Über das Buch

Eine klare Botschaft, die die Herzen öffnet — vom Vater der Friedensnobelpreisträgerin Malala. Jungen sind besser als Mädchen: So wird Ziauddin Yousafzai erzogen. Doch was in Pakistan selbstverständlich scheint, will er nicht hinnehmen. Seiner Tochter Malala sollen alle Türen offen stehen. Gegen den Willen der Taliban geht sie zur Schule. Auf eine Schule, die Ziauddin gegründet hat, damit seine Tochter lernen kann. Als ein lebensbedrohliches Attentat auf Malala verübt wird, erhebt sich die ganze Welt, um sie zu unterstützen. Was bedingungslose Liebe erreichen kann und vom Mut, Mädchen stark zu machen: Ziauddin Yousafzai erzählt seine Geschichte als Vater eines Rebel Girls.

Ziauddin Yousafzai mit Louise Carpenter

LASST SIE FLIEGEN

Wie Malalas Vater seiner Tochter ein selbstbestimmtes Leben ermöglichte

Mit einem Vorwort der Friedensnobelpreisträgerin Malala

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

hanserblau

Für Oberst Dr. Muhammad Junaid und Dr. Mumtaz Ali, die Malala nach ihrer Schussverletzung in Pakistan operierten. Mit Gottes Hilfe retteten sie ihr das Leben.

VORWORT

von Malala Yousafzai

Ich schreibe dieses Vorwort in Dank an meinen Vater.

Mein Vater ist ein zutiefst liebender, mitfühlender und bescheidener Mensch. Er hat mich gelehrt, was Liebe ist, und zwar nicht nur mit Worten, sondern vor allem durch sein liebevolles und gütiges Handeln. Ich habe nie gesehen, dass er sich jemandem gegenüber abfällig oder ungerecht verhalten hätte. Für ihn war jeder Mensch gleich, egal ob Muslim oder Christ, hell- oder dunkelhäutig, arm oder reich, Mann oder Frau. Als Schulleiter, Aktivist und sozial engagierter Mensch war er immer warmherzig, respektvoll und hilfsbereit. Jeder liebte ihn. Er wurde zu meinem Idol.

Wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren reich an Werten. Aba vertritt die Ansicht, dass Wohlstand weder Bedingung noch Garantie für ein glückliches Leben ist. Wir fühlten uns nie arm, obwohl ich mich sehr gut an Zeiten erinnern kann, in denen wir nicht genug Geld für Essen hatten. Wenn mein Vater mit seiner Schule doch mal etwas verdiente, gab er oft alles an einem Tag aus. Er kaufte Obst für die Familie, und für den Rest des Geldes besorgte meine Mutter alltägliche Dinge wie Möbel, Besteck, Kleidung und anderen Hausrat. Mein Vater fand Einkaufen langweilig — so langweilig, dass er oft nörgelte, wenn meine Mutter seiner Meinung nach mal wieder viel zu lange brauchte. Doch sie schimpfte ihn dann jedes Mal und sagte so etwas wie: »Wenn du diesen Anzug trägst, wirst du mir noch dankbar sein.«

Nichts freute ihn mehr, als wenn meine Brüder, meine Mutter und ich gesund und zufrieden waren. In seinen Augen hatten wir das, was im Leben am meisten zählt: Bildung, gegenseitigen Respekt und bedingungslose Liebe. Darin bestand unser Reichtum, das war unser Glück. Mehr brauchten wir nicht.

Seine Liebe zu mir war wie ein Schild. Er schirmte mich von allem Schlechten und Bösen ab, wodurch ich zu einem fröhlichen, selbstbewussten Kind heranwachsen konnte, obwohl wir in einer Gesellschaft lebten, die mir als Mädchen nicht gerade die besten Zukunftsaussichten bot. In unserem Zuhause wurden Frauen und Mädchen geachtet und wertgeschätzt, auch wenn sich diese Wertschätzung in der Welt außerhalb unserer vier Wände nicht widerspiegelte. Mein Vater schenkte mir einen Schutzschirm. Er verteidigte mich in einer Welt, die sich weigerte, mich als ebenbürtig anzuerkennen. Von Anfang an stellte er sich gegen alles, was meine Zukunft hätte bedrohen können. Ich hatte ein Recht auf Gleichbehandlung, und er sorgte dafür, dass man mir dieses Recht im Alltag eingestand.

Die Kultur gegenseitigen Respekts bei uns zu Hause, insbesondere des Respekts gegenüber Frauen, gründete sich auf Abas Überzeugung, dass man sein Leben voll auskosten und alle Chancen, die es einem bietet, ergreifen muss. Von ihm lernte ich, dass es wichtig ist, immer sein Bestes zu geben und ein guter Mensch zu sein, und dass man allen Leuten ungeachtet ihrer Herkunft mit Freundlichkeit und Respekt zu begegnen hat.

