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Nr. 3003

 

Das Triumvirat der Ewigen

 

Der Terraner erreicht die Gewitterstadt – drei Männer betrügen die Zeit

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. BJO BREISKOLL

2. Honams Verborgenheit: Zuflucht

3. BJO BREISKOLL

4. GAMARAM HONAMS HEROLD

5. Honams Verborgenheit: Zuflucht

6. BJO BREISKOLL

7. BJO BREISKOLL

8. Honams Verborgenheit: Ruine

9. Bannershees Stern

10. Honams Verborgenheit: Die Ruine

11. Copperworld

12. Honams Verborgenheit: Die Ruine

13. Honams Verborgenheit: Gewitterstadt

14. Honams Verborgenheit: Gewitterstadt

15. Honams Verborgenheit: Gewitterstadt

16. Honams Verborgenheit: Die Macht des Wortes

17. Honams Verborgenheit: Die letzte Stunde

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Mit immer größeren Raumschiffen hat er das Universum bereist.

Zuletzt ist Perry Rhodan mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, zu einer langen Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Mit an Bord sind unter anderem seine Frau Sichu und einige seiner alten Freunde, darunter der Mausbiber Gucky und der Arkonide Atlan.

Die Reise führt durch Raum und Zeit. Aber Perry Rhodan und seine Gefährten schaffen schließlich den Weg zurück in die heimatliche Milchstraße.

Sie erreichen eine neue Zeit: die Cairanische Epoche. Vieles ist anders geworden seit ihrem Aufbruch. Unter anderem glauben viele Menschen nicht mehr an die Erde, halten sie sogar für einen Mythos. Zwischen den Sternen gibt es zudem neue Herrscher – zu ihnen zählt DAS TRIUMVIRAT DER EWIGEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner sieht sich mit Unsterblichkeit auf Zeit konfrontiert.

Der Paau – Ein Gegenstand zeigt Persönlichkeit.

Climba Ossy-Benk – Eine Frau sucht ihren Weg.

Siad Tan – Die Kosmopsychologin will etwas wiedergutmachen.

1.

BJO BREISKOLL

22. September

 

Der Mann in der Zentrale der BJO BREISKOLL war einer der Unsterblichen. Für manchen in den letzten Jahrtausenden war er das Synonym schlechthin für die Riege jener Wesen, denen die Unsterblichkeit gewährt worden war.

Er sah nach wie vor aus wie ein Enddreißiger, nur aus seinen Augen sprach in manchen Momenten eine Erfahrung, die so sehr viel tiefer ging als alles, was Normalsterbliche jemals erwarten durften. Er galt als kosmischer Mensch, als Vorbild oft, als Projektionsfläche mitunter, als fester Bezugspunkt für eine Entwicklung der Menschheit, die nach uralten menschlichen Idealen strebte.

Und nun ...

Nun war er jemand, an den sich kaum einer erinnerte.

Es hatte ihn mitsamt seiner Mannschaft und ihrem Trägerschiff RAS TSCHUBAI rund 500 Jahre in die Zukunft verschlagen. In eine Milchstraße, die nicht mehr länger Heimat war. Eine Milchstraße, in der die Erde nur noch ein Mythos voller Widersprüche zu sein schien. Eine Milchstraße, in der der Name Perry Rhodan kaum mehr als ein ferner Widerhall war und in der die neuen Machthaber dennoch seiner habhaft werden wollten.

Die Cairanische Epoche.

Was hatte es damit auf sich? Woher kamen die fremden Völker, denen er bereits begegnet war?

Perry Rhodan hatte schon viele Erfahrungen mit selbst ernannten Friedensstiftern gemacht, und so gut wie nie hatte die Realität gehalten, was die Ideale versprachen.

Diese verwirrend fremde Milchstraße, in die sie geraten waren, war für ihn wie ein gordischer Knoten, den durchzuschlagen ihm die passende Klinge fehlte.

Seine derzeit größte Hoffnung war ein Name: Reginald Bull. Sein ältester und bester Freund. Der Resident der Liga.

