Über das Buch

Von Pferden zu erzählen heißt, ihr Wesen zu erkunden, ihre Neugier und Intelligenz, ihre sanfte Art zu kommunizieren. Es heißt, ihre Schönheit zu bewundern, ihre Sturheit zu ertragen und ihren Humor schätzen zu lernen. Es bedeutet aber auch, über sich selbst nachzudenken, über die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten, denn wie kaum ein anderes Tier erkennt ein Pferd intuitiv, ob wir ängstlich oder nervös sind, ob wir uns dominant verhalten oder zugewandt. Jenny Friedrich-Freksa reitet seit ihrer Kindheit und schreibt in ihrem Essay über ihre Erfahrungen mit Pferden — gute wie schlechte. Dabei bezieht sie sich auf Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung und auf die Kulturgeschichte, deren Bilder und Vorstellungen bis weit in die Gegenwart reichen. Lange waren Pferde eine Sache der Männer. Heute reiten vor allem Mädchen und Frauen. Warum ist das so? Eine persönliche Annäherung an die Liebe zu Pferden und an das einzigartige Gefühl der Freiheit, das man auf ihrem Rücken erlebt.

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Jenny Friedrich-Freksa

Pferde

Mit Zeichnungen von Katharina Grossmann-Hensel

Hanser Berlin

Inhalt

Warum Pferde?

Morgens

Was ist ein Pferd?

Männer auf Pferden

Der Hof

Reiten

Winter

Das Wesen der Pferde

Amerika

Frauen und Pferde

Vertrauen

Sterben

Abends

Quellen

Dank

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Warum Pferde?

Ich steige durch den Zaun. Mein Nacken tut weh, als ich mich bücke, um zwischen den Holzlatten durchzukriechen. Zu viel Bewegung für meinen angeschlagenen Hals. Sechs Wochen ist es her, seit ich vom Pferd gefallen bin. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, meine Erinnerung an diesen Tag ist vollständig gelöscht. Ich hatte gehofft, dass mir hier draußen irgendetwas wieder einfallen würde, aber da kommt nichts.

Die Pferde stehen auf der Weide, braune und schwarze Flecken im Grün, dazwischen der Schimmel. Seit dem Unfall habe ich ihn nicht gesehen. Im Nachhinein kommen mir die Tage in der Klinik surreal vor, der Arzt, der fälschlicherweise glaubte, ich hätte mir einen Halswirbel gebrochen, die Untersuchungen und Gedächtnistests, und dann die Wochen zu Hause, in denen ich still im Bett lag, damit mein Gehirn sich erholen konnte, mit einem unerträglich leeren Kopf, der sich erst nach und nach sortierte. Die Erinnerungen kamen zurück. Nur der Tag, an dem der Unfall passierte, blieb weiterhin verschwunden.

Ich gehe ein paar Schritte auf die Pferde zu, dann bleibe ich stehen. Ich will den Schimmel rufen, wie ich es immer tue, aber der Ton bleibt mir im Hals stecken. Ich kriege nicht einmal ein Flüstern zustande. Mein Körper überrascht sich dieser Tage immer wieder selbst. Ein paar der Tiere haben mich gesehen und blicken auf. Auch der Schimmel hebt den Kopf. Wir schauen uns aus der Ferne an. Sein Kiefer malmt ruhig von einer Seite auf die andere weiter, während er mich beobachtet, dann steht sein Maul still. Ich warte. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkennt. Langsam setzt er sich in Bewegung und kommt mir entgegen. Er läuft wie immer, etwas zögerlich, den Kopf tief nach unten gesenkt, den Blick aber gleichzeitig interessiert nach vorne gerichtet. Als er vor mir steht, legt er sanft die Nase in meine Armbeuge. So bleibt er stehen. Mir kommen die Tränen, irgendwo von tief drinnen, wohin der Zugang versperrt war. In den letzten Wochen habe ich nicht geweint, es war, als hätten die verrutschten Synapsen nicht nur mein Erinnerungsvermögen lahmgelegt, sondern auch meine Gefühle. Aber jetzt fließt alles aus mir heraus, der Schreck und das ganze Ibuprofen, die Angst, dass etwas Wesentliches kaputtgegangen ist, und die Erleichterung, dass ich hier stehe, als sei nichts gewesen, an einem sonnigen Junitag, zwischen Gänseblümchen und Löwenzahn. Das Pferd wartet, während ich weine. Ich streichle ihm die Stirn, mit den Fingern schiebe ich seinen Schopf über den Augen zur Seite. Ein Zittern läuft durch meinen ganzen Körper. Danach werde ich ruhiger. Insekten summen über die Wiese, das Pferd vertreibt sie ab und zu mit dem Schweif. Irgendwann fängt es an, mit seiner Zunge an meinem Unterarm zu lecken. Ich glaube, ihm ist ein bisschen langweilig. Es reckt den Kopf nach unten, um zu grasen, und ich lege meine Hand auf seinen gebeugten Hals. Ich kraule dem Schimmel den Mähnenkamm und schaue ihn mir genauer an. Sein Bauch ist dick und rund geworden, kein Wunder, niemand ist ihn in den letzten Wochen geritten.

