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HELGA HENGGE

Nur der Himmel ist höher

Mein Weg auf den Mount Everest

www.helgahengge.com

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Die Folie des Schutzumschlags sowie die Einschweißfolie
sind PE-Folien und biologisch abbaubar.
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Auflage 2017

Copyright © 2007 bei Helga Hengge, München. Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors
wiedergegeben werden.

Buch Design: Franziska von Walderdorff

Satz: Franzis’ print & media

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-00031-140-6

eISBN 978-3-98203-410-2

Umschlagfotos: Lobsang Tember Sherpa, Gisela Schenker

Alle anderen Bilder: Helga Hengge

FÜR MEINE KINDER MARIE UND LUCA TASHI

Die Nordroute auf den Mount Everest aus der Sicht des Rongbuk-Tals in Tibet

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Die Himalayan Experience Expedition auf den Mount Everest über die Nordroute, Frühjahr 1999

Expeditionsleiter:

Russell Brice, Neuseeland

Sherpas:

Lobsang Tember Sherpa (Sirdar)

 

Phurba Tember Sherpa

 

Karsang Sherpa

 

Sonam Tember Sherpa

 

Narwang Sherpa

 

Lacchu Basnet (Koch)

 

Kulpadur Basnet (Koch)

 

Chimi Sherpa (Kochboy)

Tibetische

 

Mitglieder des Teams:

Kassang

 

Choldrim

 

Norbu

Bergsteiger:

Ken Mc Connell, Teamarzt, Tasmanien

 

Geoff Robb, Australien

 

Kazuhiko Kozuka, Japan

 

Kunitsugu Kobayashi, Japan

 

Helga Hengge, Deutschland

Vielen Dank an Russell Brice und die Sherpas und Tibeter in unserem Team: Lobsang Tember Sherpa, Phurba Tember Sherpa, Karsang Sherpa, Sonam Tember Sherpa, Narwang Sherpa, Lacchu Basnet, Kulpadur Basnet, Chimi Sherpa, Kassang, Choldrim und Norbu.

Thank you for taking me so close to heaven.

Inhalt

Mount Everest, 27. Mai 1999

Kapitel 1

New York, in einer schlaflosen Nacht

Kapitel 2

Tara

August 1998, Cho Oyu

Kapitel 3

Padmasambhava und der Schal des Glücks

Chomolungma

Von Kathmandu nach Lhasa 3. April

Lhasa – »Erde der Götter«

Ostersonntag in Tibet

Der Potala

Das Sera-Kloster

Auf dem Dach der Welt

Tingri 7. April

Shegar, das »weiße Glasfort« 8. April

Auf dem Weg zum Basislager 9. April

Kapitel 4

Everest – Basislager, 5200 Meter 9. April

Puja – Fest für die Götter 12. April

Erste Wanderung 13. April

Rasttag 14. April

Kapitel 5

Chenresik

Aufbruch 15. April

Zwischenlager, 6000 Meter

ABC, 6400 Meter

Sauerstoff und Funkgeräte 21. April

Rapü La 22. April

Aufbruch zum Nordsattel, 7000 Meter 23. April

Kapitel 6

Zweite Tour zum Nordsattel 24. April

Rast im ABC 25. April

Erste Nacht auf dem Nordsattel 26. April

Vorstoß über den Nordsattel 27. April

Schrecken in der Nacht

Urlaub im Bananenboot 28. April

ABC 29. April

3. Mai

Zweiter Aufstieg zum ABC 4. Mai

Kapitel 7

Die Erleuchtung

Der Test 6. Mai

Camp 2, 7600 Meter 7. Mai

Kapitel 8

Padmasambhava und der Wettlauf zum Gipfel

Ein Alptraum beginnt 9. Mai

Urlaub im Bananenboot 10. Mai

Das Rongbuk-Kloster 11. Mai

Das alte Rongbuk-Kloster 12. Mai

Gipfelfieber 13. Mai

Kapitel 9

Der erste König von Tibet

14. Mai

16. Mai

Hilferufe vom Gipfel 18. Mai

21. Mai

Kapitel 10

Sonne, Mond und Sterne

Der Weg zum Gipfel 23. Mai

Camp 1, 7000 Meter

24. Mai

Camp 2, 7600 Meter

25. Mai

Camp 3, 7900 Meter

26. Mai

Camp 4, 8300 Meter

Kapitel 11

27. Mai

Camp 4

Camp 3

Camp 2

28. Mai

Camp 1

ABC

29. Mai

Chomolungma Gipfelparty 3. Juni

Bibliography

Mount Everest, 27. Mai 1999

Nie werde ich die Nacht vergessen, als wir zum Gipfel der Welt stiegen, jene fast vollmondhelle Nacht, in der die Sterne von den Schneefeldern in den Himmel blitzten. Vorsichtig beugte ich mich über die Wechte und drückte mein Daunenkleid in den gefrorenen Schnee. Dann tastete ich mich langsam nach vorne. Wundersam leuchtete ein weißes Licht vom Inneren des Berges. Die Schneefelder rauschten leise in die Tiefe, Millionen von Schneekristallen glitzerten ins Unendliche der schwarzen Nacht. Es war vollkommen still; die ganze Welt schien unter den dicken silbernen Wolken zu schlafen. Nie werde ich die Nacht vergessen, in der der Mond auf den Schneefeldern tanzte. Hier waren die Götter zu Hause, im Land des Schnees – im Himalaja.

1

Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn es sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten drin und schweigt.

RAINER MARIA RILKE

New York, in einer schlaflosen Nacht

Erneut drehte ich mich in meinem Bett herum, zum hundertsten Mal in dieser Nacht. Mit aller Macht versuchte ich, meine Gedanken in stillere Bahnen zu lenken, um endlich in jene selige Leere zu gleiten, die sich kurz vor dem Einschlafen einstellt. Ich hatte schon alle Schafe dieser Welt gezählt, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Wieder beugte ich mich vornüber, um meine Bergstiefel zu schnüren, und begann über das Hochland zu wandern. Die Gebetsmühlen in dem alten Kloster drehten sich langsam und trugen die Gebete fort in die blauen Lüfte des Himmels. Dann brach der tosende Sturm in mir wieder los – und da stand er auch schon: strahlend in der Morgensonne, ein weißer Wolkenschweif wehte von seinem Haupt in den Himmel.

