Über das Buch

Tut das Sterben nach einer langen Krankheit weh? Wie kümmert man sich um Sterbende in ihren letzten Stunden? Was für Dokumente sollte jeder seinen Angehörigen zuliebe ausfüllen? Menschlich, lebhaft und unverkrampft gibt der junge Medizinjournalist Felix Hütten Antworten auf die unzähligen Fragen zum Sterben, über die wir alle viel zu selten sprechen. Von medizinischen Details über Ratschläge für den Umgang mit Ärzten oder die schwierige Frage nach dem Abstellen der Maschinen bis hin zur Trauer danach: Ohne falsche Tabus erzählt dieses alle angehende Buch vom Sterben, das zu jedem Leben dazugehört.

Felix Hütten

Sterben lernen

Das Buch für den Abschied

Carl Hanser Verlag

Inhalt

1: Einführung Der Tod: Eine Tragödie?

2: Was ist Sterben? Und was der Tod?

3: Die Angst vor dem Tod

4: Was hilft gegen die Angst? Sterbehilfe!

5: Palliativmedizin was ist das?

6: »Richtig« sterben. Geht das überhaupt?

7: Tipps und Tricks fürs Sterben

8: Überversorgung am Lebensende

9: Kommunikation und Haltung beim Sterben

10: Geht das, positiv sterben?

11: Humor beim Sterben

12: Protokoll Frau B.

13: Die Trauer der Angehörigen

14: Verschwinden I. Oder auch: Allein die Bürokratie bringt dich um

15: Verschwinden II: Was konkret passiert mit dir, wenn du tot bist?

16: Schluss

Anmerkungen

In diesen Tagen, dieser Welt. Leb wohl jetzt:

Die Röte zeigt den nahen Morgen an,

Adieu, adieu, adieu, und denk an mich.

Hamlet1

1

Einführung Der Tod: Eine Tragödie?

In der Medizin gibt es eine Regel, die ist sehr einfach und so grausam zugleich. Wenn ein Mensch tot ist, erkennen das Angehörige sofort. Eltern, Partner, Geschwister, alle sehen sie auf den ersten Blick, wenn etwas nicht stimmt. Wenn etwas nicht stimmt, man sagt das so einfach. Ein toter Mensch, frisch gestorben, die Kleidung noch warm, das Herz schon kalt, ist nicht blau, wie man es aus Filmen kennt. Das Gesicht ist grau. Ein Grau ist das, das es sonst nirgendwo gibt, kein Stein, kein Himmel, kein Beton hat dieses Grau. Es ist ein Grau aus Wachs, ein Grau des Abschieds, ein furchtbares Grau.

Und während Rettungskräfte und Notärzte lernen, sich nicht sofort zu sicher zu sein, dass ein Patient tatsächlich tot ist, wird sich dieses Grau in deine Gedanken fressen. Obwohl die allermeisten Menschen es noch nie bei einem Toten gesehen haben, spüren sie: Dieses Grau ist für immer. Vorbei, das war’s, adieu.

Sterben lernen.

Man kennt Leichen aus dem Fernsehen, klar, aber ein Mensch direkt vor dir, den das Leben verlassen hat, sieht anders aus. Es ist dieses Grau, das du nicht vergessen wirst, es brennt sich ein.

Eigentlich ist es verrückt, fast schon anmaßend. Ich meine, was zur Hölle soll ich als junger Mensch, als Journalist von Anfang 30, über das Sterben sagen? Die Lektorin und ich sitzen an einem eiskalten Januartag in einem Münchner Wirtshaus an einem speckigen Holztisch, zweimal Pfefferminztee bitte, draußen minus vier Grad, und beugen uns über Papier: Ein Buch über das Sterben soll es werden, ok? Ein waches Buch, kein langweiliges Buch. Ein nahes Buch, kein Fachaufsatz. Hmm.

Der Tod hat mich immer begleitet, als Sanitäter auf der Straße, als Medizinstudent im Leichenkeller, als Journalist in meinen Texten, oft in meinem Kopf. Mich fasziniert das Sterben in gewisser Hinsicht, denn es ist ein erstaunliches Programm des Körpers, das wir alle in uns tragen. Meine Zeit als Praktikant auf einer Palliativstation: beeindruckend. Das Gefühl, einen Menschen erfolgreich wiederbelebt zu haben, mit den eigenen Händen: überwältigend. Die Erfahrung, eine Leiche aufzuschneiden: prägend. Aber ein Buch darüber schreiben, kann ich das? Kann ich das? Ausgerechnet in einer Zeit, in der dann ganz nah bei mir neues Leben entsteht? Ich lese Fachartikel über den Tod, während meine Tochter, keine drei Wochen alt, auf meinem Schoß schläft. Es ist absurd.

Was, bitte schön, berechtigt mich, Erkenntnisse und Ratschläge zum Sterben auf Papier zu bringen? Gute Frage. Antwort: Nichts. Oder? Und dann auch noch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu duzen? Das macht Ihre Ärztin doch auch nicht. Ich glaube allerdings, dass wir uns duzen können, denn wir sprechen jetzt über den Tod, und das ist genug Grenzüberschreitung, genug Intimität. Blut, Speichel, Stuhlgang, Urin, da ist oft keine Zeit für ein »Sie«. Und das braucht es auch nicht. Der Tod kommt uns allen, dir, mir, jeden Tag näher, und wenn jemand stirbt, dann geht einem das meist unglaublich nah, darum »du« und nicht »Sie«. Das macht die Vorstellung vom Sterben leichter, vielleicht auch den Anblick einer Leiche.

