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Diese Anthologie versammelt Texte, die unterschiedlich viel Zeit beanspruchen. Wer bald wieder los muss oder nur ein paar Minuten hat, ist mit den hier zusammengeführten Romanauszügen, Geschichten und Gedichten gut beraten. Sie alle erzählen davon, wie es sich anfühlt, unterwegs zu sein, und machen Lust auf noch viel mehr ›Lesezeit‹.

LESEZEIT. Antonia Marker (Hg.)
UNTERWEGS

Lektüre für jedes Zeitfenster

 

 

Inhalt

Vorwort

Mariana Leky   ›LIEBESPERLEN‹

Helmut Krausser   COVERVERSION VON HUGO VON HOFMANNSTHALS ›REISELIED‹

Richard Russo   AUSZUG AUS ›STIMME‹

Dorothee Elmiger   AUSZUG AUS ›SCHLAFGÄNGER‹

Lorenz Just   ›DER BERICHT EINER REISE‹

Tilman Rammstedt   ›SOMMER‹

Jan Brandt   ›REISEN MIT MEINER TANTE‹

Wiglaf Droste   ›ES BLEIBT EIN STÜCK HANNOVER ZURÜCK‹

Susanne Heinrich   ›UNTER FREIEM HIMMEL‹

Jan Koneffke   ›HEIMSUCHUNG‹

Hilary Mantel   ›WIE SOLL ICH SIE ERKENNEN‹

Thomas Gsella   ›DER BMW IM WEG‹

Roman Ehrlich   ›ÜBER DIE POSITIONEN IM RAUM‹

J. L. Carr   AUSZUG AUS ›EIN MONAT AUF DEM LAND‹

Judith Kuckart   ›SPÄTES GLÜCK‹

Geoff Dyer   ›WHITE SANDS‹

Meg Wolitzer   AUSZUG AUS ›DAS WEIBLICHE PRINZIP‹

Martin Kluger   ›DIE FEUERSCHLUCKERIN‹

Anne Köhler   ›ALS ICH PRAKTIKANTIN IN ISRAEL WAR‹

John von Düffel   ›HIOB‹

Quellennachweise

LESEZEIT.

Ein Vorwort und eine Gebrauchsanweisung

Dieses Buch hier versammelt Texte verschiedener DuMont-Autor*innen zum Thema »Unterwegs«. Die Menschen, die uns in diesen Romanauszügen, Geschichten und Gedichten begegnen, sind auf Reisen, im Aufbruch, auf der Suche – mal nach sich selbst, mal nach einem Ort, an den sie gehören könnten. Und wenn wir wollen, nehmen sie uns mit: raus aus dem Alltag, weg vom Handy, rein in die Kontemplation. Wenn wir lesen, geraten wir ins Nachdenken über uns und die Welt. Und in einer Zeit, in der es gar nicht mehr so leicht ist, sich zurückzuziehen und ganz für sich zu sein, ist diese Form des Auseinandersetzens mit dem Außen und Innen vielleicht wichtiger denn je.

Aber aus der Praxis wissen wir alle: Es ist gar nicht so leicht, sich den Raum und die Ruhe zu verschaffen, die es für die Lektüre braucht. Dieses Buch soll dabei helfen, sich Zeit zum Lesen zu nehmen. Die Beiträge in der Anthologie sind unterschiedlich lang – und so für unterschiedlich große Zeitfenster gedacht. Die voraussichtliche Lektürezeit ist bei jedem Text mit angegeben. Ein durchschnittlich schnell Lesender schafft zweihundertfünfzig Wörter pro Minute, sagt die Forschung. Natürlich nur ein grober Richtwert, von dem man sich keinesfalls unter Druck setzen lassen sollte, doch bestimmt eine gute Orientierungsmarke. Also: Ob die zehn Minuten Wartezeit an der Bushaltestelle, die Viertelstunde nach Feierabend auf dem Sofa, die fünf Minuten morgens im Bett, bevor der Snooze-Alarm wieder losgeht: In diesem Buch sollten Sie den passenden Text finden.

Und klar, wahrscheinlich lesen wir heute sowieso schon viel mehr als die Generationen vor uns. Schließlich kommunizieren wir alle Tag für Tag wie verrückt. Doch dabei geht es vor allem ja um Texte, die irgendeinen praktischen Nutzen erfüllen sollen. Aber es wäre gar nicht schlecht, wenn es so bliebe, dass Texte mehr sein können als reine Gebrauchsgegenstände, oder? Betrachten Sie die ›Lesezeit‹ als Plädoyer fürs »Lesen einfach nur so«, nicht zweckgebunden, sondern aus reiner Freude an Geschichten: Konkurrierendes Freizeitangebot hin oder her – diese Freude sollten wir uns nicht nehmen lassen. Schon Schopenhauer wusste: »Lesen heißt mit einem anderen Kopf statt des eigenen denken.« Das ist doch mal was.

Viel Freude mit der ›Lesezeit‹ wünscht:

Antonia Marker, Lektorin Belletristik bei DuMont

kapitel

LIEBESPERLEN

Mariana Leky

Meine Mutter raucht viel, besonders am Morgen davor. Am Morgen davor nimmt sie nichts zu sich außer Zigaretten. Sie steht am Kippfenster in der Küche und bläst den Rauch durch den Schlitz auf die Straße. Auf der Fensterbank steht eine Tasse lauwarmes Wasser, daneben liegt eine silberne Cappuccinotüte, sie hat beides vergessen.

