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Wolfsgesicht

erzählt von Katharina Fischer

Kosmos

 

 

 

 

 

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9.Juli 1941–24.Dezember 2009)

 

 

 

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele weitere Informationen zu unseren Büchern, Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und Aktivitäten finden Sie unter www.kosmos.de

 

 

 

 

© 1999, 2009, 2010, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

 

Based on characters by Robert Arthur.

 

ISBN 978-3-440-12505-2

Produktion: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Prügel für den Ersten Detektiv

Ein warmes ›Klingklong‹ kündigte an, dass ein Kunde den Laden betreten hatte. Justus Jonas lächelte und schloss die Tür hinter sich. Er hatte die Tonfolge sofort erkannt, auch wenn es schon einige Jahre zurücklag, dass er mit seiner Tante Mathilda hier gewesen war. Jetzt, mit sechzehn Jahren, begleitete er sie natürlich nicht mehr bei ihren Einkäufen.

Noch während seine Hand den Türgriff hielt, merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Fast körperlich spürte er die Spannung, die in der Luft lag. Der ältere Mann hinter der Theke – es musste Mr Laurent sein, der Besitzer des angesehenen Bekleidungsgeschäfts – lächelte ihn gezwungen an. Irritiert senkte Justus den Blick und schaute sich schnell um. Doch außer ihm und dem Inhaber schien niemand hier zu sein. Der Laden sah noch genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte, nichts hatte sich verändert. Selbst die exklusive Kleidung, die hier angeboten wurde, war nur wenig mit der Mode gegangen. Und Mr Laurent? Er benahm sich so merkwürdig. Erkannt hatte er Justus offenbar nicht mehr. Damals war er ja auch noch ein kleiner Junge gewesen …

Jetzt erst ließ Justus den Türgriff los. »Guten Tag«, sagte er betont freundlich.

Mr Laurent erwiderte seinen Gruß und schielte zur Seite. Justus folgte seinem Blick, aber er sah nur einige Mäntel, die aufgereiht an einer goldfarbenen Stange hingen. Oder bewegte sich da etwas? Er schaute genauer hin. Wohl eine Täuschung. Er spürte deutlich, wie die Augen des Inhabers ihn wieder fixierten.

Wahrscheinlich ist es der Baseballschläger, der ihn stört, dachte Justus und drehte das Schlagholz in seiner Hand. Blödes Ding auch, ausgerechnet heute musste er ihn von der Schule nach Hause schleppen. Wo er doch für Sport allgemein und erst recht für Baseball rein gar nichts übrighatte. Aber der Sportlehrer hatte ihm den alten Schläger in die Hand gedrückt, sozusagen als Spende für das Gebrauchtwarenlager von Onkel Titus. ›Nimm ihn, ich schenk ihn dir‹, hatte er gesagt. ›Vielleicht bekommt ihr noch ein paar Dollar dafür.‹

Justus ging einen Schritt auf Mr Laurent zu. »Sir, es geht um die Nachricht …«, begann er.

Dann geschah alles sehr schnell. Wie große schwarze Katzen sprangen zwei Männer auf ihn zu. Sie mussten sich hinter den Kleidern versteckt haben. Justus spürte einen festen Schlag auf die Hand und geriet ins Stolpern. Der Baseballschläger polterte zu Boden und rollte weg. Ein brutaler Stoß beförderte den Ersten Detektiv hinterher. Mit der Seite zuerst prallte Justus hart auf den hellen Marmorboden. Der eine Mann sprang sofort herbei und drehte ihm die Arme so stark nach hinten, dass es knackte. Der zweite drückte sein Knie auf Justus’ Hals. Justus wollte schreien, aber die Luft wurde knapp. Da berührte kaltes Metall seine Handgelenke. Ein Klicken. Angstvoll suchte Justus den Blickkontakt zum Verkäufer. Doch Mr Laurent war hinter der Theke abgetaucht.

»Haben wir dich endlich, du Schwein!«, rief einer der Männer. Er zog Justus’ Arme weiter nach oben und lachte sarkastisch.

Auch der zweite Angreifer triumphierte. »Dass du so dumm sein würdest …« Mit einem schmerzhaften Ruck zog er Justus’ Kopf an den Haaren hoch. »Schau uns an, wenn wir mit dir reden!«, schrie der Mann.