Wie hatte es die undeutbare Zemina Paath ausgedrückt? Der Resident und seine Getreuen leben in der Zentralgalaktischen Festung. Der Gigant mit dem unzerstörbaren Leib hütet diese Festung.

Perry Rhodan kannte das Ephelegonsystem. Dort kreiste die Welt Rudyn um eine gelbe Sonne, einst die Hauptwelt der Zentralgalaktischen Union.

Und nun?

Er wusste es nicht. Fünfhundert Jahre waren eine lange Zeit. Was würde er auf Rudyn finden? Wen würde er finden? Würden er und Bully sich einander entfremdet haben?

Im Herzen, das wusste er, würde das nie der Fall sein. Aber es konnte durch äußere Einflüsse geschehen. Ein bestimmter Teil der Sonnenstrahlung, wie es schon einmal geschehen war, oder etwas, das von jenem Gerät ausging, das ihm die Unsterblichkeit gewährte. Eigenen Aussagen zufolge war Bullys Zellaktivator umgeprägt worden und trug seither die Aura der Chaosmächte.

So viele offene Fragen ...

Ein simpler Funkspruch hätte genügen sollen. Und vor fünfhundert Jahren hätte er das auch.

Nun nicht mehr. Nicht mit unbekannten Machthabern, die ihn jagten, in ihren Augenschiffen, die die Galaxis durcheilten.

Nein, er musste vieles geheim tun. Geheim und persönlich.

Er stand mit gespreizten Beinen und auf dem Rücken verschränkten Armen da und starrte in den Hologlobus, der die Sternenkonstellationen der Milchstraße zeigte.

Niemand störte ihn, obwohl die Zentrale des kleinen Raumschiffs voll besetzt war.

Beinahe wünschte er sich, seine Frau Sichu stünde bei ihm, legte ihm einen Arm um die Hüfte und würde sagen: Alles wird gut.

Aber seine Frau war Wissenschaftlerin und hatte ihre eigenen Sorgen und Nöte in dieser neuen Zeit. Sie trug ihre eigene Last. Und nahm ihm davon etwas weg.

Ich muss also nach Rudyn, um Antworten zu erhalten.

Perry Rhodans Blick verlor sich in Milliarden Sternen, Dunkelwolken, grell leuchtenden Pulsaren, Materiebrücken und fein ausfasernden Molekülwolken. Bilder, die ihn immer noch faszinierten und ihn zum Träumen brachten.

Einer der winzigen Leuchtpunkte war die Sonne, ein anderer Ephelegon.

Plötzlich spürte er eine schmale Hand auf der Schulter und ihren sanften Druck.

Sofort wusste er, um wen es sich handelte: Farye, seine Enkelin.

Sie gab ihm Halt und Trost auf jene Art, wie es nur Familie kann.

Nenn mich jetzt bitte nicht Großvater ..., dachte er.

»Perry?«

Er drehte ihr den Kopf zu. Sah die müden Augen. Sie tat alles, um ihm zu helfen, ihn zu unterstützen.

»Du solltest dich ein bisschen hinlegen«, sagte er und versuchte ein Lächeln. Er wusste, dass es gezwungen wirkte, weil er unter dieser furchtbaren Anspannung stand, und er kannte ihre Antwort.

»Ich bin nicht müde«, sagte sie und bedachte ihn mit tadelndem Blick. Leg du dich erst mal selbst hin, besagte er. »Wie lange möchtest du noch, dass wir die Position halten?«

»Bis du ausgeschlafen hast«, antwortete er. »Oder bis alle Systeme überprüft sind.«

»Dann können wir also los.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Warte.« Er wusste, dass er das tat, um Zeit zu gewinnen. Als fürchtete er sich davor, den Befehl zu geben, das Ephelegonsystem anzusteuern. »Was ist mit den Olubfaner-Implantaten und den Ladhonen?«

»Die Wissenschaftler sind dran. In ein paar Tagen wissen wir mehr. Du bist der Erste, der es erfährt. Aber so lange willst du bestimmt nicht abwarten, oder?«

Er drehte sich vollends um. Er sah nun in all die Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. Nur Muntu Ninasoma hatte ein altertümlich aussehendes Buch in der Hand und las konzentriert darin.