Mein Vater und ich waren von Beginn an Freunde und sind es heute noch. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn oft tut sich, wenn Töchter älter werden, zwischen ihnen und ihren Vätern eine Kluft auf. Früher habe ich Aba praktisch alles anvertraut, mehr noch als meiner Mutter. Ich klagte ihm sogar mein Leid, wenn ich Regelschmerzen hatte, oder bat ihn, mir Binden zu kaufen. Vor meiner Mutter hatte ich manchmal ein bisschen Angst, weil sie sehr streng sein konnte. Und wenn ich mich mit meinen Brüdern zankte — was praktisch jeden Tag vorkam —, dann schlug sich mein Vater immer auf meine Seite.

Im Grunde unterschied mich nichts von meinen pakistanischen Mitschülerinnen, von meinen Freundinnen aus der Nachbarschaft oder den vielen anderen Mädchen im Swat-Tal. Allerdings genoss ich den unschätzbaren Vorteil einer liebevollen, wertschätzenden Erziehung. Und damit meine ich nicht, dass mein Vater mir jeden Tag lange Vorträge gehalten oder kluge Ratschläge erteilt hätte. Er beeinflusste mich durch sein Verhalten, seinen Einsatz für gesellschaftlichen Wandel, seine Aufrichtigkeit, seine Offenheit, seine Visionen und überhaupt seine ganze Art. Zum Beispiel lobte er mich sehr oft. »Du lernst so fleißig, Jani«, sagte er andauernd. »Du drückst dich so gewählt aus.« Jani bedeutet »Liebste« oder »Seelengefährtin« und ist sein Kosename für mich. Er versäumte es nie, meine Bemühungen anzuerkennen und mir Mut zu machen, egal ob es um meine Schularbeiten, um Kunstprojekte oder Rhetorikwettbewerbe ging. Mein Vater war immer stolz auf mich. Er glaubte mehr an mich als ich selbst. Er gab mir das Vertrauen, alles schaffen zu können, wenn ich nur wollte.

Mein Vater kann sehr gut zuhören. Das ist eine Eigenschaft, die ich an ihm liebe. Die einzige Ausnahme ist, wenn er gerade vor seinem iPad sitzt und twittert. Dann muss man mindestens zehnmal »Aba!« rufen, bis er überhaupt reagiert. Er sagt zwar jedes Mal »Ja, Jani?«, doch in Wahrheit ist er mit den Gedanken ganz woanders. Aber wenn er zuhört, dann lauscht er aufmerksam jedem Wort und ist ganz zugewandt, vor allem bei Kindern. Auch von mir hat er sich immer bereitwillig alles erzählen lassen: meine kleinen Geschichten, meine Sorgen und Nöte und all meine Pläne. Durch meinen Vater ist mir bewusst geworden, dass meine Stimme Gewicht hat. Das hat mich darin bestärkt, sie zu erheben, und hat mir Selbstvertrauen verliehen. Ich wusste, wie man eine gute Geschichte erzählt. Ich scheute mich nicht, meine Meinung zu sagen. Und als die Taliban kamen, hatte ich das Gefühl, die Macht meiner Stimme nutzen zu können, um für Bildung und für meine Rechte einzustehen.

Als ich älter wurde, erkannte ich, wie ungewöhnlich meine Eltern waren, denn die anderen Mädchen aus meiner Umgebung durften ab einem gewissen Alter nicht mehr zur Schule gehen oder sich an Orten aufhalten, die auch von Männern und Jungen besucht wurden. So viele Frauen und Mädchen werden zu Opfern einer Gesellschaft, in der Männer darüber bestimmen, wie Frauen zu leben und was sie zu tun haben. Ich kannte wundervolle, begabte junge Mädchen, die gezwungen wurden, ihre Ausbildung abzubrechen und damit ihre ganze Zukunft aufzugeben. Diese Mädchen hatten nie die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben.

Ich selbst zählte nicht zu diesen Mädchen. Ich hielt Reden, wo sonst nur Jungs Reden hielten, auch wenn ich allenthalben die Männer sagen hörte: »Mädchen und Jungs gehören getrennt!« Einige meiner Klassenkameradinnen und Freundinnen durften nicht an solchen gemischten Debattierwettbewerben teilnehmen, weil ihre Väter oder Brüder es ihnen verboten. Mein Vater tat alles, um das zu ändern.