»Warum fliegst du nicht mit«, frage ich. Ich frage das jedes Mal. Jedes Mal sagt meine Mutter: »Wegen der Katze.« Sie hustet. Mein Vater kommt in die Küche, mit vielen großen Tüten aus Glanzpapier, und hustet auch. Er stellt die Tüten auf den Küchentisch. »Warum fliegst du schon wieder«, frage ich und setze mich auf die Fensterbank. »Das weißt du doch«, sagt mein Vater, und ich sage: »Wegen der Wüstenluft.«

Meine Mutter schnippt die Zigarette aus dem Fensterschlitz. Mein Vater zieht neue Hemden und Badehosen aus den Glanzpapiertüten, knipst die Preisschilder ab und legt sie in die Reisetasche. Wir fahren ihn nicht zum Flughafen. Er küsst uns auf den Mund, sagt »Na denn« und dass er jetzt gehen müsse. Dann geht er. Meine Mutter zündet sich eine neue Zigarette an und bläst den Rauch in den Raum. Wenn mein Vater weg ist, rauchen wir im ganzen Haus. Wenn mein Vater da ist, stellen wir uns zum Rauchen an das Kippfenster in der Küche, abwechselnd.

»Was ist diesmal dran«, frage ich meine Mutter. »Der Keller«, sagt sie.

Ich rauche auch viel. Ich habe es in Agadir gelernt. Zu meinem vierzehnten Geburtstag schenkte mir mein Vater eine Reise nach Marokko, weil der Arzt gesagt hatte, Wüstenluft sei gut; ich hatte mit einer Stereoanlage gerechnet. Wir wohnten in einem Hotel am Meer. Es gab viele streunende Katzen in der Hotelanlage, die vom Personal verjagt wurden, weil sie hässlich aussahen: Entweder hatten sie nur ein Auge oder nur ein Ohr oder nur drei Beine. Die Katzen wurden verjagt, immer wieder; es sei denn, sie hatten Katzenkinder. Dann durften sie bleiben, denn Katzenkinder sind niedlich. Es gab streunende Katzen und für meinen Vater viele Tennisplätze, deswegen kamen wir aus der Hotelanlage nie heraus. Er spielte den ganzen Tag. »Mit wem spielst du«, fragten wir, und er sagte: »Ich spiele mit wechselnden Partnern.« Meine Mutter saß auf der Hotelterrasse und bereitete seine Vorlesung für das Wintersemester vor, eine Vorlesung über Psychosomatose. Ich lag am Pool und hörte Walkman. Manchmal setzte der Hotelanimateur sich zu mir auf das Handtuch und hörte auf einem Stöpsel mit.

Ich verliebte mich in den Animateur, weil ich achtmal Dirty Dancing gesehen hatte. Der Animateur hatte ein braunes Gesicht und sehr weiße Zähne. Er trug einen hellblauen Trainingsanzug aus Wolle, auch wenn es heiß war, immer denselben. Eines Tages küsste mich der Animateur, als meine Mutter nicht hinsah. Während er mich küsste, dachte ich an die Postkarten, die ich meinen Freundinnen schreiben würde, die zu Hause bleiben und ins Kino gehen mussten. Dann brachte der Animateur mir das Rauchen bei. Es war ganz leicht.

Beim Abendessen sagte ich: »Ich habe mich verliebt.« Mein Vater sagte: »O Gott«, und schüttelte den Kopf, so, wie er den Kopf schüttelt, wenn jemand anruft und fragt, ob er Patient werden könne wegen der und der Geschichte, und meinem Vater die Geschichte nicht zusagt. Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel meiner Mutter und zündete sie an. Mein Vater nahm sie mir aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus. »Mein Kind macht sich kaputt«, sagte er, »und ich muss dabei zusehen.« Meine Mutter nahm die Zigarette aus dem Aschenbecher und bog sie wieder gerade. Wir aßen Oliven, weil es so heiß war und der Arzt gesagt hatte, wenn man schwitzt, müsse man Salz essen. Ich erzählte von dem Animateur und seinen schwarzen Augen, und mein Vater fing an zu schielen. Mein Vater fängt immer an zu schielen, wenn es ihm langweilig wird. Er schielt oft, wenn er länger mit uns zusammen ist, besonders schlimm ist es zu Ostern oder am Heiligen Abend, dann schielt mein Vater dauerhaft, und ich frage mich, was der Arzt wohl dazu sagen würde. Meine Mutter zündete sich die gerade gebogene Zigarette an und schlug ihm vor, tanzen zu gehen, »nur du und ich«, sagte sie.

Der Schlangenbeschwörer kam, und ich zog die Schultern hoch. Der Schlangenbeschwörer kam jeden zweiten Abend, er wechselte sich mit der Bauchtänzerin ab und legte jemandem die Schlange um den Hals, er legte immer mir die Schlange um den Hals. »Weil du hier die Kleinste bist«, sagte mein Vater, »dich kann sie am besten vertilgen.« Ich lächelte und schwitzte, die Gäste an den Nebentischen lachten und klatschten, und der Schlangenbeschwörer strahlte. »Schön«, sagte mein Vater zu meiner Mutter und stand auf, »ich mache aber vorher noch ein Spiel. Wir treffen uns im Appartement.« Mein Vater ging, und ich lief zur Hotelküche, um mich mit dem Animateur zu treffen.

Der Küchenchef wollte mich nicht in die Hotelküche lassen. Der Animateur sagte einiges auf Arabisch, dann lachte der Küchenchef, schlug ihm auf die Schulter und ließ mich hinein. Wir setzten uns vor den offenen Kühlschrank, es war immer noch heiß, und tranken Pfefferminztee mit viel Zucker. Wir hörten Walkman, rauchten und stocherten im Zucker herum, der sich auf den Böden der Teetassen abgesetzt hatte. Schließlich sagte der Animateur: »Dein Vater spielt viel Tennis.«

»Ja«, sagte ich. Der Animateur legte mir den Arm um die Schulter. »Deine Mutter nicht«, sagte er. »Nö«, sagte ich.

