Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Order to Kill

erschien 2016 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2016 by Cloak & Dagger Press, Inc.

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-690-8

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PROLOG

Grischa Asarow mied die Hauptstraße und durchquerte das, was von einer der vielen im Rahmen des russischen Ölbooms wie Pilze aus dem Boden geschossenen Städte übrig geblieben war, auf einem wie zufällig wirkenden Pfad durch die Nebengassen. Die veralteten Satellitenfotos, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, zeigten einen Grad an Wohlstand und Aktivität, von dem man sich inzwischen kaum vorstellen konnte, dass er an diesem Ort je existiert hatte.

Holzbauten, die wesentlich bessere Zeiten erlebt hatten, flankierten die Straßenränder. Die Lackierung blätterte überall ab, Rußflecken bedeckten die Außenwände. Die meisten Wohnungen standen leer. Vorhänge, durchnässt von den jüngsten Regenfällen, wurden durch die zerbrochenen Fenster nach draußen geweht und klatschten mit sattem Geräusch gegen die Rahmen.

Die Einwohnerzahl dieser spezifischen Arbeiterstadt war um mehr als 80 Prozent gesunken, nachdem der weltweite Einbruch der Ölpreise die Förderung unrentabel gemacht hatte. Die fähigsten Köpfe arbeiteten inzwischen für profitablere Unternehmen. Viele andere waren in die Heimat zurückgekehrt oder verdienten ihr Geld in Branchen außerhalb des Energiesektors. Jene, die noch hier lebten – und denen er gelegentlich in den engen Straßen begegnete –, hatten keinen anderen Platz. Sie saßen in diesem aufgegebenen Winkel Sibiriens fest und kämpften gegen zunehmende Armut sowie den Alkohol und andere Süchte. Beim nächsten Wintereinbruch würden einige ihr Heil in der Flucht suchen, und andere würden das Ende des Winters nicht mehr erleben.

Trotz des zunehmenden Verfalls war der russische Oligarch, mit dem er sich hier treffen wollte – ein mehrfacher Milliardär –, geblieben. Er war in einer ganz ähnlichen Stadt wie dieser aufgewachsen. Seinen Vater hatte er durch einen Unfall in einem nur wenige Hundert Kilometer entfernten Bergwerk zu Sowjetzeiten verloren.

Dimitri Utkin gab sich viel Mühe, das Image des Aufsteigers aus einfachen Verhältnissen zu pflegen. Er trug die ausgefranste Arbeitskleidung, wie man sie beim Großteil des Proletariats in Russland nach wie vor antraf, und versuchte gar nicht erst, die sichtbaren und unsichtbaren Narben zu kaschieren, die eine Kindheit mit harter Arbeit bei ihm hinterlassen hatte. Hinter der Fassade des Helden der Arbeiterklasse versteckte er eine wunderschöne Ehefrau, teure italienische Sportwagen und Uhren, die mehr Geld kosteten, als die meisten seiner Landsleute im ganzen Leben verdienten.

Trotzdem wurde er von genau diesen Menschen geliebt, weil er ihnen die Illusion vermittelte, dass sich im Expresszug Richtung Wohlstand noch freie Plätze finden ließen. Dass es so gut wie jedem vergönnt war, aus dem Elend in die oberste Riege Russlands aufzusteigen.

Asarow bog in einen schlammigen Seitenpfad ab und näherte sich mit gemächlichen Schritten dem Stadtrand. Die Luftaufnahmen hatten einen verwirrenden Übergang von Grau und Schwarz zu Grün und Weiß angedeutet. Er war davon ausgegangen, dass der Kontrast vor Ort nicht so krass ausfiel, doch das genaue Gegenteil schien der Fall zu sein.

Die verschwenderische Villa, vor fast zehn Jahren errichtet, verbarg sich hinter einer Reihe hoher Bäume, die ihr Besitzer mit Frachthelikoptern aus Militärbeständen hatte einfliegen lassen. Gerüchteweise verfügte das Anwesen über knapp 100 Zimmer. Die Baupläne, die man Asarow zur Verfügung gestellt hatte, korrigierten die Zahl sogar leicht nach oben. Es gab 106.

Fotos von der Fassade ließen sich überraschend schwer auftreiben, deshalb blieb er kurz stehen, um sie durch die schwankenden Zweige der künstlich hierher verfrachteten Landschaft zu begutachten. Der übliche großkotzige und geschmacklose Versuch, den Prunk der Vergangenheit wiederzubeleben. Die Schatten eines längst untergegangenen Kaiserreichs, zu dem sich Männer wie Utkin so stark hingezogen fühlten.

Sicherheitspersonal zeigte sich auf dem Grundstück, während er sich dem Haus näherte. Dass sie bei seinem Anblick verwirrt wirkten, verwunderte ihn nicht. Er kam zwar exakt pünktlich, aber unter Garantie hatte man ihnen einen Mann im teuren europäischen Maßanzug angekündigt, der in einer noch teureren europäischen Limousine vorfuhr. Stattdessen kam Asarow zu Fuß, trug verblichene Jeans, Arbeitsschuhe und den typischen dicken Wollmantel, mit dem sich die Leute in dieser Region vor der Kälte schützten.

»Was wollen Sie?«, sprach ihn ein Mann in glatt gebügelter Uniform an, der ein AK-103 vor die Brust geschnallt trug. »Sie wissen doch, dass Arbeiter hier nichts verloren haben.«

Offenbar zog Utkin sehr enge Grenzen, was den Umgang mit jenen anging, deren Schicksal er angeblich teilte.

»Ich habe einen Termin.«

Der irritierte Gesichtsausdruck des Mannes schlug in Alarmiertheit um. Er packte sein Sturmgewehr ein wenig fester. »Sie sind Grischa?«

Asarow nickte und wurde im selben Moment von fünf Wachen umrundet, die früher mal bei den russischen Spezialkräften gedient hatten. Einer fuhr mit einem Metalldetektor an seinem Körper entlang. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Besucher keine Waffen am Leib trug, forderte er ihn auf, ihm zu folgen. Sie entfernten sich vom Hauptgebäude und liefen zurück Richtung Stadt. Zwei weitere Bewaffnete bildeten die Nachhut.

Es überraschte ihn kaum, dass die Unterredung nicht in Utkins Haus stattfand. Der Milliardär ahnte sicher, dass Asarow sich mit dem Grundstück vertraut gemacht hatte, und verlagerte das Treffen deshalb auf unbekanntes Terrain. Eine intelligente Vorsichtsmaßnahme eines intelligenten Mannes. Letzten Endes machten solche Tricks allerdings keinen Unterschied.