Ich erinnere mich noch, wie er oft mit seinen Freunden oder den Ältesten bei uns zu Hause im Gästezimmer saß. Die Männer unterhielten sich, ich brachte ihnen den Tee und setzte mich dann zu ihnen. Mein Vater sagte nie: »Malala, du weißt genau, dass wir hier eine politische Diskussion unter Erwachsenen führen.« Er erlaubte mir immer, dabeizubleiben und zuzuhören. Mehr noch: Er ermunterte mich sogar, vor den Männern meine eigene Meinung zu äußern.

Das ist deshalb so bedeutsam, weil ein Mädchen, das in einem Klima der Ungleichheit aufwächst, permanent gegen die Angst ankämpfen muss, dass die Träume, die es für sein Leben hegt, vielleicht nie in Erfüllung gehen werden. Für Millionen von Mädchen ist die Schule ein Ort, an dem sie sich sicherer fühlen können als in ihrem eigenen Zuhause. Zu Hause sagt man ihnen bloß, dass sie kochen und putzen und sich auf die Ehe vorbereiten sollen. Selbst für meine Eltern war die Schule eine Art Zuflucht, ein Schutzraum vor den Einschränkungen, die die Gesellschaft uns auferlegte. Während ich in der Schule war, bestand meine Welt nur aus meinen wunderbaren Lehrern und Lehrerinnen und unserem großartigen Schulleiter, und im Klassenraum war ich umgeben von Freundinnen, mit denen ich mich über das Lernen und über unsere Lebensträume austauschen konnte.

Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie viel es mir bedeutete, die Schule zu besuchen, die mein Vater gegründet hatte. Wenn ich lernte, konnte ich beinahe spüren, wie mein Gehirn dabei immer größer und größer wurde. Ich wusste, es waren die unzähligen neuen Informationen, die meinen Geist wachsen ließen, all die verschiedenen Dinge, die ich lernte, die meinen Kopf ausfüllten und meinen Horizont weiteten.

Mein Vater hat sich von damals zu heute kaum verändert. Er ist immer noch ein Idealist. Er ist nicht nur Lehrer, sondern auch Poet. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er in einer romantisierten Welt lebt, in einer Welt voller Liebe für seine Freunde, seine Familie und überhaupt alle Menschen. Ich selbst mache mir nicht viel aus Poesie, aber seine Botschaft der Liebe verstehe ich sehr gut.

Oft geben Menschen, die in unserer Welt etwas bewegen wollen, zu früh auf, oder sie fangen gar nicht erst an. Sie sagen: »Ach, das ist so ein weites Feld. Was soll ich da schon machen? Wie kann ich als Einzelner etwas ausrichten?« Aber mein Vater hat immer an sich geglaubt und daran, dass er die Macht besitzt, Veränderungen herbeizuführen, mögen sie auch noch so bescheiden sein.

Er hat mir beigebracht, dass man, wenn man einem Einzelnen hilft, nicht das Gefühl haben darf, damit nur einen kleinen, unbedeutenden Beitrag geleistet zu haben. Auf dem Weg zählt am Ende jeder einzelne Schritt. Mein Vater bemisst Erfolg nicht nur danach, ob er ein bestimmtes Ziel erreicht hat oder nicht. Es liegt schon eine Schönheit darin, sich überhaupt erst auf die Reise zu machen, einen Weg zu beschreiten und auf diesem Weg Veränderungen anzustoßen.

Vielleicht wird mein Vater nicht die ganze Welt davon überzeugen können, dass Frauen denselben Respekt und dieselben Rechte verdient haben wie Männer, auch wenn er jeden Tag dafür kämpft. Aber mein Leben hat er ganz ohne Zweifel zum Besseren verändert. Er hat mir eine Zukunft geschenkt. Er hat mir meine Stimme gegeben, und er hat mich fliegen lassen!

Aba, wie soll ich dir nur jemals dafür danken?

PROLOG

Immer wieder stellen Menschen mir reinen Herzens die Frage: »Ziauddin, was war Ihr bisher stolzester Moment?« Wahrscheinlich rechnen sie mit einer Antwort wie: »Selbstverständlich war das, als Malala den Friedensnobelpreis bekam!« oder: »Als Malala zum ersten Mal in New York vor den Vereinten Nationen sprechen durfte« oder: »Als Malala bei der Queen zu Gast war.«

Malala wird auf der ganzen Welt geschätzt und verehrt, trotzdem ist es mir unmöglich, diese Frage zu beantworten, denn im Kern bezieht sie sich nicht auf Malala, mein Kind, sondern auf Malala, die öffentliche Person. Kann ich auf ihr Treffen mit der Queen stolzer sein als auf ihren Friedensnobelpreis? Wie sollte ich so etwas entscheiden?