Der erste Tote meines Lebens sieht, ein Glück, ganz friedlich aus. Kein Schwerverletzter, kein Blut, nur Schlaf. Es passiert ausgerechnet in meiner ersten Nachtschicht als Rettungssanitäter. Ich komme frisch von der Ausbildung und soll lernen, wie die Dinge im echten Leben laufen, nachts, in der Großstadt. Wir sind zu dritt auf einer Rettungswache am Stadtrand stationiert, es riecht nach Motoröl und Käsefüßen. Ich schlafe auf dem Sofa, als der Alarm losgeht. Es ist drei oder vier Uhr in der Nacht, und meine Schnürsenkel wollen sich partout nicht zu Knoten zusammenfinden. Wir fahren lange durch die Dunkelheit, die Hauswände schießen das Blaulicht zurück auf den Wagen, bis wir endlich ankommen, weit draußen, die Rückseiten der Häuser schauen auf Felder. Uns öffnet eine Frau, sicher über 70 Jahre alt. Ihren Name sage ich hier nicht, denn ich konnte sie damals nicht fragen, ob sie mit ihrer Geschichte in diesem Buch erscheinen möchte. Überhaupt habe ich in diesem Buch manche Details verändert, um die Privatsphäre von Menschen zu schützen, habe ich die Namen aller Patienten und Angehörigen variiert oder abgekürzt, denn die Schweigepflicht gilt auch über den Tod hinaus.

Die Frau öffnet also die Tür, lässt uns in ihr Leben, die Wände von Holz verkleidet, 40 Jahre Ehe, die Luft hier steht schon lange. Sie trägt eine Schürze über ihrem Nachthemd, was bitte sollte sie auch anderes tragen, morgens um halb fünf? Im Schlafzimmer ist ihre Decke aufgeschlagen, ihr Mann liegt daneben, rechte Seite, die Matratze noch warm, jetzt also fünf Männer darum: der Notarzt, drei Sanitäter und ich.

Wir hätten alle gerne dieses Zimmer wieder verlassen und für die Frau den Pfarrer gerufen, den sie sich so sehr herbeiwünschte. Angst im Zimmer, Angst vor uns, Angst vor unseren schweren Alukoffern, den schwarzen Stiefeln, den roten Jacken. Tragbare Beatmungsmaschine, Medikamente, Blaulicht. Angst vor dem Tod.

Wir reißen den Mann zu viert aus dem Bett, Reanimation auf altem Teppich, die Frau steht im Türrahmen und weint. Wir hängen ein Kreuz von der Wand ab, um an den Nägeln in der Tapete Infusionen zu befestigen. 10 Milligramm Adrenalin, zwei Zugänge, drücken, drücken, hundertmal in der Minute, im inneren Ohr laufen die Bee Gees, »Stayin’ Alive«, immer schön den Takt halten.

Nach einer Dreiviertelstunde kommt endlich der Pfarrer. Wir ziehen den Tubus aus dem Mund des Mannes, die Zugänge aus den Venen. Wozu das Ganze, wozu diese unnötige Qual für den Patienten, dessen Herz nach 70 Jahren einfach nicht mehr schlagen wollte? Wozu die unnötige Qual seiner Frau, wozu diese Tragödie?

Es muss nicht immer so schwierig sein.

Wenn du stirbst, ist das immer ein Abschied, mal von Erleichterung begleitet, weil das Leid endlich ein Ende hat. Mal von Schmerz, weil Abschiednehmen grausam ist. Sterben gehört zum Leben, das ist eine banale Weisheit, aber niemand weiß so richtig etwas mit ihr anzufangen.

Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte vom Sterben. Es erzählt von der Frage, ob der Tod wirklich immer eine Tragödie sein muss. Drei Patienten und ihre Geschichten werden dich in diesem Buch begleiten. Alle drei Geschichten haben mit Krebs zu tun. Das ist blöd, denn man stirbt auch beim Fahrradfahren, an einer Lungenentzündung oder durch das Schwinden der Lebenskräfte. Andererseits ist Krebs eine Krankheit, die viele Menschen trifft, und zwar ins Mark. Für Krebs braucht es Zeit, Zeit, die Diagnose zu verdauen, Zeit zu trauern, Zeit, sich vorzubereiten und zu akzeptieren, dass du sterben wirst. Zeit, dich mit dem Tod zu beschäftigen, Zeit zu verstehen, was Sterben bedeutet. Genau diese Zeit nehmen wir uns, deshalb drei Geschichten über Krebs in diesem Buch, die stellvertretend stehen für den Prozess, sich mit dem Tod vertraut zu machen. Die Natur sieht den Tod vor, der Tod ist wie ein Berg am Ende jedes Weges. Man kann den Berg nicht sprengen, aber kann man ihn erklimmen?

Für Simon ist diese Frage wichtig, denn Simons Geschichte in diesem Buch beginnt genau damit, dass er auf einen Berg hinauf will, eine Wanderung zum Gipfel, als er zu taumeln beginnt. Seither geht er auf einem rutschigen Pfad, und niemand weiß, wann es passieren, leider nur, dass es passieren wird. Der Tumor in seinem Kopf ist nicht zu heilen, und Simon damals wie heute noch ein Kind. Das ist schrecklich. Aber wenn es um die Frage geht, wie du stirbst, dann hast du dennoch eine Chance: Du kannst — und sei es in ganz kleinen Schritten — zum Gestalter deiner Geschichte werden. Wenigstens ein bisschen, Simon zeigt dir das.