Sie kämpften sich über unbefestigte Lehmpfade voran. Männer in schäbiger Kleidung wichen in Gassen und unbewohnte Gebäude zurück, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Ihr Marsch endete vor einem rostigen Tor, in das der Schriftzug einer einst bedeutenden russischen Ölgesellschaft eingeätzt war.

Sie traten ein und man winkte Asarow zu einem Stuhl – dem einzigen Möbelstück, das noch in der Eingangshalle stand. Die Wände waren freigelegt worden, der kostbare Teppich fleckig und verschlissen. Einer der Security-Leute verschwand durch eine Tür, die anderen beiden behielten Asarow im Auge. Natürlich ließ ihn der Mann, mit dem er verabredet war, ein bisschen zappeln, um deutlich zu machen, dass er als Bittsteller kam. Die üblichen Spielchen.

Nach seinen Informationen verfügte Dimitri Utkin über keine nennenswerte Schulbildung. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion war er kaum mehr als ein kleiner Ganove gewesen, allerdings gesegnet mit enormer Raffinesse und Weitblick. Er hatte keine Zeit verloren, um die sich bietenden Chancen nach dem Fall der Berliner Mauer auszunutzen und sich Boris Jelzin als Unterstützer anzudienen. Als Jelzin an die Macht kam und die Reichtümer Russlands an seine loyalsten Helfer verteilte, hatte Utkin ganz weit vorn in der Schlange gestanden.

Die Vermögensgegenstände, Steuererleichterungen und Regierungsaufträge, die er einheimste, summierten sich auf mehrere Hundert Millionen Dollar. Utkin hatte dieses Startkapital eingesetzt, um einen Giganten im Energiesektor mit weltweitem Einfluss zu erschaffen. Seine wachsende Macht und sein enormer Einfluss in Russland waren der Grund für Asarows Anwesenheit.

Ein dünner Mann mit ergrauten Haaren und getönter Brille erschien im Durchgang und eilte ihm entgegen. Michail Schestakow war der Vorstandsvorsitzende von Utkins Hauptbeteiligungsgesellschaft – Anfang 40, unbelastet von Verbindungen zum organisierten Verbrechen und der Korruption früherer Tage. Er wurde allseits als hoch kompetenter und vernünftiger Geschäftsmann geschätzt. Eine ehrliche Haut. Zumindest nach russischen Maßstäben.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte er und streckte die Hand aus. »Dimitri wird Sie jetzt empfangen.«

Asarow erhob sich und folgte dem anderen durch einen spärlich beleuchteten Flur. Die beiden früheren Special-Ops blieben ihnen dicht auf den Fersen. Der Korridor mündete in ein früher sicher beeindruckendes Vorzimmer, dem nun allerdings ein undefinierbarer Gestank nach totem Tier anhaftete. Die komplette Rückwand bestand aus mattiertem Glas. Darin eingelassen war eine Tür aus demselben semitransparenten Material.

Sie gingen hindurch und fanden sich in einem weiträumigen Büro wieder, das vermutlich eigens für diese Besprechung renoviert worden war. Befreit von Staub und Dreck kamen die Deckenlichter voll zur Geltung, die alles in einen fluoreszierenden Schein hüllten. Das spärliche Mobiliar beschränkte sich auf einen großen Schreibtisch an der hinteren Wand.

Asarow ignorierte zunächst den Mann, der davor stand, und konzentrierte sich auf andere Details. Es gab keine Fenster. Wie auf ein stummes Kommando bezogen die Soldaten, die ihn hergebracht hatten, Posten in den Zimmerecken in seinem Rücken. Der dritte war ebenfalls hinzugestoßen und stand auf Elf-Uhr-Position. Schestakow zog sich in die verbliebene Ecke zurück und machte einen zunehmend nervösen Eindruck.

Schestakows Vergangenheit und Auftreten ließen keinen Zweifel, dass er keine Bedrohung darstellte, deshalb verbannte Asarow ihn aus seiner Wahrnehmung und lugte über die Schulter. Die mattierte Glasscheibe wies einen waagrechten Sprung etwa einen Meter oberhalb des Bodens auf, der sich fast über die komplette Breite zog. Die Tür zum Vorzimmer schien nicht abgeschlossen zu sein, erschien ihm aber zu massiv, um sich auf die Schnelle öffnen zu lassen.

»Ich hatte Sie so verstanden, dass wir uns unter vier Augen treffen«, sagte Asarow und richtete endlich das Wort an Utkin.

»Dies sind meine loyalsten Untergebenen. Ich würde ihnen blind mein Leben anvertrauen. Von Ihnen kann ich das nicht gerade behaupten, Soldat Filipow.«

Mit diesem Namen war Asarow seit vielen Jahren nicht mehr angesprochen worden. Er machte keinen Hehl aus seinem Erstaunen.

»Natürlich weiß ich, wer Sie sind«, sagte Utkin. »Ein von Armut gebeutelter Niemand aus einem Kaff, von dem niemand je gehört hat. Ein gescheiterter Athlet und ein Soldat, dessen Dienstzeit ebenso kurz wie bedeutungslos verlief. Ein Laufbursche weit weg von zu Hause. Sie sollten nicht vergessen, wer für Ihre Ausbildung bezahlt hat, mein Junge. Wer es Ihnen ermöglicht hat, dass Sie heute überhaupt hier sind.«

Seine Aussage war etwas übertrieben, aber es steckte ein Körnchen Wahrheit darin. Asarow arbeitete zwar für den russischen Präsidenten, aber das Schicksal der Regierung war eng mit den Oligarchen verknüpft, die so etwas wie den Landadel verkörperten. In Russland existierte ein komplexes Geflecht aus politischer Bürokratie, organisiertem Verbrechen und hemmungslosem Kapitalismus. Dass Männer wie Utkin solche enormen Summen verschoben, verdankten sie der Vetternwirtschaft der Regierung. Einer Vetternwirtschaft, die durch ein raffiniertes System von Bestechungsgeldern und Mäzenatentum finanziert und von Präsident Maxim Wladimirowitsch Krupin kontrolliert wurde.

»Weshalb hat Krupin einen seiner Vertreter geschickt?«, fragte Utkin und wechselte kurze Blicke mit seinen Sicherheitsleuten. »Und warum gerade Sie, Grischa? Muss ich mir etwa Sorgen machen?«

Eine ausgezeichnete Frage.

Asarow konnte zwar sehr überzeugend auftreten, aber er war niemand, mit dem man verhandelte. Seine Aufgabe bestand darin, Probleme aus dem Weg zu schaffen.

