Ines Geipel

Generation Mauer

Ein Porträt

Klett-Cotta

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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

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© Harald Hauswald/OSTKREUZ

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98246-6

E-Book: 978-3-608-10669-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Vorwort

Generation Mauer, die Kriegsenkel des Ostens oder die ostdeutschen Babyboomer: Wer sind die in den sechziger Jahren hinter der Mauer Geborenen? Von der Geschichte Privilegierte, Davongekommene, letzte Involvierte oder einfach nur Glückliche, weil sie wissen, dass sie mal für ein ganz anderes Leben vorgesehen waren? Eine formlose, mit 1961 ins System eingenähte Stottergeneration, die durch 1989 ihren historischen Gordischen Knoten in die Hand bekam und was damit machte? Eine Generation, über die etliche ihrer Kinder sagen, in den Eltern sei die DDR überhaupt erst zu sich selbst gekommen: ohne Ideale, spießig, gewalttätig, zynisch? Also, wer sind wir? Eine volle Biografie vor 1989, eine volle Biografie nach 1989 und dazu das Jahr 1989 selbst, als Zentrum, als Zeitschnitt, als Dreh- und Angelpunkt. Reicht das aus für eine Generationserzählung?

Das Buch Generation Mauer. Ein Porträt erschien 2014. Es sollte ein Werkstattbericht sein, eine Selbstvergewisserung. Dabei ging es ausdrücklich nicht um ein Generationslabel, sondern um konkrete Erfahrungen, um unsere innere Zeichnung, um einen Versuch. Die Rundumerzählung einer Generation sollte es nicht werden, konnte es auch nicht. Wer wir sind? Eine Generation, die, wie der Dramatiker Heiner Müller sagte, »ohne Vaterland und ohne Mutterland« aufgewachsen ist, eine, die heftige Erfahrungen in der DDR gemacht hat, die die Physis und die Werte des vergangenen Jahrhunderts in sich trägt, die aber auch im Herbst 1989 Geschichte als Wunder erleben durfte. Ist sie angekommen, bei sich, in der Zeit, in den eigenen Lebensentwürfen?

Die Kinder der Teilung waren nicht nur die, die dem großen Aufbruchssommer 1989 den nötigen Drive gegeben haben, da viele von ihnen über Ungarn oder Tschechien geflohen sind, sie haben nach dem Ende der DDR-Diktatur auch wesentlich zur Aufklärung des Regimes beigetragen. Sie sind insofern auch eine Generation der Rekonstruierer, Vergewisserer, Rechercheure, Entschweiger, Herausschäler, oft genug auch der Rückkehrer.

So hatte ich es 2014 geschrieben. Im Kern, denke ich, hat das Bestand. Deshalb bleibt das Buch im Wesentlichen auch das Buch. Aber auf 2014 folgte 2015 und damit der große Flüchtlingssommer. Und mit ihm haben sich die politischen Koordinaten Deutschlands stark verändert, auch unsere Generation ist sichtbar eine andere geworden. Fünf Jahre klingen wenig, aber zwischen 2015 und 2020 liegt ein Riss. Er ist nicht nur hart, er kann, er darf auch nicht wegmoderiert werden. Insofern hatte das Buch einen deutlichen Nachtrag nötig. In ihm versuche ich, unsere Generation als Symptom für den Zustand des Landes zu lesen. Nicht umsonst sind die Kernwähler der AfD die männlichen Kriegsenkel des Ostens. Wie kommt das? Was für eine Auseinandersetzung findet da statt? Nichts bleibt in der Vergangenheit zurück. Wo also kommen wir her? Was sind die Ursachen für das neue, irritierende Wutgesicht unserer Generation? Wieso wollten die Mauerkinder das große Kollektiv DDR um jeden Preis verlassen, um sich heute in einem forcierten Wir neu beatmen zu lassen? Was verzahnt sich in dieser Neuschreibung? Wer macht, wer erzählt, wer schreibt?

»Wir sind die letzte Generation, die eine echte, ich meine rationale und tief emotionale, Verbindung zum geteilten Deutschland und zum vergangenen Jahrhundert besitzt«, hatte die Filmemacherin Carla Hicks 2014 über die Generation Mauer gesagt. Der Schauspieler Tobias Langhoff formulierte es so: »Wir haben im Grunde zwei Leben, eins vor 1989 und eins danach. Wir sind so reich.« – »Wir sind die privilegierteste Generation«, sagte der Maler Moritz Götze, »wir kommen aus einer absurden, interessanten Erlebniswelt. Und was heute toll an der Welt ist, das können wir nutzen.« Die Journalistin Sabine Adler: »Unsere Generation hat immerzu lernen dürfen.« Die Lehrerin Gerit Decke: »Wir haben die Hoffnungslosigkeit unserer Eltern abgekriegt, ihre Mauer-Paralyse.« Und »vielleicht«, meint Literaturhaus-Chef Hauke Hückstädt, »ist es das Entscheidende und Verbindende für unsere Jahrgänge, dass wir uns Ende der Achtziger gerade arrangiert hatten, erwachsen zu werden, als im selben Moment eine ganze Welt dazukam.«

Stimmen diese Sätze noch? Was sagen die Protagonisten des Buches heute dazu? Drei Akzente schienen mir nach unseren Gesprächen noch einmal anders gewichtet. Gerit Decke wollte zuallererst übers Verschwinden sprechen: »Über das, was Diktaturen wesenseigen ist, da sie vor nichts Halt machen. Mir geht es um die Lüge, den Hass, die Gewalt und wie das die Seelen besetzt. Das ist unser Thema. Das war es in unserem Diktaturleben und ist es heute wieder. Wie diese zerstörerische, alte Kraft die Freiheit zum Verschwinden bringt und das Wunder von 1989. Genau das haben die globalen Diktaturen jetzt vor.«

