Über das Buch

»Nehmen Sie Ihr Kind von der Schule, mit ihrem Aussehen hält sie die Mitschüler vom Lernen ab!« Es ist das Wien der Nachkriegszeit, Ingrid Wieners Eltern folgen dem Rat des Lehrers. Doch aus einem Akt des Gehorsams wird eine Geschichte der Rebellion: Ingrid schließt sich einer Gruppe junger Künstler an. Nach skandalösen Protest-Aktionen flieht sie mit den Männern nach Berlin, wo sie das legendäre Exil gründen. Ihre Küche zieht bald Stars wie David Bowie, Peter O’Toole und Max Frisch an.

Wer ist diese Frau, der die Männer Platz machten in ihrer Mitte und die zugleich entschlossen ihren eigenen Weg ging? Carolin Würfel lässt die außergewöhnliche Atmosphäre jener Zeit wiedererstehen und zeichnet das Porträt einer inspirierenden Frauenfigur.

Carolin Würfel

Ingrid Wiener
und die Kunst der Befreiung

Wien 1968 | Berlin 1972

Carl Hanser Verlag

Für Alfons und Jule

Inhalt

Prolog

Warte nur, Welt

Mädchen gehören nicht auf ein Gymnasium

Ein freies Leben mit eigenem Einkommen

Was ist schon Sex?

Ein österreichischer Marlon Brando

Die Wiener Gruppe

Sonne halt!

Die Kunst des Webens

Wö mia so fad is

Der erste Abschied

Oswald Wiener

Alleine waren sie eigentlich nie

Der große Knall

Der zweite Abschied

Das Matala

Das Exil

Kochen ist reine Gefühlssache

This is the best place in the whole world

Vier kleine Wände

Zurück zur Kunst

Einfach nur leben und sein

Ein letzter Versuch

Kanada

Epilog

Bildnachweis

Danksagung

Prolog

Fünf Jahre ist das nun her, dass ich zum ersten Mal in der Galerie Barbara Wien vor dem Wandteppich von Ingrid Wiener stand. Es war ein kalter Samstagnachmittag im Februar. Draußen hingen die Wolken träge vom Himmel. Die Melancholie, die Berlin jedes Jahr im Winter heimsucht, hatte sich eingenistet, in Brust und Kopf und Stadt, und würde so schnell nicht wieder verschwinden. Also ging ich in Ausstellungen, besuchte Galerien und Museen, lungerte vor Bildern, Filmen und Skulpturen herum, weil die Kunst den endlosen Grautönen etwas entgegensetzte. Der Wandteppich, vor dem ich damals in der Galerie stand, war in etwa so groß wie eine Zeitungsseite. In ihn war in krakeliger Handschrift eine Einkaufsliste eingewebt: »Fleisch, Kaffee, Öl, Käse« stand da mit schwarzem Faden geschrieben. Die Buchstaben ließen sich nur schwer entziffern, so als wären sie in Eile notiert worden. Mit etwas Abstand hätte der Teppich auch Papier sein können, das immer wieder auf- und zugefaltet worden war und deshalb etwas müde an der Wand hing.

»Das ist von Ingrid Wiener«, sagte Barbara Wien, die Galeristin. Sie und ich kennen uns ein bisschen, von Ausstellungen und Eröffnungen und den Stunden danach in verrauchten Berliner Bars. Barbara Wien gehört zu den Galeristinnen und Galeristen, die in den Neunzigerjahren durch ihre Räume und ihr Engagement dazu beigetragen haben, Berlin als Metropole für zeitgenössische Kunst zu etablieren. Etwa zehn Jahre später zog ich, direkt nach dem Abitur, aus Leipzig hierher. Nicht nur, aber auch wegen der lebendigen Kunstszene.

Das Weben, erklärte Barbara Wien, während wir vor dem Teppich standen, sei Ingrid Wieners Kunst. Meist würde sie Fotografien oder Notizzettel abweben, die sie über Jahre aufbewahrt und zufällig wiedergefunden habe. Ich konnte sofort erahnen, wie viel Vergangenheit in diesem Wandteppich steckte, festgehalten von ineinander verschlungenen Fäden. Weben, dachte ich, ist eine langsame Kunst. Wie viele Tage saß sie, diese Ingrid Wiener, wohl am Webstuhl? Woran dachte sie beim Weben der Wörter? Und: Was ist das für ein Mensch, der Einkaufslisten in Wandteppiche verwandelt?