Der Animateur wohnte in einem Bungalow hinter dem Hotel. Wir gingen hintereinander her, seine Badeschlappen klatschten bei jedem Schritt auf das Pflaster. »Mein Vater hat Asthma«, sagte ich, »deswegen sind wir überhaupt hier, weil der Arzt gesagt hat, Wüstenluft ist gut.« Der Animateur drehte sich nicht um. »Zu viel geraucht«, sagte er. »Nein«, sagte ich.

Mein Vater raucht nicht. Mein Vater sagt, er sei kein Suchtcharakter; ganz im Gegensatz, sagt er, zu meiner Mutter. Meine Mutter sagt: »Die Zigarette ist mein einziger Freund.« Meinem Vater gefällt dieser Satz. Er hat ihn verwendet in seiner Vorlesung über reaktive Depression.

Der Bungalow bestand aus einem Zimmer, darin waren ein Schrank, ein Spiegel und ein Bett. Der Animateur und ich setzten uns auf den Bettrand und betrachteten seine Füße, sein rechter Zehennagel war gelb und geriffelt. »Hast du eine Zigarette«, fragte der Animateur nach einer Weile. »Leider nicht«, sagte ich. Der Animateur stand auf, lächelte, fasste mich an den Unterschenkeln und legte meine Beine aufs Bett, so, wie man die Beine von jemandem aufs Bett legt, der eine Querschnittslähmung hat. Dann legte er sich auf mich, fasste mich mit einer Hand am Ohr und fing an, mit den Hüften zu kreisen. Ich guckte auf die Styroporplatten an der Decke und dachte an die Postkarten, die ich meinen Freundinnen schreiben würde, die zu Hause waren und ins Kino gingen. Dem Animateur fiel erst der eine, dann der andere Badeschlappen von den Füßen; dann hörte er auf, mit den Hüften zu kreisen, und setzte sich auf den Bettrand. Sein Trainingsanzugoberteil war ihm aus der Hose gerutscht. Ich strich mein Kleid glatt und sagte, ich müsse jetzt gehen. Mein Ohr tat weh.

»Dein Ohr ist ganz rot«, sagte meine Mutter und lächelte. Meine Mutter lächelt immer, wenn sie weint und plötzlich jemand neben ihr steht. »Was ist denn«, fragte ich, »wieso seid ihr nicht tanzen.« Meine Mutter hatte sich die Lippen angemalt. »Er ist immer noch nicht da«, sagte sie, und: »Wo um Himmels willen bist du gewesen?« Sie aschte in einen Zahnputzbecher.

Am nächsten Morgen war mein Vater wieder da und meine Mutter verschwunden. Wir frühstückten zu zweit. Aus dem Lautsprecher im Frühstücksraum kam marokkanische Musik, immer das gleiche Lied, und es hörte sich an, als hätte der Sänger viel zu beklagen. »Wo bist du gewesen?«, fragte mein Vater. »Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht und noch mehr geraucht als sonst. Sie geht noch zugrunde daran.«

»Wo bist du gewesen?«, fragte ich zurück. Mein Vater sagte, ich müsse nicht alles wissen, und ich sagte, ich wüsste nicht nur nicht alles, sondern überhaupt nichts, und mein Vater sagte, um so besser. Wo ich gewesen sei. »Ich war mit dem Animateur weg«, sagte ich. Er werde dafür sorgen, dass ich diesen Animateur nicht wiedersehe, ein ganz windiger Kerl sei das, sagte mein Vater. »Mein Kind macht sich kaputt«, sagte er, »und ich muss dabei zusehen.«

Wir fanden meine Mutter unter einer Pinie bei den Bungalows. Sie hockte im Gras. Ich setzte mich neben sie, mein Vater blieb stehen. Unter der Pinie lag eine getigerte Katze mit fünf Katzenkindern. Vier hingen an ihren Zitzen und drückten die Pfoten in den Bauch der Mutter. Das fünfte versuchte auch zu trinken, aber die anderen ließen es nicht heran. Das fünfte Katzenkind war mager und viel kleiner als seine Geschwister. Es atmete schnell. »Das kommt nicht durch«, sagte mein Vater von oben. Meine Mutter nahm das Katzenkind auf die Hand. »Wir brauchen eine kleine Flasche«, sagte sie. »O Gott«, sagte mein Vater und schüttelte den Kopf, wie er den Kopf schüttelt, wenn jemand Patient werden will und meinem Vater die Geschichte nicht zusagt. »Eine Flasche mit einem ganz kleinen Schnuller«, sagte meine Mutter. Mir fielen die Liebesperlenfläschchen ein, die meine Freundinnen und ich früher am Kiosk gekauft haben, Fläschchen mit sehr kleinem Schnuller. Winzige bunte Kugeln sind darin, die Liebesperlen heißen und nach überhaupt nichts schmecken. »Das hat doch keinen Sinn«, sagte mein Vater. Meine Mutter lächelte ihn an, und daran sah er, dass sie geweint hatte. »Geh und frag deinen Animateur«, sagte er zu mir.