Wenige Wochen zuvor hatte ich beschlossen, mit Stefan, einem alten Freund aus München, nach Lhasa zu fliegen und mich einer Trekkingtour zum Basislager des Mount Everest anzuschließen. Ich dachte, diese Tour, die unter der Leitung von Russell Brice stattfinden sollte, sei ein gutes Training, weil ich plante, im Sommer den 8049 Meter hohen Broad Peak im Karakorum (Pakistan) zu besteigen. Ein paar »kleinere« Achttausender wollte ich schon noch erklimmen, bevor ich mich an den höchsten Berg der Welt wagte. Warum also sollte ich nicht für drei Wochen nach Tibet fahren, um mir den Ausgangspunkt meiner zukünftigen Expedition schon einmal anzuschauen? Stefan war begeistert von dieser Idee. Wenige Stunden zuvor hatte ich Russell per E-Mail die Bestätigung unserer Teilnahme geschickt. Ich hatte Russell im Herbst des vergangenen Jahres während meiner Expedition zum Cho Oyu kennen gelernt. Russell leitete zwar eine andere Gruppe, aber wir waren Nachbarn im Basislager; ich war sehr beeindruckt von seiner Organisation und dachte, wenn ich jemals den Everest besteigen würde, dann mit ihm. Die Gebetsmühlen drehten sich weiter und weiter, aber meine Gedanken waren schon wieder zum Everest gewandert. Meine Plastikstiefel, die dicke Daunenjacke, Steigeisen und Eisaxt – all dies brauchte ich diesmal nicht zu packen, denn das Basislager, unsere letzte Station auf der Trekkingroute, liegt auf 5200 Metern, also weit unterhalb der Gletscher. Ich hatte schon viele Bilder vom Basislager gesehen, wo die Chomolungma, wie die Tibeter den Mount Everest nennen, so erhaben in die Höhe ragt. Die ganze Nordwand kann man von dort aus sehen, und den weißen, von der Gipfelkrone wehenden Wolkenschweif, in dem die Götter der Berge zu wohnen scheinen. Und dort sollte ich dann umkehren und den wagemutigen Abenteurern nachwinken, wenn sie an einem frühen Morgen zum nächsten Camp aufbrachen? Nein, das war unmöglich.

Ich drehte mich im Bett noch einmal um, um weiter zu träumen von dem fernen Land dort oben auf dem Dach der Welt. Aber ich konnte nicht schlafen. Immer weiter stiegen die anderen, die ich noch gar nicht kannte, über die große Moräne hinauf. Nun waren sie schon winzig klein, mächtig über ihnen stand der Mount Everest. In meiner Vorstellung befanden sie sich auf dem Weg in die Glückseligkeit. Wieso kann ich nicht jetzt schon mit ihnen gehen? Wieso eigentlich nicht? Warum nicht schon in diesem Jahr? Ob Russell mich wohl mitnehmen würde? Habe ich genug Erfahrung, um es schon zu wagen? Ist man überhaupt jemals gut genug für den Everest?

Die Tibeter sagen, dass die Wolken im Himalaja Berge haben. Alte tibetische Märchen erzählen von dem magischen Seil »mu«, das von den Spitzen der Berge in den Himmel steigt – manchmal als ein Bündel goldener Sonnenstrahlen, manchmal aber auch als rauschende Säule aus Winden oder als ein leuchtender Regenbogen, der sich nach oben windet und die Erde mit dem Himmel verbindet. Die ersten mythischen Könige Tibets sollen sich an diesem himmlischen Seil auf die Erde herabgelassen haben, und es blieb auch, während sie unter den Menschen weilten, immer mit ihrem königlichen Haupt verbunden. Wenn ihr irdisches Leben ausklang, verwandelte sich ihr Körper in einen Lichtstrahl, verwob sich mit dem Seil »mu«, und sie kehrten wieder in den Himmel zurück. In der griechischen Mythologie herrschten die Götter auf dem Olymp. Seit ich Homers »Ilias« in der Schule gelesen hatte, glaubte ich fest an die philosophische Idee von der doppelten Motivation – vom Schicksal auf der einen Seite und dem freiem Willen auf der anderen. Ich stellte mir oft vor, dass ein vorbestimmtes Schicksal mich nach vorne zog und mein freier Wille den Weg finden und beschreiten musste. Manchmal schien es mir, als könnte ich das Göttliche spüren – manchmal waren es die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter eines Baumes blitzten und mich unendlich glücklich stimmten.

Immer wieder zog ich im Halbschlaf meine Trekkingstiefel an, wanderte über die Hochebene und drehte langsam die Gebetsmühlen in den alten buddhistischen Klöstern. Ich musste endlich schlafen, es war schon tiefe Nacht. In der Ferne konnte ich das Knirschen meiner Steigeisen im gefrorenen Schnee hören. Die Sterne leuchteten am dunklen Himmel; die Luft war eisig kalt. Eine Sirene heulte durch die Nacht – New York; wie ich die Stadt in dieser Nacht hasste! Nie konnte man in Ruhe schlafen, der Lärm machte mich noch verrückt! Ich stand wieder auf und schaltete den Computer ein.

»Hallo, Russell, vergiss meine letzte E-Mail – ich bin nun mal keine Trekkerin. Ich möchte mit auf den Everest. Ich will als Bergsteigerin an Deiner Expedition teilnehmen. Was hältst Du davon? Helga.« Mit einem Mausklick war die E-Mail abgeschickt. Endlich konnte ich einschlafen.

Russells Antwort kam am nächsten Morgen: Seine Everest-2000-Expedition sei noch nicht ausgebucht, und er würde sich freuen, wenn ich dann mitkäme. 2000 – aber das war doch erst im nächsten Jahrtausend! Nein, ich wollte in diesem Jahr mitkommen – jetzt, in sechs Wochen. »Auch das ist möglich«, schrieb er mir, leicht verwundert über meinen Übermut, aber ich müsse mich schnell entscheiden, weil er Vorkehrungen treffen müsse bezüglich meines Visums und anderer Dinge.

Ich war wild entschlossen: Ich hatte noch sechs Wochen, um zu trainieren, und ich musste mir eine Daunenhose und neue Plastikstiefel besorgen. Meine Katze würde während der zweieinhalb Monate, die ich fort sein würde, bei meiner Schwester unterkommen. Der Countdown in meinem Kopf lief schon, als ich um den Park joggte. Immer wieder musste ich lächeln. Die unendliche Glückseligkeit, die mich in den nächsten Wochen erfüllen sollte, hatte mich bereits erfasst und spiegelte sich auf meinem verfrorenen Gesicht wider. Dieses Abenteuer würde meine Sehnsucht besänftigen, dachte ich. Der Everest würde entweder das letzte meiner Bergabenteuer sein, weil ich dann genug davon hätte, oder der Beginn einer lebenslangen Passion. Danach konnte ich dann das Angebot, als Moderedakteurin für eine deutsche Frauenzeitschrift zu arbeiten, annehmen und nach München ziehen, mich niederlassen, heiraten und das tun, was meine Eltern von mir erwarteten. Das Geld für die Besteigung des Everest, immerhin 35.000 Dollar, hatte ich schon lange auf die Seite gelegt; vor ein paar Jahren hatte ich genau diese Summe von meinem Großvater geerbt. Schmetterlinge flatterten wie wild in meinem Bauch, alles war auf einmal so klar. Die Unruhe, die mich während der vergangenen Monate geplagt hatte, war mit einem Schlag verflogen. Meine Schwester war die Einzige, die ich in mein Vorhaben eingeweiht hatte. Ich rief sie jeden Abend an, um ihr zu sagen, dass ich schier platzen würde vor Glück. Russell hatte geschrieben, dass er mir gute Chancen einräume. Er habe mich am Cho Oyu beobachtet und als stark empfunden. Ich hätte eine gute, realistische Einstellung, und er würde sich freuen, mich mit meiner guten Laune in seinem Team dabeizuhaben.

