Meißner, Regina Seductio – Von Monden erwählt

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Kapitel eins

Mathematisch gesehen verstand man unter dem Begriff einer Strecke eine beidseitig begrenzte Linie, also etwas, das über einen bestimmbaren Anfang und ein ebenso definierbares Ende verfügte. Genau so hatte ich mein Leben immer betrachtet. Der Tag, an dem ich von den Schatten erfahren hatte, stellte auch den Beginn meiner Flucht dar. Das Ende sollte der Tag sein, an dem mir der Triumph über die Decessaren gelang und ich als Sieger aus meinem Krieg herausging. So hatte meine Vorstellung ausgesehen, zumindest optimistisch betrachtet. Natürlich konnte es auch sein, dass die Schatten über mich triumphierten und mich jahrelang als ihre Geisel hielten. Beide Phänomene waren möglich – wenn auch nicht von gleicher Wahrscheinlichkeit. Dennoch hatte ich mir so oder so mein Leben immer vorgestellt. Aber die Situation, in der ich mich nun befand, hatte nichts mit dem Beschriebenen gemein. Ich war gefangen zwischen der Chance, etwas richtig zu machen, und der Gefahr, alles noch zu verschlimmern. Ich hatte mich mit zwei Wesen verbündet, die offiziell als meine Feinde galten. Trotzdem war es mir gelungen, mich in einen von ihnen zu verlieben. Doch unsere kurze Allianz lag mittlerweile ein gefühltes Leben zurück – und außer einem tauben Loch in meiner Brust war nicht viel davon übrig geblieben.

Ich wusste nicht, was ich von all dem halten sollte. Wusste nicht, wie ich mich benehmen musste, wusste nicht, was ich fühlen durfte und was nicht. Mein Kopf glich einem Nirwana – mein Herz ein stummer Muskel, der nur beim Gedanken an meine Tante sich noch zu Wort meldete. Meine Bewegungen schienen mechanisch – ich tat, was man mir sagte.

Vielleicht war in viel zu kurzer Zeit einfach viel zu viel geschehen.

»Ivory?«

Lynns Stimme drang zu mir herüber – zaghaft, wie in letzter Zeit so oft. Ich sah, dass sie ihre Hand hob. Vielleicht, um sie mir beruhigend auf die Schulter zu legen. Vielleicht, um mir Nähe zu spenden. Was auch immer sie vorhatte, sie ließ es sein, als ich mich vom Fenster wegdrehte und sie mit einem müden Blick bedachte.

»Sie sind schon eine ganze Weile fort. Langsam mache ich mir Gedanken.«

Es dauerte eine Weile, bis ich den Sinn hinter Lynns Worten ausmachte. Kilian und Lenidas. Das waren die beiden, von denen sie sprach. Langsam nickte ich.

»Sie sind immer wiedergekommen«, erwiderte ich lethargisch und steuerte den grünen Sessel an, der seit Neuestem im Hotelzimmer stand, um bei Krisensituationen den fehlenden vierten Sitzplatz zu bieten. Zumindest für die Gespräche, bei denen Lynn anwesend sein durfte. Seufzend ließ ich mich auf das harte Polster sinken und fuhr mir durch die Haare. Ich sollte sie dringend waschen – und nicht nur das: Mein ganzer Körper war schmutzig; seit vielen Tagen hatte ich nicht mehr geduscht.

»Sollen wir sie mal anrufen?«, kam es von Lynn, die sich einen Stuhl genommen hatte und nun mir gegenübersaß. Aus den Augenwinkeln nahm ich ihre angespannte Haltung wahr; die Ader auf ihrer Stirn pulsierte verräterisch und ihre Wangen waren etwas röter als sonst. Nervös legte sie die Beine übereinander und sah mich an.

»Das ist nicht nötig«, sagte ich leise. »Sie haben uns selbst gesagt, dass es dieses Mal länger dauern wird.«

Länger. Ein sehr dehnbares Wort.

Mir kam die Zeit, die ich in diesem Zimmer verbringen musste, mittlerweile wie eine Ewigkeit vor. Ich tat nicht viel mehr als schlafen, essen, warten und mit Lynn zu reden. Kil und Lenidas waren dauernd unterwegs, vertrösteten mich mit Ausreden und schauten ab und zu, ob ich noch anwesend war. Wahrscheinlich hätte ich ihnen sagen können, dass das nicht nötig war – ich hatte nicht vor, wegzulaufen. Ich konnte niemanden mehr retten, weil es dafür zu spät war. Ich konnte die Vereinigung nicht rückgängig machen, das Tor nicht schließen, weil bereits alle Schatten aus Embonis geflohen waren und es sich in unserer Welt gemütlich gemacht hatten. Es gab nichts mehr, was ich hätte ändern können, weswegen ich meine Tage in dem tristen Hotelzimmer fristete, die Decke anstarrte und nicht wusste, worauf ich wartete.

»Lynn, du kannst nach Hause fliegen«, meinte ich müde.

»Wir haben doch schon darüber geredet, Ivy«, beharrte sie – wie immer. Seufzend sah ich sie an.