Der Animateur war im Dienst. Aus einem Lautsprecher am Swimmingpool kam Musik von Roger Whittaker, Tanz heut nacht mit mir, und der Animateur tanzte mit einer Dame, die einen fliederfarbenen Bikini trug und eine fliederfarbene Badehaube. Ich tippte dem Animateur auf die Schulter. Er küsste der Frau die Hand und drehte sich zu mir um. »Ich brauche so eine Art Liebesperlenfläschchen«, sagte ich, »weißt du, wo ich eins kriegen kann?« Der Animateur hatte keine Ahnung, was ein Liebesperlenfläschchen war. Der Animateur sprach besser Englisch als Deutsch. »A small bottle with love pearls in it«, sagte ich. »Love pearls«, lachte der Animateur und schlug mir auf den Hintern. Die Dame im fliederfarbenen Bikini kicherte.

Mein Vater und ich fuhren ins Stadtzentrum, meine Mutter blieb beim Katzenkind. Wir gingen über einen Markt voller Gewürzberge, wir gingen in Läden, in denen kopfüber Hammel hingen, ganze Hammel ohne Haut und mit chlorwasserblauen Augen. Wir gingen in Läden, in denen es türkischen Honig gab, Wasserflaschen aus Leder, Silberschmuck, Reiswaffeln und Oliven. Wir fragten nach Liebesperlen, ich sagte »love pearls«, mein Vater sagte »perles d’amour«. Die Händler sagten, wir kämen ja aus Deutschland, Deutschland sei schön und sie hätten gute Freunde in Dortmund oder Wiesbaden.

»Versuchen Sie es mit einer Spritze«, sagte der Hotelportier zu meiner Mutter. Der Portier redete auf Arabisch mit dem Küchenchef, und der Küchenchef kam mit einer Spritze und einer Tüte Milch. Meine Mutter strahlte. Mein Vater ging Tennis spielen. Meine Mutter und ich gingen zur Pinie, das Katzenkind lag zusammengerollt zwischen seinen Geschwistern. Man konnte sein Herz schlagen sehen. Meine Mutter nahm es in die Hand und träufelte Milch aus der Spritze auf seine winzige Schnauze. Das Katzenkind trank. »Das Katzenkind hat getrunken«, erzählte meine Mutter meinem Vater beim Abendessen. »Du verlängerst nur sein Leiden«, sagte mein Vater. Ich zog die Schultern hoch, weil der Schlangenbeschwörer kam.

Wir hatten noch drei Tage. Mein Vater spielte drei Tage lang Tennis mit wechselnden Partnern und hustete nicht mehr, wegen der Wüstenluft. Meine Mutter fütterte drei Tage lang stündlich das Katzenkind, nachts stellte sie sich den Wecker. Einmal stand ich auf, als ich den Wecker klingeln hörte, und ging ins Zimmer meiner Eltern. Meine Mutter zog sich den Bademantel über, das Bett meines Vaters war leer. Es war Viertel vor drei, wir gingen über den Steinweg zu den Bungalows. Im Bungalow des Animateurs brannte Licht, die Tür war angelehnt, ich hörte ihn lachen. Die vier Katzenkinder tranken und drückten ihre Pfoten in den Bauch der Mutter. Das fünfte tapste ein paar Schritte auf uns zu, dann fiel es hin, und meine Mutter legte es mir in die Hand. Es atmete schnell und fühlte sich heiß an. Es hatte struppiges Fell, seine Augen waren verklebt. Das Katzenkind trank.

Am nächsten Tag kam mein Vater zu spät zum Frühstück, und als er kam, stützte er sich auf die Lehne des Stuhls, auf dem meine Mutter saß, beugte sich zu ihr hinunter, hielt seine Wange gegen ihre und sagte: »Dein Katzenkind ist tot. Es tut mir leid.« Meine Mutter griff ihm in die Haare und begann zu weinen. »Wir müssen es beerdigen«, sagte ich nach einer Weile. Meine Mutter sagte, nein, sie könne nicht, sie könne es nicht sehen und ob ich es allein beerdigen würde. Mein Vater nahm meine Mutter am Arm und sagte, dass das abzusehen gewesen sei. Meine Mutter nahm ein paar Stoffservietten und drückte sie mir in die Hand: »Pack es gut ein«, sagte sie, und dass ich es unter der Pinie begraben solle. Ich sagte: »Papa, kannst du nicht mitkommen?«

»Das schaffst du schon«, sagte mein Vater und klopfte mir auf die Schulter.

Mit den Servietten in der Hand ging ich den Animateur suchen, ich fand ihn vor der Hotelküche. Er rauchte mit dem Küchenchef. »Willst du eine Zigarette?«, fragte er. Der Küchenchef gab mir Feuer. Sie unterhielten sich auf Arabisch. Ich betrachtete die Badeschlappen des Animateurs, seine braunen Füße und den gelben, geriffelten Zehennagel. »Wiedersehen«, sagte ich, als ich die Zigarette aufgeraucht hatte. »Ciao«, sagte der Animateur. Ich ging den Steinweg entlang zu den Bungalows und dachte an mein Lieblingslied aus Dirty Dancing, das Schlusslied, zu dem plötzlich alle anfangen zu tanzen, auch die Eltern des Mädchens, die eigentlich immer gegen die Verbindung zwischen ihrer Tochter und dem Animateur gewesen waren, aber schließlich erkennen, was für ein wunderbarer Mensch der Animateur ist, obwohl nur ein Animateur, auch die Eltern tanzen schließlich ausgelassen zu meinem Lieblingslied, und alle umarmen sich und weinen und lachen und singen: Now I had the time of my life. Ich blieb stehen und versuchte, in die Servietten zu weinen.

