Cover

Lena Avanzini

Am Ende nur ein kalter Hauch

Ein Fall für Carla Bukowski

Für Fräulein Schmutzfuß und das kleine Glück,
das sich eines Winterabends ungebeten auf dem
Fußabstreifer einrollt

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Der Frost ist ein guter Liebhaber.

Zärtlich kriecht er unter meine Kleider. Er umkost meine Brüste, bis die Nippel kieselhart werden, saugt gierig an meinen Lippen, bis sie aufplatzen, legt sich um den Hals wie Hände, die sanft sind, aber auch ein bisschen rau, und die etwas vom Zupacken verstehen.

Der Frost ist ein guter Liebhaber mit einem schlechten Timing.

Ist das Spiel wirklich aus? Gerade jetzt, wo ich Antworten bekommen habe? Antworten auf alle Fragen: auf die jüngsten, die noch grün hinter den Ohren sind; auf die lange verdrängten, die schon Patina angesetzt haben; sogar auf eine, die ich nie gestellt habe.

Die letzte Antwort hat mich von den Füßen gerissen, aber sie hat mich auch erleichtert. Befreit von einer jahrelang gehätschelten Schuld.

Teuer waren sie, die Antworten. Sie haben unschuldiges Blut gekostet, und während ich von einer Schuld befreit wurde, habe ich eine andere auf mich geladen.

Schuld, Unschuld. Opfer, Täter. Sind wir alle beides und bemerken es nicht?

Und wenn wir es bemerken, wie halten wir es aus? Im Vertrauen auf das Vergessen, das gnädig Gras über alles wachsen lässt?

Ich denke: Vergessen. Und: gnädig. Und ich frage mich, ob er vielleicht doch kein allzu schlechtes Timing hat, der Frost?

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Kreucht, fleucht, pirscht, hirscht … Daniels tierischer Blog

Fortuna und die Fledermaus – 19. Februar 2015

Heute feiern die Chinesen das Neujahrsfest. Und weil am Beginn eines neuen Jahres Glück gewünscht wird, stelle ich euch eine Säugetiergruppe vor, die im traditionellen China das Glück symbolisiert: die Fledermäuse (Microchiroptera).

Was?, fragt ihr. Ausgerechnet diese düsteren, nachtaffinen Gesellen, denen man in unseren Breiten seit dem Mittelalter Blutsaugerei und andere dämonische Bosheiten nachsagt? Die sollen Glück und Segen bringen?

Genau. Und der Grund ist einfach. Das chinesische Zeichen für Fledermaus klingt wie das Zeichen für Glück: fú.

Kein Wunder also, dass man in China Fledermausdarstellungen auf Bauwerken, Stoffen und Alltagsgegenständen findet.

Meistens sind Gruppen von fünf Fledermäusen abgebildet, die für die fünf Glückseligkeiten stehen: für Gesundheit, langes Leben, Wohlstand, Tugendhaftigkeit und – einen leichten Tod.

In diesem Sinne: biānfú …

… wünscht euch Daniel

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Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei. Ihr Herz raste, als wäre sie gerannt, stundenlang pfeilschnell gerannt. Und so war es ja, wenn auch nur im Traum. Dem wiederkehrenden Albtraum, in dem Bukowski alles aus sich herausholte, um Samuel, ihren sechsjährigen Sohn, vor dem Abgrund zu bewahren, in den er sich stürzen wollte. In den er sich stürzte, jedes Mal aufs Neue, denn immer kam sie zu spät, immer schlossen sich ihre Finger um dünne Luft.

Seit sie ihre Pillen abgesetzt hatte, suchte der Traum sie wieder regelmäßig heim. Die Schlafmittel, die Antidepressiva, sie hatte sie sattgehabt. Hatte beschlossen, sich endlich wieder zu spüren, sich und die Ecken und Kanten und spitzen Steine des richtigen Lebens – ohne pastellfarbene Watte drum herum. Seither gab es bessere und schlechtere Tage, und irgendwie funktionierte sie, sogar an den miserablen.

Heute wird es nicht anders sein, dachte sie, schlug die Decke zurück und stand auf.

Regen prasselte aufs Fensterbrett, ein Regen, der gekommen war, um zu bleiben. Bald schon würde er den Schnee, der die Alservorstadt in einen flauschigen Mantel des Schweigens gehüllt hatte, weggeputzt haben.

Bukowski wankte ins Bad. Den Blick in den Spiegel mied sie. Die richtige Öffnung zum Zähneputzen fand sie auch so. Und sie ahnte auch so, dass sie nicht wie das blühende Leben aussah. Mit dem Geräusch der Bürste hatte sie allerdings nicht gerechnet: Sie klapperte gegen ihre Zähne, und Bukowski bemerkte erst jetzt, wie sehr ihre Hände zitterten.

Nun hob sie doch den Kopf. Blutunterlaufene Augen starrten sie an, ihre Wangen waren hohl und die Blässe ihrer Haut so umfassend, dass sie sogar auf die Sommersprossen übergegangen war. Als hätte jemand versucht, die Dreckspritzer aus meinem Gesicht zu radieren, dachte Bukowski.

Sie gurgelte und spuckte aus. Als sie zum Handtuch griff, wurde ihr schwindlig. Sie fragte sich, was ihr so zugesetzt hatte. Der Traum wohl kaum. Er suchte sie schon so lange heim. Wie Motten hatte er sich bei ihr eingenistet, kurz nachdem das FURCHTBARE über sie hereingebrochen war. Vor zehn Jahren und neun Monaten, als ihr Mann sich umgebracht hatte. Erweiterter Suizid hieß das in der Fachsprache, denn Gregor hatte den gemeinsamen Sohn Samuel mitgenommen. Woran die beiden gestorben waren, wusste Bukowski nicht genau, weil Gregor kurz vor seinem Tod Feuer gelegt hatte – so gründlich, dass die Obduktion nur bruchstückhafte Ergebnisse lieferte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass die beiden nicht gelitten hatten. Verarbeitet hatte sie das FURCHTBARE nicht, natürlich nicht, genauso wenig wie den Tod ihrer zweiten großen Liebe Leon vor zwei Jahren. Beide Wunden waren verheilt. Die Narben schmerzten regelmäßig, aber Bukowski hatte gelernt, trotzdem zu funktionieren.