»Sie haben den Präsidenten öffentlich kritisiert und sich mit Exilanten in London getroffen, Sir. Natürlich macht sich Krupin diesbezüglich Sorgen.«

»Exilanten«, wiederholte Utkin. »Das ist eine ziemlich beschönigende Formulierung.«

Asarow nickte unverbindlich. Die fraglichen Männer hatten den Fehler begangen, beim russischen Präsidenten in Ungnade zu fallen. Im Gegenzug hatte der Inlandsgeheimdienst FSB ihnen Korruption und Steuervergehen zur Last gelegt und sie gezwungen, mit kaum mehr als der Kleidung, die sie auf dem Leib trugen, außer Landes zu fliehen. Unmittelbar danach hatte man ihre Holdings aufgelöst und das Kapital als Geschenk an loyalere Genossen durchgereicht.

Ein Arrangement, das von der Gier der verbliebenen Oligarchen profitierte und seit Jahrzehnten funktionierte. Allerdings drohte diesen angenehmen Zuständen das Aus. Russlands Wirtschaft stand vor dem Kollaps, was die machtvolle Elite des Landes auf den Plan rief, und das galt vor allem für Utkin. Mehr noch als andere verfügte er über den Instinkt eines Raubtiers, witterte Schwäche bei seinem Gegenüber und nutzte sie gnadenlos aus.

»Sind Sie hier, um auch mich zu einem Exilanten zu machen, Grischa? Wollen Sie mich in den Westen jagen? Mir alles wegnehmen, wofür ich so hart gearbeitet habe?« Er schüttelte den Kopf. »Die Welt hat sich verändert, mein Freund. Ich verfüge über Kontakte, die deutlich über Krupins schrumpfenden Einfluss hinausreichen.«

»Ich glaube, Sie unterliegen einem Irrtum, was den Grund meines Kommens betrifft.«

Utkin ignorierte ihn und steigerte sich in eine Tirade hinein. »Russland erstickt am eigenen Dreck, Grischa. Ein in sich geschlossener Kreislauf, der auf Korruption, Drohungen und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen basiert. Kein anderes Land wird Krupins Forderungen gegen mich anerkennen. In Monaco würde ich nicht als Bettler, sondern als Millionär in Saus und Braus leben. Falls er sich einbildet, dass sein Einfluss das verhindern kann, macht er sich selbst etwas vor.«

»Darf ich Sie daran erinnern, dass Korruption und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen die Grundlagen Ihres eigenen Reichtums bilden? Sie haben das Land, auf dem Ihre Bodenschätze lagern, nicht rechtmäßig erworben, ebenso wenig wie die Förderrechte. Beides wurde Ihnen in den Schoß gelegt.«

»Aber nicht von Krupin, sondern von einem seiner längst verstorbenen Vorgänger.« Utkins Handbewegung schloss seine komplette Umgebung ein. »Und jetzt blutet man mich schrittweise aus. Mütterchen Russland ist nicht länger in der Lage, für mich zu sorgen.«

Asarow kam die protzige Villa am Rande der Stadt in den Sinn. »Dafür führen Sie aber ein ziemlich luxuriöses Leben.«

»Wie lange noch, Grischa? Was glauben Sie denn? Überall im Land wird gestreikt. Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern und Verwaltungsangestellte legen die Arbeit nieder, weil sie nicht bezahlt werden. Die Ölpreise sind in den Keller gesackt, weil die Amerikaner selbst die Förderung aufgenommen haben und die Saudis den Markt mit Rohstoffen zu Dumpingpreisen fluten. Und als ob das noch nicht genug wäre, ziehen Krupins militärische Ausflüge Sanktionen nach sich, die mir endgültig das Wasser abdrehen. Der Rubelkurs schwankt so stark, dass meine Frau damit nicht mal mehr die Juwelen und Schuhe, die sie so liebt, bei diesen französischen Schweinen kaufen kann. Genauso gut könnte ich meine Geschäfte nach Nigeria verlegen.«

»Dort soll das Wetter um diese Jahreszeit ziemlich angenehm sein.«

Utkin lächelte, verkniff sich aber eine Erwiderung.

Alle Oligarchen brachten ähnliche Klagen vor, aber Utkin ging mit seiner Kritik einen gefährlichen Schritt weiter. Er fuhr eine öffentliche Kampagne und gab Präsident Krupin offiziell die Schuld an Russlands Misere. Außerdem hatte er die ausstehenden Gehälter der Regierungsangestellten in Städten übernommen, die seine Unternehmen kontrollierten. Die Überlegung, dass es sich dabei um einen Akt der Güte oder Nächstenliebe handelte, war schlicht lachhaft. Zu so etwas war dieser Mann nicht fähig. Vielmehr wagte er damit einen ersten Vorstoß, sich selbst in die Politik einzumischen – eine unverhohlene Drohung an die Adresse von Asarows oberstem Dienstherrn.

Utkin stützte die Füße auf eine Schublade, die er aus dem Schreibtisch herausgezogen hatte. »Ich will, dass Sie meine Position verstehen, damit Sie Ihrem Vorgesetzten präzise von meiner Unzufriedenheit berichten können, Grischa. Mir ist völlig egal, was aus Russland wird. Mich interessiert bloß, welche Auswirkungen der Zusammenbruch des Landes auf meine Geschäfte hat. Ich räume ein, dass der Absturz der Ölpreise außerhalb unseres Einflussbereichs liegt, aber das gilt nicht für die Art und Weise, wie Krupin durch sein Missmanagement alles in den Ruin treibt. Die Regierung ist inzwischen zu einem Werkzeug verkommen, das die Macht und den Reichtum eines einzelnen Mannes befördert.«

»Eines Mannes, dem 83 Prozent der Bevölkerung vertrauen.«

»Es waren mal 90«, gab Utkin ungerührt zurück. »Die Herde bleibt nur so lange gefügig, bis ihr Hunger zu groß wird, Grischa. Sobald die Kluft zwischen der herrschenden Klasse und den Arbeitern und Bauern zu groß wird, kommt es zum Aufstand. Das zeigt der Blick in unsere eigene Geschichte. Die Bolschewiki haben die Aristokratie zum Schafott geführt und uns mehr als ein halbes Jahrhundert Kommunismus eingebrockt. Und jetzt das …«

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu versichern, dass der Präsident alles unter Kontrolle hat.«

Utkin gab sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen. »Diese ganzen Streiks im Moment … vor fünf Jahren wären sie bereits im Ansatz erstickt worden, Grischa. Niemand hätte es gewagt, dem Präsidenten auf diese Weise die Stirn zu bieten. Und die Ermordung von Krupins linksgerichtetem Rivalen im vergangenen Monat ist für mich ein Zeichen von Verzweiflung. Ich vermute, das ging auf Ihr Konto?«

Da irrte er. Der Mord war eine simple Angelegenheit gewesen. Nichts, was seine besonderen Talente erfordert hätte.

