Für jeden, der mit der versifften Kuscheldecke aus Zimmer 72 in Kontakt gekommen ist und es überlebt hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2018 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

 

Covergestaltung: Patrick Andrikowski & Nika S. Daveron

 

Alle Rechte vorbehalten

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Nika S. Daveron

 

BEDFORD

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Kapitel 1

Zimmer 72

 

»Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe.«

 

Altes Testament.

Das zweite Buch Mose (Exodus)

(#2.Mose 23,20)

 

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Als ich erwachte, war da diese Tür. Alt und ranzig, genau wie die Tapete, die sich in großen Fetzen von den Wänden schälte und in ihrem früheren Leben einmal orange gewesen sein musste. Der Raum war fensterlos, in ihm befand sich eine Treppe, die sowohl auf- als auch abwärts führte. Sie war vermutlich genauso alt wie Tür und Tapete und das Geländer knackte fürchterlich, als ich es berührte.

Was war das nur für ein Ort? Eine Lampe mit vergilbtem Papierschirm spendete ihr trübes Licht und gewährte mir zumindest einen Blick auf meine zerschlissenen Jeans. Die hatte ich heute Morgen angezogen, daran konnte ich mich noch gut erinnern.

Erwartungsvoll drehte ich mich einmal um die eigene Achse und musste feststellen, dass der Raum genauso enttäuschend blieb wie bei meiner ersten Bestandsaufnahme. Mit einem Unterschied: Es gab eine Zimmernummer an der Tür. Auf einem Messingschild prangte eine 72 am Holz.

Als ich nach der Türklinke greifen wollte, war dort jedoch nichts, nach dem ich hätte greifen können, sodass ich zurücktrat und tief einatmete. Wo war ich? Und was war geschehen?

»Hallo?«, rief ich nach einer Weile. Nichts. Niemand da. »Hallo?«

Ich trat näher an die Treppe heran und versuchte hinabzusehen, doch unten herrschte nur Dunkelheit. Ein unangenehmer Geruch nach abgestandenem Qualm drang zu mir hinauf, vermischt mit dem Gestank von verschimmelten Möbeln. So hatte es im Haus meiner dementen Tante gerochen.

Ich versuchte mich darauf zu besinnen, wer ich war. Ich war Lillie-Charlotte. Ich war zwanzig Jahre alt. Mein Gedächtnis funktionierte also noch, wenn man mal davon absah, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich hergekommen war. Ich war morgens aufgestanden, wie an jedem Tag. Und dann? Dann fehlte etwas. Offenbar etwas Entscheidendes.

»Hallo?«, versuchte ich es noch einmal.

Prüfend zog ich an meinem Zopf, der mir über die Schulter hing. Der Schmerz kam augenblicklich. Ich träumte also nicht. Das machte das Ganze jedoch nicht besser. Kein bisschen!

Ich versuchte die aufsteigende Panik zu bekämpfen, doch hier gab es keinen Halt, keine helfende Hand, nur die verdammte 72, die mich glänzend angrinste. Am liebsten hätte ich sie heruntergerissen, nur um irgendetwas zu tun.

Meine Schultern verkrampften sich, als ich wieder zu der Tür hinüberging und davor stehen blieb. Das morsche Holz unter meinen Füßen machte nicht eben einen besonders einladenden Eindruck und es hätte mich nicht gewundert, wenn der Boden mich einfach verschlungen hätte.

Ratlos hob ich eine Hand und tat das Einzige, was ich noch nicht ausprobiert hatte: Ich klopfte.

Und prompt sprang die Tür einen Spaltbreit auf. Dichter Tabakqualm drang nach draußen und ich hörte das krächzende Gedudel eines Grammophons, das ein Lied von Bertolt Brecht spielte. Mackie Messer, wenn ich es richtig in Erinnerung hatte. Aus der Dreigroschenoper. Und der Haifisch, der hat Zähne …

»Sie haben verdammt lange dafür gebraucht, sich Ihrer guten Manieren zu entsinnen«, sagte eine Stimme im Inneren des Zimmers 72.

Hustend wedelte ich den Qualm beiseite und schob die Tür mit dem Fuß auf. Drinnen erwartete mich ein fensterloses Büro mit einem großen Schreibtisch aus Eichenholz, ziemlich altertümlich und genauso heruntergekommen wie alles andere, was ich zuvor zu Gesicht bekommen hatte.

Und hinter diesem Schreibtisch saß der vermutlich fetteste Mann der Welt. Er war so ausladend, dass er statt auf einem Schreibtischstuhl auf einem Sofa saß. Sein ungepflegter Bart war stoppelig und ausgefranst, seine Haut glänzte vor lauter Schweiß. Aber seine Schweinsäuglein waren erstaunlich blau. Dazu trug er einen tadellos sitzenden Anzug, der ebenfalls in einem tiefen Blau gehalten war, und eine rote Krawatte. Man hätte nichts auf dieser Welt finden können, das weniger zusammenpasste als dieser Mann mit seiner Kleidung.

»Wer sind Sie?«, fragte ich.

»Ach, es sind des Haifischs Flossen rot, wenn dieser Blut vergießt!«, plärrte das Grammophon.