Bitte nicht falsch verstehen: Sterben ist schlimm, und viele Menschen leiden fürchterlich. Menschen erbrechen, sind immer müde und schlafen doch nicht. Menschen wie Herr Moos, den du noch besser kennenlernen wirst. Herr Moos kämpft gegen das alles an. Es ist eine Einsamkeit in ihm, die ist kalt und fürchterlich, und Herr Moos hat Krämpfe und Ängste, hat Durchfall und dann wieder Verstopfung. Sterben ist scheiße, es ist einfach so, Sterben ist eine Tragödie.

Sterben ist aber auch schlicht, und Sterben ist privat, so privat, dass Frau B., Mitte 50, nur schwer darüber sprechen kann, wie es ist, wenn der eine geht und der andere bleibt. Man kann nicht immer gut sterben, sagt Frau B., die ihren Mann in den Tod begleitet hat, aber man kann oft ein kleines bisschen besser sterben. Und genau darum geht es in diesem Buch: dass das Sterben ein Stückchen leichter werden kann, wenn du ein paar Dinge im Kopf hast, die etwa Frau B. nicht wusste und ihr Mann nicht kannte. Oder, anders gesagt: Sterben wird noch schwieriger, wenn du viel zu wenig darüber weißt.

Tatsächlich wissen wir alle viel über das Sterben, und so wenig zugleich. Der Tod ist wissenschaftlich äußerst schwierig zu erforschen. Abgesehen von medizinischen Parametern wie Herzschlag oder Sauerstoffsättigung im Blut ist vieles unklar von dem, was in deinem Körper passiert, wenn du stirbst, und noch mehr von dem, was passiert, wenn du tot bist. Wie du es erlebst und ob du es überhaupt erlebst, währenddessen und danach.

Was man aber sehr genau weiß, das ist, wie sich Menschen das Sterben wünschen, nämlich als etwas Gutes, Schönes, als etwas mit einem Happy End, manchmal als Triumph über das Leid, und bestimmt nicht als eine Tragödie. Doch hat ein Sterbender oft nicht die Wahl zwischen diesen Alternativen. Du kannst nicht mit Tricks steuern, ob dein Weg zum Tod ein guter wird, wenn du es lediglich willst. Wäre es doch so einfach. Auch aus diesem Grund ist dieses Buch keine Selbsthilfelektüre, kein Hilfsmittel zum Mitleid, kein Lebens- und Sterbeberater, keine Anleitung zum Hokuspokus. Mit Blick auf die Wissenschaft und den Alltag in Kliniken aber gibt es ein paar wesentliche Dinge, die du lernen kannst, wenn es um das Sterben geht. Sie machen den Weg angenehmer, und wenn es nur ein Funken ist und wenn es nur für einen Moment gelingt, die Tragödie kleinzukriegen.

Menschen wünschen sich einen guten Tod, was immer das heißen mag. Sicher heißt es nicht, stur festzuhalten an einem So soll es sein, oder noch schlimmer: So muss es sein. Die große Frage lautet vielmehr: Was macht das Sterben eigentlich unnötig schwer? Und wie kann es etwas besser gehen?

Dieses Buch begleitet also drei Menschen: Simon, Herrn Moos und Frau B. Es findet Antworten auf die Fragen, Antworten für Gesunde und Kranke, für Angehörige und Freunde und für Sterbende selbst. Die Tragödie des Sterbens liegt auf der Hand: Der Tod als Berg am Ende eines jeden Lebenswegs ist nicht beweglich. Der Mensch aber, der ist es wohl.

2

Was ist Sterben?
Und was der Tod?

An diesem Vormittag kommt ein neuer Patient auf Station, Herr Moos, mit blauen Augen und einer Scheißangst. Herr Moos trägt einen Hufeisenbart, seine Eisaugen haben sich tief in den Schädel verkrochen.

Er weint.

Im Dschungel hat er gelebt, erzählt er, und vor dem Tod keine Angst. Wer Angst hat, überlebt den Dschungel nicht. Wenn du überleben willst, musst du selbst der Tod sein, sagt Herr Moos. Sein Tumor ist vom Rachen ins Gehirn vorgedrungen, der linke Arm schon gelähmt. Mit Steinen hat Herr Moos einmal, als junger Mann, einen Alligator erschlagen, als Leibwächter Jahre am Amazonas verbracht. Herr Moos ist jetzt 65 Jahre alt und lebensmüde, und wenn ein Mensch sagt, er fürchte den Tod nicht, dann heißt das meistens, dass die Schmerzen schlimmer sind als die Angst.

Das kann anstrengend sein, so wie für Herrn Moos, der eigentlich lieber schlafen will, als entscheiden zu müssen, was nicht zu entscheiden ist: Wie viel Behandlung er noch haben will, fragen ihn die Ärztinnen. Der Tod klopft an: »Herr Moos, wir können viel für Sie tun, aber nicht mehr alles.«

Herr Moos schwankt also zwischen Aufgeben und Alles-Geben. Er hat Freunde an Krebs verloren, war schon mal in einem Hospiz, aber nur zu Besuch. Es war ganz schön dort, sagt er und fragt dann, wie das eigentlich ist, wenn es zu Ende geht nach einem Leben, in dem man viel erreicht und doch nicht alles geschafft hat.

Sterben und Tod, zwei so ausgezeichnet schwere Wörter: Kommen sie ins Spiel, schaudert es die Menschen, schaudert es Herrn Moos. Die Vergänglichkeit des Lebens, einverstanden, sie muss sein, nur bitte doch nicht jetzt. Klar, der Tod ist Teil des Lebens, er steht unmittelbar am Ende eines jeden, aber die Vorstellung, eines Tages selbst zu sterben, scheint absurd, unvorstellbar, der Tod wird doch nicht mir auf den Leib rücken, oder?