Stattdessen antworte ich Folgendes: »Ich bin jeden Tag stolz auf Malala«, und das ist die reine Wahrheit. Meine Malala ist das Mädchen, das einen Großteil ihres Lebens auf eine einfache Schule in Mingora ging und dennoch stärker war als die Taliban. Aber sie ist eben auch meine Tochter, die mich am Frühstückstisch mit ihrem trockenen Humor — der viel bissiger ist als meiner — zum Lachen bringt.

Ich bin nie einem Kind begegnet, das so wissbegierig ist wie sie. Alle Welt mag denken: »Ach, Malala ist so unglaublich klug!«, aber wie jede andere Schülerin hat auch sie manchmal mit dem Unterrichtsstoff und ihren Hausaufgaben zu kämpfen. Wenn ein kalter englischer Tag in einen noch kälteren englischen Abend übergeht und wir Yousafzais, die es gewohnt sind, dass uns die Strahlen der Sonne fast die Haut versengen, die Kälte bis auf die Knochen spüren, sitzt Malala oft in ihrem Zimmer und brütet beim Schein ihrer Schreibtischlampe mit gerunzelter Stirn über einem Lehrbuch. Sie lernt — immerzu lernt sie und sorgt sich um ihre Noten.

Das Wunderbare an Malalas Leben — an ihrem »zweiten Leben«, wie ihre Mutter Tor Pekai es nennt, seit Gott sie nach dem Attentat gerettet hat — ist nicht nur, dass sie es dem Kampf für die Rechte aller Mädchen gewidmet hat, sondern auch, dass sie sich jetzt ihren eigenen Traum erfüllen kann. Für uns Eltern verbirgt sich mitunter in der scheinbar unbedeutendsten Kleinigkeit — einem tiefen Blick, einer Geste, einer unschuldigen und zugleich weisen Bemerkung — ein Moment wahrer Schönheit, und man fragt sich, ganz ergriffen von Liebe und Glück und Staunen: »Wie kann es sein, dass dieser außergewöhnliche Mensch mein Kind ist?«

Wenn ich also unbedingt eine Antwort auf die Frage geben soll, was mein bisher stolzester Moment als Malalas Vater war, dann würde ich wohl sagen: Er hatte mit der Universität Oxford zu tun und mit der Zubereitung und dem Servieren einer einfachen Tasse Tee.

Seit wir in Großbritannien leben, hatte Malala immer wieder die klare Absicht geäußert, an der Universität Oxford Politikwissenschaften, Philosophie und Volkswirtschaft zu studieren — dieselbe Fächerkombination, für die sich einst Benazir Bhutto einschrieb, bevor sie später die erste Premierministerin unseres Landes Pakistan wurde.

Oxford war kein unbekanntes Terrain für Malala. Die Universität ist auf der ganzen Welt berühmt, und nachdem wir uns in Birmingham niedergelassen hatten, war sie im Zuge ihrer Kampagne bereits drei- oder viermal dort hingereist. Ich hatte sie jedes Mal begleitet. Inzwischen war sie alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Sie brauchte mich nicht mehr, damit ich ihre farbenfrohen shalwar kameez1 und die Kopftücher bügelte, die ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, und ich musste ihr auch nicht länger die Schuhe putzen, so wie ich es früher immer getan hatte, wenn wir im Rahmen unseres Engagements für Mädchenbildung gemeinsam durch Pakistan gereist waren.

Ich habe diese häuslichen Pflichten immer sehr gerne für sie erfüllt, und jetzt, wo Malala selbstständig ist, fehlt mir etwas. Warum es mir so wichtig war, ihr diese alltäglichen Arbeiten abzunehmen? Weil dies für mich eine Möglichkeit darstellte, meine Liebe und Wertschätzung für meine Tochter und alle Frauen zum Ausdruck zu bringen. Ein ganz ähnlicher Gedanke hatte mich kurz nach ihrer Geburt — der Geburt meines wunderbaren Mädchens — dazu veranlasst, ihren Namen in unseren uralten Familienstammbaum einzutragen. Es war der erste weibliche Name seit dreihundert Jahren. Ich wollte der Welt — und auch mir selbst — zeigen, dass Mädchen genauso viel wert sind wie Jungen, und dies wollte ich nicht nur mit Worten tun, sondern auch mit Taten. Mädchen sind wichtig. Ihre Bedürfnisse sind wichtig, selbst wenn es einmal bescheidene Bedürfnisse sind wie das nach einem sauberen Paar Schuhe.

Mir ist natürlich bewusst, dass in vielen anderen Kulturen Mütter und Väter solche kleinen Alltagsdienste mit größter Selbstverständlichkeit verrichten, unabhängig vom Geschlecht ihres Kindes. Doch für mich, einen Mann mittleren Alters aus einem patriarchalisch geprägten Umfeld in Pakistan, war es bis dorthin ein langer Weg.