Mein Vater hat ein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Die Katzenmutter lag unter der Pinie und säugte ihre vier Kinder. Das fünfte stand abseits und atmete schnell. Ich hockte mich hin und legte die Servietten auf den Boden. Das Katzenkind tapste auf mich zu und fiel hin. Ich nahm es in die Hand und guckte in seine verklebten Katzenaugen, meine Handfläche fing an zu kribbeln. Ich setzte das Katzenkind ins Gras. Ich dachte darüber nach, wie es wäre, sich zugrunde zu richten und jemanden dabei zusehen zu lassen. Die Dame mit dem fliederfarbenen Bikini kam vorbei, mit einem fliederfarbenen Handtuch um die Hüften. »Na, Kleines«, sagte sie. Ich zeigte auf das Katzenkind und fragte, ob sie sich darum kümmern könne. »Sicher«, sagte die Dame, »was immer du willst«, und ging in Richtung Pool davon.

Meine Mutter packte. Mein Vater saß auf der Terrasse und las sein Vorlesungsmanuskript. Als er mich sah, lächelte er mich an. Ich drückte ihm die Servietten in die Hand.

Wir flogen am Nachmittag. Seither fliegt mein Vater allein. Er fliegt alle drei Monate, manchmal öfter, seit sechs Jahren. »Wir können uns das nicht leisten«, sagt meine Mutter; dann sagt mein Vater: »O Gott«, und schüttelt den Kopf, als wolle jemand Patient werden. Oder er hustet.

Meine Mutter hat ein ausgesprochenes handwerkliches Geschick entwickelt. Wenn mein Vater wegfliegt, fängt meine Mutter an, etwas im und am Haus zu verändern. Als ich vom Tanzstundenabschlussball kam, kachelte sie die Küchenwände. Als ich fürs mündliche Abitur lernte, riss meine Mutter um mich herum den Boden heraus und verlegte Laminat. Als ich mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag, kam sie mich besuchen mit grünen Flecken im Gesicht und grünen Rändern unter den Fingernägeln. »Das Badezimmer«, sagte sie, »es wird türkis.« Als ich sagte, dass ich verliebt und es diesmal ganz bestimmt der Richtige sei, schlug sie mit der Spitzhacke auf den Rasen ein und legte einen Teich an.

Alle drei Monate kommt mein Vater nach zehn Tagen braun und gesund zurück, mit Papiertüten. Darin sind Geschenke für meine Mutter und mich: Wasserflaschen aus Leder, Silberschmuck oder Reiswaffeln. Wir drehen die Geschenke in den Händen und sagen, wie schön. Wenn er wiederkommt, lädt mein Vater uns zum Essen ein, jedes Mal, und fragt, wie geht’s. Wir sagen, gut. Mein Vater erzählt von der Wüstenluft und den wechselnden Animateuren. Von den streunenden Katzen erzählt er nicht. Meine Mutter erzählt von den Leuten, die in seiner Abwesenheit angerufen und gefragt haben, ob sie Patienten werden dürfen wegen der und der Geschichte. »O Gott«, sagt mein Vater. Ich sage nichts; ich beobachte, wie nach spätestens anderthalb Stunden die Pupille im linken Auge meines Vaters langsam nach innen wandert.

kapitel

REISELIED

Hugo von Hofmannsthal

Wasser stürzt, uns zu verschlingen,

Rollt der Fels, uns zu erschlagen,

Kommen schon auf starken Schwingen

Vögel her, uns fortzutragen.

Aber unten liegt ein Land,

Früchte spiegelnd ohne Ende

In den alterslosen Seen.

Marmorstirn und Brunnenrand

Steigt aus blumigem Gelände,

Und die leichten Winde wehn.

kapitel

Coverversion von REISELIED

Helmut Krausser

fluten, die sich um dich reißen,

felsgeschmeiß, das auf dich zielt,

viel aasgeflügel, das, kalt-heißen

braten riechend, nach dir schielt.

tief unten aber liegt ein land,

in dessen alterslosen seen

sich immerreife früchte spiegeln.

schöpf aus brunnen, spür die hand

der sanften winde, die dort wehen.

im schatten von uralten ziegeln.

kapitel

STIMME
Die Welt der anderen

Richard Russo

Die Biennale-Reisegruppe – die meisten stammen wie Nate aus der Region Central Massachusetts – hat in einem kleinen Hotel mit dreieinhalb Sternen im Sestiere Dorsoduro eingecheckt. Nate, der fürchtet, seine sozialen Kompetenzen könnten während der vielen Monate selbst auferlegter Einsamkeit verkümmert sein, steht allein in der geschäftigen Lobby und bemüht sich nach Kräften, nicht aufzufallen oder zumindest einen unschuldigen Eindruck zu machen, Strategien, die er bis vor einem Jahr noch mühelos beherrschte. Doch der Vorfall mit Opal Mauntz hat alles grundlegend verändert.

Oder nicht? Er fragt sich, ob die Menschen ihn jetzt anders sehen oder nur er selbst sich anders sieht. Vielleicht reagieren sie ja nur auf sein mangelndes Selbstwertgefühl, seitdem Selbstbeschuldigung zu seiner Standardmethode geworden ist. Vorhin am Flughafen hat Julian ihn nur kurz angesehen und wollte dann wissen, was vorgefallen sei. Als Nate seinen Bruder gefragt hat, was er damit meine, hat Julian nur die Schultern gezuckt, wiederum seine Standardmethode, die es ihm ermöglicht, nahtlos von Verärgerung auf Gleichgültigkeit umzuschalten. »Du wirkst völlig verspult«, sagte er.