Deshalb kam es ihr seltsam vor, dass sie sich an diesem Morgen ganz und gar elend fühlte. Ausgewrungen. Auch nach einem doppelten Espresso und zwei Morgenzigaretten besserte sich ihr Zustand kaum. Sie wusste nicht, woran es lag. Oder wusste sie es und wollte es sich nicht eingestehen? Sie, die Meisterin des Verdrängens, wie ihre Freundin Kim sie einmal genannt hatte?

Als sie sich die dritte Zigarette anzündete, vibrierte ihr Handy.

„Wo bleibst du?“ Ungeduldige Schlieren durchzogen die Stimme ihres Kollegen Manni.

Sakradi! Sie hatte den Termin in der Gerichtsmedizin vergessen, hätte schon vor einer Viertelstunde dort sein sollen. Das war ihr noch nie passiert. Zum Glück wohnte sie schräg gegenüber. Sie musste nur die Schuhe anziehen und die Sensengasse überqueren.

Als sie den Obduktionssaal betrat, war die äußere Besichtigung der Leiche bereits abgeschlossen. Die Gerichtsmedizinerin Dr. Hilde Bartenstein vulgo wüde Hüde hatte Brust- und Bauchhöhle der Toten eröffnet.

Bukowski entschuldigte sich für ihr Zuspätkommen. Dann streifte ihr Blick das Antlitz der Toten, und in ihrem Kopf fielen mehrere Puzzleteile an ihren Platz: Sie erinnerte sich an den vergangenen Tag, die Benachrichtigung über einen ungeklärten Todesfall, das Betreten der Wohnung, die tote Frau im Bett und das Gesicht dieser Frau; vor allem an ihr Gesicht und damit einhergehend an Entsetzen, Schock und Übelkeit. Und sie wusste, warum sie sich heute so elend fühlte.

Auch jetzt bekam sie wieder weiche Knie und musste ein paarmal hart schlucken, um sich nicht zu übergeben. Sie, der bei Obduktionen noch nie schlecht geworden war! Der weder der Geruch von halb verwesten Körpern noch das Geräusch der Knochensäge etwas ausmachte, mit der der Obduktionsassistent gerade den Schädel der Toten eröffnete. Nur dieses Gesicht, so fremd, so vertraut – der Anblick lähmte sie.

Wenigstens ging es ihr nicht allein so. Auch ihr Kollege Manni war blasser als sonst, und der Obduktionsassistent, an dessen blauer Kunststoffbrille etwas Glitschiges klebte, ließ die Säge fallen, starrte Bukowski an und keuchte auf. Jetzt bemerkte auch die Bartenstein, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick wechselte von der Toten zu Bukowski und wieder zurück. Ihr Mund klappte auf, die Zahnlücke wurde sichtbar. „Das … ist …“

Die erfahrene Gerichtsmedizinerin sprachlos zu erleben, war eine Premiere.

„Sie sieht mir ähnlich, so what?“, ätzte Bukowski. Flucht nach vorn schien die einzig mögliche Strategie zu sein. „Können wir jetzt weitermachen? Mein Kollege und ich haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Das saß. Die Bartenstein war es nicht gewohnt, zurechtgewiesen zu werden. Sie schnappte nach Luft. Fuhr dann mit ihrer Arbeit fort und entnahm der Leiche die Milz. Es klang wie eine Ohrfeige, als sie das Organ in die bereitgestellte Schale klatschte.

Bukowski überstand die Obduktion, indem sie sich auf die Wanduhr konzentrierte und dem Sekundenzeiger folgte. Von Zeit zu Zeit warf Manni ihr einen besorgten Blick zu. Sie tat, als bemerkte sie es nicht; stand da, Hände in der Hosentasche und ohne mit der Wimper zu zucken. Solange sie die Coole mimte, würde sie nicht die Beherrschung verlieren.

Wie es innen drin aussah, ging niemanden etwas an – auch den lieben Manni nicht. Nicht einmal sich selbst wollte sie eingestehen, wie sehr es ihr zusetzte, beim Ausweiden ihrer Doppelgängerin zusehen zu müssen. Denn die tote Frau – eine gewisse Johanna Cramer – glich ihr nicht nur, sie hätte ihre Zwillingsschwester sein können.

Klar, ein Zufall. Eine seltene Laune der Natur, mit der niemand rechnen konnte. Vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass Bukowski sich endlich mit dem Tod auseinandersetzen sollte. Mit dem Tod im Allgemeinen. Mit ihrem eigenen Tod im Besonderen. Ernsthaft und auf Augenhöhe. Bis jetzt hatte sie das nicht geschafft, so absurd es sich auch anhörte. Dabei war sie als Kriminalbeamtin des Ermittlungsbereiches Leib/Leben beruflich andauernd damit beschäftigt. Und auch privat war sie schon so intensiv mit dem Gevatter konfrontiert worden, dass er inzwischen fast ein Freund sein müsste.

Aber nein, sie hasste ihn. Und wie ein dummer Vogel, der bei Gefahr den Kopf in den Sand steckte, hatte sie bisher wohl gedacht, Ignorieren sei eine Lösung.

„Verstanden?“ Eine silberweiße Strähne hatte sich aus dem Dutt der Gerichtsmedizinerin gelöst, sie strich sie sich hinters Ohr. Die Handschuhe hatte sie bereits abgestreift, ihr Assistent war mit dem Zunähen der Toten beschäftigt.