Vier Wochen später steige ich wieder in den Sattel, und alles ist fast wie früher. Nach dem Sturz hatte es Momente gegeben, in denen ich darüber nachdachte, mit dem Reiten aufzuhören. Das Risiko, noch einmal schwer zu stürzen, kam mir zu groß vor. Aber der Verzicht erschien mir noch viel größer, sodass ich den Gedanken sofort wieder verwarf.

Ich reite seit meiner Kindheit, und anders als mit etlichen anderen Dingen habe ich damit nie aufgehört. Es gibt vieles, womit man sich beschäftigen kann — mit Hunden oder Hasen, man kann segeln gehen oder Saxofon spielen. Warum habe ich mir Pferde ausgesucht? Und weshalb faszinieren sie mich schon so lange? Und ja, nicht nur mich, sondern auffällig viele Frauen und Mädchen?

Das Verhältnis zwischen Mensch und Pferd ist sehr alt, weit mehr als 6000 Jahre und hat im Laufe der Zeit unzählige Veränderungen durchlaufen. Diese lange Geschichte fließt natürlich in unseren heutigen Umgang mit den Tieren ein. Aus einer Vergangenheit, in der Pferde als Nahrung dienten oder als Ackertiere halfen, Felder zu bewirtschaften, in der sie über lange Zeit das wichtigste Fortbewegungsmittel und in Kriegen unersetzlich waren, wurde eine Gegenwart, in der Pferde in erster Linie für den Freizeitsport gehalten werden. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Freude am Reiten vor allem eine Freude der Männer. Doch wie kaum etwas anderes hat die Beschäftigung mit Pferden das Geschlecht gewechselt und wurde vom Männerding zur Frauensache, verbunden mit etlichen Klischees über weibliche Pferdeverrücktheit. Wie schreibt man als Frau über die Liebe zu Pferden, ohne in die Pferdemädchen-Ecke gesteckt zu werden, wo Begeisterung schnell als niedlicher Gefühlsüberschwang gilt, typisch für Mädchen und Frauen.

Dieses Buch erzählt von den sehr unterschiedlichen Anziehungskräften, die von Pferden und dem Reiten ausgehen. Sie haben mit dem Spaß an Sport und an Bewegung zu tun und mit einer Sehnsucht, die Stadtwelt hinter sich zu lassen und in die Natur einzutauchen. Es geht um Weite und um Freiheit, aber auch um die Überwindung von Angst, um Respekt und um das Vergnügen, mit diesen großen Tieren zu kommunizieren. Pferde sind intelligent und oft auch lustig.

Ich erinnere mich, wie eine Stute einmal versuchte, sich vor mir zu verstecken, als ich sie von der Koppel holen wollte. Sonst kam sie mir entweder entgegen oder wartete, dass ich zu ihr kam. Aber an diesem Tag hatte sie offenbar überhaupt keine Lust, abgeholt zu werden. Ich war noch ein ganzes Stück von ihr entfernt, als sie sich in die hinterste Ecke der Weide aufmachte, um sich dort hinter einen Baum zu stellen. Es war eher ein Bäumchen, eine winzige Tanne, die den großen Körper des Pferdes nur sehr dürftig verdeckte. Man muss dazusagen, dass es auf der fast leeren Weide auch kein besseres Versteck gegeben hätte. Die Tanne war der einzige Baum weit und breit.