Alle warteten auf Perry Rhodan. Auf seine Entscheidung.

»Nein, keine Sorge. Wir setzen Kurs auf das Ephelegonsystem.«

Farye nickte knapp und ging auf Kommandant Muntu Ninasoma zu, der von seiner Lektüre kurz aufsah und ebenfalls bestätigend nickte. Dann, von einer Sekunde auf die andere, erstarrte er.

»Augenblick, Perry.« Er deutete auf einen Mann hinter dem Schaltpult der Funk- und Ortungsabteilung. »Ja, Terzio?«

»Wir haben gerade einen Notruf empfangen«, meldete der junge Mann.

»Und?« Farye sah ihn böse an. »Wir sind permanent in Fluchtbereitschaft und können nicht jedem ...«

»Hyperfunk. Auf der Flottenfrequenz der Liga Freier Terraner.«

Farye sah ihn ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst. Die LFT gibt es nicht mehr.«

»Ich weiß.« Terzio Adamoto, wie der Funker mit vollem Namen hieß, rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Das ändert aber nichts daran. Es ist eine alte LFT-Frequenz.«

»Wie lautet der Text?«, mischte sich Rhodan ein.

»Hier ist die GAMARAM HONAMS HEROLD«, las Adamoto vor. »Wir haben eine Notsituation, alle Systeme versagen. Wir erbitten dringend Hilfe. – Diese Nachricht wird in Dauerschleife abgespielt.«

»Sie wird vermutlich seit Jahrhunderten ausgestrahlt«, sagte Farye spröde, ein letztes Gefecht, dessen Ausgang sie kannte.

»Mag sein. Aber wir können uns einem Hilferuf nicht verschließen.« Rhodan sah zum Kommandantensessel. »Aber du hast das letzte Wort, Muntu.«

»Wir sind nicht in erster Linie als Helfende unterwegs, wir suchen selbst welche. Aber die Quelle eines solchen Notsignals könnte uns wertvolle Informationen über unsere zeitliche Wissenslücke geben. Das würde unsere Position entscheidend verbessern. – Haben wir Koordinaten?«

»Projiziere ich gerade ins Holo«, antwortete Adamoto. »Die Entfernung zum Ausgangspunkt des Notrufs beträgt acht Lichtjahre. Ich markiere die Stelle gelb.«

Rhodan betrachtete die Darstellung im Hologlobus. Die Quelle des Notrufs befand sich irgendwo im Nirgendwo, mehr als zwei Lichtjahre vom nächsten Sonnensystem entfernt.

Seltsam ... und der Schiffsname sagt mir auch nichts ..., dachte Rhodan. Andererseits ... es könnte eine Chance sein.

»Machen wir uns auf den Weg!«, sagte Farye. »Lasst uns keine Zeit verlieren! Wir haben noch etwas anderes zu tun.«

Muntu Ninasoma grinste schief. »Auch wenn es sich nicht so anhört, ich bin noch im Dienst. Also: Die üblichen Sicherheitsvorkehrungen werden beachtet, wir nähern uns vorsichtig. Funk und Ortung dehnen den Lauschbereich so weit wie möglich aus und informieren uns direkt über Unregelmäßigkeiten. Schutzschirme hochfahren, den Einsatz der Offensivwaffen vorbereiten. – Recht so, Farye?«

Farye wurde nicht einmal rot; sie und Ninasoma verstanden sich blind, und sie wusste seine Äußerung einzuordnen. Der Kommandant der BJO BREISKOLL neigte nicht selten zu einer humorigen Breitseite in lakonischem Tonfall.