„Ähm …“ Bukowski spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Da hatte sie wohl etwas Entscheidendes verpasst. „Was soll ich verstanden haben?“

„Was ich Ihnen gerade zur Todesursache gesagt habe.“

Zum Glück sprang Manni ein. Revierinspektor Manfred Pribil mochte seine Schwächen haben – aber wenn es darauf ankam, konnte man sich auf ihn verlassen. „Sie haben nichts Gegenteiliges gefunden, Frau Doktor? Das heißt also Tod durch Ersticken, wie wir vermutet haben.“

Die Bartenstein nickte. „Gut, dass wenigstens Ihr Kollege aufgepasst hat“, sagte sie zu Bukowski. Als Retourkutsche für vorhin.

„Also Mord!“ Mannis Stimme rutschte nach oben und vibrierte ein bisschen, als hätte er nur darauf gewartet, endlich wieder ein Kapitalverbrechen auf dem Tisch zu haben.

„Das habe ich nicht gesagt“, zischte die Bartenstein. „Dafür gibt es keinerlei Anzeichen.“

„Aber die Auffindesituation mit dem vom Kopf gezogenen Plastikbeutel ist doch eindeutig“, konterte Manni. Seine Pickel leuchteten vor Eifer.

„Welche Schlussfolgerungen Sie aus Ihrer Ermittlungsarbeit ziehen, ist nicht mein Bier. Ich zähle nur die Fakten auf.“

Bukowski hatte sich endlich wieder gefasst. „Haben Sie keine Stauungsblutungen gefunden?“, fragte sie.

Die Bartenstein schüttelte den Kopf. „Keine Petechien, nein. Nicht an den Lidhäuten, den Augenbindehäuten, der Mundschleimhaut, und auch sonst nirgends. Bei Ersticken aufgrund von Sauerstoffmangel in der Atemluft ist das aber nicht ungewöhnlich.“

Bukowski nickte. „Irgendwelche Anzeichen von Gegenwehr?“

„Keine Spuren von Gewalt, keine Hämatome, keine Verletzungen der Haut, kein Gewebe unter den Fingernägeln.“ Mit einer Armbewegung, als verscheuche sie aufdringliche Hühner, komplimentierte die Bartenstein sie hinaus. „Laboranalyse folgt. Bis dahin: Ermitteln Sie schön. Und grüßen Sie mir den Nowak.“

„Der Hanno wird sich freuen“, sagte Manni, als sie draußen waren. Sie suchten unter dem Vordach Schutz, weil es immer noch regnete, fein, aber stetig.

Bukowski fingerte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie an und nahm einen tiefen Zug. Sie hob die Brauen. „Über die Grüße?“

„Über den neuen Fall natürlich.“

„Natürlich“, sagte Bukowski, verschluckte sich am Rauch und hustete.

Mannis Gedankengänge waren an sich leicht zu durchschauen, es sei denn, eine neue Liebe vernebelte sein Gehirn. Es ist also wieder so weit, dachte sie.

„Und was genau soll ihn an dem Fall freuen?“ Bestimmt nicht, dass die Tote und sie einander glichen wie die Kessler-Zwillinge, und noch weniger, dass der Fall kompliziert werden würde – das sagte zumindest Bukowskis Nase.

„Mensch, das war doch nicht ernst gemeint!“ Manni verdrehte die Augen. „Urschockiert wird er sein, eh klar.“

„Ach so.“ Respekt, dachte sie. Manni beherrschte Ironie. Der Gute wurde erwachsen. Höchste Zeit, dass sie ihr Bild von ihm aktualisierte.

„Wie geht’s dir denn damit? Ich meine, wie geht’s dir wirklich? Innen drin?“

Hu, dachte Bukowski und schnappte nach Luft. Nicht nur Ironie, ganz plötzlich nannte Manni auch Empathie sein Eigen. Mehr als die übliche Prise, über die der Durchschnittsmann verfügte. Irgendetwas musste passiert sein. „Hast du eine Freundin? Kenn ich sie?“

„Was hat das damit zu tun?“ Flammende Röte eroberte Mannis Wangen und übertünchte sämtliche Aknenarben. „Mensch Jadis, wieso nimmst du mich nie ernst? Ich mach mir Sorgen um dich!“

„Danke, ganz lieb“, ätzte Bukowski. Obwohl sie nicht nachvollziehen konnte, was sie mit der weißen Hexe von Narnia gemeinsam haben sollte, außer dass sie ebenso schmale Lippen hatte wie deren Darstellerin Tilda Swinton, ärgerte sie sich längst nicht mehr über diesen Spitznamen. Nur den besorgten Tonfall konnte sie nicht leiden. „Aber was soll eine böse Hexe schon umhauen?“ Sie tötete ihre Zigarette ab, steckte den Stummel in die Packung und schnalzte mit der Zunge. „Na komm, packen wir’s. Auf uns wartet ein Haufen Arbeit.“

3

„Gute Arbeit, Hinnerk!“ Nowaks Stimme dröhnte durch den Besprechungsraum, schulterklopfender Nachhall inklusive. Dass er mit Hinnerk Knorr seine Schwierigkeiten hatte, war allgemein bekannt und würde sich wohl nie ändern. Aber Ungerechtigkeit im Umgang mit seinen Untergebenen (nein, mit den Mitarbeitern, korrigierte er sich rasch) wollte er sich nicht nachsagen lassen. Und im Fall des Serienvergewaltigers von Hernals hatte Hinnerk wirklich gut mit den Kollegen vom Ermittlungsbereich Sittlichkeitsdelikte zusammengearbeitet, das musste man ihm lassen. Der Abschlussbericht, den er heute vorgelegt hatte, war tadellos geschrieben, besser hätte es auch von den anderen keiner hingekriegt. Überhaupt schien Hinnerk seit einiger Zeit motivierter zu sein. Womöglich lag es an seiner neuen Freundin, einer toughen Kfz-Mechatronikerin. Hoffentlich hält sie es länger mit ihm aus als ihre Vorgängerinnen, dachte Nowak nicht ganz uneigennützig.