»Die Welt schaut uns auf die Finger, Grischa. Russland kommt inzwischen kaum besser weg als irgendein Zwergstaat mitten in der Sahara.«

Asarow musste ihm innerlich beipflichten, aber es stand ihm nicht zu, Krupins Regierungsführung zu kritisieren. Er befolgte nur seine Anweisungen.

»Es gab gewisse Probleme, aber die werden bald gelöst sein, Sir. Der Präsident ist da sehr zuversichtlich.«

Utkin lachte ihm ins Gesicht. »Hat er Sie deshalb hergeschickt? Um mir die üblichen Beschwichtigungsformeln um die Ohren zu hauen? Herrlich! Dann erzählen Sie mal, wie Krupin meine Interessen zu schützen gedenkt. Da bin ich jetzt gespannt.«

»Mit den Details bin ich nicht vertraut«, musste Asarow zugeben.

Tatsächlich wusste er rein gar nichts über Krupins Pläne. Nicht mal, ob es überhaupt welche gab.

»Ganz der unkritische Erfüllungsgehilfe, was, Grischa?« Die Skepsis auf Utkins Gesicht wich einem gönnerhaften Lächeln. »Was halten Sie davon, für mich zu arbeiten? Schlechter kann es auf keinen Fall werden.«

»Der Präsident ist fest davon überzeugt, dass Sie mit den Resultaten seines Programms zufrieden sein werden.«

Utkins Belustigung verschwand. »Und trotzdem hat er Sie zu mir geschickt. Warum? Wenn er so überzeugt ist, was seinen wirtschaftlichen Kurs betrifft, wieso erläutert er ihn mir nicht in einem persönlichen Gespräch? Wozu dieser unbeholfene Versuch, mich einzuschüchtern?«

»Ich kann nur wiederholen, dass das nicht der Grund meiner Anwesenheit ist.«

Natürlich kaufte Utkin ihm das nicht ab. »Krupin hat stillschweigend Männer und Wehrmaterial an die lettische Grenze beordert, Grischa. Dürfen wir mit einem weiteren militärischen Exkurs rechnen, der unsere ohnehin knappen Ressourcen weiter verringert und uns auf Konfliktkurs mit den Amerikanern bringt? Ist das sein Plan?«

Dieselbe Frage hatte sich Asarow auch schon gestellt.

Viele Russen hatten den Eindruck, dass ihnen die weggebrochenen Staaten beim Kollaps der Sowjetunion geraubt worden waren. Militärisch auf diese Weise die Muskeln spielen zu lassen – über weitere Muskeln verfügte Russland längst nicht mehr –, appellierte an den Nationalismus der Bevölkerung.

»Die Menschen wachen langsam auf und sehen, was aus ihrem Leben geworden ist, Grischa. Flaggenzeremonien und Truppenparaden machen sie nicht länger gefügig. Wird Russland so enden? Mit dem verzweifelten Bemühen eines Einzelnen, seine Macht um jeden Preis zu erhalten?«

Die Heuchelei der Oligarchen ermüdete ihn. Genau wie Krupin ging es Utkin nur um den eigenen Vorteil. Anstelle des Präsidenten hätte er genauso gehandelt. Es wurde Zeit, dieses Treffen zu beenden und nach Hause zu fahren. Asarow fühlte sich in Russland von Jahr zu Jahr unwohler. Tiefe Dunkelheit schien auf allem zu lasten und wurde mit jedem neuerlichen Grenzübertritt greifbarer.

»Darf ich dem Präsidenten versichern, dass er auf Ihre Unterstützung zählen kann, Sir?«

Utkin gab darauf keine Antwort. Asarow hielt die Augen auf den Gesprächspartner gerichtet, konzentrierte sich aber vorrangig auf seine periphere Sicht. Der ehemalige Soldat zu seiner Linken hatte die Jacke aufgeknöpft und die Arme vor der Brust verschränkt. Eine Hand lag dicht am Schulterholster. Da es weder Fenster noch Spiegel oder verglaste Fotos an der Wand dahinter gab, konnte er die Situation im Rücken nicht erfassen. Er unterstellte, dass die beiden anderen Wachen genauso aufmerksam waren.

»Richten Sie Krupin aus, dass ich ihn unterstützen werde, sobald er Resultate liefert. Bis dahin konzentriere ich mich auf meine eigenen Interessen. Schließlich hält er es genauso.«

Utkin schnappte sich das einzige Schriftstück, das auf seinem Schreibtisch lag, und tat, als wäre er darin vertieft. Die Unterredung war beendet.

Asarow nickte unterwürfig und wandte sich zum Gehen. Sofort verbesserte sich seine taktische Ausgangslage. Nun hatte er nur noch einen Mann hinter sich und selbst das matte Glas der Scheibe erzeugte genug Reflexionen, um ihn grob im Blick zu behalten.

Weder der Mann hinter ihm noch der auf frontaler Ein-Uhr-Position hatte die Waffe gezogen. Schallgedämpfte AR-15s baumelten am Gurt vor ihrem Körper. Eine einschüchternde, Respekt einflößende Waffe, allerdings ein wenig schwerfällig im Handling. Die Pistolen steckten in Hüftholstern, fixiert durch ein Klettband, was ein schnelles Ziehen unmöglich machte.

Asarow konnte ihnen keinen Vorwurf machen, dass sie die Aufmerksamkeit schleifen ließen. Immerhin befanden sie sich hier nicht auf einem Schlachtfeld und waren ihrem unbewaffneten Gegner im Verhältnis drei zu eins überlegen. Unter solchen Rahmenbedingungen fühlte man sich generell viel zu sicher.

Der Mann zu seiner Linken eilte herbei, um ihm die Tür aufzuhalten. Asarow trat ihm wie aus Versehen von hinten gegen den Fuß, wodurch dieser seitlich gegen sein anderes Bein stieß. Er geriet ins Stolpern und streckte die Hände instinktiv nach dem Griff des Sturmgewehrs aus, statt damit den Sturz gegen die halb transparente Wand abzufangen. Als sein Kopf auf Höhe des langen Sprungs in der Scheibe war, packte Asarow ihn am Gürtel und schob ihn schwungvoll gegen das Glas. Er hatte darauf spekuliert, dass es zersprang, aber der Riss ging nicht tief genug. Statt an einer tödlichen Halswunde zu verbluten, landete er mit dem Gesicht voran auf dem Boden, benommen von der Wucht des Aufpralls.

Asarow wirbelte herum und warf sich hin, landete Rücken an Rücken auf dem Gegner und klemmte die Waffe zwischen ihnen ein. In dem kurzen Moment, den es dauerte, um die geholsterte Pistole der Wache zu befreien, analysierte er seine taktischen Optionen.