Sabine Adler betont das Ankommen, das nochmal andere Ankommen nach 30 Jahren Mauerfall. »Ich schätze, in welcher Stadt ich lebe, in welchem Land und was mir als Journalistin möglich ist.« Ihre »Arbeit an den Konflikten«, wie sie es nennt, ist dezidierter, schärfer, fordernder geworden. Seit drei Jahren arbeitet sie in einem Reporterpool des Deutschlandfunks. »Es geht nicht um Schlagworte, ums Segeln an der Oberfläche«, sagt sie, »es geht um einen Mehrwert an Hintergrund und um eigene Geschichten.«

Hauke Hückstädt ist nach wie vor Leiter des Literaturhauses in Frankfurt am Main, das Jahr um Jahr erfolgreicher läuft. Wie immer hat er viel vor: »Literatur in Einfacher Sprache« oder die Beratung von Autorinnen und Autoren in ihrer Aufführungspraxis. Er selbst scheint noch feinnerviger, genauer, gespannter und sucht vor allem im Privaten, Intimen. »Jede Familie hat Sperrgebiete, auf die eine oder andere Weise. Lauerstellung auf Jahre. Kein Angriff, keine Konfliktkultur«, sagt er. »Die Mauer ist ewig für unsere Familie.«

Ines Geipel, Berlin im Januar 2020

I. Goldfinger

Zwei halbe Jahrhunderte feiern

Blendwerke. Shirley Bassey ist schon von weitem zu hören. Noch dazu hängen jede Menge großer Zettel in den Straßenbäumen von Mariendorf, im Westen von Berlin. Sie informieren die Anwohner, dass es am Abend laut werden könne. Es gebe ein großes Fest zu feiern, man bitte um Verständnis. Am Eingang des Partygartens steht rechts und links ein überlebensgroßer James Bond in schwarzem Pappmaché und mit durchgezogener Walther PPK. Die Gäste kommen in Scharen und im Kostüm. Das Motto des Abends? Die sechziger Jahre. Denn der Jubilar, ein renommierter ARD-Fernsehjournalist, feiert heute seinen Fünfzigsten.

Der Gastgeber begrüßt überschwenglich. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein zu groß geratener Erich Honecker, mit Schlapphut, feist ausgestelltem Schmerbauch, prekären kurzen Hosen, langen Wollsocken, dunkelbraunen DDR-Opa-Sandalen und der legendär gewordenen Seltsambrille des ehemaligen Ost-Chefs. »Ich bin heute mal Erich Honecker«, grinst das Geburtstagskind und drückt die soeben ankommende Mary Poppins fest an sich. Hinter ihr zwei Bond-Girls, zwei Ostberliner Volkspolizisten und Major Tom in seinem silberfarbenen Raumanzug. Neben Brigitte Bardot trudeln der politische Doppelkörper John F. Kennedy und Jackie Kennedy ein. Auch Nana Mouskouri darf nicht fehlen. Und natürlich feiern in dieser Nacht noch allerhand Rocklegenden ihre Inkarnation. Bunte Schlaghosen, Latexröcke, Karohemden, große Blumenmuster – alles, was bunt, schräg, schrill ist, hat stattzufinden. Jeder darf, irgendwie, irgendwas, nur cool muss es sein. In großen Wannen liegt gut gekühlt und übereinander gestapelt Sekt und Wein. Links vom veritablen Swimmingpool spielt eine Swingband, natürlich live. 20 Musiker. Der Soundtrack des Abends: »Goldfinger«.

Ein Abend im Bond-Fieber und damit die Vorlage für mehr als ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte. In ihm darf der Held ohne Pause das Skrupellose jagen und nebenbei die Welt retten, Shirley Eaton darf einen goldenen Slip tragen und Gert Fröbe als Superschurke allerhand markige Sprüche ablassen. James Bond der Allrounder, der Mann für alles, was außerhalb des Normalen existiert: harte Action, Skorpione, giftige Spinnen und eine gehörige Portion Radioaktives, üppige Bikiniamazonen, superschicke Hotels, steile Schlitten, teure Uhren. Das Ganze tänzelnd ausgespielt und mit gut getimter Ironie. James Bond als wandelbare und krisenfeste Imaginationsmaschine, als eine Traumvorlage, die der Welt klarzumachen weiß, wie man mit dem Bösen in ihr umzugehen hat.

Auf einem der hinteren Partytische liegt etwas verloren das Fotoalbum des Jubilars. Es erzählt ein halbes Jahrhundert privates Westberlin, das von Beginn an mit dem Politischen parallel geht: Der Gefeierte war gerade mal zwei Wochen alt, als John F. Kennedy am 26.6.​1963 – etwa acht Kilometer Luftlinie von der Wiege im Mariendorfer Einfamilienhaus entfernt – vor dem Rathaus Schöneberg seine große Rede auf die Freiheit hielt: »Sie leben auf einer verteidigten Insel der Freiheit. Aber Ihr Leben ist mit dem des Festlandes verbunden, und deshalb fordere ich Sie auf, den Blick über die Gefahren des Heute hinweg auf die Hoffnung des Morgen zu richten, über die Freiheit dieser Stadt Berlin und über die Freiheit Ihres Landes hinweg auf den Vormarsch der Freiheit überall in der Welt, über die Mauer hinweg auf den Tag des Friedens in Gerechtigkeit … Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.«

John F. Kennedy: das globale Leuchtmittel der Nachkriegszeit. Jung, relaxt, modern, gutaussehend und natürlich mit einer schönen, reichen, frankophonen Frau samt seinen netten Kindern am Strand spielend, später im Boot weit hinaus in die Zukunft segelnd, gern weit weg von aller Realität. Sein Slogan vom stylischen »Mann mit Geist«, die prosperierenden Nachkriegsjahre und seine Inselidee von der Freiheit verschmolzen in diesem Bild zu einem schillernden Amalgam des Westens, das die Generation der in den sechziger Jahren im Westen Geborenen nachhaltig prägte.