„Kommen wir zum nächsten Punkt: zum Fall Johanna Cramer.“ Dummerweise hatte er noch keine Zeit gehabt, sich damit zu befassen. Gestern Abend, als der Leichenfund gemeldet worden war, hatte Kim ihn ins Steirereck eingeladen – quasi als verspätetes Geburtstagsgeschenk. Er hatte seiner Ehefrau versprechen müssen, sowohl sein privates als auch sein Diensthandy auszuschalten. Natürlich hatte er sich daran gehalten. Und du hast es nicht bereut, weder während des Essens noch danach, sagte er sich und spürte, wie sich ein dämlich-verzücktes Lächeln seiner Mundwinkel bemächtigte.

Mit einer schroffen Handbewegung wischte er es weg. Zusammenreißen, jetzt. Konzentrieren.

Er setzte die Lesebrille auf, schnappte sich sein iPad und öffnete die Tatort-App, um die Fotos von der Auffindesituation zu begutachten. Gleich das erste Bild ließ seinen Puls in die Höhe schnellen. „Wer war das?“, donnerte er.

Chefinspektor Oskar Travnitschek, der gerade mit Manni getuschelt hatte, fiel vor Schreck der Kugelschreiber aus der Hand.

„Ossi, du? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Etwas schepperte. Nein, jemand lachte. Es war Carla, und das Lachen klang künstlich. „Hanno, du täuschst dich“, sagte sie. „Niemand hat sich einen schlechten Scherz erlaubt und mit Photoshop herumgespielt. Es ist nur so, dass diese Johanna Cramer mir wahnsinnig ähnlich sieht. Abgesehen von den langen Haaren.“ Sie versuchte, eine Haarsträhne um ihren Finger zu wickeln, aber die Strähne war zu kurz. „Und der Tatsache, dass sie jetzt tot ist.“

Wieder das Scheppern. Als niemand einfiel, geriet es ins Stolpern und brach ab.

Nowak schnappte nach Luft. Deshalb sind alle so still, dachte er, so handzahm. Na bravo. In seiner ganzen Laufbahn hatte er sowas noch nicht erlebt.

„Verdammtes Wirtshaus!“ Er räusperte sich. „Wer … ähm … hat die Tatortarbeit dokumentiert?“

Ossi meldete sich. Er nahm die dunkelblaue Strickmütze ab, ohne die er nie anzutreffen war, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sie wieder auf. Er bemühte sich, die Fakten möglichst nüchtern zusammenzufassen und das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Nowak bemerkte es trotzdem.

Ossi berichtete von der schönen Wohnung, in der Johanna Cramer gewohnt hatte, mit zwei Wellensittichen und ihrem Ehemann. Drei geräumige Zimmer samt Klopfbalkon, alles geschmackvoll eingerichtet, picobello aufgeräumt und blitzsauber. Die Tote sei im Bett gelegen, auf dem Nachttisch habe man eine fast leere Cognacflasche gefunden und ein Glas. „Auffällig war, dass sie selbst auch so picobello aussah wie die Wohnung.“

„Das heißt?“

„Na ja, schön frisiert war sie halt und geschminkt, und nach Parfüm hat sie geduftet. Und sie war bis zum Hals zugedeckt. Grad so, als ob jemand das nachträglich gemacht hätte.“

„Du meinst, ihr Mörder hat sie aufgebahrt?“

„So ähnlich hat es ausgesehen, ja. Und die Hauptsache ist natürlich, dass die ‚Tatwaffe‘ …“ Ossi zeichnete Anführungszeichen in die Luft –

„Die habt ihr gefunden?“

„Ein Plastiksackerl! Es lag aber interessanterweise neben ihrem Gesicht. Jemand muss es nach der Tat heruntergezogen haben. Im Labor sind sie schon dran.“

„Und was sagt die wü…, ich meine die wunderbare Frau Dr. Bartenstein?“

Carla resümierte die Ergebnisse der Obduktion: Tod durch Ersticken, keine Anzeichen von Gewaltanwendung oder Gegenwehr.

„Dumm gelaufen“, sagte Nowak. „Habt ihr die familiäre Situation schon durchleuchtet?“

„Verheiratet, eine Tochter“, sagte Manni. „Die Tochter ist dreiundzwanzig und lebt als Fitnesstrainerin in Shanghai. Nadja heißt sie. Wir haben sie informiert, sie ist schon auf dem Weg nach Wien. Kurt Cramer, der Mann der Toten, ist Softwareentwickler bei Siemens und heute nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen, was für ihn absolut ungewöhnlich sein soll. Telefonisch ist er auch nicht erreichbar.“

„Fahndung?“

„Läuft, Hanno.“

„Wissen wir was über die Ehe?“

Manni hob den Kopf. „Die Nachbarin, eine gewisse Lydia Henselt, behauptet, dass Johanna Cramer einen Liebhaber hatte. Angeblich wollte sie sich scheiden lassen, aber ihr Mann nicht. Er soll hoch verschuldet und finanziell von ihr abhängig sein. Sie ist … war Buchhändlerin. Hat vor drei Jahren ein eigenes Geschäft eröffnet.“

„Wenn das kein schönes Mordmotiv ist!“, sagte Ossi. „Es könnte so gelaufen sein: Ihr Mann bittet sie um eine Aussprache. Sie trinken, er kann ihr die Scheidung nicht ausreden, also füllt er sie mit Alkohol ab, bis sie wehrlos ist. Er legt sie ins Bett, muss ihr nur noch den Beutel über den Kopf stülpen. Aus, Ende. Danach macht er sauber und beseitigt seine Spuren, damit es wie Selbstmord aussieht.“

Manni nickte.

„Hm“, sagte Carla und legte ihren Finger an die Nase, wie immer, wenn ihr Gehirn einen Einwand ausbrütete. „Das passt doch nicht zusammen. Wenn er die Spuren verwischt hat, um einen Suizid vorzutäuschen, wieso ist er dann verschwunden? Dadurch macht er sich doch verdächtig. Und wieso hat er den Beutel von ihrem Kopf gezogen?“ Carla tippte mit dem Finger gegen ihre Schläfe. „Hallo? Wie blöd muss der Typ sein?“

„Saublöd.“ Manni grunzte. „Aber das ist kein Beweis für seine Unschuld.“

„Selbstmord scheidet jedenfalls aus“, sagte Ossi.