Es gibt viele kleine Momente wie diesen mit Pferden, und es gibt die großen, von beiden handelt dieses Buch. In der Natur und in der Gegenwart von Tieren nimmt man das Menschsein anders wahr als unter Menschen, auch darum geht es in den folgenden Kapiteln.

Weil die Beziehung zwischen Mensch und Pferd so alt ist, ist der Wissensschatz riesig. Man kann sich Pferden unterschiedlich nähern, von der wissenschaftlichen Seite oder von der persönlichen. Mich interessiert beides.

Mein Wissen über Pferde liegt in meinem Kopf wie in einem etwas unaufgeräumten Archiv. Es gibt dort klassische Reitlehren und moderne, Kenntnisse über Anatomie und Bewegungsabläufe, Wissen aus der Verhaltensforschung und Tiermedizin oder aus der Kulturgeschichte. In meinem Gehirn sind Gemälde aus großen Museen gespeichert und berühmte Erzählungen, wie jene über Alexander den Großen und seinen Hengst Bukephalos, aber auch mindestens fünfzehn Bände Bille und Zottel.

Manche Erkenntnisse lassen sich wissenschaftlich verifizieren, man kann mit Experten sprechen oder Dinge nachlesen. Andere sind Ansichtssache — unter Reitern gibt es mindestens so viele Meinungen über den richtigen Umgang mit Pferden wie unter Fußballfreunden über das richtige Training für die Nationalmannschaft.

All das vielfältige Wissen über Pferde hilft, persönliche Erlebnisse einzuordnen. Doch in ihnen liegt auch eine eigene Wahrheit, eine Realität des Empfindens, gespeist aus Gefühlen und Intuition, aus guten und schlechten Erfahrungen mit Pferden. Dieses fast instinktive Wissen bestimmt das Handeln gegenüber den Tieren enorm. Man weiß sehr oft, was funktioniert und was nicht, weil man bestimmte Situationen und Reaktionen schon unzählige Male erlebt hat.

Meine eigene Geschichte mit Pferden beginnt im Westberlin der 1980er Jahre, in einer Stadt, die für viele Dinge berühmt ist, aber nicht für ihre Nähe zu Natur und Tieren. »Wie haltet ihr es dort nur aus?«, fragt mein Großvater. »Fühlt ihr euch nicht eingesperrt?« Mein Bruder und ich kennen es nicht anders. Wenn wir die Großeltern in Göttingen oder Tübingen besuchen, warten wir im Auto manchmal stundenlang an der Grenze, das ist normal. Warum ich damals unbedingt reiten lernen wollte, weiß ich nicht mehr so genau. Eine meiner Großmütter ritt früher, und auch meine Mutter hat reiten gelernt, tat es aber nur selten. Zwei Geschwister meines Vaters verstanden viel von Pferden, er selbst voltigierte als Kind und ritt ab und zu als Erwachsener. Meine Eltern haben mir Reiten nie als Hobby vorgeschlagen, sie hatten aber auch nichts dagegen.

Ich beginne, mich näher dafür zu interessieren, als zwei meiner Freundinnen anfangen, Reitstunden zu nehmen. Ich bin beeindruckt, was sie plötzlich können. Sie trauen sich sogar, auf einem großen Pferd zu galoppieren, an einer langen Leine zwar, aber immerhin. Ich will wissen, wie das geht.

Der kleine Ponyhof in Lichterfelde, auf dem ich reiten lerne, liegt mitten in einer Wohnsiedlung, umgeben von Einfamilienhäusern. Es ist mühsam, innerhalb der Berliner Mauer Pferde zu halten. Abgeschnitten von den Feldern und Wiesen des Umlands, müssen viele Ställe Heu und Stroh aus Westdeutschland importieren. Der Ponyhof hat eine winzige Reitbahn, auf der ein knorriger Baum steht. Im Trab und Galopp muss man die Kurve vor dem Baum unbedingt scharf genug nehmen, um nicht in einem der unteren Äste hängenzubleiben. Wir Kinder reiten auf Ponys ohne Sattel, ständig fällt jemand herunter. Dann kommt die Reitlehrerin, hält das Pony fest und hilft uns wieder hinauf. Wenn man dauernd fällt, verliert man die Angst davor. Irgendwann bleibe ich oben.