»Die müsstest du kennenlernen«, sagte Barbara Wien.

»Wieso?«, fragte ich, mehr aus Höflichkeit als aus echter Neugier, weil Sätze wie dieser mich immer misstrauisch machen.

Also: Wieso?

»Weil Ingrid zu der Sorte Mensch gehört, die nicht ein, sondern fünf Leben hatte.« Und dann erzählte sie. Dass Ingrid Wiener ursprünglich aus Wien kommt und in den Fünfzigerjahren zwischen Existenzialisten und Schriftstellern wie Konrad Bayer aufwuchs. Dass ihr Lebensgefährte Oswald Wiener Schriftsteller und der Vater der Fernsehköchin und Restaurantbesitzerin Sarah Wiener ist. Dass Oswald Wiener damals bei der legendären Aktion »Kunst und Revolution« Ende der Sechzigerjahre dabei war, wo die Künstler und Aktionisten Günter Brus und Otto Muehl in einem Hörsaal an der Universität Wien alle Tabus brachen. Die Männer zogen sich vor den Studierenden nackt aus, onanierten und urinierten. Schrien, schimpften, tobten. Es folgten staatliche Repressionen und Haftstrafen. Oswald und Ingrid flohen nach Berlin, wo sie zusammen mit ihrem besten Freund Michel Würthle in den Siebzigern in Kreuzberg ein Lokal, das Exil, eröffneten. Dort aßen und tranken die berühmten Künstler und Schriftsteller und Schauspieler ihrer Zeit. Joseph Beuys zum Beispiel, Max Frisch und Martin Kippenberger, Peter O’Toole, David Bowie, Iggy Pop. Die Galeristin Barbara Wien sagte auch, dass die Seele dieses Lokals Ingrid war und das gute Essen von ihr kam. Sie war die schöne Muse, um die die großen Männer kreisten. Die Frau, die sie verehrten und für die sie ein wenig Platz in den eigenen Reihen einräumten. Jetzt lebe Ingrid mit Oswald abwechselnd im Norden Kanadas, in einer alten Goldgräberstadt, und in der Steiermark in Österreich. »Wenn du möchtest, kannst du sie bestimmt besuchen.«

Eine Frau, die webt und kocht und für ihre Schönheit verehrt wird, scheint auf den ersten Blick allen Klischees zu entsprechen. Es sind Fähigkeiten und Eigenschaften, die an alte Rollenbilder geknüpft sind und die eine Frau zunächst nicht befreien, sondern verschwinden lassen. Und ich hätte diese kurze, charmant klingende Lebensgeschichte der Ingrid Wiener, die sich anscheinend vor allem durch die berühmten Künstler und Schriftsteller, die sie umgaben, auszeichnete, nach dem Galeriebesuch vor fünf Jahren auch einfach in den Räumen von Barbara Wien liegenlassen können. Aber aus irgendeinem Grund hatte Barbara Wien es an diesem Samstagnachmittag geschafft, dass ich Ingrid Wiener gedanklich mit nach Hause nahm. Eine Frau, die einen Einkaufszettel abwebt und versucht, in den Fäden eines Wandteppichs einen so winzigen Moment ihres Lebens festzuhalten – da musste etwas Interessantes dahinterstecken. Unterbewusst war es wahrscheinlich auch ein Akt gegen das Vergessen. Frauen wie Ingrid Wiener werden oft genug hintangestellt und dienen nur als Stimme. Als Ehefrau oder Muse von, um die Geschichten von Männern zu erzählen.

Es gibt eine Fotografie in Schwarz-Weiß von Christian Skrein aus dem Jahr 1968 mit dem Titel »Wir nicht«. Es ist eines der wenigen Zeugnisse, die sich leicht über sie finden lassen. Auf dem Foto steht Ingrid Wiener als sehr schöne junge Frau in einem hellen Anzug zwischen sechs Männern aus der Wiener Kunstszene. Die Hände hat sie in den Jackentaschen vergraben. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr über die Schultern. Sie hat dichte Augenbrauen und einen sinnlichen Mund. Ihre Augen sind halb geschlossen. Stolz sieht sie auf diesem Bild aus. Die Männer rechts und links von ihr tragen ebenfalls Anzüge und schauen selbstbewusst und ernst in die Kamera. Einige haben Zigaretten im Mundwinkel oder in der Hand. Sie wirken wie eine eingeschworene Bande. Die Fotografie diente damals als Vorlage für ein Plakat, das das österreichische Establishment provozieren sollte, und gehörte zu einer Reihe von Aktionen, die die jungen Männer, darunter auch Oswald Wiener, Ingrids späterer Lebensgefährte, in Wien veranstalteten, um den Konformitäten und der Nachkriegsstille, in die sich die Gesellschaft eingeschlossen hatte, etwas entgegenzusetzen.