Falls es dir gelingt, das Gedankenspiel zu Ende zu denken: Wie wäre es, wenn du morgen im Sterben lägest? Kannst du dir das vorstellen, dann gelingt es dir womöglich schon heute besser, Sterbende so zu begleiten, wie sie es wünschen und sicher auch verdienen. Doch ein solches Gedankenspiel gelingt nur selten. Das ist der nur allzu menschliche Reflex, den eigenen Tod aus dem Bewusstsein vertreiben zu wollen, so lange wie nur möglich. Was auch die Geschichte der Menschen in Europa zeigt, die spätestens mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert Religion und Staat stückchenweise zu trennen wagten und damit auch den Tod nicht mehr als Ticket hinein in ein neues Leben jenseits der Erde sehen konnten — sondern, nun ja, stattdessen als Untergang der eigenen individuellen Existenz. Sterben ist kein Fest, war es nie, und diente doch jahrhundertelang als Anlass für Familien- und Dorffeiern, auf denen getrauert, gesprochen, getrunken wurde. Der Tod war ein zum Leben dazugehörendes Ereignis wie die Geburt.2 3

Das ist heute eindeutig nicht mehr der Fall. Im Gegenteil, der Mensch der Moderne sieht viel, aber Tote selten bis nie. Einen Toten, einen Menschen, den das Leben verlassen hat, die Haut ganz fahl, der Mund geöffnet, das Herz schon kalt? Fehlanzeige.

Bestattungsunternehmen sind 24 Stunden zu erreichen, die Verstorbenen werden nicht in Särgen durch die Straßen getragen. Sie verschwinden so spurlos, wie sie gestorben sind. Wenn auf diese Weise der tiefere Sinn im Sterben fehlt, wenn es keine Welt nach dem Leben auf der Erde geben mag und der Tod das Leben auslöscht und nichts übrig bleibt, dann soll es wenigstens zackig gehen, ohne langes Brimborium. Wie willst du sterben, fragen Statistiker in Studien, Mediziner im Krankenhaus und Freunde in der Kneipe. Und fast alle antworten: Bitte schnell. Und bitte, ohne viel am eigenen Leib spüren zu müssen.4

So einfach diese beiden Antworten scheinen mögen, so kompliziert beginnt die Reise ins Nichts meistens. Beim Sterben und beim Tod schwingen viele Worte und Vorstellungen mit, sodass wir hier zuerst einmal ein bisschen Ordnung schaffen müssen. Die letzten Meter des Lebens scheinen tatsächlich eine Art Programm zu sein. Am Ende, wenn es wirklich zu Ende geht, sterben alle Menschen gleich, irgendwann atmest du nicht mehr, verweigert dein Herz die Arbeit. Bis es aber so weit ist, unterscheiden sich die Dinge gewaltig.

Also: Sterben und der Tod sind zwei verschiedene Dinge. Man sagt so leicht, ja, die Eltern, die sind vor zwei Jahren gestorben, die sind seit zwei Jahren tot. Und jeder weiß, was gemeint ist. Wer unter der Erde liegt, ist nicht mehr unter uns. Je näher man aber heranzoomt an das Sterben und den Tod, desto schwieriger wird die Suche nach einer Antwort, was die beiden Dinge denn nun bedeuten mögen.

Beginnen wir mit dem Sterben. Was ist das? Und wie ist es?

Zunächst einmal stimmt der Satz ganz genau: Sterben gehört tatsächlich zum Leben. Mehr noch, ohne Sterben würden wir nicht leben, jeden Tag stirbt etwas in uns, und wäre das nicht so, wärst du ganz sicher schon sehr bald sehr tot. Dieses Sterben in uns allen nennt sich Apoptose, der sogenannte programmierte Zelltod. Schon an dieser Stelle kommen sich die Definitionen von Sterben und Tod ins Gehege, beide Wörter sind einfach eng verbunden. Um also das Sterben zu verstehen, brauchen wir den Tod — und andersherum.

Der Zelltod, um beim Beispiel zu bleiben, ist eine wirklich clevere Funktion des Körpers, Zellen, die Ärger machen, sterben zu lassen. Richtig, die Zellen zerstören sich selbst, es läuft eine Art Selbstzerstörungsprogramm ab, oder besser: ein Selbstschutzprogramm. Der Zelltod ist eine mächtige Reguliervorrichtung des Körpers, die Zellen vernichtet, die dieser nicht mehr braucht oder die ihm schädlich werden können. Krebs beispielsweise ist — klar, stark vereinfacht — nichts anderes als eine Ansammlung von Zellen, die sich diesem Selbstzerstörungssystem des Körpers entzieht. Deshalb spricht man bei Krebs auch von entarteten Zellen. Sie haben sich entschlossen, nach ihrer eigenen Nase zu tanzen, sie pfeifen auf die sonstigen Regeln und Gesetze im Körper. Das führt dazu, dass sie dort wachsen, wo sie nicht hingehören, im Gehirn etwa, in der Leber, in der Lunge.

Ohne in die Details der Onkologie eintauchen zu wollen, wird dir durch dieses Beispiel hoffentlich klar, wie wichtig das Sterben für den Menschen ist, und zwar schon lange, bevor er selbst stirbt. Nur dank des Zelltods bist du als Mensch überhaupt am Leben. Denn auch die Entwicklung des lebensfähigen Körpers — mit seinem Beginn durch das glückliche Zusammentreffen von Spermium und Eizelle — ist nur über den Zelltod möglich, wenn sich Zellen gezielt umbringen und so Platz machen für Neues. Die Hände und Finger eines Kindes im Mutterleib zum Beispiel entstehen, weil Zellen in den Zwischenräumen nach und nach sterben.5

Das alles mag erklären, warum es so verdammt schwierig ist, Sterben überhaupt zu definieren. Strenggenommen stirbt jeden Tag etwas in uns — und wenn nicht, dann würden wir sehr viel schneller sterben. Also: Stirbt derjenige, in dessen Körper nichts mehr stirbt? Oder beginnt das Sterben lange vor dem Tod, quasi schon ab der Geburt? Oder aber spätestens dann, wenn du als 30-Jähriger eine Schachtel Kippen am Tag rauchst? Ist Sterben weniger ein Moment am Ende des Lebens als ein Prozess, der uns tagtäglich begleitet?