Alles an dieser Situation war so skurril, dass ich sogar vergaß, mich zu fürchten, obwohl ich es hätte tun sollen. Ich war irgendwo an einem Ort, den ich nicht kannte; vielleicht entführt. Und vor mir saß dieser widerwärtige fremde Mann, dessen einzige Sorge meine Manieren waren. Abstrus! Krank! Vielleicht war ich verrückt geworden?

»Wer ich bin, ist gar nicht von großem Interesse.« Er lehnte sich nach links, sodass ich einen Blick auf die Wand hinter ihm erhaschen konnte. Eine weitere Tür. Ein weiteres Messingschild. Noch mehr hässliche Tapete. »Wer Sie sind, gnädiges Fräulein, das ist interessant.«

»Ich bin Lillie-Charlotte Villeneuve«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Vielleicht war das hier irgendeine kuriose Verwechslung. Geheimdienst und so. Das las man doch öfter mal in der Zeitung.

»Wohnhaft?«, fragte er und beugte sich über ein Blatt Papier, das sich bei näherem Hinsehen als Fragebogen entpuppte. Er schien häufiger Leute wie mich hier zu haben.

»Paris. Rue Berlioz. Brauchen Sie noch mehr? Hören Sie, das hier kann eigentlich nur eine Verwechslung sein. Wir kennen einander nicht und ich weiß auch gar nicht, was Sie hier tun, und überhaupt …«

»Möchten Sie gern nach Hause? Natürlich«, unterbrach er mich, während er die Papiere von sich wegschob, in meine Richtung.

Dann brummte er, mehr zu sich selbst: »Rivendell hatte recht, ich hänge demnächst ein Schild an die Tür, dann kann ich mir das Gequatsche auch sparen.«

Er hatte eine angenehme Stimme, sie passte zu seinem Anzug, allerdings nicht zum Rest seines schwabbeligen Körpers. Seine Finger waren dick wie Würstchen, als er einen Kugelschreiber zückte und ihn mir reichte.

»Was soll ich damit?«

»Unterschreiben.«

»Ich unterschreibe nichts, was ich nicht gelesen habe«, sagte ich bestimmt.

»Dann lesen Sie. Ist mir sogar lieber, dann brauche ich mich gar nicht mehr um Sie zu kümmern.«

Um zu beweisen, dass er es ernst meinte, stellte er sogar sein Grammophon lauter.

»Nein, warten Sie doch bitte!«, versuchte ich es und war wirklich dankbar, dass meine flehenden Worte doch noch Erfolg hatten, denn er wandte sich nun wieder mir zu.

»In einer solch verwirrenden Situation ist man doch froh um jede Hand, die einem entgegengestreckt wird, habe ich nicht recht? Selbst wenn sie in ein paar Wurstfingern mündet.«

Himmel, konnte der Gedanken lesen?! Falls ja, ließ er meinen innerlichen Aufschrei unkommentiert, musterte mich mit seinen Schweinsäuglein jedoch kritisch.

»Also, Fräulein Villeneuve. Die Kurzfassung, ja? Ich habe heute wirklich wenig Zeit. Viele Termine.«

Er deutete auf seinen Arm, obwohl dort keine Armbanduhr war. Sein schmierig nach hinten gekämmtes Haar wies an einigen Stellen Grau auf, als er sich nach vorn beugte und mit seinen dicken Fingern nach einer Zigarre griff, die in einem kleinen Kästchen am Schreibtischende lagen.

»Es ist ganz einfach. Sie sind tot.«

»Was?«, entfuhr es mir.

»Oh ja, das sind Sie. Mit sich hadern können Sie im Übrigen draußen, ich höre mir das nicht mehr an, also machen Sie den Mund zu.«

Ich tat wie geheißen, aber die Worte hallten in meinem Kopf nach. Ich war tot? Wieso? Ich war doch hier! Ich musste wohl ziemlich ungläubig ausgesehen haben, denn er schnaubte belustigt und zündete sich dann in aller Seelenruhe seine Zigarre an. Seele! Halt! War das hier meine Seele, wenn ich tot war? Aber die sah doch so aus wie ich! Jedenfalls trug sie meine Jeans, die ich heute Morgen noch angezogen hatte. Den Rest konnte ich ja nicht überprüfen, denn es gab keinen Spiegel an diesen hässlich tapezierten Wänden.

»Sie sind tot, das können Sie allerdings auch später akzeptieren. Wir kommen nun erst zum Wichtigsten: Sie sind tot und kommen in die Hölle.«

»Es gibt keine Hölle«, antwortete ich stoisch.

»Natürlich nicht.« Er lehnte sich abermals zur Seite, sodass der Blick auf die Tür hinter ihm wieder frei wurde. Zimmer 666.