Keimphasen. Ich spreche noch gern über »Goldfinger«, Radioaktives, den tragischen Kennedy-Clan und die Keimphasen der Sechziger-Generationen in Ost und West, über ihre Ähnlichkeiten und Differenzen. Genau genommen spreche ich seit geraumer Zeit nur noch darüber. Das hat vermutlich mit den vielen 50-Jahre-Feiern zu tun, auf die ich seit ein paar Jahren eingeladen werde, und mit den vielen, die in den nächsten Jahren noch kommen werden. Sicher, es gibt mittlerweile allerhand Kinderarten in Deutschland: Vorkriegskinder, Kriegskinder, Nachkriegskinder, Aufbaukinder, Zonenkinder, Einheitskinder, sogar Eisenkinder gibt es. Es gibt die Generation Golf, die Generation Ally, die Generation Praktikum, die Achtundsechziger, die Babyboomer, na und so weiter. Aber wo sind wir eigentlich geblieben, ich meine, die Generation, die in den sechziger Jahren hinter der Mauer aufgewachsen ist?

Soziologen wie Thomas Ahbe und Rainer Gries haben herausgefunden, dass wir in dem großen deutschen Generationenwald als die Glücklichen angesehen werden. Und zwar deshalb, weil wir zum einen die DDR pragmatisch und hedonistisch über uns ergehen lassen konnten, da wir mit dem System nichts mehr am Hut hatten. Weil wir zum zweiten die Revolution 1989 zum biografisch besten Zeitpunkt erlebten. Und weil wir zum dritten nach 1989 einen zweiten Studien- oder Lehrabschluss nach westlichen Standards absolviert haben und uns deshalb mühelos ins neue Deutschland integrieren konnten. Drei Gründe, um glücklich zu sein. Aber wenn das so ist, warum sind wir dann so seltsam unerzählt geblieben? Lohnt es sich nicht, über so viel Glück zu schreiben? Oder stimmt mit unserem unerhörten Jahrhundertglück etwas nicht?

Über Dinge wie diese rede ich am liebsten mit dem Mann, mit dem ich seit mehr als zehn Jahren lebe. Er ist Historiker und hat über radikale Jugend promoviert. Sein elterliches Haus steht in Rodenkirchen, in einem der Nobelvororte von Köln. Die Kinderbilder aus Mariendorf und seine ähneln sich. Das meint nicht so sehr das Interieur, sondern die spezielle Energie der beiden Jungs, ihr Unruhesystem, das die Fotos fast zu sprengen scheint. Es sind Kinder, die unbedingt raus wollen aus dem Bild, die jedes Spielzeug hinter sich lassen, auf keiner Decke sitzen bleiben, die ungebunden und offenkundig kaum zu bändigen sind, als wäre von vornherein alles zu piefig, schlichtweg zu eng. Sie wachsen schnell, wie schmale, schräge Türme in die Luft, und sehen dabei dennoch seltsam verspannt aus. Wie zerdrückt und übersteuert zugleich.

Wenn der Mann, mit dem ich lebe, über seine Kindheit erzählt, erzählt er sich in Aktion. Dann rollt er silberne Serviettenringe über den Tisch, um auf sich aufmerksam zu machen, dreht im Keller des nigelnagelneuen Einfamilienhauses in Rodenkirchen den Schlauch auf, um auf sich aufmerksam zu machen, schreibt die Wörter, wie er will, um auf sich aufmerksam zu machen, bleibt in der Schule sitzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit neun sitzt er in Djerba auf einem Kamel, mit zehn bekommt er von seinem Skilehrer einen Preis, mit elf verbringt er den Sommer auf einem Ponyhof im Norden, mit zwölf lässt er sich die Haare lang wachsen und beginnt mit Rudern. Es gibt ein grünstichiges Foto, da sitzt ein sehr zarter, sehr trotziger Junge mit deftiger Matte allein in seinem Boot. Das Wasser ist grau, er stiert gedankenverloren auf das Kräuseln der Wellen, die Kniestrümpfe sind weit nach unten gerutscht. Sein Körper sieht aus, als ob er frieren würde. Und sein Blick, als wüsste er um einiges mehr, als in dem Alter veranschlagt wird. Rudern heißt Eleganz, Rhythmus, Balance und unendlich rackern, jeden Tag neu. Rudern hat etwas mit der Lust zu tun, sich in seinen Schmerz hineinzusteigern und es bei all dem noch edel aussehen zu lassen. Es ist ein schöner, ein exklusiver Sport, heißt es. Ein Sport der nackten Leistung, bei dem die Fans entfernt auf der Tribüne hocken und mit dem Fernglas das Gleiten der Boote und den ruhigen Schlag bewundern. Die Einsamkeit, den Schmerz, die brennenden Sehnsüchte des Ruderers entdeckt das Fernglas nicht.

Profile und Zunder. Der Junge aus Rodenkirchen wird mit 14 Deutscher Meister im Doppelvierer. Der Junge aus Mariendorf wird mit 14 Deutscher Meister im Rückenschwimmen. Schwimmen, heißt es, ist ein schöner Sport, die pure Harmonie mit sich und dem Wasser. Es ist die Zeit, in der die Schulklassen in Cliquen zerfallen. Man sieht es auf dem Pausenhof in Rodenkirchen. In der einen Ecke stehen die Freaks. Jungs mit langen Haaren, die sich »Drum« oder »Samson« drehen, Neil Young hören, auf der Jacke den gelben Aufkleber »Stoppt Atomkraft!« tragen, immer einen Band Marcuse dabei haben, in Kellern ein ziemlich gutes Schlagzeug spielen und ansonsten auf Partys cool Hasch rumreichen. Da sind die Spießer, die vor der ersten Stunde ihren Opel Admiral auf dem Lehrerparkplatz abstellen, die Bürotasche vom Rücksitz nehmen, um dann im dunklen Anzug und mit geradem Rücken konzentriert den Schultag anzugehen. Da ist die harte Szene, die Mofa-Frisierer, die Bastler und Fachsimpler, die die Vergaser tauschen und nach Holland fahren, um sich den großen Zylinder zu besorgen. Da sind die Sportler, die Abwesenden, die viel auf Wettkämpfe müssen und deshalb in der Schulhierarchie in dem Sinne nicht vorkommen. Da sind die von der Katholischen Jugend, die man nicht so richtig auf einen Nenner bringt, die aber das Schulklima mitbestimmen. Immerhin geht es um Gott. Und da sind die Gruppenlosen, Profillosen, Braven, die von Anfang an abtauchen und all die Jahre über unbemerkt bleiben, damit sie in ihrem späteren Leben die Dinge nur umso besser auf die Reihe kriegen.