Ich stamme aus einem Land, in dem ich mein ganzes Leben lang von Frauen bedient wurde. Ich komme aus einer Familie, in der ich allein aufgrund meines Geschlechts eine bevorzugte Stellung einnahm. Aber ich wollte nicht bevorzugt werden — jedenfalls nicht aus diesem Grund.

Während meiner Kindheit in Shangla war es üblich, dass den Männern und Jungen im Laufe eines langen, heißen Tages immer wieder Erfrischungen gereicht wurden. Sie wurden eigens für uns zubereitet, serviert und dann wieder abgeräumt, ohne dass wir einen Finger rühren oder auch nur mit dem Kopf nicken mussten. Es war ein Ritual, dessen tiefe, weit verzweigte Wurzeln durch mehrere Jahrhunderte patriarchaler Strukturen zurückreichten. Es geschah völlig unbewusst, unhinterfragt, als wäre es das Natürlichste von der Welt.

Ich habe nicht ein einziges Mal erlebt, dass mein Vater oder mein Bruder in unserem einfachen, aus Lehm gebauten Haus auch nur in die Nähe des Herdes gekommen wären. Auch ich hielt mich als Kind von der Küche fern. Ein Mann kochte nicht. Als Kind war das für mich eine unumstößliche Wahrheit, an der ich keinen Moment lang zweifelte.

Der Duft köchelnden Currys war für mich untrennbar mit den Stimmen meiner Mutter und meiner Schwestern verknüpft, die sich angeregt und in hoher Geschwindigkeit unterhielten, während sie Zutaten hackten, schnitten und würfelten. Sie wussten, dass sie von den saftigsten Teilen des Hühnchens, das sie mit ihren eigenen Händen zubereiteten, nichts abbekommen würden. Die guten Stücke wie Beine und Brust waren mir — ihrem kleinen Bruder, einem Kind —, meinem älteren Bruder sowie unserem Vater vorbehalten. Die fleißigen Köchinnen selbst, erhitzt vom Herdfeuer, vom Dampf der Speisen und der körperlichen Arbeit, mussten sich mit den knochigen Teilen begnügen.

Ihr Diensteifer und ihre Bereitwilligkeit, stets für unser Wohlbefinden zu sorgen, kamen auch in dem Tee zum Ausdruck, den sie regelmäßig für uns kochten und dessen Zubereitung und Einnahme den Rhythmus unseres Tages zu einem wesentlichen Teil mitbestimmten. Meiner Meinung nach ist der Tee, so wie wir ihn in Pakistan trinken, der köstlichste Tee auf der ganzen Welt. Er schmeckt heiß und süß und milchig, und da ich nun in Großbritannien lebe, kann ich sagen, dass er nichts mit dem weltberühmten englischen Tee gemein hat, den ich zugegebenermaßen nicht herunterbekomme.

Wie so viele Elemente meiner alten Welt ist auch der Tee in Pakistan das Ergebnis eines Rituals. Zunächst einmal muss der Kessel blitzsauber sein und darf keinerlei Rückstände von der letzten Teezubereitung enthalten. Bei den Teeblättern ist eine gute Qualität unerlässlich. Der Kessel wird mit Wasser gefüllt, das zusammen mit den Teeblättern erhitzt wird. Wenn es heftig sprudelt, fügt man erst Milch und danach Zucker hinzu, ehe das Ganze noch einmal aufgekocht wird. Dann nimmt die Frau eine Schöpfkelle, taucht sie in den Kessel, hebt sie heraus und gießt den Tee von der Kelle wieder in den Kessel zurück. Bis heute weiß ich nicht, welchem Zweck dieser Arbeitsschritt dient, aber die Frauen bei mir zu Hause bereiteten den Tee immer auf diese Weise zu, und er ist heiß und süß und einfach himmlisch. Es gibt auch noch eine stärkere Variante, doodh pati genannt, für die kein Wasser verwendet wird, sondern ausschließlich Milch in entsprechend größerer Menge. Sie wird zum Kochen gebracht, dann werden Teeblätter und Zucker eingerührt, und das Ganze wird gekocht und weitergekocht, bis der Tee so dick ist wie flüssiger Honig.

Wir Männer haben diesen köstlichen Tee nie eigenhändig zubereitet, wir haben ihn immer nur getrunken. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, wie ich als kleiner Junge in unserem bescheidenen Wohnzimmer saß und mein Vater, von mehreren Kissen gestützt, neben mir auf einer Liege lag. Meine Mutter kam mit einem Tablett herein, auf dem ein Topf und zwei Tassen standen. Mein Vater sah nicht von dem Buch auf, in dem er gerade las, wahrscheinlich ein dicker Band mit hadithen, überlieferten Aussprüchen unseres Propheten Mohammed (Heil sei über ihm). Meine Mutter rückte einen Tisch zurecht, stellte das Tablett darauf ab und goss den Tee in eine Tasse, die sie meinem Vater reichte. Als Nächstes goss sie mir, ihrem jüngsten, über alles geliebten Sohn, eine zweite Tasse ein. Dann wartete sie.