Reitstunde ist immer nur sonntags, als Kind kommt mir das sehr selten vor. Um die Tage zwischen den Sonntagen zu überbrücken, baut mir meine Mutter ein Holzpferd, das aus einem stabilen Holzbock besteht, um den mehrere Lagen gelber Schaumstoff gewickelt sind. Es hat in etwa den Bauchumfang eines gut genährten Ponys. Unter der Woche übe ich jetzt auf dem Holzpferd aufsteigen, absteigen und reiten. Wenn eine meiner Reiterfreundinnen da ist, spielen wir Reitunterricht. Wir probieren an dem Holzpferd auch aus, wie stark man ein Pferd mit der Gerte schlagen kann. Es surrt in der Luft, wenn man richtig ausholt, und klatscht laut, wenn man den Schaumstoff trifft. Die Gerte bei einem echten Pferd zu benutzen ist viel schwieriger. Oft ruft die echte Reitlehrerin in den echten Reitstunden: »Jetzt tick ihn doch mal an!«, wenn das Pony nicht antraben will. Ich ticke dann, sehr vorsichtig. Wer will schon einem Pony wehtun.

Ich kann mich nicht erinnern, mich je wieder so vollumfänglich für etwas interessiert zu haben wie als Kind für Pferde. Meine Begeisterung fließt in alle Richtungen. Ich lese unzählige Pferdebücher, Jugendromane, die meistens in England spielen und in denen Mädchen, die Annie oder Sue heißen, vernachlässigte Pferde aus dreckigen Ställen retten. England stelle ich mir damals ziemlich heruntergekommen vor. Ich lese Pferdelexika, Bücher übers Dressurreiten und die Leistungsprüfungsordnung der Deutschen Reiterlichen Vereinigung. Mein Vater schenkt mir eine Tausende Jahre alte Reitlehre von Xenophon, aber das ist mir dann doch zu viel. »Der kleine Pferdefreund«, eine von mir selbst hergestellte Pferdezeitschrift im DIN-A5-Format, erscheint monatlich. Ich male Pferdeköpfe auf Titelbilder und verfasse Texte über neue Hufeisenmodelle und das korrekte Reiten von Dressuraufgaben. Irgendwo muss ich hin mit meinem neuen Wissen. In seinen Hochzeiten hat »Der kleine Pferdefreund« zehn Abonnenten, die meisten sind mit mir verwandt. Meine Göttinger Großmutter nimmt sogar an den Preisausschreiben teil.

Als ich größer werde, etwa mit dreizehn Jahren, darf ich auf den Ponys einer Arbeitskollegin meines Vaters ausreiten. Sie stehen auf einer Art Schrebergartengrundstück mit Stall und kleiner Koppel, das im Süden Berlins liegt, zwischen der Pferdeklinik, dem Museumsdorf Düppel und einem Gefängnis mit offenem Strafvollzug. Wenn ich ausreite, schaue ich die Männer auf der Straße an und überlege, wer von ihnen im Gefängnis wohnt. Im Freilichtmuseum nebenan schlagen Menschen Metall auf einem Amboss oder spinnen die Wolle der Schafe, die auf dem Gelände des Museumsdorfs leben. Die Gegend ist ein skurriles Fleckchen Erde kurz vor dem Grenzkontrollpunkt Dreilinden, direkt am Stadtrand. Ich bin gerne dort draußen, obwohl die Ausritte kurz sind. Es ist einfach nicht genug Platz in Berlin.

Heute schaffe ich es an normalen Arbeitstagen selten, abends noch raus in den Stall zu fahren. Berlin ist inzwischen doppelt so groß wie früher, und es dauert lange aus der Innenstadt ins Grüne. Aber oft schaue ich am Nachmittag aus dem Bürofenster und denke: Was für ein herrliches Ausreitwetter! Dann stehe ich auf, hole mir noch einen Kaffee und arbeite weiter. Den Großteil meiner Lebenszeit verbringe ich wie viele Menschen damit, auf einen Computerbildschirm zu starren.