»Grrrg grrrg«, stieß Justus aus. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Irgendwie musste er sich einen Überblick über die Situation verschaffen, sonst war er verloren. Fragen schossen ihm durch den Kopf: Hatten es die Männer auf ihn abgesehen? War er Opfer einer schrecklichen Verwechslung? Eine Entführung? Rache? Was hatten die mit ihm vor?

Da hörte Justus, wie die Tür zum Hinterraum geöffnet wurde. Er verdrehte die Augen, um wenigstens ansatzweise sehen zu können, was vor sich ging. Ein Paar schwarzer Schuhe tauchte auf und eine graue Bundfaltenhose.

»Wen habt ihr denn da eingefangen?«, fragte eine Stimme, die Justus bekannt vorkam. Mühsam drehte er den Kopf weiter nach oben. Dann atmete er zischend aus. Das Gesicht kannte er. Die Drahtgestellbrille, die wachsamen Augen, das leicht angegraute Haar: Inspektor Cotta vom Rocky Beach Police Department! Ein guter alter Bekannter, die Rettung nahte!

Auf ein Handzeichen von Cotta ließen die Männer von Justus ab. Der Inspektor beugte sich zu ihm herunter. »Tut mir leid, Justus. Hast du dich verletzt?«

»Ich mich eigentlich weniger«, sagte Justus und richtete sich ächzend auf. »Es waren eher diese beiden Kampfstiere da.«

»Tja«, begann Cotta, »deinen Humor hast du zum Glück nicht verloren.« Er stockte. »Weißt du, Justus, es sind, nun ja, Kollegen von mir, Polizisten.«

»Polizisten, Inspektor?«

»Ja, Justus, es tut mir wirklich leid, du bist mitten in einen Polizeieinsatz geraten.« Er nickte den beiden Männern zu. »Fred, Fritz, nehmt ihm die Handschellen ab.«

Widerwillig machte sich einer der Polizisten an Justus’ Handgelenken zu schaffen.

»Aber, Inspektor«, ließ sich eine Stimme vernehmen. Sie gehörte Mr Laurent, der aus seiner Deckung aufgetaucht war und vorsichtig über die Theke blickte. »Das ist doch der Räuber!«

»Nein, bestimmt nicht, Mr Laurent«, antwortete Cotta, »das ist Justus Jonas, ein guter Freund von mir. Er ist auf keinen Fall der Täter.«

»Justus Jonas? Der Neffe von Mathilda Jonas?«

»Ja, der bin ich, Mr Laurent. Haben Sie mich nicht erkannt?« Justus hatte sich wieder zu voller Größe aufgerichtet. Obwohl er gewichtsmäßig etwas abgenommen hatte, war er immer noch ein eindrucksvoll stattlicher Junge. Dessen Kleidung nun allerdings einigen Staub abbekommen hatte.

Also begann Justus seine Ärmel abzuklopfen. Die anderen standen tatenlos um ihn herum und sahen ihm zu. Langsam stieg eine ordentliche Wut in Justus hoch. »Sie könnten mir ruhig mal dabei helfen«, maulte er die beiden Männer an, die ihn eben noch zu Boden geworfen hatten. Er hatte die Situation wieder im Griff. »Oder sind Ihre Hände für so filigrane Tätigkeiten nicht geeignet?«

Die Polizisten schauten irritiert zu Cotta, der ihnen zunickte. »Filigran heißt so etwas wie fein«, übersetzte er murmelnd. »Justus Jonas drückt sich öfter so aus.« Langsam und umständlich begannen die Männer damit, Justus’ Jacke glatt zu streichen.

Es wirkte reichlich unbeholfen und auch Cotta konnte es nicht lange mit ansehen. »Genug!« Er beendete die peinliche Szene und zog Justus zu sich. »Gehen wir in den Büroraum. Aber wahrscheinlich ist es ohnehin zu spät und der wirkliche Täter ist gewarnt. Mr Laurent, Sie bleiben bitte weiterhin hier.« Er schob Justus zur Hintertür. »Da lang.«

Erst jetzt bemerkte der Erste Detektiv, dass noch eine Person anwesend war: Eine junge Frau stand im Türrahmen und hatte die ganze Szene beobachtet. Justus spürte, wie ihn aus ihren blauen Augen ein skeptischer Blick streifte. Dann drehte sie sich um und schritt zurück ins Büro.