»Ich weiß ja nicht einmal selbst, wie es weitergehen wird. Seit zwei Wochen verharren wir in diesem Zimmer und haben keine Ahnung, was kommen wird. Das musst du dir nicht antun. Selbst Kil und Lenidas haben gesagt …«

»Mir ist es egal, was sie gesagt haben. Ich möchte bei euch bleiben.« Mit Nachdruck in der Stimme sah sie mich an.

»Ivy, ich möchte dir eine Freundin sein. Vielleicht willst du es dir nicht eingestehen, aber du brauchst mich jetzt.« Sie streckte ihre Hand nach meiner aus, aber ich ergriff sie nicht.

»Ich will nicht, dass dein Vater sich Gedanken macht.«

»Das haben wir doch schon besprochen.« Lynn setzte sich aufrecht hin. »Ich melde mich regelmäßig bei ihm, habe ihm gesagt, dass ich einfach ein bisschen Zeit für mich brauche. Es gefällt ihm, dass ich mit einer Freundin unterwegs bin. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich eine schlimme Phase, aber jetzt weiß er, dass er mir wieder vertrauen kann.«

»Die Schule …«, startete ich einen letzten, kläglichen Versuch.

»Was bringen mir mathematische Formeln, wenn unsere Welt bald von Schatten bevölkert sein wird?«

Sie hatte es als Scherz formuliert, Schalk haftete ihren Zügen an. Und doch war es genau dieser Satz, der mein totes Herz zum Klopfen brachte. Wann immer jemand die Problematik beim Namen nannte, die Wahrheit ungeniert aussprach, kehrte Leben in mich zurück. Aber nicht die Sorte von Lebendigkeit, die erfüllte und glücklich machte, sondern die, die in ihrer dunkelsten Form auftrat.

»Tut mir leid, Ivy«, meinte Lynn sofort und presste sich die Hand vor den Mund. Mitgefühl zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Ich schüttelte den Kopf.

»Alles in Ordnung. Du hast ja recht.«

Damit war unser Gespräch beendet.

Ich starrte auf den Teppich unter mir und wartete, bis sich die Flusen vor meinen Augen auflösten.

 

Sie kamen in der Nacht, als die Stadt bereits am Schlafen war und ein heller, voller Mond oben am Himmel stand. Sie kamen, als sich keine Menschenseele mehr auf der Straße aufhielt und gespenstische Stille uns umgab. Lynn schnarchte friedlich neben mir, aber ich war wach. Wach, seit ein Albtraum mich nass geschwitzt hatte aufschrecken lassen. Stocksteif saß ich seitdem im Bett und hörte dem Schlüssel zu, der sich im Schloss umdrehte. Da ich schon so lange wach war, hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Daher sah ich, wie die Klinke langsam, aber bestimmt heruntergedrückt wurde und kurz darauf zwei Gestalten in den Raum huschten. Ich hatte Kil und Lenidas oft genug gesehen, um sie auch aus der Distanz und in der Dämmerung ausmachen zu können. Man musste ihnen zugutehalten, dass sie wenigstens versuchten, keinen Lärm zu machen, und sich wie zwei Schatten in den Raum schlichen. Kurz vergewisserte ich mich davon, dass Lynn noch schlief, dann schwang ich meine Beine aus dem Bett. Ich bemerkte, wie Lenidas ertappt zusammenzuckte. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Schnell kam ich auf ihn zugeeilt.

»Du bist wach?«, fragte er überflüssigerweise.

Ich nickte. Lenidas’ Gesicht wies tiefe Furchen auf. Er schien um Jahre gealtert zu sein.

»Wir dürfen nicht so laut sein, Lynn schläft«, wisperte ich ihm zu. Mein Blick ruhte auf ihm, bis Kil sich neben ihn stellte.

»Es tut mir leid, dass wir dich so lange haben warten lassen«, sagte er mit professionell kühler Stimme, die mir jedes Mal einen Schauder bereitete.

»Was habt ihr herausgefunden?«, fragte ich, weil ich nicht zulassen wollte, dass sich die Stille wie ein drohendes Gespenst über uns ausbreitete. Die letzten Tage hatte ich in einem so tiefen Schweigen verbracht, dass mir ein Ausbruch auf einmal überdringlich erschien.

»Nicht hier«, erwiderte Kil sofort. Fragend sah er sich im Raum um, bis er am Bett hängen blieb.

»Sie muss nicht alles wissen.«

Auch ich schaute Lynn noch einmal an. Eben war ich mir sicher gewesen, dass sie schlief, aber andererseits hatte sie den Zustand des Schlummers schon so oft vorgetäuscht, dass ich nicht mit Gewissheit davon ausgehen konnte.

»Wenn du schlafen willst, Ivory …«, schaltete sich Lenidas ein, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe so lange gewartet. Ich muss endlich wissen, was los ist.«

Kil und sein Bruder tauschten einen Blick, den ich nicht einordnen konnte.

»Na schön. Hier können wir nicht reden«, meinte Kil dann.

»Das Hotel hat einen Gemeinschafts…«, wollte ich ihm zu Hilfe kommen, aber er schüttelte den Kopf.