„Bist du dir sicher?“, fragte Carla.

„No na ned! Die Leich schau ich mir an, die sich posthum das Sackerl vom Kopf zieht.“

Carla öffnete den Mund zu einer Antwort, wurde aber von ihrem Handy abgelenkt, das sich vibrierend in Richtung Tischkante bewegte. Sie schnappte es, bevor es hinunterfiel, blickte aufs Display und runzelte die Stirn. Mit einer gemurmelten Entschuldigung auf den Lippen huschte sie hinaus, ohne sich von dem bösen Blick irritieren zu lassen, den Nowak ihr hinterhersandte.

4

Das Vibrieren hatte aufgehört. Sie wartete, bis sich die Tür des Besprechungsraums wieder geschlossen hatte, dann rief sie zurück. Ein Frösteln hatte sie befallen, als die Nummer auf dem Display aufgeleuchtet war – ein unbekannter Festnetzanschluss mit einer nur allzu bekannten Vorwahl.

Wer aus ihrer Heimatgemeinde wollte etwas von ihr? Jemand aus ihrer Verwandtschaft? Die Telefonnummern ihrer Eltern und Brüder hatte sie aber gespeichert, schon um vor unliebsamen Überraschungen gefeit zu sein.

„Schwester Sibylle“, meldete sich eine junge Frau, deren Stimme sie noch nie gehört hatte. „Wohn- und Pflegeheim zum Heiligen Rochus. Was kann ich für Sie tun?“

Bukowski keuchte auf. Ihre Finger zitterten, wie schon öfter an diesem denkwürdigen Tag.

„Hallo? Wer spricht?“

„Sie … Sie haben mich angerufen.“

„Sind Sie Carla Guggenbichler?“

„Das war mein Mädchenname. Ich heiße Bukowski. Ist …“ Sie musste Luft holen. „Ist etwas passiert?“ Eine überflüssige Frage, weil sie es schon wusste. Weil es nur einen einzigen Grund für einen Anruf aus dem Pflegeheim geben konnte, in dem ihre Oma seit Jahren vor sich hin dämmerte. Es war zu erwarten gewesen.

Trotzdem klang es absurd, als Schwester Sibylle es aussprach. Und Bukowski nahm es ihr übel, dass sie die Nachricht so routiniert überbrachte. So sachlich, trotz ihrer mädchenhaften Stimme. Aber klar, Altenpflegerinnen hatten vermutlich von Anfang an Übung im Überbringen von Todesnachrichten.

„Dann wussten Sie es noch gar nicht?“

„Nein“, brummte Bukowski. Woher auch?

„Wir haben natürlich Ihre Mutter informiert, gleich nachdem es passiert ist. In der Nacht auf Sonntag. Aber heute beim Aufräumen haben wir unter der Wäsche Ihrer Großmutter einen Brief gefunden, auf dem Ihr Name steht. Da meinte meine Chefin, ich solle Sie anrufen. Zur Sicherheit. Zum Glück ist Ihre Handynummer noch dieselbe wie vor Jahren.“

Aus den beiden letzten Wörtern meinte Bukowski, einen Vorwurf herauszuhören. Sie fragte sich, wann sie ihre Großmutter zuletzt besucht hatte. Vor drei Jahren? Wirklich? Sie rechnete rasch nach und musste sich eingestehen, dass es mindestens sechs Jahre her war.

Ein mehr als berechtigter Vorwurf also. Sie hatte nicht einmal mehr an Oma Rosalba gedacht. Warum? Weil sie es nicht ertragen konnte, dass ihre Großmutter sie nicht mehr erkannte? Dass sie sich in ein dahinvegetierendes Etwas verwandelt hatte, dem man nicht ansah, was es dachte, was es fühlte, ob es überhaupt etwas dachte und fühlte? Dieses Wesen im Rollstuhl war ihr wie eine Puppe vorgekommen, die Oma Rosalbas altmodische Rüschenblusen trug und dieselben blauvioletten Locken hatte. Doch aus dem Lederapfelgesicht hatten fremde Augen geblickt und der Blick hatte Bukowski an Rilkes Panther erinnert: „vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden“ – auch wenn Omas Stäbe unsichtbar waren und Altersdemenz hießen. Von der Person, die Bukowski mehr geliebt hatte als alle übrigen Familienmitglieder zusammen, war nur eine leblose Hülle geblieben.

Natürlich rechtfertigte das ihre lange Abwesenheit nicht. Es warf höchstens die Frage auf, ob sie an Gefühlskälte litt wie ihre Mutter. Oder ob sie zu feig war für Themen wie Alter, Verfall, Tod …

Schwester Sibylle unterbrach ihre Gedanken. Dass das Begräbnis für Mittwoch zehn Uhr angesetzt sei, sagte sie, und dass Oma Rosalba nicht gelitten habe. Sie sei am Abend eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, gerade so, als hätte sie aufs Weiteratmen vergessen. Eigentlich ein schöner, ein wünschenswerter Tod.

Ist es so einfach?, fragte sich Bukowski, nachdem sie das Telefonat beendet hatte. Vielleicht hatte Oma in ihrem verwirrten Geisteszustand eine Art stilles Glück gefunden, von dem niemand wusste? Darf man sich wünschen, dass jemand stirbt, nur weil man die Lebensqualität, die er vielleicht noch hat, nicht erkennen kann?

Sie ärgerte sich über die Leichtfertigkeit, mit der Menschen wie Schwester Sibylle leere Phrasen über die Schönheit des Todes droschen. Immerhin gab es kein Zurück. Der Tod war Destruktion, Vernichtung, Auslöschung. Kein Übergang, kein Danach. Nur eine gedrückte Stopptaste und – Stille. Ausweglose, unfreiwillige Stille. Quasi das stumme Brüllen des Nichts.