Justus folgte ihr und hinter ihm schloss Cotta die Tür. Die Frau hatte sich inzwischen an die Schreibtischplatte gelehnt. Sie trug Jeans, allerdings ein teures Modell, wie Justus bemerkte. Auf ihrem verwaschenen Sweatshirt war noch der Schriftzug einer Universität in Seattle zu erkennen.

»Wer ist der Junge, Inspektor?«, fragte sie, die Hände in den Taschen.

Cotta zupfte sein Jackett zurecht. »Justus Jonas, Mrs Harding. Zusammen mit zwei Freunden betreibt er in seiner Freizeit hier in Rocky Beach ein Detektivbüro.« Er grinste Justus an. »Unsere schärfste Konkurrenz sozusagen. Andererseits haben wir euch viel zu verdanken.«

»Tja, die drei ??? tun, was sie können«, antwortete Justus, stolz auf Cottas Lob. »Wollen Sie unsere Visitenkarte sehen, Mrs Harding?«

 

Visitenkarte

 

»Ein Detektivbüro? Von Kindern? Danke nein!«

»Wie Sie wollen.« Justus steckte die Karte wieder ein. »Sind Sie auch Polizistin?«

»Nicht direkt.«

»Ah, ja.«

Cotta übernahm das Wort. »Mrs Hannah Harding ist Polizeipsychologin. Ich habe sie eingeschaltet, weil wir es mit einem merkwürdigen Fall zu tun haben …«

»… den Sie mir bestimmt nur sehr ungern erzählen wollen«, ergänzte Justus. Er kam nun in Gesprächslaune, dies umso mehr, je einsilbiger sich die Psychologin gab.

Cotta lächelte. »Ihr drei bekommt es ja doch heraus. Wenn ihr einmal Lunte gerochen habt …«

Unter den missbilligenden Blicken von Mrs Harding zog er einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Justus. Der Text war mit einem gewöhnlichen Filzstift in dicken Blockbuchstaben geschrieben.

Es war einmal ein Mann.

Er geht durch die Kennedy Street. Er zieht die Schultern zusammen. Es ist kalt. Er friert. Er hat einen festen Vorsatz. Drei Straßen noch, die Kreuzung ist frei. Der Mann überquert sie und geht weiter. Sein Blick fällt auf seine alte Taschenuhr: 17.50. Er denkt: Der Präsident ist heute nach London aufgebrochen. Dann erreicht der Mann die lange Straße. Er läuft den Gehsteig entlang. Gegenüber liegt ein exklusives Bekleidungsgeschäft. Der Inhaber dekoriert einen teuren Mantel. Der Mann bleibt stehen. Er grinst in sich hinein und greift in die Plastiktasche. Fest schließt sich die Hand um den Knüppel …

Der erste Gruß an Mr Cotta, die Pflaume

vom Wolfsgesicht

 

Justus blickte auf. »Fängt fast wie ein Märchen an«, sagte er heiser und hustete. Das Knie des Polizisten hatte seine Wirkung nicht verfehlt. »Aber dann geht der Text plötzlich ganz anders weiter.«

Cotta nahm den Zettel wieder entgegen. »So ist es«, sagte er. »Zunächst dachte ich, es sei vollkommener Blödsinn. Ein Verrückter, der mir Angst machen will. Ich wollte den Zettel schon in den Papierkorb werfen.«

Justus nickte und fing an herumzulaufen. Das tat er gelegentlich, wenn er laut nachdachte. Er hatte es aus dem Fernsehen übernommen. »Doch dann fiel Ihnen auf, dass es sich um einen sehr untypischen Brief handelte«, begann er. »Es ging um ganz konkrete Dinge: Ein alteingesessenes Geschäft wird bedroht. Sie schalteten zur Unterstützung Mrs Harding ein, die Polizeipsychologin.«

Cotta nickte.