Ingrid Wiener war also nicht nur Textilkünstlerin, Köchin und Muse. Sie war offensichtlich, genau wie die Männer auf diesem Bild, eine Ungezogene, Unangepasste. Eine, die sich nicht hinter alten Rollenbildern versteckte, sondern die sich selbstbewusst neben den Männern in der ersten Reihe positionierte. Eine, die nicht vergessen werden wollte. »Ich nicht« könnte die Fotografie auch heißen.

Und hier wird die Geschichte, die Barbara Wien andeutete, interessant. Wer trägt dazu bei, das Bild einer Zeit zu zeichnen? Die Männer in Ingrids Leben haben vor allem unter den Begriffen »Wiener Gruppe« und »Wiener Aktionismus« österreichische und internationale Kunstgeschichte geschrieben. Ihre Arbeiten hängen heute in den großen Museen dieser Welt. Sie halten Vorträge. Ihnen werden Bücher gewidmet. Und oft bleibt es bei dieser einseitigen Betrachtung der Geschichte.

Ingrid Wiener kann dieser Geschichte eine neue Sichtweise hinzufügen. Sie kann sie in gewisser Weise geraderücken. Ich möchte die Geschichte von Ingrid Wiener nicht erzählen, damit die großen Männer, die sie umgaben, noch deutlicher hervortreten können: die Wiener Gruppe und die Wiener Aktionisten und die berühmten männlichen Gäste des Exils, ihres Lokals in Berlin. Natürlich werden sie eine Rolle spielen, aber ich will nachspüren, wie sich Frausein damals anfühlte. Was es bedeutete, mit zwei Weltkriegen im Rücken aufzuwachsen und eigene Wege zu finden. Was es hieß, sich aus den festgefahrenen Rollen zu befreien, und was es brauchte, um sich in die erste Reihe zu stellen.

Dieses Buch soll ein Porträt werden. Keine lückenlose Biografie und auch keine Chronologie. Meine Sicht auf Ingrid Wiener und ihr Leben kann nur eine bestimmte Sichtweise sein und keine allgemeine historische Wahrheit. Die Ereignisse, von denen dieses Buch erzählen wird, sind wahr und nicht erfunden. Aber es gäbe sicher Personen, deren Erzählperspektive eine andere wäre.

Ich habe die Zeit, über die ich in diesem Buch schreiben will, nicht miterlebt. Ich kann ihr nur nachspüren, die Erinnerungen von Ingrid, ihren Freundinnen und Freunden, Weggefährtinnen und Weggefährten nur einfangen und neu zusammensetzen. Für dieses Buch habe ich über Jahre hinweg immer wieder Gespräche und Interviews geführt und Ingrid in der Steiermark besucht. Ich habe mit ihr gekocht und ihr beim Weben zugeschaut, ihr Archiv aus Bildern, Filmen, Briefen, Postkarten und Zeitungsausschnitten studiert und in Wien, Berlin und Graz ihre Freundinnen und Freunde getroffen.

Ingrid ist eine Frau, die sich schwer greifen lässt, die leicht entwischt und immer etwas Abstand hält. So als gehöre sie nicht ganz zu uns und unserer Welt. Auf ihren Gobelins, ihren Wandteppichen, bildet sie oft Gegenstände und Erinnerungsstücke aus ihrem Alltag ab, wie jenen alten Einkaufszettel, aber auch Schneidebretter, Gurken auf Zeitungspapier, den Kabelsalat unter ihrem Schreibtisch, den Stiefel ihres Freundes Dieter Roth. Die Fragen, die dahinterstehen, sind: Was ist wichtig, was braucht es zum Leben, was bleibt?