Jede Clique ist Schutz und Lebensentwurf zugleich. Die Hierarchien sind klar abgegrenzt, auch die selbstgesetzten Leistungskriterien. »Das mit der Leistung ist extrem gewesen«, weiß der Schwimmer aus Mariendorf, und jettet heute in Bond-Manier als investigativer Journalist um die Welt, um das Korrupte, Skrupellose, Böse in ihr aufzuspüren. Der Mann, mit dem ich lebe, erzählt von Bonanza, Flipper und Dactari, alles Fernsehserien seiner Jugend aus dem samstäglichen Vorabendprogramm. Bonanza lief zwischen 1962 und 1972, das Original von Flipper zwischen 1964 und 1967, Dactari ab 1969. Es waren Longseller, die Halt, Beständigkeit und emotionale Geborgenheit innerhalb einer geschlossenen Megaerzählung vorgeben. Der reine Familienersatz und bei Lichte besehen die Geschichte einer langen, inneren Ortlosigkeit, die sich doch ein bisschen anders anhört als die bisherigen Berichte der leistungsgewissen Babyboomer, der Generation von Guido Westerwelle, Joachim Löw, Ulla Kock am Brinck, Jakob Augstein, Lothar Matthäus, Hape Kerkeling und Anke Engelke, die aufs Machen, auf Erfolg geeicht zu sein scheinen. »Das oberste Prinzip hieß immer Coolness«, sagt der Mann aus Mariendorf. »Fassade, Ironie, Elitebewusstsein und feines Understatement gehörten schon früh zur Spielkultur unserer Generation«, erklärt der Mann aus Rodenkirchen. »Das braucht, ehe man bei sich ankommt.«

In der Bornholmer. Natürlich werden auch in der Parallelgeneration im Osten Feste auf ein halbes Jahrhundert Leben gefeiert. Das letzte, auf dem ich war, fand vor drei Wochen in der Bornholmer Straße statt, nur wenige Meter von der ehemaligen Mauer entfernt. Ich laufe durch einen Innenhof, muss noch durch einen zweiten und dann in einem der Seiteneingänge hoch bis in den fünften Stock. Oben angekommen, sitzen zwölf Personen um einen großen Tisch, den sie bis sechs Uhr morgens nicht mehr verlassen werden. Am Fenster stehen bunte Sommersträuße, daneben ist das Büfett aufgebaut: selbstgemachter Kartoffelsalat, in Scheiben geschnittene Buletten. Alkohol gibt es reichlich, geraucht wird legendär viel. Gastgeberin des Abends ist Johanna, die ich seit meiner Studienzeit in Jena kenne. Ich schaue in die Runde. Sechs Leute am Tisch kommen aus unserer alten Seminargruppe. Fast alle haben sich seit über 20 Jahren nicht gesehen. »Und die anderen? Kommen sie?«, frage ich. »Bis auf Klaus haben jedenfalls alle zugesagt«, meint die Jubilarin. »Sagt mal, hat nicht Richard hier in der Nähe gewohnt?«, fragt der dicke Rainer dazwischen. »Ja, in der 94. Ein paar Höfe weiter«, meint Manuela.

Richard, der Freund. Er studierte Altertumswissenschaften in Jena, ich studierte Diplomgermanistik. Als ich soeben von der Schönhauser in die Bornholmer einbog, war unweigerlich alles wieder da: sein hartes Lachen, unser nächtliches Abhängen in den Studentenkellern, das viele Schweigen, die Verzweiflung, unser verbissenes Warten auf das, was man für uns als Leben vorgesehen hatte. In den wilden Kirschplantagen oberhalb von Jena lasen wir uns gegenseitig Die Wellen von Virginia Woolf vor. Das war im Sommer 1987. Ich weiß nichts mehr davon, nur, dass es auf den Wiesen unendlich viele Mücken gab und dass in dem Roman sechs Freunde auch unentwegt auf etwas zu warten hatten. Darauf, dass sich die Türen des Lebens öffneten, dass die Zeit etwas parat hielt, was ganz allein für die sechs bestimmt war, dass Geschichten erzählt würden, die erzählt werden müssten. Im Herzen des Textes ritt Percival, der Meistgeliebte, der Krimileser, der Vollkommene, der sich viel zu früh und im hohen Galopp in Indien zu Tode stürzte.

Percival, die Leerstelle. Seine Abwesenheit, die wie ein magischer Knoten das Leben der anderen bestimmte. Richard las und las. Etwas faszinierte ihn. Ich dachte an Indien, an Länder, die wir nie sehen würden. Richard dachte an den Reiter. »So in die Knie zu gehen, hat auch was Unanfechtbares«, meinte er. »Man bleibt wenigstens ganz, bevor das Leben zuschlägt.« Richard stürzte nicht im Galopp. Er fiel kurz nach dem Mauerfall aus dem zehnten Stock eines Ostberliner Hochhauses. Bei sich einen Zettel mit der Adresse seines Vaters, der zu DDR-Zeiten Militärstaatsanwalt gewesen war. Nur er hatte ihn finden sollen. Richard, die Leerstelle. Als ich vorhin von der Schönhauser in die Bornholmer einbog, sah ich uns in der Wohnung seiner Mutter sitzen, in einem der Hochhäuser auf der Fischerinsel. Vom Stil her eine Wohnung, in der sich 20 Jahre später Ulrich Mühe als Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler im Film Das Leben der Anderen zitternd in das schiere Fleisch einer Prostituierten einzugraben versuchte. Richard mochte die hochkarätige Abwesenheit von Schönem. Seine elterliche Wohnung hatte das. Das alles durchdringende eiskalte Neongrün, selbst wenn pausenlos orangefarbene Stofflampen brannten. Den beißenden Asbestgeruch, selbst wenn überall Zimmerspringbrunnen aufgestellt waren.