Justus war vor ihm stehen geblieben. »Vor einiger Zeit arbeiteten Sie doch mit einer anderen Psychologin zusammen«, erinnerte er sich. »Mrs Ferguson. Sie hatte uns geholfen, als Peter entführt worden war. Die fand ich sehr nett.«

Auf Cottas Gesicht erschien ein resigniertes Lächeln. Den leichten Unterton gegen Mrs Harding hatte er überhört. »Sparmaßnahmen«, grummelte er. »Die Stelle in Rocky Beach wurde gestrichen. Wir sind angeblich zu klein. Jetzt müssen wir uns aus Los Angeles bedienen.«

Justus fixierte Mrs Harding, die keine Miene verzog. Aber seine Spitze eben hatte gesessen, das spürte er. Justus grinste und setzte sich wieder in Bewegung. »Mrs Harding vermutete wohl, dass Sie ein bisschen mitdenken sollen, Inspektor. Der Verfasser, der sich ›Wolfsgesicht‹ nennt, will mit Ihnen spielen. Sie sollen die Botschaft enträtseln.« Justus musste erneut kräftig husten, dann erst konnte er weiterreden. »Inspektor Cotta, mir ist vollkommen klar, warum Sie hier bei Mr Laurent warten. In dem Brief geht es um ›teure Mäntel‹ und um ein ›exklusives Bekleidungsgeschäft‹. Da liegt der Schluss nahe, dass der Mann ein Pelzgeschäft ausrauben möchte und es in diesem Schreiben ankündigt. Ausgehend von der Angabe ›Kennedy Street‹ erkannten Sie, dass es sich um Mr Laurents Laden handeln musste, zumal es nicht viele solcher Geschäfte in Rocky Beach gibt. Es liegt direkt an der Hauptstraße. Vorher kann man eine Kreuzung überqueren. Eine Uhrzeit war auch angegeben. Doch an welchem Tag, an welchem Datum sollte alles geschehen? Die Zeile mit dem Präsidenten verriet es ihnen: Heute ist der amerikanische Präsident zu einem Kurzbesuch nach London geflogen. Sie beschlossen, dem Mann sicherheitshalber eine Falle zu stellen, auch wenn es zunächst sehr unwahrscheinlich anmutete, dass der Mann tatsächlich zuschlagen würde.«

»Warum?«, unterbrach ihn die Polizeipsychologin.

»Weil er ja damit rechnen musste, dass die Polizei auf ihn wartet. So schwer war sein Rätsel nun auch wieder nicht zu entschlüsseln.«

Da Mrs Harding schwieg, fuhr Justus in seiner Betrachtung fort. »Leider kam ich Ihnen dazwischen, und da ich den Baseballschläger dabeihatte, hielten mich Ihre Kollegen sofort für den Täter. Entsprechend zuvorkommend wurde ich dann auch empfangen.«

»Ja, äh, ich bitte noch mal um Entschuldigung!« Cotta klopfte ihm auf die Schulter. »Aber genau so war es. Prima, Justus!« Er nickte Mrs Harding zu, die ihre Schreibtischplatte nicht verlassen hatte. »Sie sehen, Mrs Harding, Justus Jonas ist ein wirklich heller Junge.«

Mrs Harding wirkte unbeeindruckt. »Hast du dich vor der Prügelei auch schon so hochgestochen ausgedrückt?«

Justus spürte das Blut in sich aufsteigen, antwortete aber nicht.

Die Polizeipsychologin warf ihre schwarzen Haare zurück. »Warum kamst du überhaupt in Mr Laurents Geschäft, Julius?«

»Mein Name ist Justus«, sagte Justus. Doch es blieb keine Zeit zu antworten. Sie hörten, wie jemand das Klingklong der Ladentür auslöste. Cotta sprang zur Bürotür und lauschte, was im Laden vor sich ging. Auch Justus und Mrs Harding waren herangetreten. Gedämpft erklang die Stimme einer älteren Frau, die sich nach einem Schal erkundigte.

Cotta grinste, entspannte sich und trat wieder einen Schritt zurück.

Hoffentlich ergeht es der armen Frau nicht so wie mir, dachte Justus. Nicht auszudenken. Seine Rippen schmerzten noch immer, ganz zu schweigen von seinem Hals. Er rieb sich die angeschwollenen Handgelenke. Die Jungs bei der Polizei waren offensichtlich etwas übertrainiert.