Dabei webt Ingrid Wiener die Gegenstände nicht einfach ab. Sie schreibt auch ihre Stimmung in dem Moment des Webens mit ein. Das bedeutet, dass die Fäden mal sehr fest und mal sehr locker sind und dass das Bild, das dabei entsteht, sich zwangsläufig von der Vorlage unterscheidet. Weben ist ein unglaublich langwieriger Prozess, den man aushalten und aussitzen muss. Und so ist es auch mit Ingrid. Nichts ist starr, alles ist ständig im Fluss. Immer wieder musste ich meine Sichtweise ändern und meinen Blick auf sie anpassen, nachjustieren, wie die Fäden am Webstuhl. Sie macht ihrem Gegenüber das Festhalten fast unmöglich. Jede Begegnung wird, wie jeder Moment am Webstuhl, neu ausgelotet. Jede Anekdote neu konnotiert.

Das macht es manchmal schwer, Nähe aufzubauen. »Die Frau, die Abstand hält« hätte auch ein Titel dieses Buches sein können. Diese Fähigkeit schenkte ihr Freiheit und verhalf ihr letztendlich zum Ausbruch. Es ist der rote Faden, der sich durch ihr Leben zieht und der ihr jenes sehr abenteuerliche Leben neben diesen Männern ermöglicht hat. Ingrid war für die Männer, die sie umgaben, oft Reflexions- oder Projektionsfläche und wurde sicherlich furchtbar unterschätzt. Unterschätzt, weil sie scheinbar mitspielte, sich scheinbar einfach anpasste. Dabei war es viel eher so: Für Ingrid waren diese Begegnungen und Beziehungen eine Möglichkeit, um sich selbst auszuprobieren. Immer wieder tauchte sie in unterschiedliche Lebenswelten ein, eroberte sie und zog schließlich weiter. Zum nächsten Mann, zur nächsten Stadt, zum nächsten Lokal, zum nächsten Abenteuer.

Ein Stück »Ingrid«, das spürt man in ihrer Kunst und wenn man mit ihr zusammen ist, in den leisen, stilleren Augenblicken, hat sie immer im Geheimen gelassen und beschützt wie ein Heiligtum. Dieses Stück macht den Zauber aus, der sie umgibt, und ist auch ein Ziel dieser Suche.

Im April 2013, drei Monate nach meinem Besuch in der Galerie Barbara Wien, fuhr ich zum ersten Mal zu Ingrid in die Steiermark. Es war eine Idee, entstanden ohne großes Nachdenken. Ich hatte ihr einen Brief geschrieben: Liebe Ingrid Wiener, ich würde Sie gern kennenlernen und in Österreich besuchen kommen, am liebsten im März oder April, gesetzt den Fall, sie stimmen meiner Idee zu und haben Zeit für mich?! Sie antwortete sofort und schlug ein Wochenende für meinen Besuch vor.

Ihr Zuhause in der Steiermark lag für mich auf dem Rückweg einer anderen Reise. Der Frühling fing langsam an, aber die Luft war noch kalt. Über dem Weinberg, auf dem ihr weißes, großes Haus steht, hing Nebel. Rechts und links davon drei Bauernhöfe. Dahinter dichter Wald. Als ich das Auto in ihrer Einfahrt abstellte, war ich nervös. Mein Brief erschien mir plötzlich albern, unüberlegt. Was wollte ich hier eigentlich? Was würde ich hier finden? Warum wollte ich ausgerechnet zu Ingrid Wiener, von der ich im Grunde nichts wusste? Sie öffnete die Tür. Vor mir stand eine große Frau mit kurzen, vollen, dunklen Haaren. Sie trug eine schwarze Stoffhose, gelbe Lederschuhe und ein gelbes T-Shirt. Die Augen hinter der roten, runden Kunststoffbrille waren strahlend blau. »Ja, hallo!«, sagte sie und breitete die Arme aus. Ihre Stimme war die eines jungen Mädchens. Hell und fröhlich. Als würde sie das Hallo singen. Das Alter sah man ihr nicht an. Vor einigen Monaten war sie 71 Jahre alt geworden. Ihr Gang war leicht und beschwingt, als wir in die Küche traten. Als würden die Füße bei jedem Schritt das Gewicht ihres Körpers abfedern. Sie bot Wasser und Bier an, fragte nach der Anreise und den Tagen zuvor in Italien. Ich war ihr dankbar, dass sie meine Anspannung zu spüren schien und nach Wegen suchte, die das Ankommen leichter machten. Ihr Mann Oswald Wiener kam dazu. Er trug eine dunkelbraune Lederhose und einen dunkelgrünen Rollkragenpullover. Groß und ernst, mit spitzen Brauen und wachen braunen Augen, reichte er mir die Hand und sagte nicht viel, außer »Grüß Gott« und »Fühlen Sie sich wie zu Hause«. Eine angedeutete Verbeugung. Alte Schule, dachte ich. Die Küche der Wieners sah aus wie in einem Lokal. Lange Flächen aus Edelstahl. Ein Spülbecken fast so groß wie eine Badewanne. Überall Töpfe und Pfannen und Geräte, deren Funktion ich nur erahnen konnte.