»Ach kommen Sie, das soll ich Ihnen glauben? Ich bin wahrscheinlich von religiösen Terroristen entführt worden, die wollen, dass ich mich ihrer Sekte anschließe. Habe ich recht?«

Er rollte genervt mit den blauen Augen und nahm noch einen Zug von seiner Zigarre. »Ab jetzt keine Zwischenfragen mehr. Haben wir einander verstanden? Meine Zeit ist wirklich knapp und ich bedaure es jetzt schon, dass man ausgerechnet Ihnen einen Handel angeboten hat. Meine Wahl waren sie jedenfalls nicht.«

Ich sagte gar nichts. Immer noch hallten die Worte »Sie sind tot« durch mich hindurch. Und zu allem Überfluss jaulte auch immer noch diese schreckliche Aufnahme durch den Raum: »Es ist weder Pest noch Cholera. Doch es heißt: Macheath geht um

»Wie dem auch sei«, sagte er nun aufgeräumt. »Sie haben die Wahl: Sie nehmen diesen Handel an und unterschreiben den Vertrag, oder Sie gehen direkt durch diese Tür. Sie führt in die Hölle, wie man sich anhand der Zahl wohl denken kann. Ich habe mir diesen Spaß ausgedacht. Weil mir sonst doch keiner glaubt. Mit der 666 können die meisten Menschen etwas anfangen.«

»Aha«, machte ich. »Aber wenn wir mal annehmen, dass ich tot bin, dann glaube ich nicht, dass irgendetwas in meinem Leben schlimm genug war, um einen Platz in der Hölle reserviert zu bekommen.«

»Oh, Fräulein Villeneuve, an Ihrem erbärmlichen Leben war überhaupt nichts schlimm. Aber Ihr Tod war es. Sie haben sich nämlich selbst gerichtet.«

Ich brauchte einen Moment, um die Bedeutung dieser Worte zu begreifen. Ich sollte mich selbst umgebracht haben? Weshalb? Soweit ich mich zurückerinnern konnte, ging es mir gut. Meinen Eltern gehörte ein nettes Häuschen, ich hatte ein oder zwei gute Freundinnen, keinen festen Freund, weil mir die Kerle in meinem Alter zu niveaulos waren, und einen netten Job in der Unibibliothek, dem ich nachging, weil ich mir noch nicht wirklich sicher war, was ich studieren wollte. Klar, das war kein bewegtes Leben für jemanden, der gerade zwanzig geworden war, aber eben auch kein schlechtes.

»Dafür sollten Sie in der Hölle schmoren. Aber in seiner unendlichen Gnade hat jemand beschlossen, Ihnen zumindest eine Möglichkeit zu geben, diesen Qualen vorerst zu entkommen. Sie könnten uns behilflich sein.«

»Uns? Wem?«

»Uns.« Er machte eine allumfassende Geste. »Bedford.«

»Was ist Bedford?«

»Das ist dieser Ort. Manche nennen ihn das Fegefeuer, aber das ist nicht korrekt. Wir sind die Verwaltung. Auf dieser Seite.«

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, doch ich wagte nicht, ihn erneut zu unterbrechen.

»Am besten nennen Sie es auch Bedford. Es ist der Ort, an dem wir uns befinden. An dem dieses Haus steht. Und es ist auch gleichzeitig der Ort und das Haus an sich. All das ist Bedford. Auch Sie.«

Klang kryptisch. Und total verrückt. Vielleicht war ich von einem Auto angefahren worden und lag nun im Koma und fantasierte mir die verrücktesten Dinge zusammen. Ja, doch, das könnte passen …

»Auch ich bin Bedford. Allerdings heiße ich Cortez.« Er lachte über seinen Scherz. Ich nicht. Als er merkte, dass ich es auch weiterhin nicht tun würde, fuhr er einfach fort: »Sie kennen unsere Seite vermutlich nur aus Ihrer albernen Kirche: das Fegefeuer, die Hölle, der Teufel, Luzifer … So nennt man all das bei Ihnen. Sie werden feststellen, dass dieses Vokabular hier nicht gern genutzt wird – sofern Sie natürlich nicht die Tür hinter mir wählen.«

Ich sagte immer noch nichts.

»Die Bedingungen sind simpel: Sie dürfen hier in Bedford bleiben, wenn Sie für uns ein paar kleine Arbeiten übernehmen.«

»Darf man die Hölle besichtigen? Für den Fall, dass ich Ihnen diesen Unsinn glaube, heißt das natürlich nur.«

»Sehe ich aus, als würde ich gern scherzen?« Cortez’ Stimme war gefährlich leise geworden, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurück machte.

Der fette Kerl konnte verflucht bedrohlich sein, auch wenn er nicht aussah, als würde er mir überhaupt nur zu nahekommen, geschweige denn sich von seinem Schreibtisch wegbewegen.

»Man kann es nicht. Wer einmal durch diese Tür geht, wird dort bleiben. Bis zum Ende seiner Zeit.«

»In Ordnung«, antwortete ich. Hatte ich auch irgendwie erwartet. Selbst wenn ich immer noch auf den Fiebertraum tippte. »Und von welcher Arbeit sprechen wir?«

»Ganz einfach. Sie gehen nach draußen in die Welt und tun das, was Dämonen mit den Menschen tun: sie verführen.«

Das klang weniger anzüglich, als die Worte waren, so wie er das aussprach, weshalb ich mich genötigt sah, nachzufragen: »Verführen?«

»Nicht im herkömmlichen Sinne. Sie müssen sie ein wenig infizieren. Sodass es Nachschub gibt, der durch diese Tür gehen kann. Verstanden?«

»Ich mache also Menschen zu schlechten Menschen?«

»Schlichte Worte für ein schlichtes Gemüt. Ja. Das ist Ihre Arbeit. Wirklich einfach. Und sparen Sie sich bloß jegliche moralische Entrüstung. Sie sind Selbstmörderin, ich pfeife auf Ihre Moral, Fräulein Villeneuve.«

»Ich bin keine –«

»Natürlich nicht. Ein unglücklicher Zufall, nicht wahr? Das erzählen mir viele.«

Ich kniff die Lippen zusammen. Was stritt ich mich überhaupt mit dieser Wahnvorstellung? Ich hatte mich garantiert nicht umgebracht. Warum auch?