Hannah Harding hatte sich gegen die Schreibplatte gelehnt. »Also, Justus«, fragte sie, diesmal etwas schärfer im Tonfall. »Was wolltest du hier im Laden?«

Justus setzte erneut zu einer Antwort an, als Cottas Handy eine Antwort verhinderte. Der Inspektor zog es hervor. »Cotta! … Ja … Nein! … Nein! … Das gibt es doch nicht! … Aber nein! … Wir kommen sofort!«

»Was ist passiert, Inspektor?«, fragte Mrs Harding, noch bevor Justus etwas sagen konnte.

Cotta schob das Handy in die Tasche. Er wirkte erschrocken. »Ein paar Meter weiter hat es einen Raubüberfall gegeben!«, sagte er.

Der Mann mit der Maske

Nacheinander stürmten Inspektor Cotta, Mrs Harding und Justus durch den Verkaufsraum des Bekleidungsgeschäftes. Gerade hatte Mr Laurent auf dem Ladentisch einen Schal ausgebreitet. Doch seine Kundin war nicht ganz bei der Sache. Mit offenem Mund verfolgte die Frau die absurde Szene, die sich vor ihr abspielte. »Fritz, Fred«, rief Cotta und drehte sich kurz zu den Mänteln um. »Wir müssen raus. Bleiben Sie zur Sicherheit da. Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein!«

Als Letzter griff Justus zur Tür. Er registrierte noch Mr Laurents verunsicherten Blick, dann ging es im Laufschritt die Straße entlang. Etwa zweihundert Meter entfernt befand sich an der nächsten Kreuzung ein Laden, der vom Campingkocher bis zur Himalajaausrüstung alles verkaufte, was man zum Überleben in der Natur brauchte. Schon aus der Entfernung sah Justus, dass ein Paar vor dem Schaufenster stand und heftig miteinander sprach. Das Mädchen mit den struppigen schwarzen Haaren erkannte er sofort wieder. Sie war eine der Verkäuferinnen dort. Sein Freund Peter und er hatten sich vor einigen Wochen von ihr zu Peters neuer Tauchausrüstung beraten lassen.

Schwer atmend kam Justus zum Stehen. Die Schaufensterscheibe des Ladens war eingeworfen worden und offenbar fehlten auch einige der ausgestellten Gegenstände.

»Inspektor Cotta«, stellte Cotta sich gerade vor. Er deutete auf seine zwei Begleiter. »Mrs Harding, ebenfalls von der Polizei, und äh, Mr Jonas, ja.«

»Joe Stapelton, Inhaber von Outdoor World. Und das ist Sandy Allen, meine Verkäuferin.« Der Ladenbesitzer war aufgebracht. »Gut, dass Sie so schnell da sind. Eine Schweinerei, das Ganze! Was mich allein der Glaser für das zerschlagene Fenster kosten wird!«

»Wann geschah der Raub genau?«, wollte Cotta wissen.

»Vor ein paar Minuten, kurz vor achtzehn Uhr. Wir räumten gerade ein Lagerregal ein. Plötzlich hörten wir einen Knall und sahen ein paar Glassplitter spritzen. Bis wir über unsere Kisten gestiegen und nach draußen gerannt waren, war der Täter schon über alle Berge.«

»Und was fehlt?«

»Das ist es ja gerade. Vor einigen Tagen habe ich ein Spezialfernglas in mein Schaufenster gestellt. Das kostet über 3000 Dollar. Das ist weg!« Stapelton ließ seinen Blick über die Auslage gleiten. »Ansonsten scheint alles da zu sein. Ich habe ja kein Schmuckgeschäft, wissen Sie. So teuer ist meine Ware normalerweise nicht. Deswegen gibt es auch kein besonderes Sicherheitsglas oder eine Alarmanlage.«

»Die Kletterausrüstung«, sagte die junge Verkäuferin und zeigte in die Auslage. »Einige Seile und Haken sind verschwunden.« Justus bemerkte, dass sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Offenbar hatte sie ihn ebenfalls erkannt.