Hör auf, dachte sie. Du bist pathetisch. In Wahrheit ist dein Problem nur das schlechte Gewissen und dass du jetzt mit deinen Versäumnissen zurückbleibst.

Ja, sie war feig in Sachen Tod, und diese Feigheit hatte sie davon abgehalten, an den letzten Lebensjahren ihrer Großmutter teilzunehmen.

Sie bemerkte, dass sie fror. Ihr Körper schien von den Zehen aufwärts taub und starr zu werden. Wie zum Ausgleich schwirrten in ihrem Kopf Myriaden von Gedanken durcheinander. Kindheitserinnerungen. Sie sah eine fünfunddreißig Jahre jüngere Oma vor sich, als blätterte sie in einem Fotoalbum. Ein waches Gesicht, das noch nicht an einen Lederapfel erinnerte. Haar, das sich noch nicht blauviolett lockte, sondern zu einem langen, mit einzelnen Silberfäden durchzogenen Zopf geflochten war.

Juli 1981

Ihr ist viel zu heiß. Die Sonne knallt auf den Asphalt und bringt die Luft darüber zum Zittern. In dem ausgeleierten Sweater, den vor Carla Paul und vor Paul Sebastian getragen hat, schwitzt sie erbärmlich. Trotzdem tritt sie so kräftig in die Pedale, wie es geht. Nur schnell weg! Sie hat nicht lange nachgedacht, hat ihre Schultasche gepackt und die Badesachen, zwei Unterhosen und Pippo, den Plüschbären, hineingestopft. Das Sparschwein ist ihr zu spät eingefallen. Aber egal, es sind ohnehin nur zwanzig Schillinge drin.

Endlich kommt ihr Ziel in Sicht: die kleine Schrebergartensiedlung, der Jägerzaun, der Omas Parzelle umgibt. Sie schmeißt das Rad hin, reißt das Gartentor auf und stürmt auf die Gestalt zu, die im Gemüsebeet kauert und Unkraut zupft.

„Oma, Oma! Ich bleib jetzt bei dir!“

„Carla, mein Schatz! Wie schön, dass du mich besuchst.“

„Nicht besuchst. Für immer. Ich bleib bei dir und wir gehen nach Italien.“

Oma Rosalba steht ächzend auf und zieht die Gartenhandschuhe aus. „Wie kommst du denn auf Italien?“

„Du hast doch gesagt, dass du später nach Italien gehst.“

„Ach so!“ Oma lacht. „Ich hab gemeint in zehn, zwanzig Jahren vielleicht. Wenn ich alt bin. Aber das war eher so eine Art Wunschtraum. Eigentlich ist es hier doch auch ganz schön, findest du nicht?“ Sie drückt Carla fest an sich.

„Au! Du tust mir weh!“ Carla keucht auf. Sie versucht, die Tränen, die sich schon so lange aufgestaut haben, hinunterzuschlucken. Sonst gelingt es ihr immer, aber in diesem Moment ist es schwer. Die Wärme und der vertraute Geruch, der von Oma ausgeht, setzen ihr zu. Noch mehr aber die Hoffnung auf Flucht, die gerade dabei ist zu zerplatzen.

Oma Rosalba zuckt erschrocken zurück und lässt Carla los. „Entschuldige. Hab ich dich zu fest gedrückt?“ Vorsichtig schiebt sie den Ärmel von Carlas Sweater nach oben. Sie sieht den Bluterguss und erstarrt. „Der ist ja riesig! Woher hast du den?“

Carla zuckt mit den Schultern. Das ist bloß ein blauer Fleck, ein alter noch dazu, weil er an den Rändern schon gelb wird. Sebastian hat sie festgehalten, damit Paul ihr den Ketchup ins Gesicht spritzen konnte. Das war vorgestern, als sie das schöne Kleid anhatte. Natürlich hat es ebenfalls Ketchup abgekriegt, und Mama hat gedacht, dass sie sich beim Essen absichtlich angepatzt hat, weil sie das Kleid nicht mag. Und natürlich hat Mama sie dafür bestraft.

„Komm, Topolina, sag es mir.“

Carla schweigt. Noch kämpft sie.

Die Oma schiebt sie ein wenig von sich weg und sieht ihr in die Augen. „Mamma mia! Und was ist mit deinem Gesicht passiert? Knallrot sind deine Wangen. Und ganz dick geschwollen. Wer hat das getan?“

Da kann Carla sich nicht mehr beherrschen.

Der Damm bricht, die Tränen wollen geweint werden. Alle Tränen. Da hilft es auch nicht, dass Carla ihr Gesicht unter Omas Arm versteckt.

Oma Rosalba streicht ihr über den Kopf, immer wieder, und flüstert Worte auf Italienisch, die Carla nicht versteht, die aber wunderschön klingen. Langsam ebbt das Tränenmeer ab.

„War das der Papa, meine Kleine? Haut dich dein Papa?“

Carla schüttelt ärgerlich den Kopf. Nein, der Papa nicht. Der schreit nur immer herum, wenn er zu viel getrunken hat, und streitet sich mit Mama. Und ihren Brüdern versohlt er regelmäßig den Hintern. Sie lässt er in Ruhe. Vielleicht weil sie die Jüngste ist und bloß ein Mädchen. Durch sie sieht Papa immer hindurch, als ob sie Luft wäre. Natürlich ist ihr klar, dass er indirekt an ihrem Elend schuld ist. Denn aus Wut darüber, dass sie verschont wird, zahlen ihre Brüder ihr Papas Schläge doppelt heim. Schlimmer als das sind aber die Ohrfeigen, die sie von Mama bekommt. Weil sie viel mehr brennen als die Ohrfeigen ihrer Brüder. Am meisten brennen sie, wenn Carla sie nicht verdient hat. Heute zum Beispiel. Nicht sie hat die Kaulquappen in den Topf mit dem Kriecherlkompott geschmuggelt, sondern Paul. Aber weil es ihre Kaulquappen waren, hat Mama ihr nicht geglaubt. Für den Versuch, die Wahrheit zu sagen, bekam sie zwei Ohrfeigen mehr. Weil man nicht petzen darf. Und weil Paul Mamas Liebling ist. Es ist so ungerecht! Immer ist Carla an allem schuld. Aber jetzt ist Schluss damit, und zwar endgültig.