»Wenn ich das also tue … dann darf ich hierbleiben? Hier gibt es doch nichts. Nur Sie und mich.«

»Bedford ist viel größer, als es den Anschein hat«, gab Cortez zurück. »Da Sie jedoch derzeit kein Teil davon sind, haben Sie nur Zutritt zum Herzen. Nicht aber zum Gehirn, zu den Blutbahnen oder den Nervensträngen. Sie sind nur Gast.« Das Grammophon surrte und die nervtötende Musik verstummte. »Ah«, machte er. »Die Zeit ist um. Sie müssen sich entscheiden. Die Tür? Oder der Vertrag?«

Ich überlegte nicht lange, griff einfach nach dem Kugelschreiber und setzte meine Unterschrift auf das Papier, das ich nicht las. Warum auch? Ich würde bald erwachen. Oder die Drogen würden aufhören zu wirken. Vielleicht hatte mir jemand was in mein Getränk gemischt. Es hatte ein paar Fälle in der Nähe der Bastille gegeben, wo ich öfter mit meiner Freundin Celiné gewesen war. So auch an diesem Wochenende.

»Das ging schnell«, sagte Cortez mit einem süffisanten Grinsen. »Nie wählt jemand die Tür. Sie alle stehen hier und beteuern inbrünstig, dass es keine Hölle gibt. Aber keiner hat die Eier und sagt: Ich will hinein.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

»Sie werden jetzt gehen. Für heute können Sie noch Fräulein Villeneuve bleiben. Das wird sich morgen ändern. Ihr Zimmer befindet sich links von der Treppe. Falls Sie es nutzen möchten, steht es zu Ihrer Verfügung. Die Küche ist unten. Den Dachboden betreten Sie niemals ungefragt.« Er kratzte sich am stoppeligen Kinn und fügte hinzu: »Und geben Sie acht auf das Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel. Hier räumt nie jemand auf.«

 

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Das Erste, was ich bemerkte, nachdem ich Cortez’ Zimmer verlassen hatte, war der Umstand, dass der Flur nun nicht mehr so leer war wie vorhin noch. Es gab jetzt nicht nur die Tür zu Zimmer 72, sondern auch drei weitere Türen, beziffert mit Zimmer 41, 56 und 83. Sie waren verschlossen und alle aus dem gleichen morschen Holz. Und das untere Ende der Treppe war auch sichtbar, als ich hinabblickte.

Okay, sagte ich in Gedanken zu mir. Das ist ein Traum. Ein ganz merkwürdiger. Ich wache gleich auf. Bestimmt! Oder lag ich vielleicht im Koma und war gezwungen, in dieser merkwürdigen Welt zu bleiben? Hoffentlich nicht!

Fassungslos schüttelte ich den Kopf und machte mich an den Abstieg die Treppe hinunter, nur um etwas zu tun zu haben.

Unten gab es verstaubte Fliesen im Flur und, wenn möglich, eine noch hässlichere Tapete: Diese hier war grün-braun, mit Mustern, die vielleicht mal in den 70ern modern gewesen waren. Rechts von mir gab es eine Schiebetür, links eine angelehnte Holztür, doch vor mir war etwas, das mein Herz schneller schlagen ließ. Eine Haustür. Eindeutig eine Haustür.

Bunte Glasfenster in einer alten, hölzernen Haustür. Irgendwann hatte es einmal ein paar Schnörkel daran gegeben, die Ornamente waren jedoch kaum noch erkennbar. Das Glas war trübe, aber so weit noch intakt. Rot, Orange und Gelb, als trübes Mandala auf den dreckigen Fliesen. Das Holz war so trocken und alt, dass es beinahe schwarz war. Was für ein seltsamer Ort. Aber das hier war eine Tür nach draußen. Die einzige, wenn ich das richtig beurteilen konnte.

Ich dachte nicht lange nach, griff nach der Klinke und schreckte zurück, als eine Stimme hinter mir sagte: »Ich würde die nicht anfassen. Linfai kann das gar nicht leiden.«

Wer? Was? Verwirrt fuhr ich herum und starrte in den hinteren Teil des Flurs, der irgendwo in einem düsteren Gang endete. Doch da war niemand.

Prüfend griff ich noch einmal nach der Klinke, allerdings nicht ohne den Gang zu beobachten, doch das Gleiche geschah wieder: »Himmel, hörst du schlecht? Lass das!«

Ich ließ die Hand sinken.

Vor mir tauchte eine Gestalt auf. Und wenn ich auftauchen sage, dann meine ich das auch genau so: Sie wuchs aus dem Schatten des Treppengeländers empor, eine kleine, kindliche Gestalt, die mir vielleicht bis zur Brust ging, mit kurzen schwarzen Haaren, großen dunklen Augen und einer viel zu tiefen Stimme, die so gar nicht zu ihrer Erscheinung passen wollte. Gekrönt wurde das Ganze jedoch von einem gelben Regenmantel und einem Paar Gummistiefeln in Rot.

Ich fühlte mich immer noch so seltsam, dass mich ihr plötzliches Auftauchen nicht wirklich erschreckte. Mein Gehirn schien gerade irgendwo anders zu sein. Jedenfalls nicht bei der Sache.