Während der folgenden Wochen, als mein Entschluss noch ein streng gehütetes Geheimnis war, erfüllte mich ein berauschendes Glücksgefühl. Meiner Schwester Lu hatte ich ein Schweigegelübde abgenommen, aus Angst, dass dieser Traum plötzlich wie eine Seifenblase zerplatzen könnte.

Anfang März, drei Wochen vor meiner Abreise, rief ich meine Agentin Michelle an, um ihr von meinen Everestplänen zu erzählen.

»Du wirst also in den ersten beiden Aprilwochen nicht im Lande sein?«, fragte sie mich.

Es dauerte eine Weile, bis ich ihr erklärt hatte, dass niemand in der Lage sei, in nur zwei Wochen den Everest zu besteigen, dass sie diesmal zweieinhalb Monate lang auf mich verzichten müsse. Sie konnte die freudige Erregung in meiner Stimme hören.

»Ich wusste doch, dass irgendetwas los ist mit dir. Ich hab dich selten so beschwingt erlebt wie in den letzten Wochen. Also mach, dass du fortkommst! Steig auf diesen verrückten Berg – aber pass auf dich auf! Wir brauchen dich noch in New York.«

2

Tara

»Om Tare Tu Tare Ture So Ha«

Tara mantra

Vor vielen, vielen Jahren, zur Zeit des Fünften Dalai Lama, trug sich folgende Geschichte zu: Vom Dach seines Potalas erblickte der Dalai Lama eines Tages die Göttin Tara, die, wie es der Brauch der gläubigen Tibeter war, den rituellen Rundgang um den Palast machte. Er beobachtete das wundersame Ereignis einige Tage und notierte sich den genauen Zeitpunkt, zu dem sie erschien. Nachdem er genauere Erkundigungen eingezogen hatte, stellte sich heraus, dass ihre Bewegungen genau mit denen eines alten Mannes übereinstimmten. Er sandte nach ihm und fragte ihn, ob es ihm bewusst sei, dass die Göttin Tara ihn bei seinem rituellen Rundgang stets begleitete. Verängstigt antwortete der alte Mann, dass er das nicht bemerkt habe. Als man ihn weiter befragte gab er zu, dass er Tara’s Mantra auswendig gelernt hatte und es schon seit vierzig Jahren regelmäßig bei seinen täglichen Runden rezitierte. Man bat ihn, den Text aufzusagen und dabei stellte sich heraus, dass er fehlerhaft war. Daraufhin befahl man dem alten Mann, den korrekten Text des Mantras zu lernen. Aber als der alte Mann ihn statt des anderen rezitierte, erschien die Göttin Tara nicht mehr. Erst als man ihm erlaubte, das fehlerhafte Mantra wie zuvor zu rezitieren, kam sie wieder und begleitete ihn auf seinem Rundgang. Wenn er das fehlerhafte Mantra rezitierte, so folgerte der Dalai Lama, dann waren seine Gedanken ganz auf Tara konzentriert, und sie kam, um ihn zu segnen. Wenn er dagegen den richtigen Text rezitierte, dann waren seine Gedanken zu sehr mit dem Text beschäftigt. Das war der Unterschied.

LEGENDE AUS TIBET

Es war die Verlockung des Abenteuers, in eine mir unbekannte Welt vorzudringen, der ich gefolgt war, als ich mich im Sommer 1996 entschloss, nach Argentinien zum Bergsteigen zu reisen. Ich hätte genauso gut eine Reise in die Wüste Gobi antreten und wochenlang in einer Karawane durch die Steppe ziehen können, oder nach Kenia auf Safari, um in der Morgendämmerung nach wilden Tieren Ausschau zu halten, oder auf einer einsamen Insel in Thailand durch das Riff schnorcheln. Aber letzten Endes waren es die Berge, die mich faszinierten. Ich sehnte mich danach, einmal in himmlische Höhen zu steigen und die Welt weit unter mir zu lassen.

Ich hatte gerade an der Universität von New York mein Film- und Philosophiestudium abgeschlossen, machte bereits Karriere als Modestylistin und wusste nicht, wie ich diese beiden so gegensätzlichen Welten unter einen Hut bringen sollte. Ich wusste einfach nicht, wohin es mich zog. Das Glück, das ich in den ersten Jahren in New York gefunden hatte, war dem Alltag anheim gefallen, und mein Studium war zu plötzlich zu Ende gegangen. Eigentlich ging es mir gut; ich war erfolgreich, arbeitete in einem kreativen Beruf, der mir Spaß machte – aber gerade das schien der springende Punkt zu sein. Ich verstand die Welt nicht mehr, sah keinen Sinn mehr in meinem hektischen Großstadtleben. Ich hatte in gewisser Weise mein Ziel erreicht und sehnte mich nach einer neuen Herausforderung, nach einem neuen Ziel auf einer ganz anderen Ebene. Etwas Grundlegendes hatte sich in mir verändert. Wie hieß es doch bei Rainer Maria Rilke: »… wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht.«

Es war der Sommer, in dem ich mich entschied, an einer Expedition auf den Aconcagua teilzunehmen, und plötzlich spürte ich ein neues Glücksgefühl in mir. Eine Tür hatte sich geöffnet, und ich war eingetreten; die Reise in ein fernes Abenteuer konnte beginnen.

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Ich hatte mich an einen alten Kindheitstraum erinnert. Meine Großeltern hatten früher, in den sechziger und siebziger Jahren, Trekkingtouren gemacht. Monatelang waren sie durch die abgeschiedenen Königreiche des Himalaja und die Anden gewandert: Peru, Mustang, Bhutan, Nepal. Jedes Mal brachten sie uns von ihren Reisen Geschenke mit: Kostbarkeiten wie bronzene Schalen, mit denen man helle Klänge anstimmen konnte, bunte Wollpuppen mit langen schwarzen Zöpfen, die die Einheimischen gestrickt hatten, und tibetische Glücksbringer, die ich dann an einem Lederband um den Hals trug.