„Können wir nicht gleich nach Italien gehen? Du bist doch schon alt!“

Oma lächelt, geht aber nicht darauf ein. „Wenn es nicht der Papa war, wer dann? Sebastian vielleicht?“

Carla zieht den Rotz hoch und schweigt. Ist doch egal, wer. Alle sind gemein zu ihr. Niemand hat sie lieb.

„Schon gut, du musst es mir nicht sagen.“ Oma zaubert ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und hält es ihr hin. „Magst du heute bei mir schlafen, hier im Gartenhaus?“

Carla nickt.

„Wir müssen natürlich deine Mama anrufen. Sonst macht sie sich Sorgen.“

„Tut sie nicht!“, schreit sie. Vielleicht fällt es Mama gar nicht auf, wenn Carla nicht mehr am Tisch sitzt. Auf alle Fälle wäre sie erleichtert. „Kann ich nicht für immer bei dir wohnen?“

Oma Rosalba sieht sie an. Wie Kastanien sind ihre Augen, so groß und dunkelbraun. Nicht so schmutzig wie Carlas Augen, die sich nicht entscheiden können, ob sie grau sein wollen oder grün. Oma antwortet nicht. Stattdessen dreht sie sich weg und wischt mit dem Handrücken in ihrem Gesicht herum.

Dann geht sie ins Haus und kommt mit einem Stück Schokolade zurück, das sie Carla in den Mund steckt. Es schmeckt ein bisschen mehlig und ein bisschen bitter, wie Omas Schokolade immer schmeckt, und obwohl Carla sie nicht besonders mag, mag sie das heimelige Gefühl, das sich in ihrem Bauch ausbreitet.

„Ich muss ein ernstes Wort mit Josefine reden“, murmelt Oma. Sie sagt es mehr zu sich selbst, und mit Josefine meint sie Carlas Mama. „Heute bleibst du bei mir, Cucciolotta, und morgen sehen wir weiter. Hast du schon gesehen, dass die Ribisel reif sind? Du hilfst mir doch beim Pflücken?“

Carla nickt. Für den Moment ist es gut, obwohl sie ahnt, dass Oma sie morgen wieder nach Hause schicken wird. Und dann wird alles von vorn anfangen.

„Jadis?“, fragt die Oma mit einer Stimme, die plötzlich vollkommen fremd klingt.

Bukowski zuckte zusammen. Die Tür des Besprechungsraums stand offen, Manni kam heraus. „Ich soll dich holen. Alles okay mit dir?“

Die Erkenntnis, dass diese Stimme gar nicht ihrer Oma gehörte, dass sie Omas Stimme nicht mehr hören würde, nie mehr, versetzte ihr einen Stich.

„Alles gut“, wollte sie ihrem Kollegen antworten, aber sie kam nur noch dazu, den Mund zu öffnen und sich darüber zu wundern, dass Manni wie ein Betrunkener schwankte und vor ihren Augen verschwamm.

Ihr Staunen mündete in ein Gefühl des Fallens und endete – nicht unangenehm – in Finsternis.

5

Als Bukowski zwei Tage später gegen halb sechs Uhr morgens aus dem Zug stieg, war ihr, als würde sie erst in der Kälte des Prumbacher Bahnhofs zu sich kommen.

In Wahrheit war sie nur Sekunden ohne Bewusstsein gewesen. Sie hatte die Besorgnis ihrer Kollegen wütend beiseitegewischt, hatte funktioniert und bis Dienstagabend intensiv am Fall Johanna Cramer gearbeitet. Hatte die Gewohnheiten ihrer Doppelgängerin unter die Lupe genommen und trotz aller Bemühungen kein Motiv für einen Suizid gefunden.

Ossi schien mit seiner Mordthese richtig zu liegen und Bukowski musste zugeben, dass ihr das nicht passte. Warum eigentlich? Sie wusste es nicht. Es war nur ein Gefühl, ungreifbar, unerklärlich, aber umso intensiver.

Jedenfalls deuteten die Fakten, die sie über ihre Doppelgängerin zusammentrug, darauf hin, dass diese Frau, die zwei Jahre älter war als sie, sich behaglich in ihrem Leben eingerichtet hatte. Sie hatte eine Lehre als Buchhändlerin gemacht, Kurt Cramer geheiratet, die gemeinsame Tochter Nadja aufgezogen und daneben jahrelang in einer Buchhandelskette gearbeitet. Einen Liebhaber schien es nicht zu geben, und entgegen der Gerüchte, die die redselige Nachbarin Frau Henselt, eine notorische Lügnerin, in die Welt gesetzt hatte, berichteten alle Freunde des Paares von gegenseitiger Wertschätzung der Eheleute. Keine Spur einer Scheidungsabsicht, keine Spur von Schulden. Den Cramers ging es finanziell sehr gut. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Johanna ein Haus geerbt, mit dem Erlös verwirklichte sie sich ihren Lebenstraum: eine eigene kleine Buchhandlung in Währing, die aufgrund von persönlichem Engagement und Know-how erstaunlich gut lief. Nichts deutete auf Depressionen hin, nichts auf eine gesundheitliche, private oder sonstige Krise.

Allerdings war auch keinerlei Mordmotiv auszumachen.

In Kurt Cramers Leben schien es keine andere Frau zu geben, er hatte keine Affären. Trotzdem galt er als Hauptverdächtiger. Er war am Montag nicht zur Arbeit erschienen und erst gegen Mittag aufgegriffen und mit einer schweren Alkoholvergiftung ins AKH eingeliefert worden. Am Dienstag war er wieder vernehmungsfähig, schwieg aber beharrlich, zu Ossis großem Ärger.

