Hannelore Hippe

Die verlorenen Töchter

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Hannelore Hippe

Hannelore Hippe lebt in Köln und an der Mosel und ist freie Autorin und Journalistin. Sie arbeitet hauptsächlich für den Hörfunk. Neben zahlreichen Radio-Features schreibt sie Hörspiele, Romane und Kurzgeschichten. Unter dem Pseudonym Hannah O’Brien veröffentlicht sie bei dtv ihre erfolgreiche irische Krimi-Serie um die Ermittlerin Grace O’Malley.

Über das Buch

»Was an meinem Leben ist wirklich und was nicht?«

 

Im Sommer 1945, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, bringt die junge Åse Evensen im norwegischen Tromsø ihre Tochter Katrine zur Welt. Åse gilt als ›Tysketøser‹, als ›Deutschenflittchen‹, weil sie sich mit einem deutschen Besatzungssoldaten einließ. Sie muss deshalb in ein Straflager, und Katrine wächst unter anderem Namen in einem ostdeutschen Waisenhaus auf. Heimlich reist sie nach Norwegen und macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Sie ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich damit begibt. Als im Herbst 1970 in einem Tal in der Nähe der norwegischen Stadt Bergen eine tote Frau aufgefunden wird, steht die Polizei vor einem Rätsel. Wer ist diese Frau und warum musste sie sterben?

 

Dieser wahre Fall, der dem Roman zugrunde liegt, geht ein in die Kriminalgeschichte als ›Die unbekannte Tote vom Isdal‹. Aufgrund neuer forensischer Techniken wurde der Fall 2017 von der Polizei noch einmal aufgerollt. Die Ermittlungen gelangten zu überraschend ähnlichen Erkenntnissen wie Hannelore Hippe in ihrem Roman. Der Mordfall konnte dennoch bis heute nicht aufgeklärt werden.

 

Alle Zeugenaussagen, Namen, Daten, Orte und erwähnten Berichte sind Originalzitate aus der polizeilichen Isdal-Akte.

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2020

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung von Bildmotiven von Marie Carr/Arcangel Images sowie shutterstock.com

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43437-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21835-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434379

 

 

Für meinen Vater,

der mir vom Kölner Dom aus Streichhölzern erzählte

29. November 1970
Isdal bei Bergen

Mir ist kalt.«

Sie ballte die Hände in den Anoraktaschen und stapfte wütend hinter den beiden anderen her. Der Mann drehte sich kurz zu ihr um.

»Das bildest du dir nur ein, ich finde es ziemlich warm heute. Es ist fast Dezember.«

Nun meldete sich auch die größere Tochter.

»Dann lauf doch vor, wenn es dir kalt ist, statt dauernd zu meckern. Du schimpfst schon die ganze Zeit, vom Ulriken runter bis hier.«

Die Kleinere schob die Unterlippe vor und rannte los, ohne ihrer Schwester zu antworten.

Rechts von ihnen lag ein Waldstück, das den oberen Teil des Dödsdals, das sie gerade hinunterstiegen, mit dem darunter liegenden Isdal verband.

Am Morgen waren sie mit der Seilbahn auf den Ulriken gefahren, den höchsten der sieben Berge rund um die norwegische Stadt Bergen. Außer ihnen hatten noch sechs andere Passagiere im leichten Wind in der Gondel geschaukelt. Der Vater zeigte seinen beiden Töchtern mit ausgestrecktem Arm die Insel Sotra, die man von hier aus gut erkennen konnte und auf der sie wohnten.

An diesem wie an jedem Sonntag streiften die Bergenser gern mit Rucksack, Thermosflasche und Regenzeug durch die Umgebung der alten westnorwegischen Hansestadt. Hier gab es an den meisten Tagen des Jahres irgendeine Form von Regen, sei es Schnee oder Hagel, Nebel oder feiner Niesel – oder ein ölig tropfender Platschregen, der die ganze Stadt und alles in ihrem Umkreis mit einer feinen, silbrigen Haut zu überziehen schien. Die Luft in Bergen war flüssig. Sie verschwamm, kroch in jede Ritze, in jede Pore, die die Menschen nicht vor ihr verbargen.