Oft hatten sie uns in ihre Wohnung eingeladen. Es war dunkel, und ein Hauch von Räucherstäbchen strömte durch die Luft. Mein Großvater hielt eine Klangschale in der Hand und brachte sie zum Klingen, indem er einen hölzernen Stab an ihrem Rand kreisen ließ. Meine Geschwister, zwei Brüder und drei Schwestern, und ich saßen auf bestickten Kissen auf dem Boden, und meine Großmutter brachte uns Tee in bunt bemalten Schalen. Im Gegensatz zu unserer Großmama, die uns immer freudig erwartete und umarmte, hatte mein Großvater etwas Düsteres; er schaute immer sehr streng unter seinen dicken buschigen Augenbrauen hervor. Dann zog er die Vorhänge zu und löschte alle Lichter – und die Reise in eine ferne und fremde Welt begann. Wundersame Pagoden leuchteten golden von der Wand, bunte Gebetsfahnen flatterten im Wind, Gebirgsketten rauschten wie ein tosendes Meer unter dem tiefblauen Himmel. Die Einheimischen mit ihren sonnenverbrannten Gesichtern zogen mit Packeseln und Zelten in Karawanen über das Hochland; sie trugen dicke Schaffelljacken, ihre Haare waren wild zerzaust. Von weißen Stupas, an denen steinige Pfade vorbeiführten, strahlten die allsehenden blauen Augen des Buddha zu uns ins Wohnzimmer. Mit braunroter Kalkfarbe bestrichene Mauern aus Manisteinen schienen wie aus dem Fels gewachsen. Dort, in der Einsamkeit des Himalaja, lebten die rot gewandeten tibetischen Mönche. Fasziniert lauschte ich den Worten meines Großvaters und träumte davon, einmal in diese ferne Welt des Himalaja auszuwandern.

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Ich war sechs Jahre alt, als wir von Chicago nach München zogen, wo meine Eltern ursprünglich herkamen. Unser neues Haus lag draußen auf dem Land in einem kleinen Dorf, eine halbe Stunde von der Landeshauptstadt entfernt. Vom Wohnzimmer aus sah man die Alpen am Horizont. Wir waren nicht unbedingt das, was man sich unter einer normalen Familie vorstellt, doch es sollten noch Jahre vergehen, bis ich diese Tatsache zu schätzen lernte.

Unser Insignium war ein selbst gebauter Schuppen mit einem himmelblauen Tor, der sich kühn an unsere deutsche Normgarage lehnte. Das himmelblaue Tor führte in die Welt meines Vaters – eine Welt des Chaos, wie meine Mutter sie nannte. Soweit ich mich erinnern kann, war der Schuppen immer der Ort, an dem ich meinem Vater ganz besonders nahe sein konnte. Er bildete den Ausgangspunkt für all unsere Abenteuer und bot uns immer einen Platz, an dem wir uns verstecken konnten, wenn wir in unserer Abenteuerlust übers Ziel hinausgeschossen waren.

Mein Vater war als Chefarzt mehrerer Kliniken in Süddeutschland unter der Woche selten zu Hause, aber an den Wochenenden übernahm er zu Hause das Kommando über uns Kinder, das im Wesentlichen aus spontanen Einfällen bestand. Mein Vater nannte dies immer »Operation Sonnenschein«. Die Einzige, die nicht daran teilnehmen musste, war meine Mutter. Es war ihr schwer verdienter freier Tag.

Der Schuppen, den wir stolz »unsere Garage« nannten, war in einer solchen »Operation Sonnenschein« entstanden. In wochenlanger geheimer Mission hatte mein Vater alles zusammengetragen, was wir dazu brauchten: eine Zementmaschine, Holzstangen, Sand, leere Farbeimer, schwarze Teerpappe und Werkzeuge aller Art. Binnen weniger Minuten hatte er uns begeistert, was immer seine Stärke war, und bei Einbruch der Dunkelheit, nach viel Streit, Gelächter, Schweiß und Tränen, hatte mein Bruder seine Design-Ideen durchgesetzt – vielleicht hatte er sich damals entschieden, Architekt zu werden – und unsere neue Garage stand, oder besser gesagt, lehnte an der alten. Ziel dieser Aktionen war es, unsere Mutter zu überraschen, was uns auch in den meisten Fällen gelang – ganz besonders jedoch in diesem.

Stolz und überglücklich präsentierten wir ihr abends unser architektonisches Meisterstück, das von vier in die Farbeimer zementierten Holzstangen gestützt wurde; es hatte ein schiefes Dach aus gewelltem Fiberglas, eine orangefarbene Regenrinne und war mit schwarzer Teerpappe verkleidet. Unsere Mutter, die einen ausgeprägten Sinn für Stil und Farben hatte – sie liebte marokkanische Kelims, indische Decken, Santa-Fe-Möbel und bunte Blumengärten –, fiel aus allen Wolken. Sie bezeichnete unser Meisterwerk als Slumhütte, womit sie bestimmt nicht ganz falsch lag; aber gerade das Improvisierte, das Chaotische und das Abenteuerliche waren es, was ich daran so liebte. Ungezählte Stunden konnte ich in der Welt meines Vaters zwischen alten Lederhandschuhen, Schaufeln und Handsägen, Zementsäcken und Rasenmähern, rostigen Farbtöpfen und Medizinjournalen verbringen, mit ihm zusammen Toaster reparieren, Ölwechsel machen und über Politik und die menschliche Psyche diskutieren.

Im Sommer weckte mein Vater uns manchmal am Sonntag schon im Morgengrauen. »Der Berg ruft«, sagte er freudig und fuhr mit uns in Richtung Alpen – einen Laib Brot, Salami, ein großes Stück Käse, Schokolade und ein paar Flaschen Apfelschorle im Rucksack. Er parkte das Auto am Fuß eines Berges, und dann wanderten wir im ersten Sonnenlicht hinauf. Die gemütlichen Wanderwege waren nie sein Fall, der direkte Weg schien ihm immer der beste. Wir folgten ihm durch die Wälder, kletterten steile Grashänge hinauf, stiegen über Zäune, jagten die Kühe über die Weiden und badeten in den Gebirgsbächen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals irgendeinen Gipfel erreicht hätten, aber das schien nicht wichtig – dort hätten wir ohnehin nur die Wanderer getroffen, die wir auf unseren eigenen Wegen so geflissentlich vermieden hatten. Wir schafften es grundsätzlich nie vor Anbruch der Dunkelheit zurück. »Ich hätte schwören können, dass wir das Auto hier geparkt haben«, lautete seine stehende Redewendung, bevor wir weiter durch die Nacht wanderten, wieder hinauf, durch dichtes Unterholz, einen steilen Abhang hinunter, vorbei an einem rauschenden Fluss, an den sich niemand erinnern konnte. Meine kleine Schwester fing dann an zu weinen und musste getragen werden. Die Schokolade war längst aufgegessen, doch wir hielten durch, auch wenn wir noch so müde und erschöpft waren. Immer siegte der Abenteuergeist meines Vaters und hielt uns bei der Stange. Mal waren wir auf einer geheimen Mission, mal auf Schatzsuche. Früher oder später sahen wir Lichter, ein Haus, in dem wir nach dem Weg fragen oder unsere Mutter anrufen konnten, damit sie kam, um uns zu retten.