»Wir setzen uns ins Auto. Das scheint mir der sicherste Platz zu sein.«

Der Gedanke, endlich aus dem Zimmer zu kommen, war befreiend und furchterregend auf dieselbe Weise. Einerseits konnte ich es nicht abwarten, endlich die vier Wände hinter mir zu lassen, andererseits stand mir nicht der Sinn danach, nach draußen in die Kälte zu gehen. Doch wie es schien, blieb mir nichts anderes übrig, denn Kil hatte bereits nach dem Türgriff gefasst und Lenidas rief mir noch zu, dass ich eine Jacke mitnehmen sollte. Ich bat um fünf Minuten, in denen ich mir etwas Vernünftiges anziehen konnte, wartete ihre Zustimmung aber gar nicht erst ab, sondern verschwand im Badezimmer, wo ich meinen Schlafanzug gegen einen schwarzen Pullover und eine dunkle Jeans austauschte. Schnell schlüpfte ich in meine Stiefel und ging zu den Brüdern, die vor der Tür auf mich warteten.

Um diese Uhrzeit brannte nur diffuses Licht in den Gängen des Hotels. Wir huschten durch die langen Flure, vorbei an der Rezeption, hinaus in die sternenlose Nacht, bis wir vor einem fremden Auto anhielten. Stumm zog Kil den Schlüssel aus seiner Hosentasche und entsperrte das Fahrzeug. Anschließend setzte er sich auf die Rückbank. Lenidas hielt mir die andere Tür auf, sodass ich in die Mitte rutschen musste, damit er am anderen Ende Platz nehmen konnte. In der Zwischenzeit hatte Kil ein Licht entzündet. Ich versuchte verzweifelt, Abstand zu ihm zu wahren, doch der Platz auf der Rückbank war derart begrenzt, dass es einer Unmöglichkeit glich, ihn nicht zu berühren. Geräuschvoll schloss Lenidas die Tür.

Ich starrte auf meine Finger, weil ich nicht wusste, wohin ich schauen sollte. Kil neben mir seufzte tief. Ich wartete auf den Moment, in dem das Gespräch anfangen würde, aber keiner der Brüder machte Anstalten, das Thema anzuschneiden.

Wie immer.

Sie waren Spezialisten, wenn es darum ging, Dinge hinauszuzögern.

»Es ist mitten in der Nacht«, fing ich daher an. »Es ist Anfang Januar, ziemlich kalt und wenn wir nicht loslegen, werden wir irgendwann zu Eiszapfen.«

»Wenn du willst, mach ich die Heizung an«, bot Kil an.

Bevor ich genervt seufzen konnte, kam mir Lenidas zu Hilfe.

»Ich glaube eher, Ivory meint, dass wir das Problem besprechen sollten«, sagte er.

Ich bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Von Kil kam abermals nur ein Seufzen.

So würde das nicht klappen.

»Na schön«, meinte ich und klatschte mir auf die Oberschenkel. »Ihr wart dieses Mal länger weg als sonst. Wo wart ihr, wen habt ihr getroffen und was habt ihr herausgefunden?«

»Wenn du nichts dagegen hast, Kil, würde ich anfangen«, meinte Lenidas. Kil murmelte etwas Unverständliches.

»Wie auch immer«, fuhr Lenidas fort und strich sich durch die raspelkurzen Haare. »Wir sind an vielen Orten gewesen. Die alle zu benennen, würde die Zeit sprengen. Kil und ich haben mit einigen Schatten gesprochen, die wir als unsere Freunde bezeichnen können.«

»Es sieht düster aus«, kam auf einmal eine Stimme links von mir. Zum ersten Mal in dieser Nacht blieb mein Blick an Kil hängen. Er hielt seinen Kopf gesenkt, dennoch konnte ich erkennen, dass sein Gesicht einer eingefrorenen Maske glich. Seine Stimme klang ebenso unheilverkündend. Gänsehaut benetzte meine Arme, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Es war ohnehin lächerlich, dass mich die kleinsten Worte von ihm noch immer so aus der Fassung bringen konnten.

»Die Decessaren haben sich weiter ausgebreitet, als wir es zunächst angenommen haben«, fuhr er fort und faltete die Hände im Schoß. »Eine genaue Zahl der Toten haben wir nicht, wissen aber, dass sie täglich wächst. Die Schatten, die noch ein Gewissen haben, nehmen nur so viel, wie sie zum Überleben brauchen. Außerdem sorgen sie dafür, dass die Leichen verschwinden, verscharren sie im Wald oder bewerkstelligen anderweitig, dass sie nicht mehr gefunden werden. Aber es gibt eben auch die anderen.«

Lenidas fuhr fort:

»Es hat eine Weile gedauert, bis wir herausgefunden haben, dass hinter all dem Töten ein System steckt.«

»Ein System?«, entschlüpfte es mir. Aufmerksam sah ich Lenidas an, der langsam nickte.