Am Abend servierte Ingrid einen Rinderbraten und Vogerlsalat, wir tranken viel Weißwein. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie wir an ihrem Esstisch im Wohnzimmer saßen, den gelben Kachelofen im Rücken, und ich ein erstes Antasten an ihr Leben versuchte und kläglich scheiterte, weil wir völlig wahllos zwischen den Zeiten, Schauplätzen und Figuren ihres Lebens hin und her sprangen. Als wäre es ein Film, der sich in zehnfacher Geschwindigkeit vor- und zurückspulen lässt. In jener ersten Nacht auf dem Weinberg bei ihr, im Süden von Österreich, fühlte ich mich wie in einem Antiquariat, das so vollgestellt war, dass ich mich nur um die eigene Achse drehen konnte. Gleichzeitig will man natürlich genau so ein Antiquariat voller Kuriositäten finden. Die Erste sein. Die vergessenen Schätze aus den Ecken ziehen.

Von diesem ersten Wochenende bei Ingrid in der Steiermark ist mir vor allem ein Satz in Erinnerung geblieben. Am Morgen nach meiner Ankunft standen wir in ihrer Küche, schälten gekochte Eier, und sie sagte, ohne aufzusehen: »Du musst verstehen, in den Sechziger- und Siebzigerjahren wollte jeder mit mir schlafen, weil ich so toll ausgeschaut habe.« Sie hätte genauso gut sagen können: »Du musst verstehen, Eier muss man erst schälen, bevor man sie essen kann.«

Warte nur, Welt

Ingrid Wiener wurde 1942 in Wien geboren und wuchs in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Ihre Mutter Margaretha Lang war Wienerin, ihr Vater Paul Schuppan ursprünglich aus Thüringen. Die beiden hatten sich 1940 beim Tanzen kennengelernt und nach einigen Verabredungen sehr schnell geheiratet. Dabei, das würde Ingrids Mutter später immer wieder betonen, hätte Margaretha Lang jeden heiraten können. Sie sah ein bisschen aus wie Marlene Dietrich. Sie hatte ein perfekt geschwungenes Lippenherz, blaue, mandelförmige Augen, eingerahmt von dunklen, zu einem dünnen Strich gezupften Brauen, und blickte auf Fotos gern mit halb geschlossenen Augen und nach unten gerichtetem Kinn in die Kamera.

Als Ingrid im Oktober 1942 auf die Welt kam, war Paul bereits als Fallschirmjäger an der Front. Margaretha musste die Tochter allein großziehen und versuchte so lang wie möglich ihr Leben in ihrer Heimat Wien aufrechtzuerhalten. Als die Bomben fielen und immer mehr Häuser und Plätze der Stadt zerstörten, zog sie schließlich aufs Land, zu Verwandten in die Tschechoslowakei. Wien war kein Ort mehr für ein Neugeborenes. Als gegen Kriegsende die Russen kamen und mit ihnen die Angst vor Hinrichtungen und Vergewaltigungen, flüchteten Mutter und Kleinkind nach Deutschland in ein Flüchtlingslager in Straubing. Ingrid war drei Jahre alt und hatte ihren Vater noch nie gesehen, die Mutter wusste nicht, ob er noch lebte. Dann stand er plötzlich vor ihr, am Brunnen dieses kleinen Ortes in Niederbayern. Die Mutter hatte ihn unbewusst schon von Weitem an seinem Gang erkannt, aber den absurden Gedanken schnell wieder beiseitegeschoben und weiter die Wäsche gewaschen.