Der andere Ex-Soldat befand sich nun links neben ihm, hatte die Pistole gezückt und den Finger um den Abzug gespannt. Der Position der Mündung nach zu urteilen, würde der erste Schuss allerdings deutlich über Asarows Kopf einschlagen und der Rückstoß eine kurze Verzögerung herbeiführen, bevor er ein zweites Mal genauer zielen konnte.

Michail Schestakow hatte sich bäuchlings hingelegt und schirmte seinen Hinterkopf mit den Händen ab. Eine zu erwartende Reaktion. Utkin hantierte hektisch an einer Schublade, in der zweifellos eine Waffe steckte, die er bis zum heutigen Tag höchstens für die Hinrichtung gefesselter Opfer benutzt hatte.

Der Soldat an der hinteren Wand gab ihm die härteste Nuss zum Knacken. Der Lauf seiner Waffe zuckte bereits in Asarows Richtung. Seine Augen verrieten weder Angst noch Panik, nur kühle Berechnung. Noch eine Zehntelsekunde, bis er feuerte und garantiert traf.

Da ihm keine Zeit blieb, mit der Waffe richtig zu zielen, schoss er sie aus einem ungünstigen Winkel dicht an der Hüfte ab. Das Projektil schlug etwas niedriger ein als beabsichtigt und traf den Soldaten rechts unterhalb der Nase. Ein schlampiger Schuss, aber trotzdem wirkungsvoll genug, dass sich der Schädelinhalt über den panischen Dimitri Utkin ergoss.

Der Security-Angestellte zu seiner Linken drückte ab – wie erwartet zu hoch. Das verschaffte Asarow genug Zeit, um ihn in Ruhe anzuvisieren, den Arm ganz durchzustrecken und einen Treffer zwischen den Augen zu landen.

Er drückte die Pistole gegen den Rücken des Gegners unter ihm und nutzte den Widerstand, um sich auf die Beine zu stemmen. Gleichzeitig drückte er ab. Damit blieb nur noch Utkin übrig, vor dem er einen Moment später mit der Waffe im Anschlag thronte.

Der ältliche Oligarch hatte inzwischen die Finger um eine alte Makarow geschlossen, erstarrte jedoch, als er sie gerade aus der Schublade befreit hatte. Ohne dass es einer besonderen Aufforderung bedurfte, ließ er sie fallen und wich mit erhobenen Händen vom Schreibtisch zurück.

»Sie machen Ihrem Ruf alle Ehre, Grischa.«

Er war weder dumm noch ein Feigling. Er wusste, was ihm bevorstand, und wollte trotzig und aufrecht sterben. Ganz nach Asarows Geschmack. Er empfand es als ziemlich würdelos, Feiglinge aus dem Verkehr zu ziehen.

»Es tut mir leid, dass unser Treffen ein solches Ende nimmt.«

Krupin hatte ihm befohlen, den Mann mit einem Schuss in den Magen niederzustrecken und ihm anschließend einen moralinsauren Vortrag zu halten, dass es keinen Zweck hatte, gegen den Präsidenten zu rebellieren, aber das hielt er für gleichermaßen sinn- wie respektlos. Also verpasste er Utkin eine Kugel mitten in die Stirn und eine weitere Salve in den Magen – nur für den Fall, dass Krupin wider Erwarten einen Blick in den Polizeibericht warf.

Er legte die Pistole auf den Schreibtisch und half Schestakow auf die Beine. Der Geschäftsmann starrte ihn mit weit aufgerissenen, feuchten Augen an. Er wich hektisch zurück und stieß gegen die Wand.

»Dimitris Imperium gehört nun vorübergehend Ihnen«, verkündete Asarow, zupfte den Mantel zurecht und vergewisserte sich, dass keine Blutspritzer darauf gelandet waren. »Sie übernehmen die Abwicklung seiner Geschäfte und die Aufteilung des Vermögens auf die übrigen Oligarchen. Danach erhalten Sie einen verantwortungsvollen Posten in einer Ihrer Firmen zugewiesen. Ist das für Sie akzeptabel?«

Sein Gegenüber nickte stumm.

»Der Präsident bat mich, Ihnen zu versichern, dass er Ihnen keinen Vorwurf aus Utkins Verhalten macht und Ihren Geschäftssinn sehr zu schätzen weiß.«

Asarow wartete nicht auf das zweite zögerliche Nicken, sondern drehte sich um und stieg über eine der Leichen, um den Ausgang zu erreichen.

Nachdem er den Raum verlassen hatte, zog er das Handy aus der Tasche und erledigte einen Anruf.

»Darf ich davon ausgehen, dass Dimitri nicht kooperieren wollte?«, meldete sich Maxim Krupins Stimme.

»Ja.«

»Und du hast ihn dafür bestraft?«

»Ja.«

»Du hast die Sache noch schneller geregelt, als ich erwartet habe. Ich dachte, dass dir dieses Stück Dreck stundenlang mit seinem Gewinsel über Korruption und den Niedergang Russlands in den Ohren liegt.«

»Darf ich fragen, wie es um die Mitch-Rapp-Operation steht?«, fragte Asarow, um das Thema zu wechseln. Er sah keinen Nutzen darin, sich weiterhin über Dimitri Utkin das Maul zu zerreißen. Die Bedrohung war ausgeräumt. Für den amerikanischen CIA-Agenten galt das hingegen nicht.

»Eine deiner seltenen Fehleinschätzungen, Grischa. Alles läuft wie am Schnürchen. Die Erkundungsphase und alle Vorbereitungen sind abgeschlossen. Wir gehen davon aus, dass es eine simple Angelegenheit wird, die Frau zu schnappen.«

»In diesem Fall irre ich mich gern«, sagte er ohne sonderliche Überzeugung. Er verspürte immer ein leichtes Gefühl von Unwohlsein, wenn Rapps Name fiel. Asarow hatte mit Krupins geplantem Einsatz in Pakistan nichts zu schaffen – auch nicht mit den Vorkehrungen, um zu verhindern, dass Rapp ihnen dazwischenfunkte. So war es ihm lieber. Zumindest vorerst.

»Erzähl mal«, bat Krupin, der sich nicht darauf einlassen wollte, dass sein Untergebener die Richtung der Unterhaltung vorgab. »Hat Dimitri gebettelt?«

»Ja«, log Asarow.