Doch wenn ich Zeit habe, fahre ich wie früher raus zu den Pferden. Der Schimmel ist seit ein paar Jahren tot. Die braune Stute, die ich jetzt reite, steht auf einem Hof in Brandenburg. Sie gehört einer anderen Frau, ich bewege sie ein-, zweimal die Woche. Bei Regen gehen wir in die Reithalle, bei gutem Wetter auf einen der Außenplätze der Reitanlage, die sich »Horse Resort« nennt. Der Name erinnert an ein Wellnesshotel, aber das englische Wort kann auf Deutsch auch Rettung bedeuten, Zuflucht oder Ausweg. Die Pferde im Horse Resort wirken nicht so, als müssten sie gerettet werden, die meisten sind sehr ausgeglichen. Dringend Entspannung suchen eher die Menschen.

Am liebsten reite ich aus, wenn ich dort draußen bin, zusammen mit meiner Cousine, deren Pferd im gleichen Stall steht. Manchmal gehen wir in den Wald, manchmal in die Felder, manchmal auch nur die paar Schritte durch die Birkenallee rüber auf die Rennbahn. Das Oval aus Sand läuft um eine Viehweide, und während in der Mitte die Kühe und Kälber stehen und fressen, drehen wir auf der Außenbahn im Trab oder Galopp unsere Runden.

Wie schreibt man über Pferde? Wie erzählt man von einer nichtsprachlichen Beziehung, die sich über den Körper vermittelt, über Gefühle und Intuition? Das Nachdenken über Pferde und die Freude an ihnen ist auch ein Nachdenken über sich selbst, über die eigenen Sehnsüchte und Ängste, über die Frage, was einem wichtig ist und warum. Und welche Rolle Gefühle im Denken und Handeln spielen.

Über sich selbst zu schreiben, »ich« zu sagen beim Erzählen bedeutet auch, sich zu positionieren: die eigene Sozialisation zu reflektieren, die persönlichen Zugänge zu einem Thema offenzulegen, die emotionalen ebenso wie die gedanklichen. Nicht jede Information muss biografisch beglaubigt werden. Doch nicht selten erklärt sich aus der eigenen Geschichte, welche Fragen man stellt, welche Aspekte einem wichtig erscheinen.

Seinen eigenen Platz im Geschehen zu bestimmen ist auch Pferden gegenüber wichtig. Pferde verlangen eine klare Haltung, wenn man mit ihnen zu tun hat, sie wollen ein Gegenüber, das sie einschätzen können. Sonst vertrauen sie den Menschen, an die sie geraten, nicht.

Die Menschen und all die Gedanken, die sie sich machen, sind der eine Teil der Geschichte. Die eigentlichen Protagonisten sind aber natürlich die Pferde. Ein Problem, wenn man über diese Tiere spricht, sind ihre Namen. Jede Autorin und jeder Leser weiß, wie wichtig die Namen der Helden einer Erzählung sind. Ein falscher Name macht alles kaputt. Die Stute, die ich reite, trägt den Namen Duchess. Man kann Pferde so nicht ernsthaft rufen. Aber man kann von ihnen auch nicht erzählen, indem man die Kurzformen und Kosenamen nennt, die so viele Pferde haben. Pferdenamen machen Pferde immer entweder zu groß oder zu klein. Ein Pferd, das Imperator heißt, wird garantiert »Impi« gerufen. Beide Formen eignen sich nicht, um von diesem Tier angemessen zu berichten. Um sowohl die hochgestochenen Namen als auch die merkwürdigen Kurzformen zu vermeiden, nenne ich in diesem Buch die meisten Pferde einfach nur Stuten, Wallache und Hengste. Oder Schimmel, Rappen, Füchse und Braune. Bei Tieren, zu denen ihre Namen passen, verrate ich sie. Denn es gibt eigentlich auch sehr schöne Pferdenamen, allerdings vor allem in der Literatur: Hatatitla und Iltschi, Grimm und Fjala, Rosinante.

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Morgens

Die Stute zieht mit den Nüstern die Morgenluft ein. Mit erhobenem Kopf und gespitzten Ohren schaut sie zu den Wiesen, über denen schläfrig der Frühnebel hängt, irgendetwas nimmt sie dort wahr. Ich ruckle leicht am Zügel, damit sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zuwendet, dann steige ich auf. Von ihrem Rücken aus kann ich bis zum Horizont sehen, die Dämmerung färbt den Himmel in ein milchiges Rosa, darüber liegt etwas Graublau, ganz oben ein Streifen Gelb. Auf dem Springplatz steht das Wasser der verregneten letzten Woche, in einer Ecke ist es zu einem kleinen See zusammengelaufen.