Es ist nicht so einfach, über Dinge wie diese zu schreiben. Über die Akkuratesse der Leere, der Brutalität, der Dumpfheit, in der wir lebten. Über das spezielle Angstsystem in diesem 40 Jahre währenden Einschluss. Nicht nur, weil die Wörter nicht stark genug dafür sind, sondern weil sich über die DDR seit geraumer Zeit eine seltsame Erinnerungsscham gelegt hat. Sie dürfte verschiedene Gründe haben. Man erinnert sich nicht, weil man nicht dabei gewesen sein will. Man erinnert sich nicht, weil es zu schmerzhaft ist. Man erinnert sich nicht, weil man zu verstrickt oder belastet ist. Man erinnert sich nicht, weil man sich um die Jüngeren sorgt. Man erinnert sich nicht, wenn man sich so den Schmerz der anderen fernhalten kann. Man kann sich nicht erinnern, wenn man nicht weiß, worum es geht. Zwangsläufig kann sich nicht erinnern, wer nicht mehr da ist.

Richard, die Leerstelle. Sein Tod war ein Schlag und durfte nicht, sollte nicht, konnte nicht wahr sein. Dass man so wegstürzen kann. Wenn ich heute an ihn denke, sehe ich ihn lachen und war doch nicht gewappnet dafür, dass mir sein Lachen, ja, dass er mir in den Jahren danach so fehlen würde. Mir war auch nicht klar, dass er, wenn er nun lacht, immer Anfang 20 sein würde, immer seine Cabinet in der Hand hielte, immer diese wuseligen Stoppelhaare hätte, als sei er soeben aufgestanden, um noch rechtzeitig zum Seminar anzutanzen. Ich wusste auch nicht, dass hinter seinem Lachen von nun an immer etwas fallen würde. Etwas fiel. Es fiel in eine Leere und schlug irgendwann hart auf. Dabei habe ich die Phantasie, dass Richard doppelt gesprungen ist. In die Leere seiner Zeit und in die eigene Leere.

Ich versiegelte seinen Tod in mir, weil ich nicht damit klarkam, wie unerweichlich Leben ist. Gleichzeitig suchte ich nach ihm, nicht pausenlos, eher stolpernd, vielleicht so, wie man in seinem eigenen Leben herumstolpert. Wenn mir in den Jahren danach ab und an Fotos aus unserer Studienzeit in die Hände fielen, dachte ich: Meine Güte, wo haben wir eigentlich gelebt? Wie sahen wir denn nur aus? Dann kam mir die DDR wie eine Marslandschaft vor, mit uns als Marsmenschen. Wir trugen absurde Frisuren, hatten surreale Klamotten an, liefen durch Straßen, die man unter normalen Umständen als Kriegslandschaft bezeichnet hätte. Wenn ich diese Fotos betrachtete, wurde mir jedes Mal klar, warum die Geschichten, die ganz real von der DDR handelten, pünktlich im November 1989 enden mussten. Es gibt für dieses Land keine Übersetzung, kein Schleusensystem, das hilft, die Geschichten rüberzuhieven, damit sie in der Neuen Welt weitererzählt werden können. Ich schaue mir die Fotos an und kann nur eins sehen: Wie allein wir in diesem Land waren, wie abgekoppelt von aller Welt, wie verlassen, wie brennend einsam, wie isoliert.

Generationstinte. Und dann steht da Richard am Ende der DDR oder am Anfang von etwas Neuem. Es gibt diese 89er Novemberbilder, die mich nicht loslassen. Jeder kennt sie. Sie sind um die ganze Welt gegangen, damals. Hunderte strahlender Gesichter, Jubel, Tränen, jede Menge Biertrinker. Was lässt sich sagen über einen Jubel, in dem sich ein Jahrhundert in die Arme nimmt und darin erlöst? Wie ist es, eine Alte Welt zurückzulassen und im selben Moment eine neue zu betreten? Wie war das für ihn, den Freund, der so nah war, als ihn nichts mehr hielt und ich nichts bemerkte?

»Seltsam, wie die Toten an den Straßenecken auf uns losspringen, oder in Träumen«, schreibt Virginia Woolf in den Wellen. Ich habe den Roman letzte Nacht noch einmal gelesen, jetzt, da es um Richard geht. Um ihm auf die Spur zu kommen oder mir oder uns oder eben dem, was man so die Verhältnisse nennt. Mag sein, es ist noch nicht die richtige Zeit dafür. Wir sind noch nicht dran mit der großen Bilanz, es ist noch ein bisschen Zeit bis zum harten Lebensresümee. Unsere Generation ist grad richtig mittendrin, sie ist da. Neo Rauch malt zu Höchstpreisen. Maybrit Illner talkt sich durch die Jahre. Rammstein feiert auf den Bühnen der Welt und vor Hunderttausenden lautstark verlängerten Kindergeburtstag. Aber wozu warten, auf wen? Wann ist eine Zeit richtig, wann richtiger als jetzt?

Als vor 15 Jahren mit den Büchern von Sabine Bode und Hartmut Radebold in Deutschland noch einmal die große Vatersuche einsetzte, als es um Bombennächte, Kellerängste und Flüchtlingsströme ging, als Kriegskinder und Kriegsenkel endlich auch Opfer sein durften, ein echter Erinnerungsboom einsetzte, Kongresse stattfanden und sich Vereine gründeten, schien es, als würden damit offene Türen eingerannt. Über Nacht wurde Thema, was offenkundig lange im Verborgenen gegärt hatte. Ein Gesellschaftsgespräch hob an, das breiter und breiter wurde. In den westdeutschen Seelenkammern der Kriegs- und Nachkriegskinder lag etwas verpackt, was nun, am Ende der Karrieren, heftig an die Oberfläche drängte. Es ging um Tabus, die das emotionale Fundament der alten Bundesrepublik berührten. Es ging um eine nachzuholende Identität. Und sie gelang. Die Zeit war richtig dafür.