»Ja. Und nicht nur das. Hinter all dem scheint ein perfider Plan zu stecken.«

Nun war es wieder Kil, der sprach. Nach einem Räuspern sagte er:

»Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber es soll eine Organisation in Oklahoma geben, bei der sich bereits Dutzende Decessaren verpflichtet haben.«

»Verpflichtet für was?«

»Ich habe immer gedacht, dass wir zufrieden sind, sobald wir aus Embonis rauskommen. Ich war mir sogar sehr sicher, dass es dann nichts mehr gibt, was wir noch brauchen. Sofern wir genug Nahrung bekommen und dadurch menschlich werden, müssten eigentlich alle unsere Wünsche erfüllt sein. Leider sieht es in der Realität anders aus.« Kil machte eine ausgedehnte Pause. Mehrere Sekunden vergingen, bevor er weitersprach.

»Anscheinend gibt es Decessaren, die noch immer nicht zufrieden sind mit dem, was sie jetzt haben. Es gibt Schatten, die mehr wollen. Es reicht ihnen nicht, eurer Spezies ähnlich zu werden und sich zu nähren. Sie wollen … herrschen.« Das letzte Wort spie Kil regelrecht aus. Ich runzelte die Stirn, wusste nicht recht, worauf er hinauswollte. Abermals kam mir Lenidas zu Hilfe.

»Einerseits wollen wir Decessaren werden wie ihr – wir dürsten nach eurer Seele und haben den Wunsch, ebenso menschlich zu sein. Andererseits tragen wir eine starke Waffe bei uns, gegen die ihr nichts ausrichten könnt. Wir haben die Möglichkeit, euch zu töten. Zu so etwas seid ihr nicht in der Lage.«

Mir schwirrte der Kopf.

»Warte mal, Lenidas. Wenn ich das richtig verstehe, haben sich also ein paar Schatten zusammengefunden, um die Menschheit auszurotten?«

Angesichts meiner Wortwahl zuckte Lenidas zusammen, aber seine Antwort negierte das von mir Gesagte nicht.

»Ich glaube, dass es ihnen um Rache geht«, meinte er stattdessen. »Jahrelang waren wir in Embonis eingesperrt und haben gelitten wie die Hunde. Hätte es das Mittel nicht gegeben, wäre es uns noch viel schlimmer ergangen. Kil und ich haben gedacht, dass diese Zeit verblasst, sobald das Tor geöffnet ist und die Decessaren die Möglichkeit haben, in deine Welt überzusiedeln. Aber das scheint nicht auf alle zuzutreffen.«

»Das heißt, sie wollen uns alle töten? Aber was ergibt das denn für einen Sinn?« Ich schürzte die Lippen und drehte mich in Lenidas’ Richtung.

»Wenn sie wirklich alle töten wollen, sind sie irgendwann selbst am Ende. Denn nur, wenn es uns noch gibt, können auch die Schatten existieren. Das ist doch so, oder?«

Lenidas nickte.

»Ja, damit hast du recht. Unsere Existenz ist nur gewährleistet, solange wir etwas haben, von dem wir leben können. Wenn es das nicht mehr gibt …« Er hielt inne und kratzte sich am Kopf. Offensichtlich wusste er selbst nicht, was dann geschah.

»Darum kümmern sie sich momentan noch nicht«, wusste Kil. »Es ist eher so, dass sie Spaß daran haben, zu töten. Ich glaube nicht, dass sie daran denken, wie es weitergehen wird, wenn es euch nicht mehr gibt, denn bis das geschieht, dauert es sehr lange. Wir Schatten machen einen Bruchteil von euch Menschen aus. Auf einen von uns kommen Tausende von euch.«

Mir fiel auf, wie deutlich Kil zwischen den beiden Spezies differenzierte. Hatte er das früher auch schon getan?

»Was hat diese Organisation für ein Ziel? Einfach nur töten oder ist da mehr?«, erkundigte ich mich.

Es war Kil, der antwortete.

»Das wissen wir noch nicht. Wie gesagt, es war nur eine Information, die uns übermittelt wurde. Wir müssen uns natürlich von ihrer Relevanz überzeugen.«

»Vielleicht … wollen sie die Menschen zu ihren Sklaven machen. Sich hocharbeiten und herrschen wie in einer Aristokratie. Schatten über Menschen oder so ähnlich.«

»Das kann sein, Ivory«, meinte Lenidas, zuckte aber mit den Schultern. »Es kann aber auch einen Grund haben, der uns nicht ersichtlich ist. So oder so, das ist unser erster und einziger Anhaltspunkt, den wir haben. Gleich morgen werden Kil und ich uns noch einmal auf die Suche machen und …«

Kil und ich.

Das beengte Hotelzimmer erschien vor meinem geistigen Auge. Das Hotelzimmer, dessen Wände immer näherkamen und mich erdrücken wollten. Ich atmete tief durch und sah Lenidas direkt ins Gesicht.

»Ich will nicht länger hierbleiben. Ich hasse dieses Hotel. Es kommt mir vor, als ersticke ich da drin. Tagelang habe ich nichts anderes gesehen und …« Verzweifelt legte ich mein Gesicht in die Hände, aber nur so lange, bis Lenidas reagierte. Er und Kil tauschten einen langen Blick.

»Sie kommt nicht mit«, zischte Kilian sofort und schaute zornig drein.

»Wieso nicht?«

Es war leichter, mit ihm zu reden, wenn er wütend war. Ich kam mit echten Gefühlen besser klar als mit der Gleichgültigkeit, die er sonst an den Tag legte.