Die Besatzung des kleinen Raumschiffs arbeitete zusammen wie ein perfektes Räderwerk, in dem alle Teile reibungslos ineinandergriffen. Funk, Ortung, Pilot, Kosmonautik und Navigation, Feuerleitstelle, die Abteilungen für Energie und jene, die für die Beibootflotte zuständig waren – sie alle wirkten vorbildhaft zusammen, unterstützt von der allgegenwärtigen Schiffspositronik OXFORD.

Ein Geräuschteppich aus Wispern, vereinzelten Zurufen und ruhig gegebenen Anweisungen legte sich über die Zentrale. Rhodan rief mit Handbewegungen einige Holos auf, sie hüllten ihn ein. Die Bilder zeigten, wie sich die Besatzungen der einzelnen betroffenen Abteilungen auf die Begegnung mit einem möglicherweise havarierten Raumer vorbereiteten. Wissenschaftler und Analysten erarbeiteten eine Risikoeinschätzung, Raumlandetruppen würden gegebenenfalls an Bord des Raumers übersetzen müssen. Sie legten in diesen Augenblicken bereits ihre Schutzanzüge an und überprüften die Waffen.

Rhodan war zufrieden. Alles lief reibungslos ab.

»Wo ist eigentlich unser besonderer Gast?«, fragte er niemanden im Besonderen.

»Du meinst Zemina Paath?« Ninasoma ließ ein weiteres Holo hochploppen. Es zeigte eine groß gewachsene und überschlanke schwarzhaarige Frau, die durchaus als Mensch durchgehen würde, wären da nicht ihre Augen: zwei fast blendend blaue, leicht schräg stehende Augen. Hinzu kamen die exotische Kleidung und Technologie, die ihr Äußeres verfremdete, und viele ihrer Bewegungen waren nicht ganz so menschlich, wie er es erwartet hätte.

»Sie hat sich übrigens einer medizinischen Untersuchung in der Medoabteilung unterzogen.«

»Bei Albertina?«

»Das hat sie sich nicht nehmen lassen. Du weißt, wie sie ist.« Rhodan sah die Medikerin förmlich vor sich: Albertina Barré war nicht unbedingt auffällig durch ihr Aussehen oder ihr Benehmen, vielmehr war sie stets wie ein ruhender Pol in der Hektik einer Medoabteilung. Sie war mit ungefähr vierzig Jahren noch recht jung, hatte aber die gelassene Ruhe eines Hundertjährigen und verlor selbst in noch so hektischen Zeiten nie ihr Lächeln. Und sie war genau. Von ihrem Urteil versprach Rhodan sich viel.

»Und? Wie lautet ihre Expertise?«

Ninasoma seufzte. »Du wirst staunen. Sie ist völlig unalbertinisch: Nichts Genaues weiß man nicht.«

»Aber etwas genauer wäre mir recht.«

Der Kommandant zog ein kleines Holo aus den Projektionen und vergrößerte es. »Wortlaut also ...«

Albertina Barré blickte aufmerksam in die Aufnahmeoptik und strich sich kurz durch das kurze, glatte Haar, dann räusperte sie sich und sagte: »Unsere Messgeräte liefern nur wenige brauchbare Ergebnisse der einfachsten Art: Zemina Paath ist beispielsweise frei von uns bekannten ansteckenden Krankheiten, hundertneunundachtzig Zentimeter groß und wiegt achtundfünfzigtausendfünfhundertzwölf Gramm. Mit aller gebotenen Vorsicht angesichts einer solchen Datenlage empfehle ich eine genauere Beobachtung.« Sie machte eine Pause. Ihr Lächeln blieb, aber sie senkte die Stimme ein wenig. »Ich würde sagen: Sie spielt mit uns. Ob bewusst oder unbewusst, kann ich beim derzeitigen Informationsstand nicht sagen. Barré Ende.«

Muntu Ninasoma, Farye Sepheroa und Perry Rhodan wechselten vielsagende Blicke.

»Nicht besonders viel«, sagte Farye.