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Ich machte mein Abitur und träumte von einem kreativen Beruf, der es mir ermöglichte, ferne Länder zu bereisen – am liebsten als Reporterin für National Geographic. Dass ich Moderedakteurin wurde, hatte ich einer Reihe von Zufällen zu verdanken. Als Schülerin hatte ich mit meiner besten Freundin zusammen manchmal für eine Mädchenzeitschrift Modell gestanden, und nach dem Abitur bewarb ich mich dort um ein Volontariat – es war die einzige Zeitschrift, bei der ich jemanden kannte. Ich bekam ein Volontariat in der Textredaktion, wo ich die Telefone bediente, die Post sortierte und Leserbriefe beantwortete. Als dort die Modeassistentin kündigte, wurde mir ihr Job angeboten, und ich nahm ihn an, obwohl mich Mode nicht sonderlich begeisterte. Interessant wurde es für mich erst, als ich im Auftrag der Zeitschrift mit auf Reisen durfte, um etwa Safari-Mode in Sanddünen und Blumenkleider im Sonnenuntergang am Strand zu fotografieren. Ich fand zunehmend Spaß an der Arbeit, lernte Kleidung zusammenzustellen, Farben und Accessoires zu koordinieren, Studios, Fotografen und Modelle zu buchen, Designerkleidung zu bestellen; bis spät in die Nacht schrieb ich an Modetexten. Wir arbeiteten fast rund um die Uhr und oft auch an den Wochenenden, aber ich liebte diese neue Welt.

Ein ganzes Jahr lang hielt ich durch; dann zog es mich unwiderstehlich nach New York, wo ich noch nie in meinem Leben gewesen war. Ich schickte Bewerbungen an dortige Zeitschriften und wartete ungeduldig auf Angebote, die nie kamen. Eine Freundin meiner Mutter arbeitete bei einer namhaften Modezeitschrift und besorgte mir eines Tages einen Termin beim Herausgeber. Nervös betrat ich eines Nachmittags sein gestyltes Büro. Er führte mich stolz durch sein internationales Imperium und zeigte mir die neuesten Ausgaben der Hochglanzmagazine aus aller Welt.

»Ich habe gehört, dass du nach New York gehen möchtest«, sagte er, und ich nickte begeistert. »Ich werde dich für drei Monate zu einer unserer Zeitschriften dort schicken, aber du musst mir versprechen, dass du dann zurückkommst und für ein neues Magazin arbeitest, das wir im Herbst herausbringen werden.«

Ich gab ihm das gewünschte Versprechen. Zwar schickte er mich dann nie nach New York, aber ich bekam eine Stelle bei dem neuen Magazin.

Mit Margret, der Modechefin, die mich unter ihre Fittiche nahm, flog ich zum ersten Mal zu Designer-Shows nach Paris und Mailand. Ihr Gefühl für Mode und ihr ausgefallener Stil inspirierten mich. Ihr ging es nicht nur darum, die neueste Mode auf den Hochglanzseiten zu präsentieren, um den Frauen zu diktieren, was sie anzuziehen hatten; sie wollte damit auch Anregungen geben und Abenteuer und Geschichten erzählen. Es waren Geschichten von Reisen in fremde Länder, wo die Menschen ihre landesüblichen Trachten trugen; manchmal unternahmen wir auch Zeitreisen in frühere Jahrhunderte. In ihrem Büro stapelten sich Fotobände und Bücher über den Schmuck der nubischen Stämme in Afrika, über die Inkas in Peru und die alten Maya-Tempel, über die großartigen Schlösser der Habsburger und die rauschenden Ballnächte in Wien. Nächtelang saßen wir in ihrem Büro und dachten uns Geschichten aus – von den Eskimos in Grönland bis zu den Bazaren in Marokko, von den tibetischen Nomaden bis zu den Gauchos in Argentinien. Wir ließen uns von jeder Kultur inspirieren. Dann verbrachte ich Tage damit, nach bestickten Wollröcken, silbern eingefasstem Türkisschmuck, roten Cowboystiefeln, Schaffelljacken und bunten Lederhemden zu fahnden. Es war wie einst die Schatzsuche unter Anleitung meines Vaters. Ich rief die Designer in Paris, Mailand und London an und bestellte all die extravaganten Kleider und Accessoires, die wir auf den Laufstegen gesehen hatten. Wir flogen nach Arizona und standen vor der Sonne auf, um in die Wüste zu fahren und im ersten Licht zu fotografieren. Mal flogen wir auf die Malediven, um balinesische Sarongs aufzunehmen, mal in ein Schloss nach Wien, wo wir hunderte von weißen Kerzen anzündeten und rosarote Seidenrosen auf schwarze Abendkleider drapierten, in denen sich die Models zu unsichtbarer Musik bewegten. In Simbabwe fuhr ich mit einem Team eine Woche lang durch die Wildnis, wo wir die einheimischen Stämme in ihren kleinen Dörfern besuchten und vor den Lehmhütten Modeaufnahmen machten. Ich kaufte auf dem Dorfmarkt Schmuck für die Models – meterlange Stränge aus bunten Glasperlen –, und bei Sonnenuntergang schauten wir den Elefanten zu, die am Wasserloch badeten, und den Affenfamilien, die sich kreischend durch die Bäume schwangen. Ich brachte eine holzgeschnitzte Giraffe mit in die Redaktion und avancierte offiziell zur Moderedakteurin.

Sosehr ich meinen Job auf Reisen auch liebte, sosehr verabscheute ich die oft von Intrigen und Machtkämpfen bestimmte Atmosphäre in der Redaktion. Ich fühlte mich einsam in München, wo ich all die Freunde vermisste, die ich auf den Reisen neu gewonnen hatte. So schwer es mir mitunter fiel, ständig neue Teams am Flughafen zu treffen, um eine Woche intensiv und kreativ mit ihnen zu arbeiten, so schwer fiel es mir am Ende, sie wieder zu verabschieden und vielleicht nie mehr wieder zu sehen. Auch hasste ich die abendlichen Cocktailparties für unsere Anzeigenkunden, wo wir die glamouröse Welt unseres Modemagazins repräsentieren mussten, mitsamt dem üblichen Smalltalk und natürlich entsprechend gewandet in modische Designerkleidung, zu der ich statt der »vorgeschriebenen« Highheels Turnschuhe trug. Manchmal fühlte ich mich wie in einem Haufen züngelnder Schlangen, die mir die Luft abschnürten.