Oft atme ich schon in dem Moment durch, in dem ich mich ins Auto setze, um in den Stall zu fahren. Die Tür schlägt zu, der Lärm der Stadt ist ausgesperrt. Ungestört verbringe ich eine Stunde in der kleinen abgeschlossenen Autowelt, ohne Nachrichten, ohne Dramen. Die Häuserzeilen ziehen vorbei wie ein Film, den man nur nebenbei anschaut. Es kann lange dauern, Berlin hinter sich zu lassen. Stau am Reichstag wegen eines Staatsbesuchs oder einer Demonstration, Baustellen, Umleitungen und gehetzte Autofahrer, die im Kampf um ein paar Sekunden ständig die Spur wechseln, Gas, Bremse, Gas, Bremse, man will weg und steckt fest.

Heute Morgen sind die Straßen leer. Als ich losfahre, ist es noch dunkel, niemand ist unterwegs außer ein paar frühen Touristen, die ihre Rollkoffer übers Pflaster ziehen. Ich bin müde. Der Engel auf der Siegessäule hält unbeleuchtet seinen Lorbeerkranz in den dunkelblauen Himmel, blasse Laternen erhellen den weiten Platz darunter nur spärlich. Von weitem strahlen mir die Benzinpreisanzeigen entgegen, als ich auf der langen Ost-West-Achse stadtauswärts fahre.

Die Pferde wirken erstaunt, als ich die Tür zum Stall öffne. Sie sind alle schon wach. Erwartungsvoll schauen sie mir entgegen, vielleicht halten sie mich für jemanden, der zum Füttern kommt. Die Luft ist warm hier drinnen, Lichtstrahlen fallen dämmrig durch die Boxenfenster auf die Stallgasse. Überall hört man es malmen, rascheln und schnauben. Hinten links steht die braune Stute in ihrer Box. Sie kommt zur Tür, als ich den Riegel öffne, in ihrer Mähne hängt noch Stroh von der Nacht. Sie schnuppert an meiner Hand, ich gebe ihr einen Apfel. In der Box nebenan donnert das Pferd mit dem Huf an die Trennwand. Es hat wohl bemerkt, dass es bei uns frisches Obst gibt. Ich hole Striegel und Kardätsche und bürste der Stute den Staub aus dem Fell, während sie mit der Nase im Stroh wühlt und an ein paar Halmen knabbert. Ihr linkes Hinterbein knackt, als ich es aufnehme, um den Huf auszukratzen. Ich bringe den Sattel aus der Sattelkammer herüber, lege ihn auf den Pferderücken und schließe den Gurt. Dann ziehe ich der Stute die Trense über den Kopf. Sie klimpert mit dem Gebiss in ihrem Maul, während ich die kleinen Lederriemen zuschnalle. Ich öffne die Boxentür und führe sie hinaus.

Vom anderen Stallgebäude kommt Male herübergeritten. Wir reiten zusammen, seit wir Kinder sind. Mit niemand sonst habe ich mich so viel über Pferde unterhalten, über sie gelacht oder mir Sorgen um sie gemacht. Und mit niemand sonst bin ich so oft ausgeritten. Reiten ist keine Freizeitbeschäftigung, die man so leicht mit jemandem teilen kann. Man muss es wirklich können, um zusammen ins Gelände zu gehen. Zwischen Male und mir herrscht eine große Vertrautheit, sicher auch, weil wir Cousinen sind, vor allem aber, weil wir mit den Pferden schon so viel gemeinsam erlebt haben, weil wir uns in brenzligen Situationen gegenseitig halfen und wissen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Wir treffen uns auch oft außerhalb des Pferdestalls, aber am meisten verbinden uns die Pferde. Wenn ich Male in der Klinik abhole, wo sie als Ärztin arbeitet, und ich sie dort im weißen Kittel und mit ernstem Gesicht über den Flur eilen sehe, ist sie mir fast ein bisschen fremd. Ich kenne sie eigentlich vor allem auf dem Pferd.