Paul war aus einem Gefangenenlager in Frankreich ausgebrochen und zu Fuß zurück nach Deutschland gelaufen, immer auf der Suche nach seiner kleinen Familie. Er hatte jede Flüchtlingsliste nach ihren Namen abgesucht und war irgendwann hier gelandet. Zu dritt wollten sie den nächsten Zug zurück nach Wien nehmen. Aber der Zug wollte einfach nicht abfahren. Ingrid bekam Durst. Der Vater stieg aus, um für seine kleine Tochter Wasser zu holen. Der Zug fuhr ohne ihn ab.

Auf dem ersten Familienporträt aus dem Jahr 1945 blicken Margaretha und Paul Schuppan erschöpft und unsicher in die Kamera. Ihre Augen sehen müde aus, beide senken den Blick. Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt. Sie trägt eine strenge, dunkle Bluse mit großen, runden Knöpfen und spitzem Kragen. Er ein helles Hemd, ein dunkles Jackett, die Haare sind gekämmt und gescheitelt. Nur Ingrid, drei Jahre alt, schaut forsch und wach geradeaus in die Kamera, als würde sie sagen: Warte nur, Welt. Auch ich werde groß. Sie hat die Augen und den Mund ihrer Mutter, die dunklen Haare und die hübsche Stupsnase des Vaters. Sie trägt ein Samtkleid mit Bubikragen und Puffärmeln. Die Haare sind zu einem Hahnenkamm, einer kleinen Rolle auf der Mitte des Kopfes, frisiert. Sie ist ein ausgesprochen niedliches Kind.

Die ersten Jahre zurück in Wien sind mühsam für die kleine Familie. Ein Fünftel der Stadt ist durch Luftangriffe während des Krieges zerstört worden, und der Wiederaufbau geht langsam voran. Zahlreiche Brücken liegen in Trümmern, Zehntausende Wohnungen sind unbewohnbar, nicht nur in der Stadt, auch auf dem Land.

Wie alle anderen kämpfen die Schuppans in diesen späten Vierzigerjahren ums Überleben, Margaretha und Paul versuchen gleichzeitig, sich eine neue Existenz als Familie aufzubauen. Noch nie haben sie einen Haushalt miteinander geteilt. Weil Paul Deutscher ist, »Reichsdeutscher«, wie die Österreicher sagen, findet er vorerst keine feste Anstellung – Deutsche werden in Österreich nun gehasst wie die Pest, man gibt ihnen die alleinige Schuld an der Katastrophe. Aber da Paul vor dem Krieg eine Ausbildung zum Funker absolviert hat und sich gut mit Technik auskennt, kann er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Er repariert Radios und kleine elektronische Geräte für Freunde und Bekannte. In den ersten Jahren nach dem Krieg leben Ingrid, Margaretha und Paul wieder in der kleinen Einzimmerwohnung in der Wichtelgasse in Ottakring – im 16. Bezirk, einem traditionellen Arbeiterwohn- und Industriebezirk im Westen Wiens –, in der Margaretha vor ihrer Flucht in die Tschechoslowakei gewohnt hat. Die Großeltern wohnen ganz in der Nähe, in einem alten Gemeindebau in der Possingergasse. Ingrid schläft oft bei ihnen, weil die Wohnung der Eltern so klein ist. Ingrids Großvater Wenzel ist pensionierter Polizeibeamter. Die Großmutter Anna war vor dem Krieg Köchin bei einer jüdischen Familie, aber seit Kriegsende ist auch sie zu Hause und kümmert sich um den Haushalt.

Es ist ein schwerer Start für Ingrid und ihre Eltern, Lebensmittel sind knapp, genau wie Heizkohle. Kälte und Hunger sind ständige Begleiter und beeinträchtigen Ingrids Gesundheit. Mit vier wird sie lungenkrank und muss für drei Monate in das Otto-Wagner-Spital, eine Lungenheilstätte auf der Baumgartner Höhe in Wien. In dem prachtvollen Jahrhundertwendebau soll Ingrid zu Kräften kommen und sich erholen. Aber Ingrid fängt an, wieder ins Bett zu nässen, spricht kaum und wartet von Montag bis Freitag auf die wöchentlichen Besuche ihrer Großmutter Anna. Anna kommt jeden Samstag, bringt Kartoffelpüree mit, Ingrids Leibspeise, und versucht das Kind aufzuheitern. Sie spricht mit den Ärzten und bittet immer wieder um bessere Betreuung. Ingrid ist die Jüngste auf der Station und wird von den anderen Kindern gehänselt. Großmutter Anna bewirkt schließlich, dass Ingrid die Schule der Heilstätte besuchen darf. Hier lernt sie lesen und schreiben. Langsam bessert sich ihr Zustand, und nach zwölf Wochen wird Ingrid endlich entlassen.