Im Mai 1990 rief mich der Fotograf an, den ich zu Aufnahmen von Skimoden nach Saas Fee begleiten sollte.

»Kannst du Zelte und Schlafsäcke, Kochgeschirr und Seile für die Reise organisieren?«, fragte er mich. »Ich will, dass wir eine Nacht oben am Gletscher verbringen, damit wir die erste Morgensonne erwischen. Ich kenne den Gletscher gut, und wir können in den aufgebrochenen Eistürmen die Models beim Eisklettern fotografieren. Ich kenne auch eine exzellente Snowboarderin, die bereit wäre, von den Eistürmen zu springen. Das wird richtig gut«, erklärte er mir. Hannes war nicht nur Fotograf, sondern auch ein erfahrener Bergsteiger. Die gefällige Ski- und Après-Ski-Mode, die ich zusammengestellt hatte, landete wieder in der Kleiderkammer, und den Designern sagte ich adieu. Stattdessen rief ich Bergsteigerfirmen an, bestellte Klettergurte, Goretex-Hosen, dicke Daunenjacken, Eispickel, Gletscherzelte, Rucksäcke und Steigeisen. Es kostete mich einiges an Überredungskunst, der Redaktion klar zu machen, dass wir unbedingt ein Gletscherabenteuer in unserer Zeitschrift brauchten. Dafür musste ich jedoch hoch und heilig versprechen, dass wir nicht auf dem Gletscher übernachten würden. Margret, meine Modechefin, lachte nur.

»Letztes Mal, als ich mit Hannes gearbeitet habe, hat er die Models an der Eiger-Nordwand abgeseilt und dort fotografiert. Ich stand auf einem Felsvorsprung und mir war gottsjämmerlich schlecht, allein vom Zuschauen«, sagte sie.

Wir seilten uns an und traversierten den Gletscher bis zur Mitte der Eistürme. Die Sonne glitzerte auf dem Eis, und Hannes stieg auf einen der gläsernen Giganten, um von dort zu fotografieren. Das Allalinhorn thronte über uns, und weit unten konnte man das kleine Bergdorf und unser Hotel inmitten grüner Wiesen sehen. Am Spätnachmittag stellten wir unsere Zelte auf dem Gletscher auf und sahen gelassen zu, wie die letzte Gondel im Sonnenuntergang nach unten verschwand. Dann waren wir ganz allein. Hannes spannte eine lange Schnur mit bunten Gebetsfahnen um unser Camp. Sie seien aus Tibet und würden uns vor den Berggeistern beschützen, sagte er. Wir schmolzen Schnee über dem Gaskocher und kochten Tee und Suppe, während Hannes und sein Assistent eine Eiskletterroute für uns erstellten, wo wir im letzten Abendlicht herumkraxelten. Bis spät in die Nacht hinein saßen wir um den fauchenden Gaskocher, tranken Glühwein und lauschten Hannes’ Geschichten. »Vor vielen Jahren hab ich mal eine Tour hier gemacht, und in einer Nacht haben wir hier unter dem Allalinhorn unser Camp aufgeschlagen. Es war eine stürmische Nacht. Ich lag in meinem Zelt, der Wind pfiff, und ich hörte draußen Stimmen, die durch den Wind heulten. Ich öffnete mein Zelt und rief nach draußen, konnte in dem Sturm jedoch niemanden sehen. Ich bekam auch keine Antwort. Dann schien der Sturm die Stimmen fortzutragen, und ich wusste nicht mehr recht, ob ich sie mir nur eingebildet hatte«, erzählte er. Ich schüttelte mich und schenkte uns mehr Tee ein. Der aufkommende Wind trieb kleine Schneeflocken durch unser Camp. Hannes erzählte weiter:

»Am nächsten Morgen hatte ich das Ganze schon wieder vergessen, da berichtete einer meiner Freunde von den nächtlichen Stimmen, die er ebenfalls gehört hatte. Dann erzählte er die Geschichte der verlorenen Seelen vom Allalinhorn, die nachts im Wind heulen. Vor vielen Jahrzehnten war einmal eine Gruppe von Italienern auf das Allalinhorn gestiegen. Sie hatten ihr Camp im Morgengrauen verlassen, und die Einheimischen hatten beobachtet, wie die Bergsteiger nahe dem Gipfel im Wolkennebel verschwanden. Sie warteten ungeduldig auf deren Rückkehr, aber am Berg tobte ein Sturm. Am nächsten Tag stiegen einige Bergsteiger auf, um nach den Vermissten zu suchen. Sie fanden Eispickel und sorgfältig aufgerollte Seile am Gipfel, aber keine Spur von den Italienern. Jetzt sagen sie, dass ihre Seelen den Berg heimsuchen und man ihre verzweifelten Schreie nachts im Wind hört.«

Die Schneewolken hatten sich aufgelöst, und der Himmel war von Sternen übersät. Die Gebetsfahnen flatterten im Wind; sie würden uns vor den Geistern des Bergs beschützen.

Einige Tage später fuhren wir ins Rhônetal und stiegen in einem alten Grandhotel auf dem Pass ab. Die Daunendecken türmten sich auf den Betten, und nachts brachte der Hotelbesitzer jedem eine Schüssel heißes Wasser zum Waschen. Der hoch gelegene Pass war nur in den Sommermonaten geöffnet, und wir waren die einzigen Gäste. Der Gletscherfluss rauschte in sanften Wellen ins Tal hinunter, und seine aufschäumenden Fluten sahen aus, als seien sie mitten in einem Sturm zu Eis erstarrt. Die mächtigen Berge umgaben uns wie ein Amphitheater. Majestätisch ragten die Felsen und ihre weißen Häupter in den Himmel und strahlten eine Ruhe aus, die tief in mich drang. Die Bergwelt hatte mich während dieser kurzen Zeit bereits in ihren Bann gezogen. Ich stand lange auf dem Balkon und schaute in die Nacht. Tausend Sterne glitzerten am dunklen Firmament, und der Mond leuchtete bleich auf den Schneefeldern.

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Im Frühjahr 1991 wurde unsere Zeitschrift eingestellt, und eine Woche später zog ich endlich nach New York. Ich begann als freie Modestylistin für Werbekampagnen, Kataloge und Modemagazine zu arbeiten. Meine Eltern legten mir nahe zu studieren, und so schrieb ich mich an der Universität von New York für die Studiengänge Philosophie, Marketing und Film ein. New York war aufregend, und im Großstadttrubel vergaß ich die Bergwelt schnell. Ich arbeitete tagsüber als Stylistin und las abends Homer und Shakespeare, und diskutierte Kierkegaards Glauben an die Kraft des Absurden. Als ich während meines Abschlussexamens gefragt wurde, welche philosophische Idee mich am stärksten beeinflusst hatte, antwortete ich ohne zu zögern, »Plato’s Höhlengleichnis«. Von allen Ideen hat mich die Leiter, die aus der Höhle hinaus, hinauf zur Sonne und zum Licht der Weisheit führt, am meisten fasziniert.