Sie wartete, weil sie sich vergewissern wollte, dass mein Vater und ich genug getrunken hatten, erst danach gönnte sie sich selbst eine Erfrischung. Manchmal bedankte sich mein Vater bei ihr, jedoch nicht immer.

»Man kann die Qualität des Tees, der einem serviert wird, in drei Schritten beurteilen«, erklärte er mir. »Als Erstes muss man die Konsistenz prüfen, indem man ganz genau hinsieht, während der Tee aus dem Kessel in die Tasse gegossen wird. Danach musst du dir die Farbe des Tees in der Tasse anschauen. Und der letzte und wichtigste Test«, schloss er, »kommt, wenn du den Tee an die Lippen setzt.«

Viele Jahre lang mussten mein Vater, meine Onkel und ich, wenn wir eine Tasse Tee genießen wollten, nichts weiter tun, als sie zu nehmen und zum Mund zu führen. Hätte meinem Vater der Tee nicht geschmeckt, wäre er nicht in der Lage gewesen, sich selbst welchen zu kochen. Das wäre auch gar nicht nötig gewesen, denn er hätte einfach meine Mutter oder meine Schwestern gebeten, zurück in die Küche zu gehen und neuen aufzubrühen. Aber dazu kam es fast nie, denn meine Mutter wusste genau, wie sie meinen Vater zufriedenstellte. Schließlich war es ihr Lebensinhalt, ihm zu dienen.

Malala hat nie Lampenfieber, wenn sie einen öffentlichen Auftritt absolviert und vor vielen Menschen sprechen muss. Sie kennt praktisch keine Nervosität und lässt sich im Gegensatz zu mir auch nicht so leicht von ihren Emotionen überwältigen — außer in Gegenwart ihrer Lehrer oder Lehrerinnen. Ich habe miterlebt, wie sie mit fast übermenschlicher Gelassenheit die Oberhäupter des Commonwealth ansprach, aber wenn sie an der Edgbaston High School, an der sie ihren Abschluss gemacht hat, während des Elternsprechtags neben mir saß, stieg ihr jedes Mal eine leichte, kaum wahrnehmbare Röte in die Wangen.

Dieselbe Röte zeigte sich auch im August 2017, als vier unserer insgesamt fünf Familienmitglieder nach Oxford gekommen waren, um die Lady Margaret Hall, Malalas zukünftiges College, zu besichtigen. Wir waren überglücklich und aufgeregt, denn kurz zuvor hatten wir die Nachricht erhalten, dass Malala die erforderlichen Noten erreicht hatte, um ihr Studium an der Universität Oxford zu beginnen.

Malala war nervös, das sah ich ihr an. Für Tor Pekai, Khushal und mich war es das erste Mal, dass wir die Lady Margaret Hall mit ihrer imposanten Fassade aus rotem Backstein und den unzähligen Reihen von Bogenfenstern zu Gesicht bekamen. Die Schönheit von Oxford erfüllt mich jedes Mal aufs Neue mit ehrfürchtigem Staunen. Nichts hatte uns auf diesen Moment vorbereitet, weder unsere vorherigen Besuche noch Malalas Posten als Sprecherin der Schülermitverwaltung. An diesem Tag war sie einfach nur eine Studentin, und ich war einfach nur ihr Vater.

Zwei Studenten nahmen uns mit auf einen Rundgang, den Tor Pekai und ich sehr genossen. Die Bibliothek des Colleges war riesig, und in den hohen Regalen standen Bücher über Bücher, deren schiere Zahl allein mich überwältigte. Als Lehrer habe ich achtzehn Jahre meines Lebens dem Lernen und Unterrichten gewidmet, wie hätte mich da der Anblick so vieler Bücher nicht berühren sollen? Die Taliban hatten in meiner Heimat Hunderte von Schulen mitsamt aller Lehrwerke darin verbrannt und Mädchen vom Schulbesuch ausgeschlossen. Sie hatten mein Leben bedroht und dem Leben meiner Tochter mit Kugeln fast ein Ende gesetzt, nur weil sie ein Mädchen war, das lernen und lesen wollte. Und jetzt waren wir hier; es war Gottes Plan: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Malala hatte nicht nur den Anschlag überlebt, der auf sie verübt worden war, weil sie für das Recht auf Bildung eintrat. Sie bewies darüber hinaus auch die Zähigkeit, wieder ganz gesund zu werden und weiter zu lernen, sodass sie es nun sogar bis nach Oxford geschafft hatte. Ich bin ein emotionaler Mensch. Miterleben zu dürfen, dass meine Tochter sich nun ihren lang gehegten Traum von einem Studium erfüllte, war unbeschreiblich bewegend. Trotzdem sagte ich mir: »Ziauddin, halte deine Tränen noch ein Weilchen zurück.«