»Wie wirke ich?«, erwiderte Nate, der meinte, sich verhört zu haben. Obwohl er der Englischprofessor ist, ist Julian derjenige, der eine besondere Liebe zu Worten hegt, vor allem zu gewitzten oder etwas rotzigen Wendungen, die ihren Sprecher als cool ausweisen. Obwohl er stramm auf die siebzig zugeht, kommt sich sein Bruder immer noch recht cool vor.

»Na ja, verspult eben«, wiederholte Julian gut gelaunt – offenbar hatte er einen neuen Lieblingsausdruck. »Neben der Kappe, völlig daneben, verschallert.«

Merkwürdig, dachte Nate. Kaum eine Minute war nach ihrem ersten Wiedersehen seit Jahren vergangen, und schon hätte er seinen Bruder erwürgen können.

Natürlich war es durchaus möglich, dass sein Bruder ihm gar nichts angemerkt, sondern nur so getan hatte. Vielleicht hatte Julian durch Brenda von Nates Schmach erfahren. Er hatte ihr letzten Frühling in einem schwachen Moment alles erzählt. Sie hatte ihm geschworen, seinem Bruder nichts zu sagen, aber gut möglich, dass sie sich anders besonnen hatte; fast hoffte Nate es. Ihm wäre wohler, wenn Julian es wusste, als wenn er das erlittene Debakel von seinem Gesicht abgelesen hatte. Denn wenn es so offensichtlich war, dass »Nate völlig verspult« war, konnte er im Grunde gleich aufgeben. Denn dann würde der Rest der Biennale-Reisegruppe, obwohl allesamt Fremde, es im Nullkommanichts mitkriegen.

Lass das, ermahnt sich Nate jetzt selbst. Denn ist er nicht um die halbe Welt gereist, in der Hoffnung, genau derlei Gedankengängen zu entfliehen? Nein, er ist kein Monster. Das ist er nicht, und auch die Tatsache, dass er sich in den letzten zwölf Monaten so gefühlt hat, macht ihn nicht dazu. Außerdem können die Menschen nicht in sein Innerstes blicken. Sie werden die Wahrheit nicht erfahren, es sei denn, er erzählt sie ihnen. Und was ist im Übrigen die Wahrheit? Okay, ohne es zu wollen, hat er jemandem Schaden zugefügt. Nur wie sehr, wird er vielleicht nie erfahren. Und klar ist auch, dass er sich selbst ebenfalls Schaden zugefügt hat. Aber andere Menschen leben auch mit so was, sogar Schlimmerem, das weiß Nate. Sie haben keine andere Wahl. Er hat keine andere Wahl.

Nicht weit entfernt steht Klaus, ihr Reiseführer während der Biennale in Venedig und auf ihrer anschließenden Romreise, und erzählt von Prostituiertenkindern im fünfzehnten Jahrhundert, die aufgrund ihrer engelsgleichen Stimmen dazu verpflichtet wurden, beim Gottesdienst zu singen. Da viele infolge von Geschlechtskrankheiten grotesk entstellt gewesen seien, habe man sie hinter durchscheinenden Wandschirmen verborgen, um die empfindsamen Gemüter der adligen Gläubigen zu schonen, und auch, damit dieser ordinäre Anblick die höhergestellten Herrschaften nicht von der Verehrung des Göttlichen ablenkte. Als er das hört, muss Nate sofort wieder an Opal Mauntz denken, obwohl ihm nicht sogleich klar ist, warum. Was haben diese Unglücklichen – so herzzerreißend ihr Schicksal auch ist – mit einer in Bedrängnis geratenen Studentin, die sechs Jahrhunderte später lebt, zu tun? Geht jetzt alles wieder von vorn los? Ein Jahr zuvor haben sich seine Gedanken immerzu im Kreis gedreht, und alles – aufgeschnappte Gesprächsfetzen, Liedtexte, Filmszenen – hat ihn daran erinnert, was mit Opal Mauntz passiert war. Sich zu verstecken hat geholfen, jedenfalls eine Weile. Die Geräusche der Außenwelt auszublenden hat auch die Stimmen in seinem Kopf gedämpft, eine Erleichterung, die er dringend brauchte. War es ein Fehler, die Geräusche des Lebens wieder zuzulassen? Falls ja, ist es jetzt zu spät. Denn die nächsten zwölf Tage über wird er, es sei denn, ihn verlässt endgültig der Mut und er sperrt sich in seinem Zimmer ein, in der Welt der anderen zurück sein. Er wird sehen und gesehen werden.

Als er den Blick durch die überfüllte Lobby wandern lässt, bemerkt er die beiden Frauen, die neben dem Aufzug stehen. Die größere ist auf verhuschte Weise attraktiv, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, aber dummerweise ist es ihre untersetzte, biedere Begleiterin, mit der er unabsichtlich Augenkontakt herstellt. Da ihm klar ist, was gleich passieren wird, sieht er sich nach seinem Bruder um, aber der ist noch immer in ein Gespräch mit Bea vertieft, der Frau, die die Reise organisiert hat. Das Gute an Julian – vielleicht das einzig Gute – ist seine angeborene Fähigkeit, Nate neben sich völlig bedeutungslos erscheinen zu lassen, was ihm durchaus recht ist. Auf der Fahrt vom Flughafen hierher hat Julian die ganze Zeit mit dem Fahrer des Wassertaxis gesprochen. Er liebt es, mit Fremden zu reden. Jedoch nicht mit Menschen, zu denen er eine Verbindung hat, aber das steht auf einem ganz anderen Blatt. Sein endloses Schweigen war der Grund – einer von mehreren –, den Brenda für ihren Entschluss, sich scheiden zu lassen, anführte.