Ich muss an Richard denken und die wilden Kirschplantagen in Jena. Und an Percival. Ist der strauchelnde Reiter nicht so etwas wie die weiße Generationstinte, der Kommentar des Unbewussten einer Generation, ihr magischer Knoten, die vielen ungeborenen Ichs? Ist er nicht das, was wir nicht werden konnten, aber genauso wenig vergessen können? Und ist Richard nicht Percival? Und ist das Ganze nicht noch komplizierter? Komplizierter als was? Richard war nicht mehr da, doch natürlich blieb er. In uns, in seinen Freunden, in dem, was wir in der Neuen Welt lebten, was wir wurden und eben nicht wurden.

Die Jahre tiefster DDR-Agonie, unsere Studienzeit: Wir saßen in Utopieseminaren, hatten in der Zivilverteidigung Gasmasken auf, gingen jeden Mittwoch um elf Uhr ins Schichtarbeiterkino, hörten David Bowie und The Doors, hockten wochenlang in Kartoffelfeldern, stritten über Guntram Vespers Die Reise, mussten ganze Wälder roden oder saßen vor dem Fernseher. Zu sehen war ein hagerer, akut heruntergedimmter Mann. Es war Erich Honecker, der Staatschef der DDR. Er gab einen Neujahrsempfang, um die in Schlange anstehenden vielen Botschafter in einem weiteren Jahr DDR zu begrüßen. Also trat er vor, nickte seinem Gegenüber vage entgegen, schüttelte die Hand, lächelte starr, setzte einen Fuß, nickte, gab die Hand und lächelte, nickte und gab die Hand und lächelte. Mehr war nicht, mehr Handlung war nicht drin, das Ganze ging endlos. Kaum ein Kommentar im Fernseher. Was hätte der Reporter auch sagen sollen? »Aber das hier ist real«, wehrte sich Richard.

Das war es. Wenn mir die Situation in den Sinn kommt, muss ich unweigerlich daran denken, wie nötig wir uns beide danach hatten. Wie unsere Körper sich suchten. Dabei ging es nicht um Erotik, Lust, Begehren. Es ging um unsere Verlorenheit, darum, sie voreinander anzuerkennen, sie dem anderen zu zeigen. Zitternd, auf verdrehte Art stolz, das Wesentliche aussparend. Erst viel später fiel mir auf, dass wir uns in dieser Zeit kaum etwas erzählten. Nichts von unserer Herkunft, der Kindheit oder den Familien, aus denen wir kamen. Wir wussten nichts voneinander. Umso mehr unsere Körper. Sie segelten aufeinander zu wie versiegelte Schiffe. Um im anderen die pure Angst unterzubringen, dem anderen für einen kurzen, haltlosen Moment Zuflucht zu sein.

Canada. Und was, wenn Richard in die Leere stürzte, um mich vor meiner Leere zu schützen? Nein, es war anders, natürlich war es das. Es besteht kein Recht, ihm die Entscheidung und die Souveränität über seinen Schritt zu nehmen. Und doch. Ich kann mich an dem Gedanken nicht länger vorbeimogeln. Als wir jubelten, entschied er sich. Er stand da, an einer Weggabelung meines Lebens, am Ende der DDR, am Anfang von etwas Neuem, und stürzte in die Tiefe. Dieser Augenblick – sein abrupt abgebrochenes Leben, der unerlöste Tod – verschob etwas in mir und zwang mich in die Realität. Es war seine Unerbittlichkeit, die von da an über mich wachte. Richard verlangte von mir nichts anderes, als zu leben.

Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet an der Stelle ein Detail einfällt. Und warum dieses. Es geht um eine Kleinigkeit, um einen Aufkleber, nichts weiter. Er pappte von Anfang an, seit dem ersten Studienjahr, an Richards Zimmertür in unserem Wohnheim. Darauf stand: »Canada. Ich war da.« Vier Worte. Mehr nicht. Heute das Selbstverständlichste von der Welt. Mitte der achtziger Jahre aber war das eine Ansage, ein ziemlich dickes Ding, und so absurd gefährlich, wie Honeckers Neujahrsempfänge grotesk waren. Denn die vier Worte waren das Unerreichbare schlechthin. Nicht einfach ein netter Gedanke, eine hübsch ausgedachte Idee, sondern eine Anziehung, die man sich brennender nicht vorstellen konnte. Ein Realtraum, der unsere zugeschlossene Welt komplett außer Kraft setzte.

Richards geistiges Wachzeichen überstand die DDR unbehelligt, ja, es blieb die gesamte Studienzeit über an seiner Tür kleben. Wie das möglich war? Keine Ahnung. Vermutlich, weil es Canada gar nicht mehr gab. Für die, die in der DDR etwas zu entscheiden hatten, war das ferne Land durch jahrzehntelangen Voodoo-Zauber so restlos weggedacht worden, dass es für sie irgendwann aufgehört hatte zu existieren. Aus der Perspektive der marxistischen Panoptiker konnte man sich Canada Mitte der Achtziger als aufgelöst vorstellen. Was nicht mehr da ist, ist keine Bedrohung mehr. Was keine Bedrohung mehr ist, wird übersehen.

Richard war nie in Canada. Er würde nie da sein. Er, der uns unablässig gezeigt hatte, dass das Unerreichbare existiert, dass es real zu verteidigen und nichts von ihm preiszugeben ist, entschied sich dagegen, als das Unerreichbare erreichbar war. Das ist nicht ganz ohne, finde ich und muss nicht zwangsläufig verstanden werden. In jedem Fall stellt es ein paar Fragen. Fragen auch in der Hinsicht, was ich hier eigentlich mache, was ich überhaupt erzählen will. Denn natürlich nähme es mir niemand ab, wenn ich behaupten würde, meine Suche nach der eigenen Generation fände im luftleeren Raum statt. Das stimmt schon deshalb nicht, weil ich spätestens seit meiner Begegnung mit James Bond und seiner Westberliner Sommercrew andauernd und mit jedem über uns reden muss. Es stimmt aber auch nicht, weil sich seitdem einiges hier angesammelt hat. Memoiren, Generationsforschung, Autobiografien.