»Es ist zu gefährlich. Außerdem bist du uns eh nur im Weg«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich bin euch im Weg?«, wiederholte ich seine Worte mit einer großen Portion Schalk.

»Wessen Idee war es denn, dass ich euch helfen soll? Und jetzt muss ich die ganze Zeit in diesem Hotelzimmer sitzen, wo mir die Decke auf den Kopf fällt und …«

»Du kannst aber nicht mit. Du würdest dich in Dinge einmischen, die dich gar nichts angehen.«

»Was soll das, Kil?!« Ich wurde lauter. »Soll ich euch nun helfen oder nicht?«

»Leute, beruhigt euch mal«, kam es von Lenidas, aber Kils Augen funkelten so bedrohlich, dass er es gar nicht mitbekam.

»Wir werden deine Hilfe brauchen. Später. Aber erst einmal musst du uns allein losziehen lassen. Da hast du kein Mitspracherecht.«

»Und wieso nicht?« Ich stemmte die Hände in die Hüfte. »Letztlich geht es doch um mich. Ich bin die aktuelle Schlüsselträgerin und damit das wichtigste Werkzeug, das ihr habt. Und ich gebe dir nicht das Recht dazu, mich so zu behandeln.« Ich war stolz auf mich, dass meine Stimme nicht zitterte, auch wenn ich mich innerlich schon wieder in mein Schneckenhaus zurückzog.

»Ivory, du verstehst das Ganze nicht. Du kennst die Schatten nicht. Ich habe mein Leben lang mit ihnen zusammen …«

»Das hast du nicht! Du bist doch durch das verdammte Tor verschwunden, sobald du es konntest. Du hast dein Volk genauso im Stich gelassen und stattdessen unseres getötet.«

»Ivory, ich warne dich!« Kil hatte die Hand zu einer Faust geballt, aber ich war noch lange nicht am Ende.

»Spiel dich nicht als der große Kenner auf. Fakt ist, dass du mich nicht um Hilfe gebeten hättest, wenn du so gut Bescheid wüsstest. Im Endeffekt bist du genauso überfordert mit der Situation, wie wir alle es sind.« Meine Wangen glühten durch den Eifer, den ich in meine Worte legte.

»Außerdem, Kil«, holte ich zu meinem letzten Schlag aus, aber Lenidas fasste mich bestimmt bei der Schulter.

»Ivory«, sagte er mit Nachdruck. »Das bringt doch jetzt nichts.« Bevor Kil sich zu Wort melden konnte, sagte Lenidas zu ihm:

»Sie hat aber recht. Wir dürfen Ivory nicht die ganze Zeit in diesem Hotel lassen. Das hilft weder uns noch ihr.«

»Und was hast du stattdessen vor?«, erwiderte Kil wütend. »Sie mit in die Zentrale nehmen? Da, wo es Dutzende Schatten gibt, die nur darauf warten …«

»Die Decessaren können mir nichts anhaben«, mischte ich mich ein.

Kil lachte nur freudlos auf. »Sie verzehren sich nicht nach deinem Animus. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie dich nicht töten wollen.«

Augenblicklich wurde mir so kalt, dass ich mir die Arme um den Körper schlingen musste. Kil hatte recht. Ich war zwar aufgrund meiner Tätigkeit als Schlüsselträgerin für das Aufladen der Schatten uninteressant, aber zu ihrer besten Freundin hatten sie mich deshalb noch lange nicht gekürt. Außerdem gab es hundert verschiedene Arten, einen Menschen zu töten. Das Aussaugen war nur eine davon.

»Wenn Ivory mit nach Oklahoma kommt, wird sie das nicht überleben«, verkündete Kil entschieden. »Das dürfen wir nicht riskieren, einfach weil wir sie für später brauchen.«

Lenidas schlug einen Kompromiss vor.

»Wie wäre es, wenn wir sie mitnehmen, ihr aber ein Hotelzimmer so weit außerhalb mieten, dass die Decessaren sie nicht aufspüren können?«

Kil schien davon nicht überzeugt zu sein, daher fügte Lenidas noch hinzu:

»Es ist nicht schlimm, wenn wir uns trennen. Einer geht in die Zentrale, der andere bleibt bei Ivory. So wissen wir sicher, wo sie ist, und müssen nicht dauernd zwischen Oklahoma und Mississippi hin- und herpendeln.«

Zunächst kam von Kil nicht mehr als ein genervtes Seufzen. Schließlich meinte er:

»Ich überlege es mir.«

Ich ahnte schon, dass er zu mehr nicht zu bewegen war, weshalb ich das Thema fallen ließ und an einem anderen Punkt anknüpfte.

»Wenn ihr in der Zentrale seid«, begann ich und biss mir vor Nervosität auf die Unterlippe, »was wollt ihr tun? Habt ihr einen Plan?«

»Dafür hatten wir noch keine Zeit«, meinte Lenidas, aber Kil legte seine Stirn in nachdenkliche Falten, sodass ich ahnte, dass da noch etwas kommen würde. Etwa zehn Sekunden später äußerte er sich.