»Sie wurde eigenen Aussagen zufolge mental und körperlich beraubt«, merkte Ninasoma an. »Das könnte einiges erklären.«

Rhodan nickte nachdenklich. »Mag sein, dass sie nicht immer die Wahrheit sagt. Aber sie hat ehrbare Absichten.«

Farye presste die Lippen aufeinander und wiederholte: »Du hörst wieder mal vorrangig auf dein Gefühl, Perry.«

»Es hat mir oft genug recht gegeben.«

»Und was ist, wenn du dich irrst? Und wenn dieser Irrtum fatale Folgen hätte?«

»Ich habe mich schon oft geirrt, und einige meiner Fehler haben sogar Leben gekostet. Aber würde ich die Angst, etwas Falsches zu tun, zulassen, wäre ich in meinen Handlungen völlig gelähmt.«

Farye wollte etwas dagegenhalten, das spürte er, aber Ninasoma beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Der Mensch steht auf zwei Beinen: Wissen und Bauchgefühl. Man lernt, auf beiden zu gehen.«

»Und manchmal fällt man hin. Aber man muss immer wieder aufstehen.« Rhodan atmete tief durch. »Ach, Farye, ich schleppe die Erinnerungen an viele Fehler mit mir herum. Die Unsterblichkeit ist, was das angeht, schlimmer, als du sie dir vorstellen kannst.«

 

*

 

»Ewiges Leben ... Das ist ein Prozess des Begreifens.

Ewig leben zu können ist großartig, das sagt sich so leicht. Aber weiß jemand, was es tatsächlich bedeutet? Zunächst einmal begreifst du bloß das Erste, das falsch ist: dass du eine Ausnahme bist, und dann wirst du überheblich, wenn du nicht aufpasst. Ganz leicht hältst du dich für etwas Besseres, weil du das Zweite begreifst, das falsch ist: Der Tod hat keine Macht über dich.

Dann siehst du andere sterben, die wie du einen Zellaktivator tragen, und begreifst die erste Wahrheit: Dass du nicht alterst, bedeutet nicht, dass du nicht sterben kannst. Wenn dir ein Felsen auf den Kopf fällt, bist du tot. Gut, es fallen nicht jeden Tag Felsen vom Himmel. Aber es könnte passieren. Oder du wirst Opfer eines Attentats. Der Neid der anderen ist dein Fluch. Was, wenn du leben willst, die anderen dich aber lieber tot sähen?

Ja, das ewige Leben ist auch die ewige Angst vor dem Tod.

Du zauderst, und dann begreifst du die zweite Wahrheit: Deine Angst musst du überwinden, zur Furcht klein schrumpfen, die vorsichtig macht und nicht übermütig. Demütig werden.

Irgendwann begreifst du auch die dritte Wahrheit: Dein Privileg bringt Verantwortung mit sich. Jenen gegenüber, die sterblich sind.

Und bald darauf begreifst du, zum Vierten, dass du dieser Aufgabe allein nicht gewachsen bist.

Wenn du lange genug gelebt hast, begreifst du schließlich fünftens: Manchmal verschwendest du Zeit, obwohl du eigentlich genug haben solltest.

Denn die echte Unsterblichkeit ist eine Illusion.«

aus: Zanoshs Protokolle der Unsterblichen:

Buch der Triumvirn: Blaise O'Donnell

2.

Honams Verborgenheit: Zuflucht

 

Weit oben tobte ein Sturm, den sie unten nicht ansatzweise so heftig abbekam.

Über der Zuflucht kämpften die Wolken immer miteinander, und wenn sie es gar zu toll trieben, donnerte es. Sie konnte ihnen nicht entfliehen, die Zuflucht war ein Ort der Grenzen.

Die Zeit verging nur messbar, nie fühlbar, denn die Zuflucht blieb düster, ob nun angeblich Tag oder Nacht herrschte.

Climba Ossy-Benk wusste, dass diese Bezeichnungen aus einem Früher stammte, in dem sie sogar eine Bedeutung gehabt hatten. Am Tag hatte die Sonne geschienen, in der Nacht die Sterne geleuchtet.