Males Rappe tänzelt auf der Stelle und trabt immer wieder an, er ist putzmunter. Am Kopf ergraut das schwarze Fell des Wallachs langsam, er ist schon 25, ein hohes Alter für ein Pferd. Aber wenn er so energiegeladen herumhüpft wie heute Morgen, wirkt er um Jahre jünger. Ich muss oft lachen, wenn ich die beiden zusammen sehe, sie sind sich so ähnlich, unternehmungslustig und ein bisschen draufgängerisch, schnell im Kopf und in den Beinen. Male sitzt in einer dicken Daunenjacke im Sattel. Mit den Händen dreht sie ihre Haare zu einem Dutt zusammen, die Zügel hängen dem Rappen lose auf dem Hals. In langen schnellen Schritten kommt er zu uns herübergelaufen.

Es macht nicht nur großen Spaß, zusammen mit den Pferden draußen unterwegs zu sein, es ist auch sicherer. Wenn eine herunterfällt, kann die andere helfen. Die meisten Reiter gehen zu zweit oder in Gruppen ins Gelände, auch weil die Pferde ruhiger sind, wenn sie nicht alleine sind.

Die Stute und Males Wallach mögen sich nicht besonders, aber wenn wir ausreiten, arrangieren sie sich. Etwas anderes bleibt ihnen auch nicht übrig, es sind keine anderen Pferde da, an denen sie sich orientieren könnten. Erschreckt sich der Rappe, macht auch die Stute einen Satz zur Seite, zieht sie das Tempo an, rennt auch er los, und umgekehrt. Sie ist die Leitstute einer Herde, zu der er nicht gehört, und ab und zu giftet sie ihn mit angelegten Ohren an, um ihm zu zeigen, was sie von ihm hält. Er umgekehrt verhält sich neutral, sie scheint ihn einfach nicht besonders zu interessieren.

Die aufgehende Sonne färbt die Stämme der Bäume rot, als wir losreiten. Das warme Licht fällt jetzt auch in schattige Ecken, schnell wird es heller. Die Hufeisen klappern auf dem Asphalt, ein Geräusch, das einem anderen Jahrhundert zu entstammen scheint, ansonsten ist alles ruhig. Wir lassen den Pferden die Zügel lang, sie drehen ihre Hälse weit nach links und rechts, schauen über die Wiesen und zu den Stallgebäuden hin, zur Siedlung und wieder zurück.

Vor mir wippt die schwarze Mähne auf und ab, die Stute schreitet weit aus, ihre Schritte sind zügig. Würde ein Mensch neben uns herlaufen, müsste er joggen. Gleichmäßig schwingt der Pferderücken vor und zurück, mein noch matter Körper kommt langsam in Bewegung. Wir reiten selten so früh aus. Aber ich mag es sehr, einfach die Pferde zu nehmen und den Tag im Freien zu beginnen. Die klare Luft macht mich wach. Mein Rücken ist steif, damit er weicher wird, recke und strecke ich mich im Sattel. Ich nehme die Zügel auf und fange an, ein bisschen mit den Ringfingern zu spielen. Nach einer Weile reagiert die Stute und beginnt, auf dem Gebiss zu kauen, eine erste Begrüßung zwischen Händen und Pferdemaul. Reiten bedeutet, sich über den Körper zu unterhalten, das eigene Kreuz kommuniziert mit dem Rücken des Pferdes, die Unterschenkel mit den Seiten des Bauchs, die Hände mit dem Maul. Draußen im Gelände sind die Pferde viel abgelenkter als auf dem Reitplatz. Immer wieder muss ich die Stute daran erinnern, dass ich auch noch da bin, so sehr ist sie oft mit dem, was sie unterwegs sieht, beschäftigt.

Es ist frisch. Die Pferde wollen laufen. Die Äcker und Weiden liegen in braunen und grünen Streifen vor uns. In der Ferne ragen Bäume am Ufer des Flüsschens auf, weiter hinten liegt der Wald. Auf einem Wiesenweg beginnen wir zu traben. Kraftvoll federt die Stute vom Boden ab. Mit jedem Schwung stehe ich im Sattel auf und sitze kurz danach wieder ein, das ist angenehm für Pferderücken und Reiterkreuz. Anfangs trabt die Stute fahrig und schnell, es dauert, bis wir in ein gleichmäßiges Tempo finden. Doch nach einer Weile schnaubt sie rhythmisch im Takt. Die Sonne bricht jetzt durch die Wolken, ihr Licht ergießt sich auf die Morgenfelder, es spiegelt sich in Matschlöchern und Pfützen. Die Landschaft wechselt die Farben. Dunkelbraune Erde leuchtet plötzlich golden, trübe Gräser glänzen in hellem Grün. Nichts regt sich in den Wiesen, nur ab und zu fliegt ein Vogel auf.