Inzwischen war Nadja Cramer aus Shanghai eingetroffen. Niemals wäre ihre Mutter einfach so aus dem Leben geschieden, ohne Erklärung und ohne Abschied zu nehmen, sagte die verzweifelte junge Frau. Sie konnte sich außerdem nicht vorstellen, dass ihr Vater ein Mörder sein sollte.

Ossi konnte das dagegen sehr wohl und Nowak anscheinend auch.

Bukowskis Chef hatte sich für ihre sorgfältigen Recherchen bedankt und ihr versichert, der Fall würde bald geklärt sein. Sie könne guten Gewissens zur Beerdigung ihrer Großmutter fahren.

„Sind zwei Urlaubstage okay?“, fragte sie.

„Willst du nicht länger bei deiner Familie bleiben, wenn du schon einmal in Tirol bist? Eine Woche wäre kein Problem.“

„Willst du mir drohen?“

„So schlimm?“

„Schlimmer!“

Er schnaubte, als glaubte er ihr nicht. Dabei war es um sein Verhältnis zu den eigenen Eltern und Geschwistern auch nicht gerade rosig bestellt, soviel Bukowski wusste. Aber nicht gerade rosig und grottenschlecht waren zwei verschiedene Dimensionen.

„Ich mein ja nur. Bei den vielen Überstunden, die du angehäuft hast, wäre das locker drin. Und besetzungstechnisch können wir es uns auch leisten, jetzt, wo Mali wieder gesund ist.“

„Falls das eine Frage war, lautet die Antwort nein.“ Falls es eine Bitte war, auch, dachte sie.

„War ja nur ein Vorschlag“, knurrte Nowak und schickte sie nach Hause, um zu packen.

Sie hatte den kleinsten ihrer Rucksäcke gewählt und nicht viel mehr als Unterwäsche, zwei Pullover und ihre Zahnputzsachen hineingestopft. Da sie sich nicht mehr mit Johanna Cramer befassen musste, hörte sie während der Zugfahrt Musik. Ein Streichquartett von Olga Neuwirth, das mit überraschenden und sich ständig verändernden Klängen aufwartete. Klängen, bei denen Bukowski an einen Riesenfisch denken musste, an einen singenden, sägenden, sich windenden und schließlich selbst verschlingenden Meeresbewohner aus der Urzeit. Sie fragte sich, ob ihr Unterbewusstsein diese Musik absichtlich ausgewählt hatte. War es eine Warnung vor den unliebsamen Überraschungen, die ihr Besuch in der alten Heimat für sie parat haben würde?

Aber Omas Tod war ja schon unliebsame Überraschung genug. Sie ließ das Telefonat mit Schwester Sibylle Revue passieren. Das Gefühl der Betäubung, das sie während dieses Telefonats befallen hatte, kehrte wieder. Ein Gefühl, als hätte man sie in einem Kokon eingeschlossen.

Erst beim Aussteigen, in der frühmorgendlichen Einsamkeit des Prumbacher Bahnhofs, fiel es plötzlich von ihr ab. Vielleicht lag es an den Bergen, die umso bedrohlicher wirkten, weil man sie in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Oder am Tiroler Frost, der schärfere Zähne hatte als sein Wiener Kollege und durch den Jeansstoff in Bukowskis Waden biss.

Wenigstens war sie wach genug, um es mit ihrer Familie aufzunehmen.

Seltsam berührt spazierte sie durch den Ort und fühlte sich fremd. Gleichzeitig war ihr alles so vertraut, als wäre sie erst gestern hier gewesen. Zum Aufwärmen setzte sie sich in die ehemalige Bäckerei ihres Großvaters, die Onkel Adi, Mamas Bruder, schon längst an eine große Bäckereikette verkauft hatte. Sie sog den Duft nach frischen Krapfen ein, bestellte einen doppelten Espresso und eine Buttersemmel. Obwohl im Backshop ein reges Kommen und Gehen herrschte, erkannte Bukowski niemanden und wurde von niemandem erkannt – ein Glück, denn auf neugierige Fragen konnte sie gut verzichten.

Als sie sich schließlich auf den Weg zum Friedhof machte, begann es zu schneien. Riesige Flocken schwebten mehr, als sie fielen, und sahen wattig und zerzaust aus wie die Fruchtstände von Wollgras. Kinder fingen sie mit der Zunge auf und lachten dabei. Auch die mürrischen Gesichter der Erwachsenen hellten sich auf, als wären sie erleichtert über das Weiß, das sich seit dem Jahreswechsel in Westösterreich rar gemacht hatte.

Aus der Pfarrkirche drang Orgelmusik. Der Sterbegottesdienst für Oma Rosalba hatte schon begonnen. Bukowski konnte sich nicht überwinden, das Gotteshaus zu betreten. Sie war vor Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten und wäre sich wie ein Fremdkörper vorgekommen. Außerdem wusste sie nie, wann man knien, sitzen, aufstehen oder sich die Hände reichen musste, und wollte niemanden mit ihrer choreografischen Unkenntnis brüskieren.

Lieber schlenderte sie durch den menschenleeren Friedhof. Einige der Namen auf den Grabkreuzen kannte sie gut, und sie wunderte sich, dass die dazugehörigen Menschen schon verstorben waren: Maria Friedman vulgo Tante Mitzi zum Beispiel, mit deren Dackel sie als Hauptschülerin Gassi gegangen war, um sich das Taschengeld aufzubessern; oder Adelheid Kapustin, ihre Volksschullehrerin, die bis zu ihrer Pensionierung mit „Fräulein Kapustin“ angesprochen werden wollte. Und Hugo Burgmüller, der diskrete Trafikant mit dem Klumpfuß, der nie nachfragte, wenn sie behauptete, Zigaretten für den Vater zu holen. Dreizehn war sie damals gewesen.

Andere Namen kamen ihr vage bekannt vor, aber ihre Erinnerungen waren so verfilzt wie die Moospolster auf den Grabsteinen, auf denen sich allmählich Schneehäubchen bildeten. Es hätte viel zu viel Energie gekostet, das Moos wegzukratzen.

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