Hier machte selbst das Meer nicht einfach Halt, wo es auf Festes stieß. Hunderttausendfach hatte es sich an der norwegischen Westküste bis ins Landesinnere gefressen, es hatte sich längliche bequeme Wannen durch zerklüftete Felswände gegraben und sich nach der letzten großen Eiszeit geweigert, das gewonnene Terrain kampflos wieder aufzugeben. So hatte es dem Land an dieser Küste im stillschweigenden Austausch gegen die Nässe ein geologisches Weltwunder geschenkt: die Fjorde.

Der Mann zog seine Kapuze hoch und knotete sie unter dem Kinn fest. Unter sich sah er über dem Svartedik, dem Wasserreservoir der Stadt, eine klar definierte Regenwolke aufziehen. In höchstens zwei Minuten würde sie sie erreicht haben.

»Wo ist denn Aslaug geblieben?« Er ließ seinen Blick zu dem düsteren Hang mit den dürren Nadelbäumen wandern.

Die Vierzehnjährige neben ihm zeigte auf das Wäldchen vor ihnen.

»Sie kennt doch den Weg, Papa, wir brauchen nicht auf sie zu warten.« Das Mädchen klang mürrisch, es hatte sich schon halb zum Weitergehen gewandt.

Der Vater zögerte, stand unschlüssig mitten auf dem schmalen Trampelpfad und starrte auf die Nadelbäume, die an dieser Stelle ungewöhnlich dicht beieinanderstanden. War seine jüngere Tochter wirklich im Dickicht verschwunden?

»Aslaug!«, rief er. Er lauschte, hörte aber nur den dröhnenden Wind.

Es gab keinen erkennbaren Weg hinunter zum Isdal, das am Svartediken endete. Dort liebten sich abends Paare in abgestellten Autos, und an milden Wochenenden brachten Jungs den Selbstgebrannten mit, den sie dem Vater heimlich geklaut hatten, um es sich und den Freunden zu beweisen. Am See würden sie gleich Rast machen.

Hier, knapp zehn Minuten vom Zentrum der Stadt entfernt, begann die Natur wild und übergangslos. Der Bus Nummer elf brauchte nur fünf Minuten vom Hauptbahnhof bis zu den ersten Serpentinen des Villenvororts Starefossen. Wer hier ausstieg, um rechts am Ufer des Reservoirs entlangzulaufen, würde sich nach einer halben Stunde beim Einstieg ins Isdal und fern jeder menschlichen Nähe wiederfinden.

Der schroffe graue Rücken des Ulriken schob sich genau zwischen das Bergener Krankenhaus auf der anderen Seite und das steil abfallende Tal, das die Menschen irgendwann Todes- oder Eistal – »Isdal« – getauft hatten.

»Papa! Papa! Randi!« Das Kind kam aus dem Schutz des Waldes gerannt und war völlig außer Atem.

Seine Zöpfe flogen. Die Mütze hatte es in der linken Hand zusammengeknüllt. Unvermittelt hielt es nun in seiner Bewegung inne, als hätte es jemand von hinten festgehalten, kurz bevor es Vater und Schwester erreicht hatte. Das Kind hob seine rote Wollmütze gegen den Wald. Es wollte keuchen, musste stattdessen husten. Aslaug wirkte wie ein zartes Wild, das man erst aufgescheucht und dann gejagt hatte.

»Da drinnen liegt eine Frau!«

»Eine Frau?« Er runzelte die Stirn, traute seiner jüngsten Tochter jedoch ohne Einschränkung.

»Ist sie verletzt?«

Mit wenigen Schritten war der Vater bei dem Mädchen. Er sah, dass die Augen seiner Tochter in Tränen schwammen.

»Ja, sie ist ganz verletzt, Papa. Sie ist verbrannt, sie ist tot.«

Åse 19421947

20. Oktober 1942
Tromsø, Nordnorwegen

Åse war gar nicht kalt, merkte sie, als sie vorn an Deck der Polarstjernen stand und sich auf die Zehen stellte, um einen Blick auf die ersten Häuser der großen Stadt zu erhaschen. Åse Evensen trug den dünnen, blauen Tuchmantel ihrer Tante über dem bunten Kleid, das sie sich im Winter vor dem neunten April aus Wollresten gestrickt hatte und auf das sie so stolz war. In einem der langen Polarwinter, die ihre Heimat hier oben zwei Monate lang in Finsternis tauchten, eine tiefviolette, tintige, klebrige Finsternis, die nur wenig mit der Dunkelheit zu tun hatte, die alle Menschen unterhalb des Polarkreises jede Nacht umfing. Es waren meist stürmische Wochen, in denen der Schnee spärliches Licht reflektierte, um eine diffuse Dämmerung als Tageszeit auszugeben. Grünweißgelbe Pfeile wischten dann wie Kobolde über den Himmel, als wollten sie Koordinaten aufstellen, die, sobald man sie erkannte, schon nicht mehr galten.