Während Nate vorhin im Boot saß und zuhörte, wie sich die beiden Männer über den Motorlärm und das Geräusch der gegen den Bootsrumpf schlagenden Wellen hinweg schreiend unterhielten, begriff er, dass er wieder einmal den Fehler begangen hatte, zu viel von seinem Bruder zu erwarten. Sein Flug hatte Verspätung, und als er auf dem Monitor sah, dass Julians Maschine dagegen früher als geplant landen würde, beschloss er zu warten. Es waren ja nur fünfundvierzig Minuten, und sie könnten sich, dachte er, ein Taxi teilen und während der halbstündigen Fahrt gegenseitig auf den neuesten Stand bringen. Doch, wie eigentlich nicht anders zu erwarten, war sein Lohn fürs Warten eine flapsige Bemerkung darüber, dass er »völlig verspult« sei, dann wurde er komplett ignoriert. Auch hätte es ihn im Grunde nicht erstaunen dürfen, als Julian, während sie aus dem Bootstaxi kletterten, auf seine typisch gleichgültige Art fragte: »Es macht dir doch bestimmt nichts aus, ausnahmsweise die Zeche zu übernehmen, oder?« Er habe am Flughafen nicht die Gelegenheit gehabt, zum Geldautomaten zu gehen, fügte er erklärend hinzu – Doch, hattest du, lag Nate auf der Zunge – und würde Nate seinen Anteil, wenn sie heute mit der ganzen Gruppe zum Abendessen gingen, zurückbezahlen.

Jedenfalls weiß Nate bereits, als sich die beiden Frauen einen Weg durch die Menge auf ihn zu bahnen, dass er auf sich selbst angewiesen ist. Die Unscheinbare ist zuerst bei ihm, streckt beherzt wie ein Mann die Hand aus und verkündet, sie heiße Evelyn, er könne sie aber auch schlicht und einfach Eve nennen, wenn ihm das lieber sei. Nate, der sich fragt, warum ihm das lieber sein sollte, ergreift ihre Hand und heuchelt Entzücken, ihre Bekanntschaft zu machen. Eve hat das Haar angesichts ihres Alters – Anfang sechzig, mutmaßt Nate, obwohl er noch nie gut darin war, das Alter einer Frau zu schätzen – praktisch kurz geschnitten und trägt eine Art Jogginganzug, wenngleich ihrer ein wenig eleganter und vielleicht sogar teuer ist als die handelsüblichen. Sie erweckt alles in allem den Eindruck, eine Frau zu sein, die früher einmal viel Wert darauf legte, gut bei Männern anzukommen, aber sich eines Morgens beim Erwachen sagte, Scheiß drauf, und sich sofort besser fühlte. Auch ist sie eine dieser Frauen, fürchtet Nate, die überzeugt sind, stets zu wissen, was am besten für andere Menschen ist. Wenn sie jemanden erblickt, der ganz offensichtlich in Ruhe gelassen werden möchte, ist sie umso entschlossener, ihn in die Gruppenaktivitäten einzubinden, die sie sich ausgedacht hat. Das Wort, mit dem sie beschreibt, was ihr vorschwebt, lautet mit hoher Wahrscheinlichkeit Spaß. Was es garantiert nicht machen wird, dessen ist sich Nate sicher.

Ihre Begleiterin – sie stellt sie ihm als Renee vor – bildet dagegen einen reizvollen Kontrast zu ihr. Groß und schlank und fohlenhaft ungeschickt wirkend, trägt sie einen langen, fließenden Rock zu einer ärmellosen Seidenbluse und hat einen farbenfrohen Schal um die zarten Schultern drapiert. Sofern sich Nate nicht täuscht, ist lähmende Angst ihr ständiger Begleiter. Ihre Hände sind wie zwei rastlose Vögel, ständig bereit, die Flucht zu ergreifen. Und als sie ihm die rechte entgegenstreckt, zögert er zunächst, weil er fürchtet, es sei nicht möglich, etwas so Zartes zu ergreifen, ohne es zu beschädigen. Aber natürlich passiert nichts, und plötzlich wird er von einer so heftigen Dankbarkeit überwältigt, dass er wieder in der Lage ist, sich eine Zukunft vorzustellen, ein ganzes neues Leben – eines, das der Aufgabe gewidmet ist, dieser reizenden Frau zu zeigen, dass es absolut nichts gibt, wovor sie Angst haben muss. Ein merkwürdiger Gedanke für einen Mann unter diesen Umständen, aber in Anbetracht von Nates Wesensart nicht allzu überraschend. Gegenüber attraktiven Frauen hat er schon immer zu vorschnellen Schlüssen geneigt; er wünschte, es wäre anders. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass die Dinge in der Regel gern bleiben, wie sie sind.

»Und«, fragt Evelyn, nachdem sie sich bekannt gemacht haben, »sind Sie Kunst- oder Venedig-Liebhaber?« Offenbar halten sich diese beiden Kategorien in der Reisegruppe ungefähr die Waage.