Ingrids Vater hat in der Zwischenzeit eine feste Anstellung am Wiener Flugplatz bekommen. Er darf seinen Ingenieur nachmachen und steigt über die Jahre zum Chef des Radarsystems auf. Ingrids Mutter arbeitet als Schneiderin für einen Freund, der ein Geschäft für Lederwaren betreibt. Die Familie zieht um, und in der neuen Wohnung in der Josefstadt, einem der feineren Viertel Wiens, wo auch der österreichische Autor Stefan Zweig jahrelang gelebt hat, bekommt Ingrid ein eigenes Zimmer. Es ist schlicht eingerichtet, ein cognacfarbenes Holzbett, ein passender Kleiderschrank. Auf der Bank vor dem Fenster stehen ein paar Blumenstöcke. Den Rest der Wohnung hat Ingrids Mutter ganz im Stil der frühen Fünfziger eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen eine Vitrine auf dünnen Beinen, ein Nierentisch und zwei Cocktailsessel. In der Küche hängen Wandschränke in Hellblau, Gelb, Rosa. Das Zuhause der kleinen Familie wird schnell auch ein Zuhause für Freunde. Alleine sind sie eigentlich nie. Nach der Arbeit sitzt man gemeinsam in der Küche oder im Wohnzimmer, trinkt und isst zusammen. Endlich ist die Zeit der Not vorbei. Man kann Brot ohne Brotmarken kaufen. Meistens gibt es ein kaltes Abendbrot, Ingrids Mutter isst am liebsten Würstchen, ihr Vater geräucherte Makrele.

Ingrids Eltern sind keine Karrieristen. Als Ingrids Mutter die Möglichkeit bekommt, sich mit einer eigenen Schneiderei selbstständig zu machen, lehnt sie ab. Sicher gäbe es irgendwann mehr Geld, aber es würde sofort deutlich mehr Arbeit bedeuten. Und Arbeiten soll nur ein Teil des Alltags sein. Das Leben soll endlich schön sein, Spaß machen. Einmal in der Woche geht die Familie ins Kino und schaut den neuesten Streifen, am liebsten amerikanische Western, die weit weg spielen und von einem anderen Leben erzählen. Kino erlaubt Reisen in Gedanken. Zum ersten Mal bekommen Ingrid und ihre Eltern eine Vorstellung davon, wie es in Italien, Frankreich oder Amerika aussieht. An den Wochenenden fahren die drei oft raus aufs Land. Paul hat sich ein Motorrad mit Beiwagen gekauft. Der Wohlstand, der die österreichische Gesellschaft in den Fünfzigerjahren erreicht, zieht auch in Ingrids Familie ein. Mit dem Motorrad fahren sie an die Alte Donau zum Picknicken. Sie sitzen am Ufer, baden, essen kalte Schnitzel und selbstgemachten Kartoffelsalat. Es sind die ersten Ausbrüche aus dem Alltag in Wien. Ingrid genießt diese Stunden. Auch wenn sie den Krieg nur unbewusst miterlebt hat, kann sie ihn noch sehen und riechen. Der Geruch von verbrannter Erde hängt in jeder Gasse, und wenn sie mit ihrer Mutter einkaufen geht, sieht sie die Einschusslöcher an den Fassaden der Häuser und die zerbombten Plätze. Wärme gibt es in diesen ersten Jahren nur in Italien. Wie so viele flüchten auch die Schuppans in den langen Sommerferien aus Wien in das Nachbarland und genießen, zumindest für einige Wochen, das süße Leben. Pauls Motorrad ermöglicht ihnen Reisen an den Gardasee, nach Cervo, Livorno, Rom, Neapel. Ingrid sitzt dann hinter ihrem Vater. Die Mutter in der kleinen Kiste daneben. Ingrid ist mit elf schon fast so groß wie ihr Vater Paul. Auf einer Urlaubsaufnahme aus dem Jahr 1953 sieht man die drei zusammen mit einem Freund an der italienischen Küste. Hinter ihnen Sand und Meer. Weit und breit keine andere Menschenseele. Ingrid steht im Badeanzug hinter dem Motorrad der Familie. Die Mutter streckt ihren Kopf aus dem Zelt, das ein paar Schritte weiter im Sand steht. Der Vater hockt vor einem kleinen Radio. Wie Gestrandete auf einer einsamen Insel sehen sie aus.