»Wer bist du?«, fragte ich.

Sie lächelte schelmisch. »Das Halbkind. Fürchte dich. Huuuuuu!« Wie zum Beweis fuchtelte sie mit den Händen.

Sollte mich das irgendwie beeindrucken? Halbkind? Das sagte mir nichts.

»Kein bisschen Angst?«, fragte das Mädchen. »Nicht mal ein winziges bisschen?«

»Nein, tut mir leid.«

Sie ließ die Hände sinken und zuckte mit den Schultern. »Na schön. Macht nichts. Ich bin Sagitaria. Das Halbkind, die Herrin der Schatten. Weißt du, woher all die Schatten auf der Welt kommen?« Ihre Augen leuchteten bei diesen Worten.

»Nein.« Mehr konnte ich zu dieser Unterhaltung nicht beisteuern.

»Sie kommen von mir!«, sagte das Mädchen, nicht ohne Stolz.

»Oh«, machte ich. »Klar.«

»Am besten lässt du die Finger von der Tür. Du kannst sie eh nicht öffnen. Und die Torwächterin mag es nicht, wenn du daran herumfummelst. Wenn das Glas beschädigt wird, dann gibt es ziemlichen Ärger mit Cortez, und das will niemand.«

»Okay«, murmelte ich und trat einen Schritt zur Seite. »Tür nicht anfassen. Ist in Ordnung.«

»Geh in die Küche, wenn du hungrig bist. Du kannst etwas aus meinem Fach nehmen. Ich glaube, ich habe noch Müsli.«

Hatte mir gerade ein kleines Schattenmädchen angeboten, ihre Cornflakes zu essen? Mein Fiebertraum wurde immer verrückter!

Als ich nachfragen wollte, musste ich jedoch feststellen, dass das Mädchen verschwunden war. Erstaunt rieb ich mir die Augen und blinzelte ein paar Mal. Mich musste etwas am Kopf erwischt haben. Das konnte der einzige Grund für diese skurrilen Halluzinationen sein.

Aus denselben Gründen, aus denen ich vorhin schon die Treppe hinabgestiegen war, betrat ich auch die Küche, die ziemlich stank. Es gab eine Eckbank mit zerschlissener Polsterung (die unter den ganzen Flecken keine erkennbare Farbe mehr aufwies), eine Küchenzeile und einen Vorratsschrank. Alles so dreckig, dass kein gesunder Mensch noch davon essen würde. Geschirr stapelte sich meterhoch in der Spüle, der Backofen war verkrustet und dreckig und irgendetwas musste in der Mikrowelle gestorben sein, denn das Innere war pelzig und grün.

Würgend stolperte ich rückwärts gegen einen Schrank mit mehreren offenen Fächern und diversen Lebensmitteln in unterschiedlichen Stadien der Ungenießbarkeit. Ein paar Namen zierten die Holzbretter: Sagitaria, Linfai. Die kannte ich schon. Aber auch: Rivendell und zwei weitere, unleserliche Namen. Ein paar Fächer ohne Beschriftung.

Ich verzichtete darauf, ihren Inhalt zu erkunden, und ließ mich nach einer Weile auf der staubigen Eckbank nieder, versuchte meine Gedanken zu sortieren. Mein verzerrtes Spiegelbild grinste mich aus einer alten Thermoskanne an. Mein Haar war immer noch so rot gefärbt wie eh und je. Allerdings war meine Wimperntusche ziemlich verlaufen.

Ich zog die Kanne näher heran und versuchte irgendein Indiz dafür zu finden, dass ich tot war. Und was mich weit mehr beunruhigte: dass ich mich selbst umgebracht haben sollte. So etwas hätte ich NIE getan! Nie! Da konnte mir dieses dicke Hirngespinst alles Mögliche erzählen – und ich war geneigt, eine Menge davon zu glauben, denn das hier war erschreckend real und surreal zugleich. Doch wenn ich eines wusste, dann war es das!

»Mann, Hattuscha, ich räume das noch weg!« Die Stimme war laut und schrill.

»Ich habe es dir schon hundert Mal gesagt! Irgendwann sagt es Mama zu mir. Das ist widerlich.«

Zwei Frauen. Ich schob schnell die Thermoskanne von mir weg und versuchte einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.

»Ich habe halt viel zu tun!«, ereiferte sich die erste Stimme.

»Das ist lächerlich. Nichts tust du. Du machst nur die Tür auf und zu. Wie oft klingelt es am Tag? Drei Mal?«

»Du könntest es auch selbst wegräumen, wenn du es so eklig findest.«

»Dir hinterher räumen? Ich bin mindestens 4065 Jahre alt. Seit wann räume ich Leuten wie dir hinterher?«

Eine von beiden seufzte, dann wurde die Holztür geöffnet und zwei Frauen traten ein, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die eine trug das Haar in wildem Orange und dazu einen unsäglichen roten Mantel, der sich ganz fürchterlich mit ihrer Haarfarbe biss. Eine große, schwarz umrandete Brille drohte von ihrer Nase zu rutschen.

Die andere war nicht einmal menschlich … Ihr Haar war grau, doch ihr Gesicht alterslos, mit vollen Lippen, großen Augen und kalkweißer Haut. Aus ihrer Stirn ragten zwei Widderhörner.