Wir legen ein bisschen an Tempo zu. Die Pferde laufen nebeneinander, sie bewegen sich fast synchron. Im Trab gibt es eine kurze Schwebephase, wenn ein Pferd sehr schwungvoll und raumgreifend tritt, keins der vier Beine berührt dann den Boden. Und je stärker das Pferd die Beine von der Erde abdrückt, desto länger dauert dieser Moment.

Die Tritte der Stute werden immer leichter, ihre Beine fliegen vor, setzen kurz auf den Boden auf, heben sofort wieder ab. Neben ihr wirft der Rappe seine Hufe hoch in die Luft, Male lässt ihn laufen. Beim Aufstehen werde ich jetzt weit aus dem Sattel geworfen, im Einsitzen fange ich den kräftigen Schwung wieder etwas ab. Ein frischer Wind bläst von der Seite und weht die Pferdemähnen in die Luft. In langen Schatten ragen unsere Körper auf dem Acker neben uns über denen der Pferde auf. Ab und zu legen sich schnell ziehende Wolken als dunkle Flächen darüber und lassen unsere Konturen fast verschwinden. Die Bewegungen der Pferde werden noch gelöster, nach vorne drängend schweben sie jetzt fast über dem Boden, und wir, der Leichtigkeit folgend, schweben auch.

Jeder Ausritt ist ein kleines Abenteuer. Man weiß nie genau, was unterwegs passiert, wie sich die Pferde verhalten, ob es ein gemütlicher Ritt wird oder ein schneller. Die Stute ist im Gelände immer etwas aufgeregt. »Draußen geht die auf den Nerven«, sagt meine Reitlehrerin und meint damit, dass das Pferd schnell nervös wird und dann mehr den eigenen Instinkten lauscht als dem Reiter. Heute Morgen ist die Stute aufmerksam und wach, aber nicht unruhig. Ab und zu zieht sie den Kopf nach vorn, um mehr Zügel zu bekommen, zwischendurch gebe ich nach und lasse ihr etwas mehr Freiheit. Nach einem Weilchen nehme ich die Zügel wieder auf und versuche, die Verbindung zwischen ihrem Maul und meinen Fingern wiederherzustellen.

Vor uns gabelt sich der Weg, rechts geht es zum Stall, links zum Fluss. Die Stute zieht entschlossen nach rechts, ich verlangsame zum Schritt, und wir reiten links um die Kurve, zur Brücke. Am Ende des Weges wohnt in einem alleinstehenden Haus ein großer Hund, der die Pferde mit plötzlichem Gebell am Zaun schon oft erschreckt hat. Wir machen einen großen Bogen darum.

Kurz darauf kommt der schönste Teil des Weges. Büsche und Sträucher wachsen auf beiden Seiten so dicht, dass nur ein schmaler Pfad bleibt, auf dem die Pferde langsam und hintereinander gehen müssen. Ich ducke mich im Sattel oder drehe den Kopf zur Seite, um nicht in den Zweigen hängenzubleiben. Im Frühling blüht hier Flieder, im Sommer kann man Brombeeren pflücken, im Herbst Hagebutten. Hinter einer Biege steigt der Weg leicht an, die Zweige lichten sich, und wir sind im Wald.

Der weiche Boden schluckt die Geräusche der Hufe, man hört uns kaum. Es riecht feucht und ein bisschen moderig. Lichtpunkte tanzen auf den Blättern, grüne Moosflechten bekleiden ganze Baumstämme. Ein Eichhörnchen huscht eine Lärche hinauf. Auf halber Strecke hält es inne und starrt kurz zu uns herüber, dann verschwindet es in die Baumkrone. Irgendwo singt mit schwacher Stimme ein Vogel. Die Pferde kennen die Strecke, wir reiten hier oft. Am späten Nachmittag oder frühen Abend, wenn die Bäume schwergewichtig im Halbdunkel stehen und dunkle Schatten auf den Wegen liegen, ist die Stimmung anders, gedrückter. Doch morgens hat der Wald nichts Düsteres. Da ist kein Mysterium, nur kühle Frische.