Fischerboote wippten am Kai, während sie vorüberfuhren. War das schon der große Hafen? Åse beugte sich weit über die Reling und spähte in das milchige Zwielicht, das die Polarstjernen durchschnitt. Waren von hier aus wirklich die großen Nordpolexpeditionen aufgebrochen? Die weite Welt dehnte sich in Nordnorwegen auch weiter nach Norden aus, nicht nur in den Süden, der für Åse viel weniger greifbar war und sie unsicher machte. Tief sog sie die kalte, salzige Luft ein. Etwas weiter zurück, auf der linken Seite, lagen die wirklich großen Schiffe. Hatten sie die Fischerboote an nervöse kleine Hunde erinnert, die unruhig an ihrer Leine zogen, so kamen ihr die ruhigen grauen Kriegsschiffe wie Elefanten vor: majestätisch, massig und ein wenig arrogant. Nicht sonderlich bedrohlich, sich dennoch der eigenen Macht und Stärke bewusst. Und sie war sicher, sie genossen es.

Åse lachte leise und fuhr sich mit den Fingern durch die schulterlangen hellbraunen Haare, die sie mit einem weißen Stirnband gebändigt hatte. In Finnsnes war sie an Bord des Postbootes gegangen. Es war aus seinem Heimathafen Stokmarknes von der benachbarten Inselgruppe Vesterålen gekommen. Das Schiff war immer auf Wochen ausgebucht und ihr Bruder hatte die Fahrkarte schon im August für sie bestellen müssen.

Åses Handflächen waren feucht. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Heimatdorf verlassen. Dabei war sie schon zwanzig Jahre alt. Nie zuvor war sie von Senja weg gewesen. Im Süden ihrer Insel, von wo aus man die schneebedeckten Tausender der Vesterålen bei klarem Wetter gut erkennen konnte, hatte sie bisher auf dem Hof der Eltern mitgeholfen, zusammen mit ihrem kleinen Bruder Asbjørn. Nun, so klein war AsbjØrn auch wieder nicht. Mit seinen achtzehn Jahren war er nur zwei Jahre jünger als sie. Asbjørn musste auf Senja bleiben. Das hatten nicht nur die Eltern gewollt, auch die deutsche Verwaltung in Narvik legte Wert darauf, dass die Höfe weiter bewirtschaftet wurden und gute Ernten einbrachten, die größtenteils von den Deutschen beschlagnahmt wurden und ihrer Verpflegung zuflossen.

Wieder lachte Åse in sich hinein. Das Postboot hatte nun seine Fahrt verlangsamt und hielt backbord auf den Kai zu.

Ihr hellbrauner Pappkoffer war mit einem dicken Stück Kordel zusammengebunden. Asbjørn hatte ihn in Finnsnes wie eine Trophäe für sie aufs Boot getragen. Sie selbst war mit einer kleinen Schachtel und einer vollgepackten Einkaufstasche hinterhergestürmt. Sie würde auf ganz große Fahrt gehen. Sie, Åse Evensen, fuhr in die Hauptstadt. Nicht in die richtige Hauptstadt, nicht nach Oslo im tiefen Süden. Nur in die Hauptstadt ihrer Provinz. Aber Tromsø war eigentlich noch viel besser als die ferne Großstadt. Sie hätte gar nicht nach Oslo gewollt. Oslo war viel zu weit. Hätte sie die Menschen dort überhaupt verstehen können? Tromsø war das Paris des Nordens, so sagte man doch immer. Hier in Tromsø, hier war sie richtig.

Die Schiffssirene ertönte. In dem Moment konnte sie eine Gänsehaut im Nacken spüren.

»Pass auf dich auf, Åse!« Ihr Bruder hatte sie fest gedrückt und es ihr ins Ohr geflüstert.