»Oh«, machte die mit den Hörnern. »Besuch.«

»Ähm …«, sagte ich nicht sonderlich geistreich.

»Wer bist du? Ich habe dich nicht reingelassen«, sagte die mit der Brille.

»Sie ist die Neue«, hörte ich die tiefe Stimme des Schattenmädchens sagen, das plötzlich aus dem Schatten des Herds trat. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie noch da war.

Plötzlich war der Streit der beiden vergessen, sie schnatterten auf das Schattenmädchen ein und ich verstand nur noch die Hälfte.

»Neu? Wirklich? Er hat schon wieder eine Dumme gefunden? Verrückt«, rief die mit der Brille.

»Wir brauchen aber zwei, oder? Das funktioniert nicht allein.«

Zwei? Was? Wer? Wofür?

»Ich glaube, jemand ist bei ihm. Vielleicht hat er sich dagegen entschieden. Du weißt doch, wie der Fettsack auf Fremde wirkt. Ich würde dem nicht mal einen Staubsauger abkaufen«, schimpfte das Schattenkind namens Sagitaria.

Die mit den Widderhörnern öffnete demonstrativ den Kühlschrank und holte eine Schüssel heraus, die sie auf die Anrichte stellte. »Wo ist denn schon wieder das Besteck? Ich sag’s dir, wenn das alles in deinem Zimmer ist, dann …«

Wo war ich hier nur gelandet? Im Frauenhaus? Ich öffnete den Mund, schaffte es jedoch nicht, die drei Frauen (oder was immer sie waren) zu unterbrechen, denn die mit der Brille hatte bereits eine neue Frage.

»Das heißt, ich muss mich künftig wieder darum kümmern, dass die sicher nach Hause kommen?«

»Sieht ja wohl fast so aus«, antwortete Sagitaria. »Du Arme, du musst dich drei Meter bis zur Tür bewegen. Ein tragisches Schicksal.«

»Ich muss dafür in den Keller«, antwortete die mit dem fürchterlichen Klamottengeschmack beleidigt. »Du hast doch keine Ahnung, wie man solche wie die«, dabei zeigte sie auf mich, »zurückholt.«

»Oh, klar, ich habe nie von irgendetwas eine Ahnung. Das blöde Halbkind ist nämlich ein bisschen dumm und macht das hier auch noch nicht so lange.« Sie verschwand einfach. Vor meinen Augen! Von einer auf die andere Sekunde.

Die beiden anderen waren das wohl schon gewohnt, ja, sie kommentierten es nicht einmal! Irre!

»Hallo?«, versuchte ich die kleine Sprechpause der beiden zu nutzen. Sie starrten mich an, als wäre ihnen jetzt erst wieder eingefallen, dass ich auch da war. »Entschuldigung … aber wo bin ich hier? Und wer seid ihr?«

»Du bist im Fegefeuer, Schätzchen«, sagte die mit den Widderhörnern. »In Bedford.«

Das wusste ich bereits. Und trotzdem war es irgendwie erschreckend, es von jemand anderem als diesem feisten Kloß im Obergeschoss zu hören.

»Gewöhn dich also dran«, wies mich die mit der Brille zurecht. »Weißt du, wir müssen uns ständig anhören, dass wir ja alle nicht echt sind und so … also spar dir solche Worte.«

»Klar«, antwortete ich, obwohl mir überhaupt nichts klar war.

»Linfai!«, brüllte die mit den Hörnern. »Wie widerlich! Nimm die Finger aus meinem Kartoffelsalat!«

Ich zuckte bei ihrem Schrei zusammen. Oh verflucht! Ich saß im Fegefeuer, wegen etwas, das ich sicherlich nicht getan hatte. Und hier stritten sich zwei Schnepfen um einen Kartoffelsalat! Hätten das mal die Bibelschreiberlinge früher gewusst …

 

Kapitel 2

Der Tod wohnt auf dem Dachboden

 

»Der Lebenslauf des Menschen besteht darin, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.«

 

Arthur Schopenhauer –

Die Welt als Wille und Vorstellung

 

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Das Leben in Bedford war, wie ich bald feststellen musste, kurios, auf viele verschiedene Weisen. Zum einen waren da die Gesetze der Physik, die nicht immer konstant blieben, denn im Badezimmer floss das Wasser manchmal aufwärts. Und es kam vor, dass ich ganze Räume nur in Schwarz-Weiß wahrnahm, obwohl ich sie zuvor noch in all ihrer bunten Hässlichkeit hatte bewundern können.

Und dann waren da noch die Bewohner, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Da gab es die vorhin erwähnte Torwächterin Linfai, eine Frau mit schriller Stimme und null Manieren. Das Halbkind, Sagitaria, bedurfte keiner weiteren Erklärung und ich war ehrlich froh, wenn ich sie nicht sah, denn ihr Hang zu überraschenden Auftritten war wirklich erschreckend.

Hattuscha, eine Dämonin, so wie sie sich mir vorgestellt hatte, war ebenfalls eine merkwürdige Person und musterte mich stets kritisch, obwohl sie nie ein böses Wort sprach.

Dann gab es da noch Rivendell: die einzige Person, die durch die Haustür ins Innere von Bedford kam. Er erinnerte mich auf eigentümliche Weise an eine Echse, denn er hatte starre grüne Augen und keinerlei Haare am Körper. Und er trug stets einen knarrenden Ledermantel.