Stapelton nickte. »Tatsächlich. Aber das ist zu verschmerzen. Schon komisch, dass der Dieb diese Seile mitgenommen und die anderen wertvollen Ferngläser liegen gelassen hat.«

Während Justus zuhörte, inspizierte er die Auslage. ›Extrem – hoch klettern – tief tauchen‹, stand auf einem Pappschild. Vier weitere Ferngläser lagen noch im Schaufenster, dazu ein teurer Kompass, ein Nachtsichtgerät, eine Taucheruhr. Einen Stein oder einen anderen Gegenstand, mit dem das Schaufenster eingeworfen worden sein könnte, entdeckte er nicht.

Justus wandte seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Vielleicht war der Täter ja noch in der Nähe und beobachtete sie oder es hatte Zeugen des Vorfalls gegeben. Eine Frau fiel ihm auf, die in einigem Abstand an der Hauswand stand und immer wieder unschlüssig herüberblickte. Hatte sie etwas beobachtet? Oder war sie nur neugierig? Stapelton erging sich inzwischen in Klagen über die schlechte Wirtschaftslage. »Zum Glück sind ja bald Präsidentschaftswahlen«, hörte er ihn sagen, »aber im Grunde ist einer nicht besser als der andere.«

Justus wandte sich ab und schritt auf die Frau zu, die ihn neugierig musterte. Sie musste um die fünfzig sein. Die zwei schweren Einkaufstaschen wirkten sich sichtbar auf die Haltung ihres Rückens aus.

»Guten Tag«, sagte er, als er nahe genug bei ihr war. Er lächelte. »Haben Sie vielleicht die Tat beobachtet?«

Die Frau umklammerte ihre Einkaufstaschen noch fester. »Nun ja«, sagte sie. »Sie sehen ein bisschen jung aus. Sind Sie auch von der Polizei?«

Justus grinste. »Justus Jonas von den drei ???. Ein Detektivbüro. Sie können mir ruhig Ihre Beobachtung mitteilen. Wir helfen der Polizei.«

»Wenn das so ist …« Sie setzte ihre Taschen ab.

Wie sich herausstellte hatte die Frau den Raub von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet. Sie war einkaufen gewesen. »Aber erst als es den Knall gab und das Glas splitterte, habe ich genauer hingesehen«, berichtete sie. »Die Person steckte den Knüppel in eine große Plastiktüte. Dann griff sie zwei-, dreimal ins Fenster, packte etwas in die Tüte und rannte weg.«

»Wissen Sie noch, was für eine Tüte es war?«

»Oh ja, warten Sie.« Die Frau überlegte kurz. »Sax Sendler, ja, es war eine Plastiktüte von Sax Sendler

»Das Musikgeschäft!« Justus kannte den Laden, er gehörte zu einer Musikagentur, bei der sein Freund Bob ab und zu aushalf. Er lächelte der Frau anerkennend zu. »Sehr genau beobachtet! Sie haben nur von einer ›Person‹ gesprochen. Sie sind also nicht sicher, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

Sie nickte. »Genau. Schwer zu entscheiden. Dunkle Kleidung, ein dunkler Mantel. Vor allem aber: Die Person trug eine Maske.«

»Eine Maske?«

»Ja. Sie wandte sich kurz um. Vielleicht, um sich nach Passanten umzusehen.« Sie machte eine Pause, das Bild schien noch einmal vor ihr aufzusteigen. »Sie blickte mich direkt an. Ganz intensiv. Mir läuft es jetzt noch kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke. Dann lief sie um die Ecke und war verschwunden.«

»Was für eine Maske war es denn?«

»Das ist ja das Komische. Es war das Gesicht des amerikanischen Präsidenten. Wissen Sie, diese Maske, die es seit ein paar Tagen überall zu kaufen gibt. Der Präsident soll doch bald durch Rocky Beach kommen.«

»Ja, das stimmt. Er ist auf Wahlkampfreise und wird hier ein Altersheim einweihen.« Justus nickte nachdenklich. »Vielen Dank. Ihre Hinweise sind sehr wertvoll. Ich glaube, Sie sollten Ihre Beobachtung dem Inspektor mitteilen.«

Er nahm die zwei Einkaufstaschen und begleitete die Frau zu Cotta und Mrs Harding, die sich noch immer mit Stapelton unterhielten. Cotta war es inzwischen gelungen, das Gespräch wieder auf den Überfall zurückzubringen. Die Verkäuferin war nicht mehr da.

Outdoor World