Sie hatte ihn auch in die Arme genommen und dann huldvoll und erfahren – ganz Frau von Welt – versucht, ihn anzulächeln. »Was denkst du denn, Asbjørn, ich komm schon klar in der Stadt. So blöd ist man nicht, nur weil man vom Land kommt.«

Asbjørn hatte den Kopf geschüttelt. »Das meine ich nicht.«

Åse hatte ihm einen überraschten Blick zugeworfen.

Ein Schiffsoffizier war vorbeigekommen und hatte alle Nichtpassagiere aufgefordert, das Boot zu verlassen. Asbjørn hatte auf den blitzblanken, dunklen Boden des Schiffes gestarrt und etwas gemurmelt.

»Was sagst du?«

»Ich habe gesagt, es sind zu viele Deutsche in der Stadt.«

Åse hatte ihn frech angegrinst und war einen Schritt zurückgetreten. Ihr Gesichtsausdruck wirkte forsch und entschlossen.

»Also, wenn du mich fragst, sind in unserem ganzen Land zu viele Deutsche.«

Daraufhin waren beide laut lachend herausgeplatzt. Der Offizier in der blauen Uniform, der mit einer Zigarette im Mund am Eingang zum Café stand, hatte sich zu ihnen umgedreht. Schnell hatte sie die Hand ihres Bruders dann an ihre Wange geführt.

 

Jetzt legte die Polarstjernen in Tromsø an. Åse spürte den Ruck, der durch das Schiff ging. Sie stand auf den Zehenspitzen. Am Kai warteten schon drei Uniformierte. Ein Unteroffizier, zwei normale Soldaten. Åse kannte die deutschen Uniformen genau, jeder Norweger kannte sie.

Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Personalausweis und nach der Zuzugsgenehmigung, ausgestellt von den deutschen Behörden in Narvik. »Arbeitsaufnahme in wichtigem Zuliefererbetrieb«, stand als Begründung darin.

Åse reihte sich in die Schlange der Menschen ein, die hier von Bord wollten. Wieder sog sie die Luft tief ein. Hier roch es anders als auf Senja. Mehr nach Öl und Benzin. Das musste es sein. Aber es gefiel ihr. Hier würde es Autos geben. Das hätte auch Asbjørn gefallen.

In vier Wochen würde die Polarnacht beginnen. Was das wohl für die Stadt bedeutete? Ob man dann die Verdunkelung nie abnehmen durfte? Åse überlegte. Zwei lange Monate nicht, Tag und Nacht?

Auf dem Hof auf Senja nahm man keine Notiz von solchen Verordnungen. Da kontrollierte das ja niemand. Die Stockfische, die vor dem Haus wie vergessene Socken an der Leine hingen, die hielten dicht.

Åse musste grinsen, als sie an die Stockfische dachte. Dann nahm sie ihren Koffer, klemmte die Schachtel unter den rechten Arm und ging energisch die Landungsbrücke hinunter. Die Einkaufstasche baumelte an ihrer Linken. Sie schlug ihr sanft an die Knie. Niemand half ihr tragen.

12. Januar 1943
Tromsø

Åse Evensen zündete die zwei kleinen Kerzen an, die sie heute bei ihrer Arbeitsstelle von der alten Frau Hansen geschenkt bekommen hatte. Dankbar hatte ihr Åse die Hand gedrückt. Das war das erste Mal seit ihrer Ankunft vor mehr als zwei Monaten gewesen, dass jemand überhaupt Notiz von ihr genommen und ein persönliches Wort an sie gerichtet hatte. Zumindest was die Erwachsenen betraf, denn mit den anderen jungen Mädchen redete sie natürlich. Sie waren zu fünft hinten an den Bottichen. Die schicke Marit führte fast immer das Wort. Sie kannte sich aus, kam aus Alta in der Finnmark, was ja auch eine richtige Stadt war, und Åse hörte ihr gern zu, auch wenn sie selbst aus Verlegenheit kaum etwas beisteuerte. Dann gab es noch die kleine Wenche, die meist kicherte, wenn sie etwas erzählte, und sie hatten manchmal Schwierigkeiten, sie überhaupt zu verstehen. Die strenge Borghild schickte ihr dann einen kalten Blick zu, in dem eine Spur Verachtung lag. Åse fand das verwunderlich, weil Wenche doch eine alte Schulfreundin von Borghild war und ihr alles Unangenehme abnahm, wie die kochend heiße Wäsche von den Waschbottichen in die Spülbottiche mit kaltem Wasser zu hieven. Das hassten sie alle, weil es so schwer war und man im Nu patschnass wurde.