Das Seltsamste an all diesen Gestalten war jedoch, dass sie mir kaum Beachtung schenkten. Sie betrieben Small Talk mit mir. Mehr nicht. Ich bekam nicht heraus, was sie hier taten, sie fragten mich nie, warum ich hier war, und sie erklärten mir nur drei Dinge.

Erstens: »Guck auf das Ablaufdatum der Lebensmittel« – kannte ich schon.

Zweitens: »Trag dich in die Einkaufsliste ein, sonst gehst du leer aus« – ich trug mich ein, ohne zu wissen, wofür.

Drittens: »Warte« – tat ich.

Ich wusste nur nicht, worauf. Ich schlief oben in Zimmer 83, was wohl höchstens noch als Wohnstätte für eine Milbenkolonie durchgegangen wäre, und ging hinunter in die Küche, um meine Zeit dort abzusitzen. Meist schweigend, während sich Torwächterin, Dämonin und merkwürdiger Gast gegenseitig in die Haare bekamen und lautstark stritten. Manchmal kam Sagitaria dazu, manchmal nicht.

Was mich außerdem verwunderte: Cortez kam nie. Nicht ein einziges Mal sah ich ihn außerhalb seines Zimmers, so dass ich ihn auch nicht mehr fragen konnte, was genau ich da unterschrieben hatte. Wahrscheinlich hätte er mir sowieso keine Auskunft gegeben.

Ich versuchte die Sache analytisch anzugehen: Angeblich war ich tot – was Unsinn war, denn ich lebte ja noch. Nur eben an diesem Ort. Doch ansonsten sah ich aus wie immer und verspürte nach wie vor Hunger und Durst. Also war ich irgendwo gefangen. Vielleicht entführt. Ob meine Eltern nach mir suchten? Bestimmt!

Erschreckenderweise wollte sich keinerlei Heimweh oder Niedergeschlagenheit einstellen, nein, ich saß lediglich da und wartete. Auf was auch immer. Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich eigentlich gar nichts. Ich nahm das hin, was sich mir hier bot. Als wirkten an diesem Ort, den sie Bedford nannten, unsichtbare Kräfte, die einem sämtliche Gefühle nahmen.

Das änderte sich schlagartig, als ich eines Morgens von einem merkwürdigen Geräusch geweckt wurde. Es war natürlich nicht wirklich Morgen. Es war nur nach dem Aufwachen. Ob es hier überhaupt Tage gab, wusste ich nicht, denn wann immer ich durch das Buntglas der Haustür, oder aus einem der zahlreichen Fenster spähte, erkannte ich nichts dort draußen.

Das Geräusch war das Quietschen der Türklinke. Ich trug ein altes Herrenhemd, welches ich wahllos aus einem der Schränke geholt hatte und mir viel zu groß war, zog schnell die Decke höher und rief: »Herein!«

Ein schmutzig-blonder Schopf schob sich durch die Tür. Er gehörte zu einem jungen Mann, den man nur als dreckig bezeichnen konnte. Seine Haut war blass, beinahe bläulich, und er sah aus, als hätten sie ihn gerade aus der Seine gefischt.

Ich rutschte unwillkürlich ein Stück zurück und schlug dabei mit dem Kopf gegen ein tief hängendes Bücherregal, welches nun seinerseits nachgab und einen ganzen Hagel an Büchern auf mich herabregnen ließ. Was der Kerl daraufhin tat, konnte ich nicht sehen, aber ich hörte ein ersticktes Keuchen, während mir die schweren Folianten auf Rücken und Schulter krachten. Einer traf mich mit der Kante schmerzhaft am Hinterkopf und ich versuchte fluchend, wenigstens mein Gesicht zu schützen.

Als ich wieder aufblickte, sah der Fremde mich völlig entgeistert an. »Ich wusste nicht, dass hier noch jemand lebt«, sagte er entschuldigend.

»Niemand lebt«, gab ich giftig zurück, obwohl ich das nach wie vor von mir behauptete. Ärgerlich rieb ich mir meine schmerzenden Arme und musterte den Eindringling dann genauer. Seine Haare waren strähnig und eigentlich viel zu lang. Seine Augen waren blau, doch sie wirkten trübe und gelb. Seine Lippen aufgesprungen, die Hose völlig zerschlissen, das T-Shirt dreckig und seine Arme vollkommen verkrustet.

»Wer bist du?«, fragte ich misstrauisch. Gab es hier Eindringlinge? Und wer half mir, falls dieser heruntergekommene Typ mich überfallen wollte?

»Gabriel.«

»Das meine ich nicht«, grollte ich. »Wo kommst du her?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin irgendwann hier aufgewacht.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass er eine Tasche trug. War er mit dieser gestorben und in dieses merkwürdige Zwischenreich gewechselt? Konnten Taschen eigentlich auch sterben? Herrgott, warum wusste ich eigentlich gar nichts?

»Du hast einen Vertrag unterzeichnet, oder?«, fragte ich leise.

Er nickte, sah mir dabei aber nicht in die Augen. Dieser Kerl hatte definitiv ein Problem.

»Das Bad ist unten, wenn du dich waschen willst.« Obwohl das keine Frage des Wollens war. Wenn dieser komische Kauz hierblieb, würde ich persönlich dafür sorgen, dass er duschte, so wie er roch.