Nach dem Rundgang führte uns der Rektor des Colleges in einen großen Saal mit hoher Decke. Hier gab es viel Luft und Raum zum Lernen, und es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie sich der Horizont der jungen Menschen in diesen vier Wänden weitete. Auf Sesseln und Sofas saßen die Leute in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich gedämpft. Der Leitspruch der Lady Margaret Hall lautet Souvent me Souviens: »Ich denke oft daran.«2

Ich sah, wie der Rektor den Raum durchquerte und zum Teeautomaten trat. Was mein Vater wohl zu einer solchen Erfindung gesagt hätte? Der Rektor nahm eine Tasse und einen Teebeutel aus einem Behälter, legte den Teebeutel in die Tasse und stellte diese dann unter den Automaten, woraufhin sie sich mit heißem Wasser füllte. Nach wenigen Sekunden nahm er die Tasse wieder heraus, stellte sie auf einen Unterteller und gab ein wenig Milch hinein. Nachdem er den Tee umgerührt und den Teebeutel entsorgt hatte, machte er sich auf den Rückweg durch den Saal. Es gab unter den Anwesenden viele, die noch keine Teetasse in der Hand hielten, doch der Rektor ging immer weiter, bis er bei uns angelangt war, wo er die Tasse schließlich Malala reichte.

Souvent me Souviens. Erst da begann ich zu weinen.

Wenn Sie mich nun also fragen: »Ziauddin, was war Ihr stolzester Moment?«, dann sage ich Ihnen: Es war der Moment, in dem der Rektor der Lady Margaret Hall — ein Mann — Malala eine Tasse Tee servierte, die er zuvor eigenhändig zubereitet hatte. Der Vorgang hatte etwas so Selbstverständliches, so vollkommen Alltägliches, und gerade das machte ihn für mich schöner und symbolträchtiger als jede Audienz, die Malala bislang gehabt hatte, sei es bei einem König, einer Königin oder einem Präsidenten. Diese Tasse Tee war ein Beweis für etwas, woran ich zeit meines Lebens geglaubt habe: Wenn man sich für Veränderung starkmacht, dann wird diese Veränderung auch kommen.

Die besagte Tasse Tee wurde auf eine westliche Art zubereitet, die uns vollkommen fremd ist. Mein Vater hätte sich geweigert, einen solchen Tee auch nur anzurühren. Er hätte ihn zurückgewiesen, und sofort wäre ein weibliches Mitglied seiner Familie gekommen, um die Tasse wieder mitzunehmen, voller Scham, ihn enttäuscht zu haben. Aber dieser Moment war auch deshalb so kostbar für mich, weil mein Vater, wäre er mit uns in diesem hohen, prächtigen Saal gewesen, die Tasse gar nicht hätte ablehnen können, denn sie war nicht für ihn bestimmt. Sie wäre auf dem Weg zu seiner Enkeltochter an ihm vorübergegangen.

Als Kind glaubte ich all die patriarchalen Vorstellungen der Gesellschaft, in der ich lebte. Erst in meiner Jugendzeit begann ich das, was ich bisher als selbstverständlich betrachtet hatte, zu hinterfragen. Mein Leben war wie eine Suche nach etwas anderem, etwas Neuem, und als ich es gefunden hatte, musste ich mich erst von Grund auf damit vertraut machen. Was genau war es, wonach ich mich schon lange vor Malalas Geburt sehnte? Das ich nicht nur für sie anstrebte, sondern auch für meine Frau, für meine Schülerinnen und letztendlich für alle Mädchen und Frauen auf Gottes Erde? Anfangs bezeichnete ich es noch nicht als Feminismus. Das ist ein nützlicher Begriff, den ich erst später im Westen lernen würde. Damals wusste ich noch nichts davon. Mehr als vierzig Jahre lang hatte ich keine Ahnung, was Feminismus bedeutet. Als man es mir schließlich erklärte, sagte ich: »Ach, dann bin ich ja schon fast mein ganzes Leben lang Feminist, praktisch von Anfang an!« Als ich noch in Pakistan lebte, hatte ich eher den Eindruck, dass es Liebe, Anstand und reine Mitmenschlichkeit waren, die bei mir ein Umdenken in Gang gesetzt hatten. Ich wünschte mir — und ich wünsche es mir immer noch —, dass Mädchen in einer Welt leben können, die ihnen mit Liebe begegnet und sie mit offenen Armen willkommen heißt. Ich wollte und will das Ende des Patriarchats, eines von Menschen gemachten Ideensystems, dessen Macht auf der Erzeugung von Angst beruht, das Unterdrückung und Hass als Lehrsätze einer Religion verkleidet und das im Herzen blind ist für die Schönheit, an der wir alle teilhaben könnten, wenn wir nur in einer Gesellschaft leben würden, in der echte Gleichheit herrscht.