Und dann war der Weltenbrand gekommen. Hatte die Freiheit gefressen und die Zuflucht geboren.

Seitdem war alles anders, und die Geborgenen genossen die Mildtätigkeit dieses ewigen Zwielichts, des sanften Dunkels. Honams Verborgenheit. Zuflucht.

Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Himmelskuppel. Jenseits der Wolken leuchteten Sterne, die keine waren und daran erinnerten, wie es einst gewesen war. Aber diese Zeit würde nie wiederkehren.

Das Irrlichtern war besonders intensiv, das Grummeln besonders tief. Bald würde es regnen, den Ewigen sei Dank. Sie sorgten dafür, dass sich die im Himmelsdach montierten Sprinkleranlagen öffnen und der Durst der Feldfrüchte gelöscht werden würde.

Climba Ossy-Benk war rechtschaffen müde. Der Tag im Wissens-Parlour war nicht sonderlich erfolgreich verlaufen. Ihre Kollegen und sie hatten sich gegenseitig blockiert, wie so oft. Die Fortschritte ihrer Arbeiten mussten auf Wunsch der Ewigen minuziös dokumentiert werden. Jeder neue Gedanke, jeder Arbeitsschritt wurden penibel festgehalten.

Vorsichtig ging sie den Granitpfad entlang, der längs des Crank floss. Der Fluss war das einzige fließende Gewässer der Zuflucht, graues Wasser in dunklem Gestein, gischtend und schnell.

Eine Wacheidechse ruhte auf einem flachen Stein nahe des Ufers im Sprühregen des dahineilenden Wassers und regte sich nicht. Ihr Aktiv-Knopf leuchtete hellrot, folglich übertrug sie die aufgenommenen Bilder an die Meldestelle.

Ossy-Benk überquerte die Steinbrücke, passierte die Kinderfabriken und betrat das Innere des Gemeinheims Zur guten Gesellschaft. Ohne sich lange aufzuhalten, ging sie in den ersten Stock, vorbei an müde dreinblickenden Nachbarn, die sich lustlos einem Holodeck-Spiel hingaben. Grau waren die Mauern, staubgrau oder schlammbraun die Kleidung, das Mobiliar.

Melstein wartete schon. Er küsste sie auf die Wange und stellte das Essen vor ihr ab, sauer eingelegtes Uferkraut mit knusprigen Fettrösten, ein gelbbraunes Gericht mit vage rötlichen Stückchen. Mehr gab es an diesem Tag nicht. Es war eben ein ganz normaler Tag in Honams Verborgenheit.

»Wo sind die Kinder?«, fragte sie, während sie den Mantel auszog, der Kälte und Nässe fernhielt.

»Noch in der Fabrik. Sie haben eine Erziehungsschicht vor sich.«

»Wieder mal eine Katastrophenübung?«

Sein regengraues Gesicht zerknitterte. »Sie schauen sich Filmchen über Agenteneinsätze an und reden über eine mögliche Bedrohung von außerhalb.«

»Mögen uns die Ewigen davor bewahren«, sagten sie beide zugleich und setzten sich.

»Was ist mit Equidur?«, fragte Climba Ossy-Benk, während sie sich am Kraut bediente.

»Er sollte zum Nachtisch da sein. Er ist noch bei den Millarias im vierten Stock.«

Sie aßen in Ruhe, keiner redete ein Wort zu viel. Die Wände hatten Augen und Ohren. Nur der Stillraum im Keller bot so etwas wie Intimität.

Die Hausintelligenz schlug an und öffnete gut hörbar die Tür. Ein lautes Räuspern erklang, gleich darauf betrat Equidur das Esszimmer. Wie immer behielt er seine Schuhe an und brachte Schmutz ins Innere der Wohnung. Nicht, dass es viel ausgemacht hätte.