Nate atmet tief ein und erklärt dann, dass er zu seinem Bedauern weder der einen noch der anderen Fraktion zuzuordnen ist. In Sachen moderner Kunst nach Pollock sei er völlig unbeleckt. Herumgekommen sei er allerdings schon ein wenig, unter anderem sei er als Leiter des Auslandsstudiumsprogramms an seiner früheren Universität in Salamanca, Lyon, Cork und London gewesen, wo es ihm am besten gefallen habe, aber nach Italien sei er noch nie gereist. Mehr als einmal sei er versucht gewesen, wenn die feuchte Kälte in England oder Irland ihm bei seinen jeweiligen Aufenthalten zu schaffen machte, einen billigen Flug nach Pisa – für einen Abstecher nach Cinque Terre – zu buchen oder nach Rom oder an die Amalfi-Küste, habe es aber dann doch nicht getan, denn er neige nun einmal nicht zu impulsiven Handlungen. Um die Wahrheit zu sagen, fühle er sich kläglich unvorbereitet sowohl auf die Biennale als auch auf Venedig. Um sich auf Letzteres vorzubereiten, habe er ein wenig Henry James und Ruskin gelesen. (Er muss sich wie ein unerträgliches Arschloch anhören, denkt Nate, nachdem er den Namen Ruskin hat fallen lassen, als wüssten diese beiden Frauen, wer das war, und als sei die Welt von Anglistikprofessoren bevölkert.) Vielleicht weil es so lange her ist, dass er sich zuletzt mit jemandem unterhalten hat, schießen diese persönlichen Informationen schwallartig aus ihm heraus wie Wasser durch einen gebrochenen Damm. Er würde es ihnen nicht verübeln, wenn sie auf dem Absatz kehrtmachten und das Weite suchten. Tatsächlich wünschte er fast, sie täten es. »Oh, und im Flugzeug habe ich nochmals Der Tod in Venedig gelesen«, fügt er hinzu, »was mich nicht gerade aufgeheitert hat.«

Diese Bemerkung hat er nicht als Scherz gemeint, aber so kommt sie an, jedenfalls bei Evelyn, die ein lautes, anerkennendes Lachen vernehmen lässt. Ihre Begleiterin zeigt hingegen ein Lächeln, das zugleich reizend als auch schwer zu deuten ist: das Lächeln von jemandem, der vielleicht gar nicht vorgehabt hat zu lächeln, der es nicht mehr gewohnt ist und erstaunt feststellt, dass seine Gesichtsmuskeln noch immer funktionieren.

»Gut«, verkündet Evelyn, als hätte Nate dank seiner launigen Bemerkung eine Art Test bestanden. »Nachher im Restaurant setzen Sie sich zu uns.«

Und genau das tut er, da Julian offenbar vergessen hat, dass Nate auch da ist. Die laute, ausgelassene Gruppe nimmt die beiden großen Tische ein, die in dem bislang noch leeren Restaurant für sie gedeckt sind. Sein Bruder sitzt neben Bea und deren Mann und einem beleibten buckligen Menschen namens Bernard an der Stirnseite des anderen Tischs, und er quasselt genauso drauflos wie mit dem Fahrer des Wassertaxis. Während er Julian beobachtet, kommt Nate zu dem Schluss, dass er nichts von der Sache mit Opal Mauntz weiß. Selbst er wäre nicht so gefühllos, ihn an ihrem ersten Abend der Gesellschaft zweier wildfremder Menschen zu überlassen, wenn er wüsste, was Nate vor nicht allzu langer Zeit durchgemacht hat, oder?

Während des Abendessens erfährt Nate eine Menge über seine zwei neuen Bekannten. Beide Frauen sind geschieden. Evelyn, die ein paar Jahre älter ist, hat ihrem Mann vor einiger Zeit den Laufpass gegeben und scheint eindeutig zufrieden zu sein mit dieser Entscheidung. Ihren Ex, den sie vermutlich einmal geliebt hat, sonst hätte sie ihn ja nicht geheiratet, nennt sie mittlerweile nur noch den »Schwachkopf«. Renees Scheidung liegt noch nicht so lange zurück und muss, wie Nate vermutet, ihrem labilen Selbstwertgefühl zusätzlich zugesetzt haben. Allem Anschein nach ist für sie der Zweck dieser Reise, sich wieder in die Welt hinauszuwagen, aus der sie sich willentlich zurückgezogen hat, womit sie zumindest eine Gemeinsamkeit hätten. Als sich das Gespräch seinem Familienstand zuwendet, gibt Nate an, er sei mit seinem Beruf verheiratet. Ob er nie versucht gewesen sei, sich ernsthaft auf eine Frau einzulassen?, will Evelyn wissen, offenbar um sicherzustellen, dass er nicht schwul ist. Nun, als junger Mann sei er mit einer Frau namens Brenda verlobt gewesen, erzählt er. (Und, was ist passiert?) Sie habe stattdessen seinen Bruder geheiratet. (Nein!) Doch, aber die Ehe habe nicht lange gehalten. (Besonders nachtragend können Sie dann ja nicht sein.) Nate überlegt zu widersprechen, belässt sie aber in diesem Glauben. Wobei er es weder Julian noch Brenda verübelt hat, das stimmt. Sie hatten sich nun mal ineinander verliebt, solche Dinge passieren eben. Im Übrigen, sagt Nate, in der Hoffnung, so das Thema wechseln zu können, sei seine wahre Liebe seit jeher Jane Austen gewesen. Renee sieht ihn einen Moment lang erwartungsvoll an, doch dann macht es Klick: Jane Austen ist eine berühmte Schriftstellerin und längst tot. In diesem Moment wäre sie am liebsten ebenfalls tot, da ist sich Nate sicher, derart hilflos wirkt sie angesichts eines solch harmlosen Fauxpas. Nate würde sie am liebsten in seine Arme ziehen und ihr versichern, dass alles okay sei. Wieder wundert er sich über diesen Drang, dergleichen zu einer Frau zu sagen, die er kaum kennt – zumal er an den meisten Tagen größte Mühe hat, sich selbst davon zu überzeugen.