Tatsächlich findet man in der Wissenschaft viele unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Es kommt darauf an, wen du fragst. Die medizinische Forschung zum Beispiel ist schon weit mit dem Verständnis davon, wie sich Gewebe regeneriert und sich Zellschäden korrigieren.6 Weiterhin unklar aber ist, warum Lebewesen überhaupt altern und sterben.7

Um uns an dieser Stelle nicht in philosophischen Gedanken zu verlieren, schlage ich vor, dass wir uns der Sache ganz praktisch nähern.

Aus meiner Sicht ist nämlich gar nicht so wichtig, die Frage nach der Definition des Sterbens definitiv zu beantworten. Wenn Sterben etwas einfacher werden soll, und darum geht es in diesem Buch, wird es dir helfen, das Sterben und den Tod zunächst einmal pragmatisch zu sehen. Bevor dich also jemand fragt, wie genau du sterben willst, und du sofort mit einer unausgegorenen Idee antwortest — zum Beispiel: zügig und ohne Umwege —, kommt hier eine kleine Liste mit verschiedenen Möglichkeiten, wie das Leben enden mag.8 Hierzu unterscheiden wir zunächst, Verzeihung, jetzt wird es noch mal spitzfindig, zwischen Todesart und Todesursache. Die Todesursache beschreibt, wie der Name schon sagt, den Grund des Todes, zum Beispiel einen Herzinfarkt. Die Todesart hingegen ist ein juristischer Begriff und beschreibt die Umstände des Todes, also: natürlich, nicht natürlich, ungeklärt: Bist du beispielsweise durch einen Unfall ums Leben gekommen, durch einen Mord oder einen Suizid? Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn es um die Bürokratie des Todes geht, wir sprechen darüber in den Kapiteln »Verschwinden I« und »Verschwinden II«. Es kann also sein, dass die Todesursache Schlaganfall eine natürliche ist, die Todesart aber unnatürlich, wenn du eigentlich kerngesund warst, durch einen Unfall bettlägerig wurdest und dir erst im Krankenhaus eine Thrombose eingefangen hast.

Bleiben wir aber zunächst bei den grundsätzlichen Möglichkeiten, das Leben zu verlassen.

Wie sterben wir?

Der plötzliche Tod. Der Akuttod, wenn er denn passiert, tritt sofort ein. Er lässt dem Menschen und seinen Angehörigen keine Vorbereitung, keine Chance, Abschied zu nehmen und die letzten Dinge zu regeln. Ein Beispiel wäre ein schwerer Motorradunfall. Der Aufprall ist so heftig, dass mehrere deiner Körperteile abreißen, vielleicht sogar dein Kopf. Dieses Beispiel ist makaber, Entschuldigung. Es kommt aber in der Ausbildung für Rettungssanitäter und Notärzte immer mal wieder zur Sprache, und zwar aus einem einfachen Grund: In Deutschland dürfen eigentlich nur Ärzte den Tod eines Menschen feststellen.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Ärztin einen Patienten für tot erklärt hat, ist er es strenggenommen nicht. Einzige Ausnahme: Der Patient hat Verletzungen erlitten, die, wie man in der Medizin schön sagt, mit dem Leben nicht vereinbar sind. Ein abgetrennter Kopf ist da wohl das eindeutigste Beispiel; im Alltag aber natürlich glücklicherweise eher die Ausnahme. Das Beispiel zeigt aber, und darauf will ich hinaus: Es ist gar nicht so einfach festzustellen, ob ein Mensch (sofort) tot ist — oder eben nicht.

Viele Menschen, die vermeintlich gestorben sind, leben noch. Bestes Beispiel ist der Herzstillstand: Patienten können mit einer Reanimation wieder ins Leben geholt werden, auch wenn sie plötzlich umfallen und wirken, als seien sie gestorben. Das bringt uns zur wichtigen Frage: Wann ist ein Mensch eigentlich tot, wann also ist der Übergang vom Sterben zum Tod vollendet? Dazu später mehr.

Die zweite Möglichkeit des Sterbens ist die schwere Krankheit mit Todesfolge, wie sie zum Beispiel Herr Moos erlebt. Am Anfang ist Herr Moos nur müde, das kann schon mal vorkommen nach einem Leben voller Abenteuer. Dann aber wird klar, dass Krebszellen in seinem Körper sitzen, im Rachen, in der Hüfte. »Heilen, Herr Moos, können wir Sie leider nicht mehr«, sagen die Ärzte zu ihm. Herr Moos wird trotzdem operiert, bekommt Medikamente, eine Bestrahlung, es geht ihm besser — jedoch irgendwann nicht mehr. Die Augenlider klappen ihm immer wieder mal zu, er schnauft, er hat Schmerzen, mal erträglich, mal überhaupt nicht. »Bitte«, sagt er zu den Ärzten, »tun Sie etwas dagegen.«

Diese zweite Möglichkeit ist also — anders als der plötzliche Tod — eine Reise von Wochen, Monaten; manchmal Jahren. Je nach Diagnose, und dazu zählen neben Krebs auch andere chronische Krankheiten mit Organversagen, geht es schnell. Meist aber nicht. Es mag Tage der Qual geben, aber ebenso auch Tage des Abschiednehmens, des Tschüss-Sagens, des Letzte-Dinge-Erledigens. Tage der Rekapitulation, manchmal auch der Kapitulation. Das können gute Tage sein, Zeiten, in denen man sich begegnet. In denen man sich nah ist. Schöne Tage, so komisch das klingt.

