blick auf Florian Huber, der seine Lage auf dem Holzstuhl nicht verändert hatte und weiter leise vor sich hin schnarchte. Die Beute, wie sich Pfaffenrieder ausgedrückt hatte, war auch in Kiefersfelden bisher eher mäßig. Einige Privatleute hatten sie dabei erwischt, wie sie, von ihrer Urlaubsfahrt nach Südtirol oder vom Gardasee kommend, den einen oder anderen gestrandeten Flüchtling einfach mitgenommen hatten. Georg hatte in allen Fällen davon abgesehen, polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen. Er sah seine Aufgabe vor allem im humanitären Bereich, versuchte den Geflüchteten ein Dach über dem Kopf zu organisieren und sie zu den Erstaufnahmestellen zu bringen. Anzeigen zu schreiben oder gar Strafverfahren einzuleiten, gehörten seiner Ansicht nach nicht zu den vordringlichen Polizeiaufgaben, wenn Geflüchtete die Grenze überschritten. Pfaffenrieder hatte dazu selbstverständlich eine andere Ansicht.

Georg sah auf die Uhr. In wenigen Minuten mussten er und Florian Huber wieder hinaus in die Novembernacht und den spärlich strömenden Verkehr kontrollieren. Georg verließ seinen Fensterplatz, ging zu seinem Kollegen und rüttelte ihn sanft an der Schulter.

»Is’ scho so weit?« Der Oberinspektor rieb sich die Augen, streckte seine verkrampften Glieder und erhob sich vom Stuhl.

Beide zogen sich warme, dunkle Dienstmäntel an, verließen die Amtsstube und waren wenige Augenblicke später am Kontrollpunkt der Autobahn, der vor einigen Wochen provisorisch eingerichtet worden war. Das Bundesinnenministerium hatte Mitte September die Regelungen des Schengener Abkommens vorübergehend aufgehoben. Für wie lange war ungewiss.

Kommissar Breitwieser stand neben Oberinspektor Huber am Fahrbahnrand, versuchte Hunger und Kälte zu ignorieren und sich vollkommen auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er beobachtete die sich langsam nähernden PKW und blickte in übermüdete Gesichter, die ihn ergeben, verärgert oder auch erschrocken durch die Windschutzscheiben ansahen. Er wusste, dass die Fahrer damit rechneten, den Kofferraum öffnen zu müssen oder dass die Kontrolleure gar im Fond des Wagens mit Taschenlampen nach illegalen Passagieren suchen würden.

Florian schien sich schon aufs Durchwinken festgelegt zu haben, als ihm ein sich rasch näherndes Fahrzeug auffiel. Mit ausgestrecktem Arm deutete er irritiert darauf und fragte halblaut: »Was wird des, wenns fertig ist?«

Auch Georg hatte den schwarzen Fiat Kombi entdeckt. Der Transporter kam viel zu schnell heran und erweckte den Eindruck, dass er das Durchwinken lieber gar nicht abwarten wollte. Georg trat beherzt auf die Fahrbahn, hob seine Kelle und bedeutete mit der linken Hand, der Fahrer solle vom Gas gehen. Er konnte ein junges, männliches Gesicht hinter der Windschutzscheibe erkennen. Mehr nicht. Der Mann war allein und trat im letzten Moment kräftig auf die Bremse, womit er den Wagen nur wenige Meter vor Georg zum Stehen brachte.

»Das war knapp, Chef!« Florian Huber war neben Breitwieser getreten und sah auf das Nummernschild. »Ich fürchte, das ist deine Baustelle, Schorsch. Der Mann kommt aus Italien.«

Georg warf dem Kollegen einen ärgerlichen Blick zu. Für eine unerwartet vertrauliche Anrede war, weiß Gott, jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Doch Florian Huber grinste ihn nur frech an. Georg trat zum Wagen und klopfte an die Fensterscheibe der Fahrertür.

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