»Ich rieche kandierte Reiswürfel!«, rief der Ü-Freund – der vieles sein mochte, nur kein echter Freund – laut. »Ihr habt doch sicherlich etwas für mich übrig gelassen?«

»Die habe ich extra aufgehoben, bis du da bist.« Melstein verzog den Mund, als wäre es ein Lächeln, stand umständlich auf, ging zu der kleinen Kochnische und holte eine Schüssel heraus, die stumpf und grau war, und in der Brocken in einem schmutzigen Weiß glitzerten. »Vorher etwas Nahrhaftes? – Bedien dich.« Melstein machte eine einladende Geste.

Equidur schüttelte den Kopf, schmutzstarrendes Haar, fettig, ungepflegt. Climba wurde bei dem Anblick übel.

»Nur keine Umstände. Die Reiswürfel reichen vollkommen.« Breitbeinig hockte er sich zu ihnen. Nicht, ohne vorher den Stuhl so umzudrehen, dass die Lehne zum Tisch zeigte. Das machte er immer. Sie konnte es nicht leiden.

Er schaufelte sich, ohne zu zögern, gut die Hälfte der zuckergussüberzogenen Reisbrocken auf einen Teller.

»Wie war dein Tag, Climba? Hast du zum Fortschritt in Honams Verborgenheit beigetragen?«

Sie unterdrückte den Drang aufzuspringen und wegzulaufen. Stattdessen stellte sie den halb geleerten Teller mit Uferkraut beiseite. Der Appetit war ihr vergangen. Die körperliche Nähe Equidurs bereitete ihr Übelkeit. »Ich bemühe mich, Tag für Tag.« Die rituellen Worte kamen ihr leicht über die Lippen.

»Jaja, Bemühen ist alles, sagt man das nicht so?«, ergänzte der Ü-Freund. Er steckte sich einen Reiswürfel in den Mund, dann den nächsten. Equidur war einer der wenigen, dem es gelungen war, sich trotz des Mangels an Lebensmitteln einen Fettbauch anzufressen.

»Und du, Melstein? Wie geht es dir als Haushaltswahrer?«

»So wie immer.« Melstein blickte nicht hoch und tat so, als würde er sich auf sein Essen konzentrieren.

Climba kannte ihren Partner gut. Er war ein beherrschter Mensch, und sie kam gut mit ihm zurecht. Doch er hatte seine Launen. Wann immer sie ihn befielen, ging er in der Wohnung umher, von links nach rechts und von rechts nach links oder immer im Kreis um den kleinen Tisch herum. Stundenlang. Beherrscht vom Gefühl des Eingesperrtseins und im Bewusstsein der unsichtbaren Ketten, die ihnen allen angelegt waren.

Equidur rülpste unterdrückt und schob den leeren Teller beiseite. »Du stehst kurz vor einer Krise, Melstein. Du fühlst dich eingeengt und kochst innerlich. Ich würde dir raten, diese Gefühle zu unterdrücken. Ihr wisst, dass ich euer Freund bin. Ich überwache euch nun schon, seit euer Ältester auf der Welt ist.« Er breitete die Arme weit aus. »Es ist, als wäre diese Wohnung mein Heim. Ich liebe es hier!«

Climba schaffte es, das viel zu laute Lachen Equidurs zu ertragen, ohne zusammenzuzucken. Sie ließ den Geist schweifen und dachte an ihre Träume. An eine Welt, in der es eine grenzenlose Weite gab und in der nicht beständig Blitze über den beengten Himmel zuckten. In der es andere Gerüche gab als die nach dem allgegenwärtigen Reinundsauber. In der gelacht wurde, weil die Menschen Spaß miteinander hatten, und nicht, weil es von ihnen erwartet wurde. Wie vor dem Weltenbrand.

Equidur wandte sich ihr zu. »Dein Arbeitsmonat ist in fünf Tagen zu Ende. Dann bleibst du zu Hause. Hast du dir deinen Plan für die Kindeserziehung schon angesehen?«

»Oberflächlich, ja.«

»Das ist zu wenig, Liebes. Obwohl ich euch beide sehr schätze, bereitet ihr mir viel Kopfzerbrechen. In der Meldestelle ist man unzufrieden mit euch.«