»Bevor wir uns eine Strategie ausdenken, müssen wir uns davon überzeugen, dass die Geschichte stimmt. Aber wenn das der Fall ist, bin ich stark dafür, dass wir es erst einmal mit Reden versuchen. Schatten sind in vielerlei Hinsicht Menschen und vielleicht lässt sich noch an ihre Vernunft appellieren.«

Das wagte ich zu bezweifeln.

»Vielleicht liegen die Dinge ganz anders, als wir denken. Wir müssen uns auf jeden Fall beide Seiten anhören«, meinte nun auch Lenidas, aber ich befürchtete, dass Diplomatie ihm hier nichts nützen würde.

»Und was ist, wenn sie nicht mit sich reden lassen?«, fragte ich. »Was ist, wenn es ihnen egal ist, was ihr sagt? Wenn sie ihre Rache ausleben wollen und nichts anderes für sie einen Wert hat?«

»Dann fällt uns sicher etwas anderes ein«, meinte Lenidas, doch es klang wenig zuversichtlich. Seufzend schlang ich die Arme um meinen Körper und schloss die Augen. Die Rückkehr der Brüder hatte mich belebt, aber langsam merkte ich, dass ich in meine Starre zurückfiel. Trotzdem konnte ich mir noch eine letzte Frage abringen:

»Was ist mit Lynn?«

»Es …«, fing Lenidas an, aber Kil war schneller.

»Es ist das Beste, wenn sie nach Hause geht. In D. M. ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach am sichersten.«

Auch damit hatte er recht. Nur wie sollte ich Lynn davon überzeugen?

»Ich glaube, es reicht jetzt, Kil. Bringen wir sie ins Hotel zurück.«

Schwungvoll öffnete Lenidas die Autotür. Der kalte Nachtwind wehte mir direkt ins Gesicht. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, stieg ich aus dem Fahrzeug und ging mit unsicheren Schritten auf die Unterkunft zu. Kil und Lenidas folgten mir in einigem Abstand. Bis wir vor der Tür zu meinem Zimmer standen, sagte niemand ein Wort.

Kapitel zwei

Lynn war aufgewacht, als wir das Zimmer betraten. Während ich stumm in Richtung Kleiderschrank ging, um meine Sachen zusammenzupacken, hörte ich Kils Schritte, die das große Bett ansteuerten, auf dem meine Freundin saß. Ich vernahm ihr Gespräch, sah sie dabei jedoch nicht. Insgeheim war ich sogar froh, dass Kil die unangenehme Aufgabe übernahm und ich mich nur entscheiden musste, in welcher Reihenfolge die Pullover am besten zu stapeln waren. Überraschenderweise gesellte sich Lenidas nicht zu Kil, sondern ließ sich auf einen der Stühle sinken und seufzte leise.

Meine Reisetasche war bereits zu einem Drittel gefüllt, als Kil anfing, Lynn von den Gegebenheiten zu erzählen.

»Hör zu«, sagte er mit freundlicher Stimme, »wir haben in letzter Zeit vieles gesehen, das uns nicht gefallen hat. Es gibt zahlreiche Dinge, die wir nicht verstehen und die wir überprüfen müssen. Die ganze Situation ist brenzlig. Wahrscheinlich brenzliger, als wir es angenommen haben.« Er machte eine kurze Pause, die auch mich im Packen innehalten ließ. Eine Hose an mich gepresst, lauschte ich in die Stille hinein, die schließlich von Lynn durchbrochen wurde.

»Was genau habt ihr herausgefunden?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war frei von Angst.

»Wie wird es weitergehen?«, fügte sie noch hinzu.

»Das kann ich dir sagen. Mein Bruder, Ivory und ich werden uns nach Oklahoma begeben. Dort sollen sich einige … Schatten zusammengefunden haben, mit denen wir uns unterhalten werden.«

»Unterhalten?« Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie Lynns Augenbrauen in die Höhe schossen.

»Also wenn ich mit dem Schatten damals gesprochen hätte, wäre ich schon lange tot.«

»Das war eine andere Situation«, setzte Kil ihr entgegen. »Wir sind auf eine bestimmte Art und Weise in die Situation involviert. Wir müssen uns erst einmal ein Bild von der Lage machen.«

»Oklahoma also«, meinte Lynn nachdenklich. »Wieso nicht, da war ich noch nie.«

Instinktiv biss ich mir auf die Unterlippe.

»Lynn … ich muss dir leider sagen, dass wir das ohne dich machen werden«, begann Kil leise, aber mit Nachdruck. Noch immer stand ich mit der Hose vor dem Schrank und lauschte.

»Es ist viel zu gefährlich. Dort sind unzählige Schatten, von denen nicht ein einziger haltmachen würde, dich zu töten. Ich hoffe, du verstehst, dass du uns ab jetzt nicht mehr begleiten kannst.«

In einer Weise bewunderte ich Kil um seine Besonnenheit. Mit klaren, aber nicht unfreundlichen Worten machte er Lynn verständlich, dass die Reise hier für sie ein Ende nehmen würde. Trotzdem wäre Lynn nicht Lynn, wenn sie aufgäbe. Ich hörte das Bett knarren.