Die dritte Option ist die Altersschwäche, englisch: frailty. Eine ziemlich schwammige Angelegenheit, denn was genau ist denn schon Alter? Dabei kennt fast jeder in seiner Familie einen solchen Fall. Du lebst alleine zuhause, man sagt zu dir: rüstiger Rentner. Und dann wird irgendwann alles irgendwie kompliziert, mit dem Essen, mit dem Aufstehen, mit der Körperpflege. Eines Tages wirst du in ein Krankenhaus eingeliefert, und die Ärzte sagen, du hast nichts, du bist halt alt, was sollen wir schon tun? Manchmal sagen sie aber eben auch, ja, du hast dieses oder jenes, da können wir etwas tun, obwohl der natürliche Sterbeprozess schon lange begonnen hat, und im schlimmsten Falle landest du auf der Intensivstation. Doch da gehörst du nicht wirklich hin, denn du wirst nun ohnehin bald sterben. Sterben wird eben pathologisiert, auch weil die Menschen nicht mehr wissen, dass das Sterben dazugehört und Neues schafft, genau wie der Herbst die Bäume von den Blättern befreit, damit im Frühjahr neue wachsen.

Die Altersschwäche ist medizinisch nicht wirklich gut erforscht. Man weiß, dass die Muskulatur kontinuierlich abbaut, die Sehstärke, das Gedächtnis, und dass es zu Einsamkeit kommen kann, zu Angst und Depression. Einige Studien legen nahe, dass dabei Hormone, insbesondere das Insulin, eine bedeutende Rolle spielen, so klar ist das aber nicht. Ob Altersschwäche jedoch als Krankheit zu sehen ist? Nun ja, Experten erforschen und diskutieren diese Frage seit Jahren.9

Wenn das Sterben ein Teil des Lebens ist, dann sind altersschwache Menschen womöglich nicht krank im Sinne einer Veränderung des Körpers, die man medizinisch in den Griff bekommen könnte oder müsste, mit Beatmungsgerät und Infusion und Neonlicht an der Decke. Was natürlich nicht heißt, dass sie keine Hilfe brauchen, im Gegenteil. Nur ist es oft nicht die Hilfe, die du nachts um drei Uhr in einer Notaufnahme bekommst. Schwitzen, tränende Augen oder ziellose Armbewegungen können Stressreaktionen eines sterbenden Menschen sein und sind ein Hinweis für Pflegende.10 Bei ihnen braucht es aber eher keine Notärztin, sondern einen genauen Blick auf den Status quo: Wie kann man dem hier sterbenden Menschen helfen, ihn pflegen und beruhigen, auch mit Medikamenten, aber sicher nicht nur damit?

Und während manche Kinder und Enkelkinder die Ärzte anflehen, es doch bitte noch mal mit dieser oder jener Pille und dieser oder jener Operation zu versuchen, bist du dir als Sterbender deiner Sache vielleicht schon sicher, es muss nun sein, adieu.

Und dann schläfst du abends ein und wachst vielleicht am nächsten Morgen irgendwo auf, ein Irgendwo, das niemand kennt, das niemand beschreiben kann. Und wenn man Ärzte fragt, woran ein altersschwacher Mensch letztlich gestorben ist, darf man sich nicht wundern, wenn sie mit der Schulter zucken. Der biologische Prozess ist klar, das Herz hat irgendwann die Arbeit eingestellt, die Lungenflügel waren ohne Blut, die Zellen ohne Sauerstoff. Doch war das die Ursache oder die Folge des Sterbens?

Soweit zu den drei Optionen.

Aber klar, das Ende des Lebens ist nicht trennscharf in drei Punkte zu gliedern, stell dir mal vor, du bist altersschwach, hast chronische Lungenprobleme und fällst deshalb, atemlos, die Treppe runter und verletzt dich so schwer, dass du stirbst. Was ist das jetzt, eins, zwei oder drei?

Sterben passt in keine Schablone, denn: Beginnt es in diesem Szenario erst, wenn du auf der untersten Treppenstufe aufschlägst und das Bewusstsein verlierst? Oder hat es schon begonnen, als das Atmen immer mühsamer wurde? Wie erwähnt tut sich die Medizin schwer mit einer eindeutigen Antwort auf die Frage, wann ein Mensch zu sterben beginnt — und jeder Mensch nimmt das auch anders wahr.

Sterben kann — außer natürlich nach einem Unfall oder plötzlichen Ereignis wie einem sofort tödlichen Herzinfarkt — mit dem Verlust des Lebenswillens beginnen, mit Sorgen, Ängsten, Nöten. Die eigentliche Sterbephase dauert dann etwa zwei bis drei Tage. Das sind Momente, in denen die Atmung rasselt und die Augen immer öfter geschlossen bleiben, in denen die Wangen einfallen und die Augen hervortreten. Deine Hände und Füße werden eiskalt, mal bist du unruhig und mal schläfrig, meist friedlich. Erst im weiteren Sterbeverlauf wirst du dann womöglich unruhig und wirr sein. An der Bettdecke rumfummeln, dich zudecken, abdecken, immer schläfriger werden. Du reagierst nicht mehr auf Ansprache. Du denkst vielleicht, die Medikamente sind schuld, was allerdings nur selten stimmt. Eher sind es Ammoniak, Harnstoff oder CO2, die dir beim Sterben deine Sinne vernebeln.