Hannes hatte uns am letzten Tag unserer Reise durch die Bergwelt zum Klettern mitgenommen, und nun, Jahre später, betrat ich mitten in New York ein Sportgeschäft und kaufte mir einen Klettergurt und Kletterschuhe. Ein paar Straßenblocks entfernt hatte ein Fitnessstudio mit einer spektakulären Kletterwand eröffnet. Ich überredete einen meiner Freunde, mit mir zusammen dem Club beizutreten, und wir wurden begeisterte Kletterer. Unser Ziel war ein vier Meter langer Überhang, den man an großen Haltegriffen traversieren musste. Im Sommer fuhren wir upstate New York zu den Shawangunks-Klippen, die aus zirka hundert Meter hohen Felswänden bestehen – ein beliebter Treffpunkt von Freeclimbern. Die von weiten Feldern und einer hügeligen Landschaft umgebenen Felsklippen ließen mich mein Heimweh nach dem Alpenvorland, nach meiner bayrischen Heimat schnell vergessen, auch wenn es dort keine richtigen Berge gab. Ich fand viele neue Freunde, aber die meisten von ihnen waren noch nie beim Bergsteigen gewesen. Freiklettern und Bergsteigen sind doch zwei ganz verschiedene Welten.

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Im Sommer 1996 meldete ich mich für die Expedition auf den Aconcagua an. Der Aconcagua ist 6960 Meter hoch und liegt in Argentinien. Er ist einer der »Seven Summits« der Welt, der höchste Berg des amerikanischen Doppelkontinents, und er sollte das Ziel meiner ersten wahrhaftigen Bergexpedition werden. Bean, der Leiter der Expedition, den mir meine in Colorado lebende Schwester Madeleine empfohlen hatte, erstellte mir einen Trainingsplan. Ich sollte anfangen zu joggen und versuchen, in den folgenden zwei Monaten dreimal pro Woche auf acht Kilometer zu kommen. Er schlug mir auch vor, mit Gewichten im Rucksack auf das Stepgerät zu steigen.

»Fang mit fünf Minuten und fünf Kilo an und versuch langsam auf fünfundvierzig Minuten und zehn Kilo zu kommen. Das stärkt deine Beinmuskulatur und deinen Rücken«, riet er mir.

Außerdem faxte er mir eine Ausrüstungsliste: Daunenjacke, Goretex-Jacke und -Hose, Eispickel, Plastikstiefel und Steigeisen, Fleecepullover und Thermowäsche, einen auf minus dreißig Grad ausgelegten Schlafsack, Daunenfäustlinge … Als meine Schwester, eine professionelle, in der Weltrangliste aufgeführte Snowboarderin, nach New York kam, um ihre Sponsoren zu treffen, begleitete sie mich in einen Bergsteigerladen downtown New York. Wir testeten die Schlafsäcke und legten uns mit ihnen in das kleine Gletscherzelt, das im Laden aufgebaut war, nahmen die Plastikstiefel unter die Lupe und probierten verschiedene Steigeisen aus. Die Fachverkäufer erklärten uns ausführlich die Vorteile des längeren gegenüber des kürzeren Eispickels, während ich tunlichst darum bemüht war, die Einzelteile meiner Ausrüstung farblich aufeinander abzustimmen. Als wir dann jedoch zu den Plastikstiefeln kamen, gab ich schließlich entmutigt auf und entschied mich für die, die am wärmsten und bequemsten waren. Madeleine sagte immer wieder:

»Ich kann nicht glauben, dass du wirklich zum Bergsteigen willst! Du weißt schon, dass du deine Pradastiefel da nicht mitnehmen kannst.«

Nachts schlief ich dann in meinem neuen Schlafsack auf der dünnen Schaumstoffmatte am Boden. Zum Frühstück wärmten wir uns eines der alpinen Fertigmenüs auf und aßen es direkt aus der Plastikverpackung.

Meine Eltern waren schockiert, als sie von meinen Plänen erfuhren. Dann traf ich jedoch, als ich in Saas Fee für eine Fotokampagne des Schweizer Touristikverbands tätig war, den alten Bergführer meiner Großeltern, Cäsar Zurbriggen. Meine Mutter war mit ihren Eltern und ihm oft beim Bergsteigen gewesen und hatte mich gebeten, ihn zu besuchen. Er begrüßte mich stürmisch, obwohl wir uns gar nicht kannten, und im Verlauf unseres Gesprächs stellte sich heraus, dass auch er im Januar zum Bergsteigen in die Anden reisen wollte. 1897 hatte sein Großonkel als erster den Aconcagua bestiegen, und nun wollte Cäsar mit seinen Kindern das hundertjährige Jubiläum der Erstbesteigung auf dem Gipfel des Aconcagua begehen. Der Zufall wollte es, dass wir beide am selben Tag, dem 2. Januar 1997, im Basislager eintreffen sollten. Plötzlich war meine Idee nicht mehr so verrückt, und meine Mutter war beruhigt, weil Cäsar schon auf mich aufpassen würde. Sie vertraute ihm; schließlich hatte er vor vielen Jahren ihren Vater aus einer Gletscherspalte gerettet. Sie erschauderte, als sie mir die Geschichte erzählte.

»Ich werde nie vergessen, wie blau gefroren sein Gesicht war, als Cäsar ihn herauszog. Er hatte sich nichts gebrochen, aber er zitterte am ganzen Leib, und der blanke Schrecken flackerte in seinen Augen, wie ich es noch nie zuvor bei irgendjemandem gesehen habe. Wir waren nicht angeseilt über ein weites Schneefeld gewandert – mein Vater, meine Freundin und ich –, als er plötzlich vor unseren Augen in der Tiefe verschwand. Er brach mit einem herzzerreißenden Schrei durch den Schnee und war einfach verschwunden. Wir waren wie gelähmt und wagten es nicht, uns auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Das Seil und die Eispickel befanden sich in seinem Rucksack – tief unten in der Gletscherspalte. Er schrie um Hilfe, aber wir konnten nichts für ihn tun. Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt wie damals. Dann kam Cäsar, unser Retter in der Not. Er war so böse mit meinem Vater, wütend, dass er uns nicht ans Seil genommen hatte, wie er es ihm hundertmal eingeschärft hatte. Er beugte sich über die Spalte und rief hinunter: ›Hast du den Herrgott getroffen, Wolfgang? Und hat er dir gesagt, wie unverantwortlich du bist?‹ Cäsar hatte keinen Funken Mitleid mit meinem Vater, der in der Tiefe wimmerte. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so mit meinem Vater reden hören. Es war eine zutiefst demütigende Erfahrung für ihn«, sagte meine Mutter. Es war ihre letzte Bergtour gewesen.