»Ich verstehe deine Sorgen, Kil, und vielleicht würde ich an deiner Stelle nicht anders handeln«, begann sie.

»Trotzdem muss ich anmerken, dass ich nun ein Teil eures Abenteuers bin, seit ich selbst von einem Schatten angegriffen wurde. Ich bin Ivory nicht mehr von der Seite gewichen und habe auch nicht vor, das zu tun.«

Stocksteif blieb ich stehen, bevor ich einen Blick über die Schulter wagte. Noch zeichnete sich keine Wut auf Kils Gesicht ab, aber als er sprach, klang es nicht mehr ganz so entspannt wie zuvor.

»Mir würde es viel bedeuten, wenn Ivory eine Freundin dabeihätte«, leitete er seine Gegenrede ein. »Auf jede andere Reise hätten wir dich auch gern mitgenommen, aber dieses Mal geht es schlichtweg nicht. Du bist menschlich und aus diesem Grund nicht geeignet. Tut mir leid.«

»Letztlich ist es aber meine Entscheidung, was ich mache. Als Ivory nach Wyoming abgehauen ist, habe ich auch nicht auf ihre Warnung gehört. Am Ende war es sogar gut, dass ich mitgekommen bin.«

Ich drehte mich vom Schrank weg und sah die beiden an.

Lynn verschränkte die Arme ineinander und blickte Kil herausfordernd an. Dieser wirkte schon um einiges angespannter.

»Das stimmt. Es war gut, Ivory auf ihrer gefährlichen Reise zu begleiten. Aber nun sind Lenidas und ich dabei und wir werden darauf achten, dass ihr nichts geschieht.«

»Ja, aber manchmal braucht man einfach eine Begleiterin, die aus demselben Holz ist. Ihr seid beide nicht menschlich und …«

»Lynn, es geht nicht.«

»Wieso nicht?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Aber es ist meine Entscheidung.«

»Das ist es eben nicht. Es ist zu gefährlich.«

»Und wenn ich mich in Gefahr bringen will?«

»Dann tu das anderswo«, erwiderte er schroff. »Du wirst nicht mit uns in dieses Flugzeug steigen. Auf keinen Fall.« Er drehte sich von ihr weg. Für ihn war das Gespräch beendet.

Nicht für Lynn.

»Du glaubst wohl, dass du über die ganze Welt bestimmen kannst! Aber das stimmt nicht, Kil. Du hast mein Leben nicht in der Hand und mir daher nicht zu sagen, was ich tun oder lassen soll!«

Schwungvoll drehte er sich wieder in ihre Richtung.

»Das vielleicht nicht«, zischte er. »Aber ich kann entscheiden, ob ich meine Zeit mit dir verbringen will oder nicht. Und meine Entscheidung steht.«

»Aber …«, begann Lynn.

»Vergiss es. Du hast keine Chance. Außerdem will ich nicht den Babysitter spielen, wenn dein Vater durchdreht.«

Es ging noch eine Weile hin und her, aber Kil gewann. Irgendwann hörte Lynn auf, kontra zu geben, schmollte stattdessen und packte ihre Sachen zusammen. Es tat mir weh, sie so zu sehen, und erst, als ich realisiert hatte, dass sie nicht mitkam, erkannte ich, dass sie mir fehlen würde.

Doch als Kil Lynn eröffnete, dass ein Taxifahrer sie schnellstmöglich an den Flughafen bringen würde, hatte ich keine Chance mehr, ihr zu sagen, dass sie mir etwas bedeutete. Lynn strafte mich nur mit einem enttäuschten Blick und schloss ihren Rucksack. Kurz darauf erschien der Chauffeur. Außer einem leisen »Tschüss« konnte ich nicht mehr mit ihr reden. Seufzend schloss auch ich meine Reisetasche und wandte mich den beiden Brüdern zu.

»Das wäre erledigt«, meinte Kil fachmännisch und ich hasste ihn dafür.

 

»Haben wir ein Hotel in Oklahoma?«, fragte ich die Brüder. Kil schüttelte den Kopf.

»Ich habe da ein Haus«, sagte er knapp.

»Noch eins? Ich bin mir ziemlich sicher, dass damals, als du mir deine Wohnungen aufgezählt hast, Oklahoma nicht dabei war«, erwiderte ich.

»Ich habe mich auf die wichtigsten beschränkt«, meinte Kil. Mir verschlug es die Sprache. Wie reich war er wirklich? Ich wusste, dass sein Job ihm gut und gern viel Geld eingebracht hatte, aber dass er nur ein paar seiner Häuser aufzählte, um Zeit zu sparen, raubte mir den Atem.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf, entzog mich aber weiteren Erwiderungen.

»Hast du alles zusammengepackt?«, fragte Lenidas und blickte auf meine Reisetasche. Ich nickte. Viel war es ja nicht, was ich damals aus Alaska mitgenommen hatte.

»Dann lass uns aufbrechen.«

»Mitten in der Nacht? Habt ihr überhaupt einen Flug gebucht?«

»Nein, aber das bekommen wir schon hin. Bis zum Flughafen ist es nicht so weit und wir sollten keine Zeit verlieren.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Kil sein Handy aus der Hosentasche zog und eine Nummer tippte. Kurz darauf verließ er den Raum. Fragend sah ich Lenidas an, aber der zuckte mit den Schultern.