»Der Kerl war ein Schwein«, meinte der Präsident und klang ziemlich zufrieden mit sich selbst. »Ihm lag das Wohl von Mutter Russland nie am Herzen.«

»Und doch hat er viel Macht und Einfluss erlangt und wurde von den Oligarchen als Leitwolf akzeptiert.«

»Was willst du damit andeuten?«

»Sie haben ihn nicht ins Exil geschickt, Herr Präsident, sondern ihn umgebracht. Sind Sie sicher, dass es genügt, sein Vermögen an die anderen zu verteilen, um sie zu beschwichtigen? Es gibt einen Unterschied zwischen Einschüchterung und Angst. Letztere verleitet Menschen oft zu unvorhersehbaren Reaktionen.«

»Er war eine wilde Bestie, also wurde er wie eine abgeschlachtet. Damit haben die anderen rechnen müssen.«

»Ja, Sir.«

Krupin war schon immer ein misstrauischer Mensch gewesen, aber der Arabische Frühling hatte seinen Verfolgungswahn auf ein gefährliches Level gehoben. Mitzubekommen, wie noch deutlich unbeugsamere Diktatoren als er abgesetzt und getötet wurden, machte ihn zu einem wahren Paranoiker. Keine Kränkung war mit einem Mal trivial genug, kein Beteiligter zu unwichtig, um seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Und alle holte er auf dieselbe skrupellose Art und Weise von der Bühne.

Asarow stellte sich die Frage, ob er mit der Ermordung von Utkin sein Blatt nicht überreizt hatte. Damit setzte er möglicherweise einen Flächenbrand in Gang, der sich nicht so ohne Weiteres löschen ließ.

1

In der Nähe von Franschhoek, Südafrika

Mitch Rapp lenkte den Mietwagen auf eine abgelegene Landstraße und fuhr den geschlungenen Pfad zwischen den Weinbergen hinauf. Die Sonne war gerade über dem Horizont aufgetaucht und hüllte die zerklüfteten Hügel vor dem wolkenlosen Himmel in ein orangefarbenes Licht.

Was für ein Kontrast zu den verqualmten pakistanischen Städten, die am Verkehr fast erstickten, in denen er die letzten zwei Monate verbracht hatte. Den Gestank nach Diesel und Schweiß gegen die idyllische Landschaft südafrikanischer Weinanbaugebiete einzutauschen, hätte er unter normalen Umständen als willkommene Abwechslung empfunden. Für den Moment verstärkte diese Umgebung die Beklemmung in seiner Brust aber eher noch.

Nach der Tötung des fundamentalistischen Leiters des pakistanischen Geheimdienstapparats vor einigen Wochen hatten sie sich mit den erwarteten diplomatischen Konsequenzen herumschlagen müssen. Allerdings übertraf die Entwicklung inzwischen selbst die schlimmsten Befürchtungen von ihm und Irene Kennedy.

Für ihn stand außer Frage, dass die Eliminierung von Ahmed Taj nötig gewesen war, um zu verhindern, dass das Atomwaffenarsenal Pakistans in die Hände islamistischer Hardliner geriet. Dummerweise hatte sein Tod ein Machtvakuum hinterlassen, das die instabilen Verhältnisse des Landes aufs Äußerste strapazierte. Umar Shirani, der Stabschef der Armee, nutzte das wachsende Chaos für seine Zwecke und setzte Tajs Bemühungen fort, den relativ moderaten Präsidenten des Landes auszubooten.

Zu den Schlüsselelementen seines Vorgehens gehörte es, die nuklearen Sprengköpfe Pakistans unter seine Kontrolle zu bringen. Er verließ sich darauf, dass die restliche Welt keinen Konflikt mit jemandem riskierte, der über Mittel und Wege verfügte, einen Großteil der Region in eine atomare Wüste zu verwandeln. Zumindest würde es niemand auf eine direkte Konfrontation ankommen lassen.

Deshalb hatte General Shirani die Waffen aus ihren sicheren Verstecken holen und quer durchs Land transportieren lassen, damit die zivilen Kräfte der Regierung keine Möglichkeit bekamen, Einfluss auf ihren Einsatz zu nehmen. Natürlich tat er das unter dem Vorwand, die Sprengkörper aus einer politisch zunehmend instabilen Umgebung in Sicherheit zu bringen, doch niemand kaufte ihm diese Begründung ab. Alles lief auf eine Konfrontation hinaus, bei der sich Pakistans Politiker und die Machtelite früher oder später entscheiden mussten, auf wessen Seite sie sich schlugen.

Rapp und seine Teams waren damit beauftragt worden, den Transport der Waffen zu überwachen und dafür zu sorgen, dass sie keiner terroristischen Vereinigung in die Hände fielen. Eine quasi unmögliche Aufgabe. Man verlangte ernsthaft von ihnen, dass sie das siebtgrößte Atomwaffenarsenal der Welt im Blick behielten, das sich ständig in Bewegung befand, während ihnen die sechstgrößte Armee als Gegner gegenüberstand. Ähnlich aussichtslos, wie ein Hütchenspiel zu gewinnen, bei dem man 100 Bälle gleichzeitig im Auge behalten musste – mit der zusätzlichen Komplikation, dass jeder dieser Bälle über das Potenzial verfügte, beim Explodieren eine Großstadt auszulöschen.

Rapp kurbelte die Scheibe auf der Fahrerseite herunter und beschleunigte. Er fuhr rein aus dem Gedächtnis. Die Karte hatte er sich vor Monaten kurz eingeprägt. Bisher war er nie selbst vor Ort gewesen, sondern hatte sich auf die Arbeit eines CIA-Teams verlassen, dass darauf spezialisiert war, geeignete Locations ausfindig zu machen.

Und genau das hätte er, wenn es nach Irene Kennedy gegangen wäre, auch weiterhin tun sollen: sich auf Spezialisten verlassen. Trotz allem, was gerade in Pakistan vor sich ging, brachte er es jedoch nicht übers Herz, diesen Job zu delegieren. Also übertrug er kurzerhand Scott Coleman die Führung und war in eine Gulfstream G550 der Agency gestiegen, um nach Südafrika zu fliegen.

Ein Fehler? Gut möglich. Eine Vernachlässigung seiner Pflichten? Mit ziemlicher Sicherheit. Aber er hielt es für besser, die Sache innerhalb der nächsten 24 Stunden persönlich zu regeln, statt die komplette nächste Woche damit zu verbringen, von Islamabad aus detaillierte Anweisungen zu erteilen.

Das Handy auf dem Beifahrersitz vibrierte. Er verzog das Gesicht, als er feststellte, dass es sich um eine weitere SMS von Monica Estridge handelte. Es ging um dasselbe Thema wie in den letzten 20 Nachrichten, die er ignoriert hatte. Um Granit.

Er hatte der auffallend hartnäckigen Innenarchitektin die komplette Entscheidungsgewalt für die Fertigstellung des Hauses übertragen, dessen Bau er vor der Ermordung seiner Frau in Angriff genommen hatte. Bedauerlicherweise schien sie das simple Konzept der ›kompletten Entscheidungsgewalt‹ nicht zu begreifen. Er hatte keine Ahnung, wie viele Materialmuster, Farbschattierungen und Holzlackierungen es auf der Erde gab, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass diese Frau erst lockerließ, wenn er sich mit allen persönlich beschäftigt hatte.