 

Das möblierte Zimmer an der Fru Langes gate im Zentrum von Tromsø war für ihre Begriffe fast luxuriös ausgestattet. Mit Bett, Schrank, Tisch und einem Stuhl hatte sie rechnen dürfen. Doch in der Ecke neben dem Fenster stand noch ein bequemer Sessel mit grünem Samtbezug. Wie in einem richtigen Salon, fand Åse. Der Bezug war zwar an einigen Stellen schon abgescheuert und dünn, doch wenn man darauf saß, sah man das nicht. Zusammen mit einem runden Tischchen, das sie im Schuppen draußen erspäht und dem Vermieter abgeschwatzt hatte, ergab es ein gemütliches Ensemble, das Åse liebte und auf das sie stolz war.

Die Kerzen standen auf dem Tischchen, als sie sich mit einer Tasse Kaffee – »Fastkaffee«, wie sie den Kaffeeersatz aus geröstetem Eichelmehl nannte – in den Sessel fallen ließ. Rundum herrschte Dunkelheit. Noch dauerte es etwas über eine Woche, bis sich die Sonne wieder zaghaft zeigen würde. Normalerweise war die Polarnacht nichts Besonderes für Åse. Sie stellte sich jedes Jahr pünktlich Ende November ein und zog sich auf dieser Höhe des Polarkreises bis zum 20. Januar hin. Zwei Monate, in denen es nur zwei Stunden lang, zwischen elf und ein Uhr mittags, vage dämmerte. Der Rest des Tages bestand aus unerschütterlicher Dunkelheit. Tagesdunkel. Tintenblauem Dunkel. Polardunkel. In dem sich tanzende Schneeflocken in Millionen von Glühwürmchen verwandelten, bis sie erschöpft zur Erde stürzten.

Die Polarnacht machte sie nicht müde wie manch anderen hier oben, und glücklicherweise lag schon seit dem letzten November, als die Sonne sich verabschiedet hatte, eine dicke Schneedecke, die dem Dauerdunkel ein wenig die Bedingungslosigkeit nahm. Das Weiß des Schnees beleuchtete Åses Weg zur Arbeit, wenn sie jeden Morgen um Viertel vor sieben aus dem einstöckigen roten Holzhaus trat, um hinauf zur Wäscherei der Besatzungsmacht zu gehen.

Die Wäscherei lag in einem Nebengebäude der Stadtverwaltung von Tromsø am Kongsbakken. Zwei ältere Frauen nahmen dort die Wäsche an. Sie waren die Einzigen, die in direkten Kontakt mit den Deutschen kamen, die ihre Wäsche bei ihnen ablieferten. Åse fragte sich, ob das Absicht war, wagte aber nicht, die anderen Mädchen danach zu fragen.

Die jungen Frauen wie Åse hatte man nach hinten an die hölzernen Zuber und die riesigen Mangeln verbannt. Manchmal jedoch stahl sich eine von ihnen unter Kichern und Vorwänden gerade dann nach vorn, wenn der Feind mal wieder seine schmutzige Wäsche brachte. Borghild tat das nie.

Åse stand auf und schenkte sich aus der Aluminiumkanne nach, die in einer Klappe des Ofens zum Warmhalten stand. Wie sie diesmal die Dunkelheit hasste.

Der Sessel am Fenster wäre ein idealer Beobachtungsposten gewesen, eine Art Aussichtsturm mit freiem Blick auf das Großstadtleben. Bis zur Hauptstraße, der Storgata, hätte man von hier aus blicken können. Ein Logenplatz für das Kommen und Gehen sämtlicher Nachbarn. Auf dem Hof auf Senja war nie jemand am Fenster vorbeigelaufen. Außer den wenigen Nachbarn natürlich, doch die zählten nicht für sie.

Åse hob vorsichtig den Verdunkelungsvorhang hoch und spähte hinaus. Auf der anderen Straßenseite schippte eine Frau im dicken Wollmantel Schnee vor dem Eingang ihres Schuppens. Sie hatte sich einen Schal um das Gesicht gebunden. Es hatte am Nachmittag kurz, aber heftig geschneit.