Die »routa normal« auf dem Aconcagua wird von vielen Bergsteigern als eine leichte Bergwanderung beschrieben, aber in den Büchern, die ich auf dem Stepgerät schwitzend las, stand auch zu lesen, dass der Aconcagua aufgrund seiner Lage weit südlich des Äquators besonders berüchtigt sei für häufig aufkommende Stürme und sehr kalte Temperaturen; auch die Auswirkung der Höhe sei dort extrem. Gefürchtet werden vor allem die plötzlich auftretenden weißen Winde, die »vientos blancos«, die den Bergsteiger in eisige Wolkenfetzen hüllen und ihm die Sinne verwirren.

Unsere Gruppe traf sich in Santiago de Chile, und wir fuhren mit dem Bus in das kleine Dorf Puente del Inca in Argentinien. Dort wurde unser Expeditionsgepäck auf Mulis verladen, und wir wanderten mit unseren Rucksäcken hinauf in das Horocones-Tal. Unsere Expeditionsleiter, Bean und Jon, waren jung und noch unerfahren im Führen einer kommerziellen Gruppe, aber sie bemühten sich sehr, zumal ich damals überhaupt noch keine Bergerfahrung hatte. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem wir in unserem ersten Camp ankamen. Wir hatten unsere Zelte in den Grasmatten neben dem Fluss aufgestellt, und ich fragte Bean, wo denn die Toilette sei. Er sah mich ungläubig an und zeigte dann auf einen Felsen. »Weißt du, der Felsen da drüben schaut mir so aus, als wäre es genau der richtige Platz für dich. Hier hast du einen runden Stein, den kannst du zum Abwischen benutzen«, sagte er und reichte mir einen Stein.

Ich nickte so gelassen wie möglich, obwohl mir natürlich auf der Stelle klar war, wie lächerlich ich mich soeben gemacht hatte. Tanja, eine Ärztin aus New Mexico, war meine Zeltgefährtin. Sie war sehr verständig und weihte mich geduldig in die Bedingungen im Hochgebirge ein. Leicht war es für mich trotzdem nicht; vor allem die Höhe machte mir anfangs schwer zu schaffen. Ich litt unter Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit und konnte nachts nicht schlafen. Tanja erklärte mir, dass der Körper sich langsam an die Höhe gewöhnen würde und ich Geduld haben müsse. Sie gab mir Aspirin und machte mir in den schwersten Stunden Mut.

Zwei Tage lang wanderten wir durch das Horocones-Tal, eine weite Sand- und Steinwüste, die zu beiden Seiten von Felswänden und steilen Hügeln umschlossen ist. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass jemand das Wasser abgelassen hätte und wir über Meeresboden gingen. Hin und wieder tauchten ein paar Gauchos mit schwarzen Sombreros auf, die mit bunten Gepäckstücken beladene Mulis führten. Wie Nomaden zogen sie an uns vorbei und verschwanden wieder in der Ferne. Die große Felspyramide des Aconcagua leuchtete tiefrot im Sonnenuntergang, als wir im Basislager auf einer Höhe von 4200 Metern ankamen. Mehrere Bergsteigergruppen hatten sich bereits dort eingerichtet; über fünfzig bunte Zelte standen wie Wüstenblumen im Geröll.

Der Winter war sehr trocken gewesen; es lag fast kein Schnee auf den rötlichen Felsflanken des Berges. Es dauerte nicht lange, bis auch ich mich im Basislager heimisch fühlte, und ich war überrascht, wie wenig ich brauchte, um glücklich zu sein. Tanja und ich stellten unser Zelt neben dem kleinen Fluss auf und richteten es gemütlich ein. Cäsar Zurbriggen und seine Kinder hatten ihr Lager direkt neben uns. Wir spannten Wäscheleinen durchs Zelt und legten eine kleine Vorratskammer mit Keksen und Süßigkeiten an. Nachmittags holten wir Wasser vom Fluss und erhitzten es auf unserem kleinen Gaskocher, um unsere Haare damit zu waschen. Am schönsten waren die Nächte: Nie zuvor hatte ich so viele Sterne am Himmel leuchten sehen. Stundenlang lagen wir im offenen Zelt und zählten die Sternschnuppen.

Meine erste ernsthafte Begegnung mit der Höhenkrankheit machte ich auf etwa 5000 Metern. Ich setzte mich ins Geröll und weigerte mich stur, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Unser Camp 1, Nido de Condores, lag jedoch noch 400 Meter höher. Mir war hundeübel und ich hatte rasende Kopfschmerzen. Ich verlangte von unserem Bergführer, sich vor mir niederzuknien und mit erhobener Hand zu schwören, dass ich nie wieder etwas essen müsste. Das tat er auch – wohl, weil ihm die seltsamen Auswirkungen der Höhenkrankheit zur Genüge bekannt waren – bevor er mich ins Basislager zurückbrachte. Cäsar wurde gerufen und nahm mich unter seine Fittiche.

»Dumusst es langsamer angehen und deinem Körper Zeit lassen, sich zwischendurch zu erholen. Du darfst immer nur so schnell gehen, dass du noch bequem durch die Nase atmen kannst. Dein Atmen bestimmt den Rhythmus in der dünnen Luft. Alle halbe Stunde machst du eine kleine Pause, trinkst eine Tasse Tee und isst ein Stück Schokolade; das vertreibt die Kopfschmerzen. Jeder Schritt zählt, auch wenn es dir unendlich langsam vorkommt. Schau dich um und genieß die Berglandschaft, fühl den Wind und lass dich von ihm nach oben tragen. Hör auf einen alten Bergfex wie mich«, riet er mir.

Ein paar Tage später wanderte ich mit ihm wieder hinauf und folgte seinen Schritten im Schneckentempo. Gerade als mich die Kräfte zu verlassen drohten, verließ Cäsar den ausgetretenen Pfad und führte mich auf ein flacheres Geröllfeld.

»Komm, wir nehmen die Abkürzung über das Sternenfeld«, sagte er und bückte sich, um ein paar Steine aufzuheben. Er drückte mir einen kleinen Kristall in die Hand. »Schau nur, wie er leuchtet.«

Der milchige Stein war kantig geschliffen, und die Sonnenstrahlen schienen durch ihn hindurchzutanzen. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass tausende dieser kleinen Kristalle aus dem weiten Geröllfeld blitzten wie die Sterne der Milchstraße. In meiner Begeisterung vergaß ich die Anstrengungen der Wanderung und schaffte es leicht zum Camp 1.