Auf einem anderen Bild sitzen sie mit Freunden an einem Strand in Cervo. Paul pustet eine Luftmatratze auf. Hinter ihnen die kleine ligurische Gemeinde.

Das Prinzip ihrer Sommerreisen war einfach: jedes Jahr ein neuer Ort, ein neuer Strand, eine neue Stadt, ein neuer Campingplatz, eine neue Freundschaft, eine neue Erinnerung. Hauptsache viel erleben. Denn wer viel erlebt, erträgt den grauen Alltag leichter – dieses Prinzip wird sich durch Ingrids ganzes Leben ziehen.

Mädchen gehören nicht auf ein Gymnasium

Da sitzt sie nun, auf dem harten Holzstuhl an der Holzbank, das Gesicht auf die Hände gestützt, und schaut sehnsüchtig nach draußen auf den Schulhof, das weit geöffnete Tor und die breite Straße dahinter, wo die Straßenbahn klingelnd auf und ab fährt. Die Stimme des Lehrers hat Ingrid hinter ihre Gedanken geschoben, doch sie brummt und dröhnt und ringt um ihre Aufmerksamkeit. Aber da ist nichts zu machen. Seine Stimme dringt nicht mehr zu ihr durch. Soll er sich doch an diesen Jünglingen neben ihr, rechts und links, abmühen, mit seinem Algebra-Schwachsinn.

Ingrid hat den Lehrer, einen kleinen, unsicheren Mann mit Schnauzer, noch nie gemocht. Und jetzt hat er auch noch mit ihrer Mutter gesprochen und ihr erklärt, dass das Abitur nichts für Mädchen wie Ingrid sei. Also für schöne, groß gewachsene junge Frauen. Sie, die Mutter, wüsste ja selbst, wie Ingrid ausschaut.

Ingrid ist dreizehn und sieht aus wie zwanzig. Sie hat schulterlanges dunkelbraunes Haar, blaue Augen und die Figur eines Fotomodells. Mit diesem Aussehen würde Ingrid den Unterricht stören und die Mitschüler vom Lernen abhalten, behauptete der Lehrer. Und ihre Noten seien auch nicht gerade die besten.

Das mag vielleicht sogar stimmen, aber Ingrid kommt ja trotzdem hinterher. Sie schafft es, den Klassenschnitt zu halten. Und wenn sie richtig lernen würde, könnte sie sicher noch besser sein. Wenn er ihr doch nur eine Chance geben würde. Aber für diese Gedanken ist es jetzt zu spät. Der Lehrer und ihre Mutter haben bereits eine Entscheidung getroffen. Es wäre für alle Beteiligten am besten, wenn sie am Ende des achten Schuljahres einen anderen Weg einschlagen würde. Die Mutter war gestern mit den schlechten Nachrichten nach Hause gekommen und hatte auch gleich einen neuen Lebensplan für ihre Tochter parat. Statt Oberstufe und Abitur würde sie zwei Jahre die Handelsschule besuchen und eine Ausbildung zur Bürokauffrau machen. Das sei ein vernünftiger Beruf und so könne sie erst mal ein bisschen Geld verdienen und bis zur Heirat unabhängig sein, hatte die Mutter erklärt. Ingrid ist wütend, und auch wenn sie selbst keine Ahnung hat, was sie mit ihrem Leben anstellen soll, weiß sie doch, dass es nicht so fad und langweilig sein darf, wie das Wort H-A-N-D-E-L-S-S-C-H-U-L-E klingt. Sie könnte natürlich auch auf ein Mädchengymnasium gehen, aber die Vorstellung, einen Klassenraum mit feinen jungen Damen in sauberen Kleidern und mit glänzenden Haaren zu teilen, findet sie noch schlimmer. Dann wenigstens eigenes Geld verdienen.