Åse ließ den Vorhang zurückfallen. Wegen der Tagesdunkelheit war Åses erstklassiger Parkettsitz bis zum 20. Januar nichts als ein gemütlicher Sessel. Nein, sie musste noch bis weit in den März darauf warten, bis sie im Schutz der Helligkeit am frühen Abend am Fenster Platz nehmen konnte. Aber dann! Åse lachte voller Vorfreude und Ungeduld. Das würden Abende werden, auf die sie sich wirklich freute.

Während der ersten paar Wochen war sie nach der Arbeit noch durch die Storgata geschlendert. Bis zum uralten Eisbären, der ausgestopft vor dem Laden mit den Trachten Wache hielt, und dann bis zur Kirche und wieder zurück. In jedes Geschäft hatte sie gestarrt. Viele Auslagen gab es nicht und gewechselt wurde so gut wie nie, sodass Åse, um nicht zu früh in ihrem Zimmer einzutreffen, in der zweiten Woche angefangen hatte, die verschiedenen Gegenstände in den Schaufenstern zu zählen. Vier »Trollmesser«, Messer mit den geschnitzten Griffen aus Rentierhorn, die man für die Jagd und den Fischfang benutzte. Drei Beutel Kaffeemehl, natürlich nicht richtiger Kaffee, sondern »Fastkaffeemehl«.

Am meisten hatte sie immer vor der Leihbücherei zu tun. Da konnte sie die Bücher zählen, die am Tag zurückgebracht worden waren. An jedem zweiten Samstagnachmittag, wenn sie freihatte, lieh sie selbst dort Bücher aus.

Am liebsten las sie Reisebeschreibungen und Liebesromane. Einmal hatte, als sie mit dem Zählen der Bücher fast fertig war, Borghild sie dabei überrascht. Jemand hatte ihr vorwurfsvoll auf die Schulter getippt und gefragt, was es denn da zu sehen gäbe. Åse drehte sich um und sah das verächtliche Gesicht ihrer Arbeitskollegin ganz nah vor sich. Da war Åse rot geworden und hatte nicht zugeben wollen, dass sie jeden Abend aus lauter Einsamkeit hier stand und die zurückgegebenen Bücher zählte.

Borghild war aus Tromsø und wohnte bei ihren Eltern. Bis jetzt war Åse von niemandem zu sich nach Hause eingeladen worden. Nur einmal hatte die laute Marit, die sich das Kopftuch immer wie einen eleganten Turban um die Haare schlang, sie gefragt, ob sie nicht am Sonntagnachmittag in eins der Kaffeehäuser der Stadt mitgehen wolle, zusammen mit drei anderen Mädchen, um »Tyskerne« zu gucken. Dort verkehrten angeblich deutsche Soldaten. Man bräuchte ja nicht mit ihnen zu reden, nur ab und zu hingucken oder zurückgucken. Das sei sehr lustig, hatte sie gemeint, und völlig harmlos. Dafür würde sie sich verbürgen. Åse hatte das ohne zu zögern abgelehnt. Mit den Mädchen lachen und Kuchen essen zu gehen, hätte ihr schon Spaß gemacht, aber was, wenn sie nun doch mit Deutschen redeten? Bei Marit konnte Åse das nicht ausschließen. Hätte sie dann aufstehen und gehen sollen? Wie hätte das denn ausgesehen?

Nein, lieber wollte sie nicht riskieren, sich lächerlich zu machen. Deshalb bliebe sie am Sonntagnachmittag allein. Sie würde wie jetzt im Sessel sitzen und lesen. Vielleicht einen Brief schreiben an Asbjørn und die Eltern. Sie würde ihnen erzählen, wie wunderbar es in der großen Stadt war, und versichern, dass sie, obwohl sie für die Deutschen arbeitete und von ihnen bezahlt wurde – gut bezahlt wurde –, niemals mit ihnen redete. Auch auf der Straße schaute sie sofort nach unten, wenn Soldaten ihr entgegenkamen. So viele waren es, dass sie die Hauptstraßen von Tromsø, zumindest die vom Schnee befreiten, aufgrund ihrer Asphaltierung und der Anzahl und Lage der Schlaglöcher schon hätte identifizieren können.

Die Bücher auf dem Regal im Fenster der Leihbücherei jeden Abend erwähnte sie nicht in ihren Briefen.