Das ist der Grund, weshalb mir etwas so Banales wie eine Tasse Tee die Tränen in die Augen trieb. Sie symbolisierte das Ende eines Kampfes, den ich zwei Jahrzehnte lang geführt hatte — den Kampf um Gleichberechtigung für Malala. Malala ist mittlerweile erfahren und mutig genug, um für sich selbst einzustehen. Aber der Kampf für all die anderen Mädchen auf der Welt ist noch längst nicht vorbei. Jedes Mädchen, jede Frau verdient denselben Respekt, den die Welt einem Mann ganz selbstverständlich entgegenbringt. Jedes Mädchen auf der Welt, sei es in Pakistan, Nigeria, Indien, in den USA oder Großbritannien, sollte an seiner Lehranstalt eine Tasse Tee gereicht bekommen, sowohl wegen des Tees an sich als auch aufgrund der Symbolkraft dieser Geste.

Ich empfinde eine tiefe Liebe und großes Glück, wenn ich sehe, dass meine Tochter wahrhaft gleichberechtigt ist. Doch diesen Weg zu gehen fällt uns, die wir in patriarchalen Gesellschaften aufgewachsen sind, nicht immer leicht. Um diese neue Sichtweise zu erlernen, musste ich zunächst die alte abschütteln, und der erste Gegner, mit dem ich mich dabei konfrontiert sah, war gefährlicher als ein alter, mit Schild und Dolch bewaffneter Paschtunen-Krieger. Ich war es selbst, der alte Ziauddin, der mir ins Ohr flüsterte: »Wo willst du denn hin? Sei doch nicht dumm. Es ist kalt und einsam auf deinem Weg. Kehr um! Alles, was du für dein Wohlbefinden brauchst, liegt hinter dir, dort, wo du herkommst.«

Es war eine schwere Reise, die manches Opfer gefordert hat; um ein Haar hätte ich dabei den Menschen verloren, um dessentwillen ich den Kampf überhaupt erst aufgenommen hatte. Aber Malala lebt und kann weiter lernen. Ich lebe, ihre Mutter lebt, ihre Brüder leben, und auf unsere eigene Weise lernen wir alle: Malala, ihre Brüder und ihre Mutter Tor Pekai aus Büchern. Ich für meinen Teil hoffe, weiterhin vom Leben selbst zu lernen, mit all seinen Belohnungen und Enttäuschungen, seinem Glück und seinen unzähligen Herausforderungen.

Ich habe dieses Buch für all jene Frauen, Mädchen, Männer und Jungen auf der Welt geschrieben, die couragiert genug sind, um sich für Gleichberechtigung starkzumachen, so wie unsere Familie es tut. Ich hoffe, es kann ihnen eine Hilfe und Ermutigung sein.

Denn erst wenn ein Mädchen wie Malala, ein einfaches Mädchen aus den Bergen, vom Rektor eines Colleges eine Tasse Tee serviert bekommt; erst wenn es ihr durch gute Schulbildung gelingt, eines Tages selbst Rektorin zu werden — erst dann wird unser Werk vollendet sein.

VATER

Unser Herbsthaus

Als ich kaum alt genug war, um mit einem selbst gemachten Bambusstift und Tinte aus einer Zink-Kohle-Batterie meinen Namen zu schreiben, trat meine Mutter eines Morgens in aller Frühe leise an mein Bett. Sie war voller Hoffnung und Entschlossenheit. »Ziauddin«, flüsterte sie. »Wach auf!« Neben mir im Zimmer unseres Lehmhauses schliefen dicht an dicht meine Schwestern.

»Beybey?«, murmelte ich. Das war unser Wort für Mama. »Ziauddin, wach auf!«, wiederholte sie. »Wir machen eine Wanderung.« Ich sah, dass sie bereits ihren dicken grauen paroonay3 trug. »Mit school kaka?«, fragte ich verschlafen und meinte damit meinen Vater. »Mit school kaka?«, fragte ich gleich noch einmal. »Nein«, antwortete sie, »nicht mit school kaka