Eine schier unübersehbare Fülle an Lebensgeschichten, die offensichtlich nicht erst eine magische Schallmauer zu durchbrechen braucht, ehe man ihr die Daseinsberechtigung zuerkennt. Öffentlich gemachtes Leben, welcher Couleur auch immer, scheint einen erotischen Glühkern zu besitzen. Promibiografien, Familiengeschichten oder Generationsbücher, sie werden geschrieben, sie erscheinen, sie werden gelesen und leidenschaftlich auseinandergenommen. Eine Dauerfaszination, die man auch als kommunizierende Röhre verstehen kann, zwischen den verunsichernden, fragmentierten Lebensumständen, mit denen wir klarkommen müssen, und einer Literatur, die es uns ermöglicht, in fremdes Leben einzusteigen, das Ohr hautnah an den Gefühlen anderer zu haben und uns auf diese Weise ein Stück weit zu orientieren.

Einfache Nenner. Das klingt ganz schön schwerfällig, wie ich finde, und ein bisschen allgemein. Aber ehrlich gesagt auch nicht schwerfälliger und allgemeiner als das meiste von dem, was zum Thema Generation in meinem Zimmer herumliegt. Das viele euphorische Geraune muss an der Materie liegen. Generationslagerungen und Alterskohorten, Kollektivimpulse und Formierungstendenzen. Meine Güte. Es wird auch nicht dadurch einfacher, wenn Karl Mannheim, der große Generationenguru, unablässig darauf verweist, dass bei einer Generation von vornherein nie alle gemeint sind. In unterschiedlichen Milieus werden halt unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aber nur die Avantgarden würden eine Generation prägen. Die Mehrheit ist da, aber nicht dabei. Die Mehrheit hat bei bei Suche und Standortbestimmung einer Generation nichts zu sagen. Das war bei der Jugendbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts so, aber auch bei den Unistürmern der Achtundsechziger.

Medial scheint Generation nicht das Problem zu sein. Man kann alles Mögliche in den Begriff Generation hineinstopfen, am Ende fühlt sich jeder gut dabei, weil es etwas ist, was einigermaßen zu passen scheint und vermeintlich etwas erklären kann. Ist Generation also nichts anderes als ein mediales Label? Ich denke nicht und bin mir ausgerechnet bei unserer Generation sicher, dass das mit der Generation richtig ist und ein echtes Analyseinstrument sein kann, ja, mehr noch, dass sie schon allein wegen des historischen Zuschnitts im Grunde nur noch erzählt werden bräuchte. Die Generation Mauer – um bei Thomas Ahbe und Rainer Gries zu bleiben – als eine, die erstens ein vollständiges Leben vor 1989 hatte, die sich zweitens ein vollständiges nach 1989 aufgebaut hat und die drittens durch den Systemschnitt 1989 regelrecht konstituiert wurde.

Als ich dieser Tage jemandem gegenübersaß, um ihn nach seinem Leben zu befragen, war nach zwei, drei Details klar, dass es sich um ein Mauerkind handeln musste. Mit Zinkbadewannen, Hansa-Keks, Solo Sunny und Rondo Melange hatten zwar auch die Generationen vor und nach uns gelebt, aber welche Szenen mit den Worten verbunden waren, an welcher Stelle sie im Gespräch aufkamen und welchen Klang sie erhielten, machte das Ganze recht eindeutig. Mein Eindruck war, dass sich die Tonspur einer Zinkbadewanne im Laufe eines Jahrzehnts deutlich gewandelt hatte und dass das etwas zu bedeuten hat. Denn warum klingt die Erzählung über eine Zinkbadewanne von jemand, der 1963 geboren ist, um Längen dunkler als von jemand, der 1969 zur Welt kam? Zeittrunkene Details. Doch wie lassen sich die einzelnen Tonspuren im Nachhinein zu einem Sound zusammenführen? Kann die Ethnologie von Zinkbadewannen einen Mehrwert im Hinblick auf unsere Generation ergeben?

Die Generationsforschung zur DDR hat diese Frage auf recht eigenwillige Art gelöst. Die Mehrheit der Wissenschaftler geht davon aus, dass es in der DDR gar keine Generationen gegeben hat, und zwar deshalb nicht, weil es sie nicht geben konnte. Eine Annahme, die sich im Wesentlichen an einem kanonischen Text von Karl Mannheim aus den Endzwanziger Jahren orientiert, der seine Theorie mit Blick auf die Generation anhand der Wandervogelbewegung entwickelte. Für sie entwarf der Pionier der Jugendsoziologie das Bild einer zahlenmäßig kleinen Avantgarde, die »neue Lebensstile, Habitus und einen spezifischen Generations-Diskurs« kreiert, »womit diese Gruppen im Selbst- und Fremdverständnis als Generation erkennbar werden«.

Generationsforscher zu Ostdeutschland haben den Basistext von Karl Mannheim nach 1989 in extenso aufgenommen, um ihn als Folie in Sachen DDR-Generationen einzusetzen. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass es »in einer unfreien Gesellschaft wie der DDR nicht möglich« gewesen sei, eine Generation zu stiften, da es keine Generationeneinheiten gegeben hätte. Was es gab, seien höchstens Generationszusammenhänge, etwa bei den Aufbauern (1925–​1935), den Integrierten (1949–​1959) oder den Entgrenzten – das sollten wir sein. Eine Differenz zur Nichtdiktatur blieb jedoch in jedem Fall bestehen, die es unmöglich macht, Generationen zu konstituieren. Dabei zielte Mannheims Theorie zur Generation zum einen auf die Logik der Repräsentanz, ganz nach dem Motto: Auf neue Art frei leben, sich frei äußern, sich frei zeigen, in all dem einen eigenen Stil und eigene Referenzsysteme entwickeln, und das tauge irgendwann einmal zur Generation. Zum anderen aber ging es Mannheim in einem sehr grundsätzlichen Sinn um die gemeinsame Erfahrung in demselben prägenden Jugendalter, zum Beispiel bei den jugendlichen Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkrieges. Was damit einem gemeinsamen Lebensgefühl entsprechen würde. Repräsentanz versus Erfahrung?