»Bist du auch von … woanders?«, fragte er und sah mich zum ersten Mal an.

»Ja«, gab ich zurück.

»Wie heißt du?«

»Ich bin …« Ich stockte. Mein Name? Mein verfluchter Name … Er wollte mir nicht mehr einfallen. Weder mein Vorname noch mein Nachname. Das konnte doch nicht wahr sein! Die merkwürdige Magie des Hauses musste schuld sein.

»Ich bin«, wiederholte ich. »Ich …« Wütend schrie ich auf. Das durfte doch nicht sein! Jeder brauchte einen Namen! Wenn sie mir auch noch diesen nahmen, was war ich dann noch? Hatte man mir unbemerkt Drogen eingeflößt? Immerhin hatte ich aus der Küche ein paar Sachen gegessen, um nicht zu verhungern.

»Ist schon okay«, sagte er und grinste. Er hatte ein nettes Lächeln, auch wenn er ansonsten völlig fertig aussah. »Ich weiß meinen Namen auch nicht immer. Woher kommst du?«

»Paris.« Das wusste ich noch. Wie seltsam. Und auch sonst wusste ich so ziemlich jedes Detail meines Lebens. Doch in keinem davon kam mein Name vor.

Er warf seine Tasche einfach auf das Bett gegenüber und schaute sich dann im Raum um. »Kannst du mir sagen, wo ich bin? Und zwar wirklich? Nicht dieser kryptische Mist, den mir der fette Sack da erzählt hat.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Viel mehr weiß ich auch nicht. Aber hier wohnen noch andere Leute. Scheinbar schon ewig.«

»Hm«, machte er und kratzte sich am stoppeligen Kinn, während er seine Tasche öffnete. Ein T-Shirt, eine Hose und ein Paar Sneakers kamen zum Vorschein, alles reichlich zerknittert, aber deutlich sauberer als das, was er am Leib trug.

»Sag mal«, murmelte ich nach einer Weile, während er nichts tat, als die Sachen in aller Seelenruhe zusammenzufalten, »warum bist du hier?«

Er wandte mir den Rücken zu. »Probleme«, gab er zurück. »Ich bin tot, sagen sie.«

»Wer, sie?«

»Na, eigentlich nur der Fettsack. Und du.«

»Du hast dich selbst umgebracht?«

Er hielt mitten in der Bewegung inne. »Wenn du das so nennen willst.«

Oh, super. Mein Zimmergenosse stank also nicht nur, er erging sich auch noch in Worthülsen, die genauso von den anderen Bewohnern von Bedford stammen könnten. Langsam hatte ich wirklich die Schnauze voll. Ich sprang auf (ungeachtet dessen, dass ich nur einen ziemlich hässlichen Omaschlüpfer zu meinem Hemd trug) und deutete anklagend mit dem Finger auf ihn.

»Ich hab so die Schnauze voll von diesem Ort. Du platzt hier rein, stellst mir saudämliche Fragen und hast nicht mal den Anstand, mir meine zu beantworten, obwohl du hier der Eindringling bist. Dieses ganze Haus stinkt und ist dreckig, alle Bewohner sind geisteskranke Hirngespinste, die sich benehmen, als wären sie zwölf, und ich habe irgendetwas unterzeichnet, von dem ich nicht weiß, was es ist! Und es will mir niemand verraten, nur weil ich Schiss hatte, in die Hölle zu kommen, an die ich nicht mal glaube. Und hier stehst du, völlig verdreckt, und laberst mich voll! Und den Kopf habe ich mir auch wegen dir gestoßen! Ich will endlich aus diesem Koma, Albtraum oder was auch immer aufwachen, damit ich mein ganz normales Leben zurückbekomme. Und meinen Namen! Meinen beschissenen Namen! Und meine Eltern. Meine Freunde! Meine …«

Neben mir erschienen ein dunkles Paar Augen und ein schwarzer Haarschopf. Erst dann war der Rest des Halbkinds sichtbar.

»Deine liebliche Stimme hört man bis in die Küche.«

»Ja und?«, fauchte ich.

Sie zuckte mit den Schultern, während Gabriel, der Eindringling, fasziniert auf die kleine Gestalt herabblickte. Sie hatte ihn nicht einmal erschreckt. Vielleicht war er ein bisschen zurückgeblieben? Das würde zumindest seine mangelnde Hygiene erklären.

»Ihr solltet einmal auf den Dachboden gehen«, sagte Sagitaria zu mir. Sie lächelte, aber ich konnte nicht deuten, was dieses Lächeln mir verheißen sollte.

»Ich darf mich aber schon noch anziehen, ja?« Plötzlich fühlte ich mich schrecklich müde und krank, als hätte ich Fieber. Und zu allem Überfluss kämpfte ich mit den Tränen. Ich hasste diesen Ort und all diese Wesen hier plötzlich so inbrünstig, dass ich das kleine Mädchen am liebsten gewürgt hätte.

»Geht nach oben«, wiederholte sie. »Da wartet jemand auf euch.«

Ich nickte nur – aus Angst, dass nur ein Schluchzen hervorkommen würde, wenn ich den Mund auftat – und zog rasch meine Hose an.

Gabriel ließ seine Tasche stehen und folgte mir auf den Flur. »Wohin geht es dort?«, fragte er mit Blick auf die Treppe nach unten.

»Nach draußen«, antwortete Sagitaria für mich, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.