Åse warf einen Blick auf ihre neue Armbanduhr. Die hatte sie sich vom ersten eigenen Lohn gekauft. Selbstverständlich war sie gebraucht. Der Uhrmacher auf der Vestregate gegenüber der Wäscherei hatte ihr eine kleine Auswahl reparierter Armbanduhren gezeigt, die niemand abholen wollte. Eine davon gehörte jetzt ihr. Halb acht Uhr abends zeigte sie an.

Plötzlich hatte Åse eine Idee. Wieso war sie nicht schon vorher darauf gekommen?

Auf Zehenspitzen stand sie auf und löschte das Licht. Dann beugte sie sich über die Kerzen und blies sie vorsichtig aus. Sie zögerte. Der Verdunkelungsvorhang musste zugezogen sein. So lautete die Verordnung der Deutschen. Während der Polarnacht musste er vierundzwanzig Stunden lang geschlossen sein. Doch galt das auch, wenn kein Licht brannte?

Mit einem Schwung zog Åse den Vorhang auf. Dann musste sie sich sofort setzen. Ihre Knie wurden weich und ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Ihr Pullover! Sie trug einen hellblauen Pullover. Der musste ja leuchten wie ein Leuchtturm! Der Kloß in ihrem Hals drückte sie. Als sie schon kurz davor war, den Vorhang wieder zu schließen, setzte sie sich schnell und konnte plötzlich wieder frei atmen. Fast zehn Minuten saß Åse regungslos da, den Blick auf den kleinen Tisch vor sich geheftet. Erst dann wagte sie, zaghaft hinauszusehen. Davon hatte sie seit dem Einzug in dieses Zimmer geträumt. Sie hatte die Tage gezählt und sogar Weihnachten darüber vergessen. Das jetzt, das war für Åse wie Weihnachten!

Auf Senja hatten sie sich nie an die Verdunkelungspflicht gehalten, die dafür sorgen sollte, dass die Feinde Deutschlands keine Markierungspunkte und Bombenziele bei einem Angriff in der Dunkelheit sahen. Asbjørn hatte das gegen die ängstlichen Eltern durchgesetzt. Er fehlte ihr wirklich, der kleine Bruder. In Tromsø wäre er bestimmt im Widerstand aktiv gewesen. Aber auf Senja war ja fast kein Deutscher. Widerstand am Gryllefjord? Sie musste lächeln. Gegen wen denn?

Dann beschloss Åse, etwas für Asbjørn zu tun. Statt seiner. Hier in Tromsø. Es war ein kühner Gedanke, dessen war sie sich bewusst. Aber heute Abend wollte sie ein bisschen kühn sein, nur ganz kurz und auch nicht zu viel.

Sie stand auf und tastete auf dem Küchentisch nach Streichhölzern. Sie würde die Kerze wieder anzünden, diesmal ohne die verschämte Verdunkelung. Die unverschämte Verdunkelung. Für Asbjørn. Sie strich das Streichholz an und hielt es an den Docht. Das warme Licht spiegelte sich im Glas der Fensterscheibe. Und noch eine Kerze, für sie. Eine für Asbjørn und eine für Åse. Sie fühlte sich wie eine Heldin in einem ihrer Romane aus der Leihbücherei.

Auf einmal durchströmte sie ein Gefühl, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Zumindest nicht als Erwachsene. Sie glaubte sich daran zu erinnern, es als Kind öfters gespürt zu haben. Es hieß »Ich bin da!« und »Es gibt mich«.

Es war das Bewusstsein, vorhanden zu sein, auf dieser Welt zu existieren. Aber man ist doch immer da, dachte Åse. Warum denke ich gerade jetzt, dass es mich gibt oder dass es mich in diesem Moment vielleicht noch etwas mehr gibt als sonst? Bin ich im Augenblick wirklich mehr als heute Morgen, als ich aufgewacht bin? Ihre Gedanken wanderten, fanden frische Nahrung und führten sie leichthändig aus Bastionen und Schutzzonen, die Åse bisher nie zu verlassen gewagt hatte.

Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Es hatte geklopft. Åse krallte ihre Finger in die zerschlissene Lehne des Sessels. Es hatte laut und deutlich an ihre Tür geklopft.

22. März 1943
Tromsø

Der Vermieter war Åse an der Haustür begegnet und hatte sie freundlich gegrüßt. Offenbar war er zu einem Schwätzchen über das fast frühlingshafte Wetter der letzten Tage aufgelegt.