Die unbefestigte Lehmpiste schwang sich zu einer Anhöhe mit Klippenstreifen empor. Rapp achtete darauf, nicht so schnell zu fahren, dass er unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Als er die Spitze der ersten Kuppe erreichte, erhaschte er einen ersten Blick auf das grau gedeckte Dach des Hauses, nach dem er suchte.

Eine drei Meter hohe Mauer mit farbenfrohen Spitzen aus Glassplittern umgab das Grundstück. Die Bäume waren fast auf Höhe der Rebstöcke eines Nachbarn zurechtgestutzt worden, wodurch sich ein Teil des Areals von hier aus einsehen ließ.

Der Anblick entsprach in etwa dem, der sich auf einem Pferderücken am Ende des letzten Jahrtausends geboten hätte, doch der Schein trog. Hinter der Oberfläche lauerte ein hochmodernes Sicherheitssystem, das bei Alarm nicht nur die örtliche Polizei und einen privaten Wachschutz informierte, sondern auch die führenden CIA-Leute in Südafrika.

Er hatte dafür gesorgt, dass Claudia Gould – inzwischen Dufort – und ihre Tochter kürzlich hier eingezogen waren. Trotz einer langen, schmerzvollen Vorgeschichte und der Tötung ihres Ehemanns durch Stan Hurley ging sie Rapp nicht aus dem Kopf. Ihre Schicksale schienen auf besondere Weise miteinander verbunden zu sein und ließen sich auch durch größte Anstrengungen nicht voneinander trennen.

Ließ er seine Beziehungen mit Frauen Revue passieren, kamen ihm unweigerlich die Begriffe ›Desaster‹ und ›Katastrophe‹ in den Sinn. An besonders miesen Tagen gesellte sich noch ›Super-GAU‹ hinzu. Seine erste große Liebe war bei dem von Terroristen herbeigeführten Absturz von Pan-Am-Flug 103 ums Leben gekommen. Damals hatte er noch an der Syracuse University studiert. Jahre später nahm ihm dann Louis Gould seine Frau und ihr ungeborenes Kind – der inzwischen unter der Erde liegende Gemahl ebenjener Frau, die in dem wunderschönen Cape-Dutch-House lebte, dem er sich gerade näherte.

Seit diesen Tragödien hatte er erfolglos nach jemandem gesucht, der diese Lücke in seinem Leben schließen konnte. Seine Frau Anna war Idealistin gewesen. Einer der Gründe, weshalb er sich in sie verliebt hatte. Während ihn die Finsternis der Welt zu übermannen drohte, begegnete sie allem mit unermüdlichem Optimismus und Hoffnung. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit hatte er einen Teil seiner Menschlichkeit wiedergefunden, die er schon verloren wähnte.

Rückblickend war ihre Beziehung kein Zuckerschlecken gewesen. Anna tat sich schwer damit, seinen Job zu akzeptieren. Ihr Verstand machte ihr zwar klar, dass es Männer wie ihn geben musste, aber tief im Inneren schien sie ihn für einen Teil des Problems zu halten. Einen von vielen gewalttätigen Männern auf der Welt, der verhinderte, dass sich ihr persönliches Ideal von Frieden und Harmonie erfüllte.

Eine weitere Frau wie Anna Reilly schied damit als potenzielle Partnerin aus.

Er versuchte es mit dem exakten charakterlichen Gegenteil und ließ sich mit einer italienischen Auftragskillerin ein, doch ihre Liaison war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Für sie sprachen ihre Schönheit, ihr aufregendes Leben und die Tatsache, dass es sie überhaupt nicht störte, wenn er zu einer Mission aufbrach. Dafür wurde er das Gefühl nicht los, dass sie ihm für einen entsprechenden Preis jederzeit, ohne mit der Wimper zu zucken, im Schlaf einen Eispickel in den Rücken gerammt hätte.

Nach Donatella beschränkte er sich auf kurze Techtelmechtel, die kaum über den Status von One-Night-Stands hinausgingen. Eine frühere Agentin vom Secret Service. Eine Hedgefonds-Managerin, die ihm sein Bruder mal vorgestellt hatte. Eine rothaarige Air-Force-Pilotin, die bei einigen seiner Operationen den Support übernahm.

Bei Claudia fühlte es sich irgendwie anders an. Sie waren sich vor Jahren zum ersten Mal begegnet. Damals hatte er eine offene Rechnung mit ihrem Mann begleichen wollen und ihr eine Pistole an die Schläfe gehalten. Zu behaupten, dass der Blick in ihren Augen ihn seitdem verfolgte, wäre eine Übertreibung. Trotzdem hatte er sie nie vergessen.

Claudias Vergangenheit war nicht so makellos wie die von Anna, aber bei Weitem nicht so blutig wie Donatellas. Sie hatte eine reizende Tochter und eine Seele, die immerhin so stark angekratzt war, dass sie sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, jemanden wie ihn in ihr Leben zu lassen.

Die Perspektive einer gemeinsamen Zukunft hatte ihn dazu veranlasst, sich persönlich darum zu kümmern, dass Claudia in einem anderen Land mit einer unbefleckten Identität ein neues Leben anfangen konnte. Zumindest mit einer Identität, von der man ihm versichert hatte, dass sie unbefleckt war. Doch wie er von einem zuverlässigen Informanten erfuhr, schien es nun jemand auf sie abgesehen zu haben. Wer Jagd auf sie machte und aus welchem Grund, schien niemand zu wissen.

Am wahrscheinlichsten kam ihm die Erklärung vor, dass einer der Feinde ihres verstorbenen Ehemanns für einen kleinkarierten Rachefeldzug aus seinem Loch gekrochen war. Wenn Amateure solchen Bullshit abzogen, brachte ihn das stets auf die Palme. Er nahm sich vor, an diesem Arschloch ein Exempel zu statuieren, damit sich anschließend niemand mehr an Claudia rantraute.

Ein weiterer Grund, weshalb er darauf verzichtet hatte, sich Hilfe von Irene Kennedys Leuten zu holen. Als CIA-Direktorin durfte sie gewisse Grenzen nicht überschreiten. Sein Vorhaben, die Leute zu identifizieren, die Claudia nachstellten, und sie als Expresspaket in Einzelteilen an ihren Auftraggeber zurückzuschicken, überschritt diese Grenzen definitiv.

2

Der Schatten der untergehenden Sonne strich langsam an der Flanke des Berghangs entlang und erzeugte eine längliche Silhouette am unteren Rand. Rapp achtete darauf, sich direkt am Übergang zwischen Hell und Dunkel zu bewegen, weil er sich so am besten den neugierigen Blicken eines Beobachters von einer tiefer gelegenen Position entzog.