Der Geschmackssinn wird weniger, der Geruchssinn ebenfalls, was aber noch lange geht, ist Eiswürfel lutschen — oder Vanilleeis. Doch irgendwann verlangt der Körper keine Nahrung und kein Wasser mehr, wozu auch, die Schalter stehen auf Abbau. Was bis zum Schluss gut funktioniert, selbst, wenn du nicht mehr wach bist, ist das Gehör.

Und dann, irgendwann, stellt das Herz seine Arbeit ein, der Blutdruck sinkt, du bekommst blaue Stellen und wirst kalt. Wasser lagert sich ein, manchmal rasselt die Lunge. Todesrasseln, sagen manche, und schon das Wort macht große Angst. Es kommt oft vom Schleim am Kehlkopf, nicht unbedingt von Wasser in der Lunge.11 Dieses Rasseln ist für Angehörige oft schwer zu ertragen, doch geht man davon aus, dass es den Sterbenden meist gar nicht so sehr belastet, wie man vielleicht befürchtet. Auch Lunge, Nieren, Darm, Magen werden weniger durchblutet und stellen allmählich ihre Funktionen ein — weshalb es wichtig ist, diese nicht zu überfordern. Was für Angehörige bedeutet: bloß nicht die Patienten zum Trinken oder Essen zwingen. Auch Magensonden, Infusionen, Sauerstoff, selbst wenn sie nötig erscheinen, helfen oft nicht — wir werden in Kapitel »Überversorgung am Lebensende« ausführlicher darüber sprechen.

Angehörige sind während des Sterbevorgangs oft irritiert, so war doch meine Mutter nie, so hat Vater nie geatmet. Manche Angehörige bekommen es dann mit der Angst zu tun und tippen 112 ins Handy. Medizinisch relevant ist die Situation ganz eindeutig, man sagt Sterben dazu — und dafür braucht es in den allermeisten Fällen keinen Notarzt, sondern Ruhe und Gelöstheit am Sterbebett. Sterben ist, in den allerletzten Momenten, oft etwas sehr Friedliches.

Sterben aus biologischer und molekularer Sicht

Bei aller Individualität jedes einzelnen Krankheits- und Todesfalles kommt hier etwas zum Verschnaufen. Denn, ohne dir zu nahe treten zu wollen: Sterben ist nicht nur individuell, es hat auch etwas Standardisiertes an sich. Ein Kind schläft nun einmal im Bauch der Mutter zum Menschen heran, da ist auch nicht viel mit Individualität, es gibt nun mal zu dieser Phase der menschlichen Entwicklung noch keine Alternative. Und beim Sterben ist es ähnlich. Egal welche Möglichkeit am Ende für deinen Tod in Frage kommt: Eines oder mehrere Organe fallen dabei aus, das haben alle Menschen gemeinsam, sei es die Leber oder die Niere oder das Herz oder alles auf einmal. Zoomen wir gedanklich in deinen Körper hinein, also in deine Blutbahn, dein Herz, deine Nieren, dann sehen wir dort Zellen, und in den Zellen sehen wir sogenannte Mitochondrien, vielleicht erinnerst du dich noch an den Biologie-Unterricht: genau, das Kraftwerk der Zelle. Und in diesen Kraftwerken ist nun mal irgendwann Schluss, quasi Stromausfall, nur für immer. In den Mitochondrien laufen verschiedene chemische Prozesse ab, ein wichtiger davon in der sogenannten Atmungskette, wo — grob vereinfacht — die goldene Energiewährung des Körpers, Adenosintriphosphat, kurz ATP, aus Vorprodukten, unter anderem Sauerstoff, umgewandelt wird. Wenn du stirbst, passiert genau das eben nicht mehr. Die Kraftwerke fahren die Produktion runter, weniger Sauerstoff kommt an, weniger ATP geht raus. Der Körper kommt zum Erliegen. Die Ursachen, die dazu führen können, sind vielfältig: Unfall, Herzinfarkt, Alter, siehe oben. Die Folge aber ist immer gleich: ohne Energie kein Leben. So hat es die Natur vorgesehen, und an dieser Regel ist nicht zu rütteln.

Mit Blick auf die eben beschriebene Biochemie ist das Sterben an und für sich nicht schmerzhaft. Richtig: Sterben tut nicht weh! Die Vorstellung, dass Sterben grausam sein muss, ist eng verbunden mit der gewaltigen psychischen Belastung, die du als Patient — und als Angehöriger — erlebst.12 Sie hängt stark damit zusammen, dass der Weg zum Sterben oft schmerzhaft ist. Ganz am Ende des Lebens aber, wenn die Atmung weniger wird, sinkt der Sauerstoff in deinem Blut und versetzt dich in eine Art Dämmerschlaf, in dem du nur noch wenig mitbekommst von dem, was um dich herum und in dir passiert. Die größte Angst der Menschen ist, bei lebendigem Leib zu ersticken — was glücklicherweise selten vorkommt. Du erlebst die Angst, du erlebst aber nicht den Tod. Auch deshalb ist wichtig, dass du nicht alleine bist, wenn es so weit ist, dass jemand bei dir ist, der die Angst mit dir teilt.

Was ist der Tod?

Wenn Sterben ein Prozess ist, dann ist der Tod ein Zustand. Ein Vergleich: Der Übergang von wach über müde zu schlafend ist unscharf. Man kann aber meist sicher sagen, wenn ein Mensch schläft. Genauso ist es mit dem Tod. Es ist durchaus schwierig, den Übergang von lebend über sterbend zum Tod zu definieren, man kann aber irgendwann sicher sagen: Dieser Mensch ist tot.