Eine Generation unter der Diktatur, also eine, die sich neben dem Staat oder auch in seinem Binnenraum, finden, ja erfinden muss, hat dabei von vornherein mit der Aporie zu kämpfen, dass sie sich nicht repräsentieren kann, ohne sich selbst zu gefährden. Avantgardisten sollte es in der DDR partout nicht geben. Jede Gruppe, die öffentlich aus mehr als drei Personen bestand, setzte sich der strafrechtlichen Verfolgung aus. Gesetzt den Fall aber, sie tat es dennoch, kam das gravierende Problem dazu, politisch womöglich missbraucht zu werden. Der Generationsbegriff für die DDR-Diktatur steht damit unter einer Spannung per se, da es in der ostdeutschen Einschlussgesellschaft nicht um Repräsentanz nach außen gehen konnte, sondern notgedrungen nur nach innen.

Für eine Generationenerzählung müsste von daher insbesondere die Stiftung des DDR-Binnenklimas untersucht werden, die nach innen gehenden Referenzräume, das spezielle System der Camouflage, kurzum: das Land im Land, seine inneren Kriege, seine Gewaltmaschine. Zu untersuchen wären damit gänzlich andere Codices und Werte als in einer offenen Gesellschaft. Das Mannheim-Modell könnte jedoch bei diesem Versuch dennoch von Gewinn sein, indem es die Erfahrungswucht historisch auswertet, die Ostdeutschland innegewohnt hat und das emotional regime – die Gefühlslandschaft –, in der eine Generation zur Generation gemacht wird. Mannheim um diesen Aspekt zu erweitern, hieße, die ostdeutsche Generationenlandschaft in ihren Versiegelungen lesbar zu machen und ihre Dimension bis in die innere Betäubung, ja Unabänderlichkeit hinein zu befragen.

Ich muss unwillkürlich an Richard und seinen Türaufkleber denken. Wie viel unbesprechbare Resonanz, wie viel Rettung für den Tag, wie viel Umsicht im Geist, inmitten des Angstsystems DDR. Meist ist es völlig nutzlos und auch unersprießlich, mit anderen über eine Angst nachzudenken, die es nicht mehr gibt und die sie nicht kennengelernt haben. Es muss ihnen so vorkommen, als wolle man sie in einen dunklen Raum ziehen, den sie von sich aus niemals betreten würden. Was soll der andere auch damit anfangen? Wieso muss er sich das antun? Wieso ins Dunkle, wo es doch im Hellen so viel zu entdecken gibt?

Man lebt ja so, alle leben so, in das hinein, was sich öffnet. Das Angstsystem DDR zerschellte am Herbst 1989. Über Nacht hatte es aufgehört zu sein. Dabei war diese Angst keine Katz-und-Maus-Spiel-Angst, keine Angst von Fall zu Fall. Sie war in der Lage, ein ganzes Land zu durchsetzen. Es war eine Angst, die eingriff, Regie führte, ins Mark schoss. Das weit über den Mauerfall hinaus.

II. Leben in Kapseln

Das Eigene finden

Veteranen und Tresore. Das Berliner Haus, in dem Johanna ihren fünfzigsten Geburtstag feiert, ist das Haus, in dem sie seit unserer Studienzeit wohnt. Seine Mieter haben sich 1991 zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen und sind allesamt geblieben. Die Hälfte der Gäste, die um den großen Festtisch sitzt, lebt somit seit mindestens einem Vierteljahrhundert unter einem Dach. Es sind Zeugen einer Alten Welt, die noch immer um ihre Balance in der Neuen ringen. »Wir haben uns damals hier zusammengesetzt«, erklärt Peter, ein Nachbar, »und uns nach langem Hin und Her entschieden. Sanierung, Modernisierung, Verwaltung. Alles haben wir selber gemacht. Wir wollten nicht besetzen, sondern das Haus legal. Und in fünf Jahren ist es nun abgezahlt. Ab da gehen bei uns die Mieten runter. Das war richtig, nein, goldrichtig. Man sieht ja, was los ist in Berlin.«

Die Gedanken der Hausbewohner kreisen. Um das Goldrichtige, um Breitbandanschlüsse, alte Lieben, neue Pfannengerichte, um erhöhte Preise bei den Mieten in der Hauptstadt, bei Gas, Strom. Es geht um dies und das. Man weiß umeinander, ist eine Erinnerungsgemeinschaft und sich sehr vertraut. Das hilft, das ist ein Wert an sich, den man sich unablässig gegenseitig bestätigen kann. Versuchte Identitätspolitik, die eine sich rasant wandelnde Kiezwelt und das Fragwürdige da draußen auf Abstand zu halten schafft. »Gestern bin ich mal wieder im »Nord-Tresor« gewesen«, sagt Simone, eine der Nachbarinnen. »Da wollte ich schon länger mal hin. Jemand hatte erzählt, dass die Uschi nicht mehr da ist, dass es jetzt einen neuen Besitzer gibt. Da dachte ich, das schaue ich mir mal an. Und da saß ich mit meinem Hefeweizen und um mich herum nichts als Schwaben. Also, das muss ich echt nicht haben. Die reden von sich, als finge die Welt bei Null an. Dass das hier mal ziemlich anders war, dass es Leute gibt, die vor 1989 auch ein Leben hatten. Geschichte? Irgendwas, irgendwer vor, neben, mit ihnen? Fehlanzeige.«