Das Gelände war so steil, dass er die Hände einsetzen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und so unwegsam, dass seine Stiefel gelegentlich eine Wolke aus Staub und Geröll lösten und ins Tal schickten. Die Klettertour entpuppte sich als deutlich anspruchsvoller als im Vorfeld gedacht, dementsprechend musste er von seinem ursprünglich festgelegten Vorhaben abweichen.

Er erreichte einen Spalt im schmalen Felsvorsprung, dem er folgte, und blieb kurz stehen, um in über 30 Metern Tiefe die Baumwipfel zu erblicken, unter denen er geparkt hatte. Der Berg bot eine optimale Aussicht auf die Umgebung. Die Landstraße, die in die Stadt führte, ließ sich am Horizont eben noch erkennen, den unbefestigten Weg, der zu Claudias Haus führte, konnte er auf voller Länge nachverfolgen. Noch etwas weiter oben würde er selbst über den Zaun des Grundstücks schauen können.

Von hier aus betrug die Entfernung zu ihrer neuen Bleibe knapp zweieinhalb Kilometer. Ein Scharfschütze hätte sie aus dieser Position unmöglich treffen können. Solche Details hatte er überprüft, bevor er den Kauf des Grundstücks abnickte. Anders sah es mit der kurvigen Lehmpiste aus, die dem Anwesen bis auf 400 Meter auf die Pelle rückte. Eine machbare Distanz für einen fähigen Killer mit der richtigen Ausrüstung.

Genau genommen hatte er von Anfang an gewisse Bauchschmerzen gehabt. Rapp wäre es definitiv lieber gewesen, Claudia und ihre Tochter in einer der gut gesicherten Wohnanlagen in Kapstadt unterzubringen. In einem dicht bevölkerten Großstadtviertel kam man wesentlich schwerer unbemerkt an ein Opfer heran als in diesem ruhigen ländlichen Umfeld.

Allerdings galt es auch andere Faktoren zu berücksichtigen. Was für eine Kindheit hätte Anna in einer solchen Metropole verlebt? Ihm war zwar bewusst, dass seine Ansichten über Kindererziehung der Realität ein paar Jahrzehnte hinterherhinkten, aber er ging davon aus, dass Heranwachsende genug Platz zum Herumtollen brauchten. Er und sein Bruder hätten sich eingesperrt in Beton und Glas auch nicht wohlgefühlt und vermutlich noch mehr Mist gebaut als ohnehin schon.

Die Lücke zwischen den Felsen vor ihm war zwar schmal genug, um sie zu überspringen, aber auf der anderen Seite lagen so viele Steine herum, dass er bei der Landung unweigerlich eine Menge Lärm erzeugt hätte. Rapp legte einen kleinen Umweg zu einem Überhang ein, der auf flacheres Terrain führte. Er benutzte beide Hände zum Klettern, weil der Wind deutlich zunahm.

So rasch wie möglich arbeitete er sich vorwärts. Zwar hatte er seine Bekleidung grob an die Farbe der Felsen angepasst, aber er wusste, dass sich seine Umrisse trotzdem vom Untergrund abhoben. Er stützte sich ab, glitt auf einen Vorsprung und blieb ganz ruhig sitzen, um das Tal nach Anzeichen anderer Menschen abzusuchen. Niemand da. Für den Augenblick tanzte das Schicksal nach seiner Pfeife.

Das Poltern eines herabfallenden Brockens veranlasste ihn dazu, die Glock unter der Jacke hervorzuholen. Er rollte sich auf den Rücken ab und entging knapp einem Wirbel aus Staub und Geröll. Bald entdeckte er Bewegung und verfolgte den pelzigen Torso einige Sekunden lang. Insgesamt vier Paviane, darunter ein groß gewachsenes Männchen, mit dem er sich nicht unbedingt anlegen wollte. Solange er auf Abstand blieb, rechnete er nicht mit Problemen. Eher lieferten ihm die Tiere sogar zusätzliche Deckung.

Rapp kämpfte sich weiter nach oben, entschied sich für eine fast senkrechte Route, bevor er sich oberhalb der aus seiner Sicht optimalen Schussposition wiederfand, falls jemand einen Anschlag auf Claudia und ihre Tochter verüben wollte. Nachdem er die Höhenlage abgesichert hatte, wandte er sich nach Süden und behielt dabei das dichte Gestrüpp unter seinen Füßen im Auge. Nach einigen Minuten erhielt er die Bestätigung für seine Befürchtungen.

Ein einzelner Schütze lag bäuchlings auf einer Felsnase knapp 20 Meter unter Rapps aktueller Position. Er trug grau-grüne Tarnmontur und spähte durch das Zielfernrohr eines Barrett-M82-Scharfschützengewehrs. Weil er ein Basecap trug, war nur die Rückseite seines Kopfs zu erkennen. Ein schwarzer Draht führte vom rechten Ohr in die Jacke, was darauf hindeutete, dass er mit einem Bodenteam in Kontakt stand und vermutlich auch mit dem Verantwortlichen für die Mission.

Rapp inspizierte das Terrain zwischen sich und dem Schützen. Er beschloss, nach Süden weiterzuschleichen und sich dem Gegner über den Abhang zu nähern. Die Sonne war bereits hinter den Gipfeln im Westen abgetaucht, spendete aber noch genügend Helligkeit, dass er sie besser im Rücken behielt. Das Blattwerk an den Felswänden reflektierte sonst die Strahlen und verriet seine Annäherung. Blieben nur noch die Geräusche als mögliches Problem.

Er bewegte sich ganz langsam, stützte sich mit den Armen vorsichtig an den steilsten Stellen ab, um zu verhindern, dass sich Steine lösten. Die ebenen Bereiche legte er kriechend zurück. Trotz der kurzen Entfernung dauerte es etwas mehr als 18 Minuten, um die drei Meter bis zum Schützen zu überwinden. Ein dichter Busch schirmte den anderen vor unerwünschten Blicken ab. Rapp lugte vorsichtig dahinter, um eine letzte Inspektion vorzunehmen.

Die Position des Schützen schien sich nicht verändert zu haben. Reglos wie eine Statue untermauerte er seine Erfahrung und Disziplin. Rapp holte die Glock unter der Jacke hervor und näherte sich ihm zentimeterweise. Der Mann blieb auf das Zielfernrohr fixiert und bekam erst mit, dass er vom Jäger zum Gejagten geworden war, als sich Rapps Pistolenlauf gegen sein Ohr presste.

Er zuckte kurz, bevor er wieder erstarrte.

»Steh auf. Wenn du nicht die Abkürzung ins Tal nehmen willst, verzichtest du besser auf irgendwelche Dummheiten.«