Der unklare Übergang zum Tod ist, neben allem, was wir schon besprochen haben, auch einer immer professionelleren Medizin geschuldet. Heute können viele Organversagen durch Maschinen kompensiert werden — und taugen dadurch nicht mehr wirklich als Todeszeichen. Die Folgen: Eine »Klinisierung« des Todes. Deshalb gibt es zwei verschiedene Todesbegriffe, die für viel Verwirrung sorgen; der klinische Tod und der Hirntod.13 Ja, was denn nun?

Der klinische Tod ist der Tod, bei dem dein Kreislauf und deine Atmung enden. Herzstillstand. Es bleiben noch ein paar Minuten, die dein Körper ohne Sauerstoff aushalten kann, ein paar Momente also, um dich — ganz theoretisch — mit einer Reanimation wieder zurück ins Leben zu holen. Das funktioniert manchmal, das funktioniert manchmal nicht, und ist sicher dann nicht sinnvoll, wenn du am Ende einer schweren Krankheit stehst. Ohne Sauerstoff sterben deine Organe eines nach dem anderen, und vor allem das Gehirn sehr rasch und unwiederbringlich. Du hast keinen Puls mehr, und doch ist es gar nicht so einfach zu sagen, ob du nun wirklich tot bist.

Du bist zwar noch warm, aber deine Muskeln sind schlaff. Du reagierst nicht auf Ansprache oder auf Schmerzreize. Deine Pupillen sind weit und ziehen sich nicht zusammen, wenn man dir mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtet. Aber Achtung: All diese beschriebenen Symptome sind keine sicheren Todeszeichen, können auch bei Erkrankungen des Gehirns, Vergiftungen oder Unterkühlung vorkommen und sind zumindest theoretisch umkehrbar.

Später dann, wenn man dich zur Seite dreht, kann es sein, dass du pfeifst und röchelst, und deine Angehörigen erschrecken fürchterlich, du hast ja geatmet, schnell, du lebst doch noch — oder? Und wenn man dich zur Seite dreht, scheidest du vielleicht Kot aus, noch mal ist da Leben, ist es doch noch nicht vorbei?

Es ist vorbei.

Nach einer halben Stunde sieht man erste Leichenflecken auf der Haut: Das ist Blut, das durch die Schwerkraft nach unten gezogen wird. Meist bilden sich diese Flecken vor allem am Rücken, weil du sehr wahrscheinlich im Liegen gestorben bist. Die Totenstarre setzt dann meist nach ein bis zwei Stunden ein. Deine Muskeln werden steif, weil ihnen die Energie fehlt, sich zu lösen. Diese Totenstarre gilt als sicheres Todeszeichen. Da ist nichts mehr zu machen. Die Starre löst sich erst nach zwei bis drei Tagen, wenn dein Körper zu verfaulen beginnt.

Woher kommen die Geräusche? Das ist Luft in den Atemwegen, die entweichen kann, wenn man dich als Leiche bewegt.

Und woher kommt der Kot? Die Muskulatur erschlafft zum Todeseintritt, der Darm entleert sich.

Etwas anders ist es bei hirntoten Patienten. Ihnen ist das Leben aus dem Kopf verflogen, was bedeutet: Die Tätigkeit des Gehirns, inklusive des Atemantriebs, ist erloschen.14 15 Und während Menschen, die Leichenflecken auf der Haut tragen, als klinisch tot und damit als »richtig« tot gelten, ist es beim Hirntod komplizierter. Zwar sind hirntote Menschen nicht mehr erweckbar, sie reagieren nicht mehr auf äußere Reize und atmen nicht mehr ohne fremde Hilfe. Dennoch lebt da irgendwas, mahnen manche Angehörige. Denn im Unterschied zum klinisch toten Patienten arbeitet der Körper. Hirntod-Patienten haben eine Verdauung und Wundheilung, theoretisch kann ein hirntoter Mensch über Jahre im Koma liegen. Diese Tatsache führen manche Kritiker der Hirntod-Definition als Argument an: So richtig mausetot kann der Patient ja offenbar nicht sein, wenn er an Maschinen angeschlossen bleibt. Weil hirntote Menschen oft noch Organe spenden, sprechen Kritiker sogar von »Ausweiden«. Denn ja, für eine Organspende wird dem hirntoten Menschen der Körper geöffnet, werden Herz, Niere oder Leber entnommen und einem anderen Menschen verpflanzt.

Für manche Laien mag es tatsächlich makaber klingen, dass einem Menschen Organe entnommen werden, dessen Fingernägel noch wachsen und dessen Haut noch rosig glänzt, der schwitzt und schnauft.16 Doch ist sein Gehirn als Steuerzentrale des Körpers für immer und unwiederbringlich ausgefallen, die Kommandobrücke ist für immer kaputt. Die Definition des Todes muss selbstverständlich nicht mit einem spirituellen Verständnis von Tod einhergehen, medizinisch aber ist die Sache eindeutig.17 Sobald die Ärztinnen die Maschinen abstellen, würden auch alle bis dahin intakten Organe sterben. Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit: Bevor es technisch möglich war, einen Hirntod-Patienten künstlich mit Maschinen zu beatmen, war dieser immer und ganz klar sofort tot. Denn ohne Atmung kein Leben. Manche Experten fordern daher, den Begriff »Hirntod« zu ersetzen durch: »irreversibler Hirnfunktionsausfall«18 — damit klar ist, dass das Gehirn unwiederbringlich nicht mehr zurück ins Leben findet; und damit auch nicht der Mensch.

lebendigem19 20