»Er telefoniert viel«, meinte er, als würde das alles erklären.

Seufzend ging ich in die Knie, um meine Tasche zu schließen. Danach zog ich mir abermals Stiefel und Jacke an. Da Kil noch keine Anstalten machte, zurückzukommen, setzte ich mich auf das große Bett und ließ die Beine baumeln. Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis Lenidas neben mir saß. Scheu schaute er mich an – als sich unsere Blicke trafen, lächelte er.

»Wie geht’s dir, Ivory?« Seine Stimme war unheimlich sanft und gerade so laut, dass ich ihn verstehen konnte.

Wie ging es mir?

Es gab einen Grund, weswegen ich mir diese Frage in den letzten Tagen nicht gestellt hatte. Obwohl sie uns täglich mindestens einmal begegnete, war es wahrscheinlich eine der schwierigsten. Wenn ein Mensch gefragt wurde, wie es ihm erging, antwortete er meist ohne große Umschweife »gut«. Aber war das Ganze wirklich so leicht zu sagen? Konnte man binnen einer Sekunde entscheiden, wie es um sein Gemüt stand? Ich konnte es nicht. Daher biss ich mir auf die Unterlippe und wich Lenidas’ Blick aus.

»Ich weiß, dass das Ganze wahnsinnig viel für dich sein muss«, fuhr er fort. »Wir haben dir kaum Zeit gegeben, um mit dem Tod deiner Tante fertig zu werden.«

In meiner Kehle formte sich ein Kloß. Zwar glaubte ich mittlerweile nicht mehr, dass Kil Schuld an Grace’ Tod trug, aber allein der Gedanke an ihre Leiche ließ mich schaudern.

»Das tut mir leid – und Kil auch. Ich hoffe, dass du verstehst …«

»Mach dir keine Gedanken, Lenidas«, brachte ich mühsam hervor und schaffte es auch wieder, den Kopf zu heben. »Es ist viel zusammengekommen in der letzten Zeit. Aber ich denke, ich komme damit klar.« Um meine Aussage zu unterstreichen, nickte ich zweimal. Das entlockte Lenidas ein zaghaftes Lächeln.

»Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte er und rückte ein Stück näher an mich heran. Er bekam Grübchen, wenn er grinste. Das gefiel mir.

»Wenn dir das Ganze in Oklahoma zu viel wird, sag bitte Bescheid. Niemand hat etwas davon, wenn du durchdrehst. Wir brauchen dich gesund … nicht nur körperlich.«

Ich nickte tapfer und schaute ihm in die braunen Augen.

»Ich melde mich.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Echte Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ehe ich mich recht versah, hatte er die Arme um mich geschlungen. Erst glaubte ich, in seinem Griff keine Luft zu bekommen, aber als sich mein Körper daran gewöhnte hatte, fühlte ich mich sicher und geborgen.

»Danke, dass du mitmachst, Ivory. Ich glaube, das haben wir noch gar nicht gesagt. Ohne dich wären wir aufgeschmissen.«

»Keine Ursache«, murmelte ich in sein schwarzes Haar hinein, während mich Lenidas’ Duft benebelte.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Wie von der Tarantel gestochen ließ Lenidas mich los und rückte von mir ab. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Kil kam ins Zimmer gerannt und runzelte die Stirn, als er uns auf dem Bett sitzen saß. Für einen kurzen Moment verwandelte sich sein Gesicht in ein einziges Fragezeichen. Schnell jedoch hatte er sich gefangen und zeigte auf sein Handy.

»Das war Xander«, erklärte er und fixierte Lenidas. »Die Theorie stimmt. Die Zentrale in Oklahoma existiert.«

»Was?« Lenidas war vom Bett gesprungen und auf Kil zugelaufen. Sein Bruder nickte nur und verstaute das Telefon wieder in der Hosentasche.

»Sie haben die Zentrale aufgespürt. Sie liegt unter einem Friedhof.«

»Unter einem Friedhof?«, mischte ich mich ein.

Kil sah mich an, als hätte er vergessen, dass ich überhaupt anwesend war. Gedankenverloren nickte er. Schon bald ruhte sein Blick wieder auf Lenidas.

»Sie sind ziemlich gut organisiert. Xander ist einem von ihnen bis in das Gewölbe gefolgt.«

»Kann er sagen, wie viele es sind?«

»Nein, das versucht er noch herauszufinden. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich habe telefonisch einen Flug gebucht. Seid ihr fertig?«

Dieses Mal schaute er mich an. Ich nickte und deutete mit dem Fuß auf die gepackte Reisetasche.

»Alles klar. Nimm den Schlüssel mit, den müssen wir an der Rezeption abgeben. Los geht’s.«

Mit diesen Worten war er schon wieder aus dem Zimmer gestürmt. Lenidas warf mir einen gedehnten Blick zu.

»Du hast ihn gehört. Beeilen wir uns lieber«, meinte er und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Ich nickte, sprang vom Bett, suchte nach dem Schlüssel und ließ das Zimmer in völliger Dunkelheit hinter mir.

Von Kil war weit und breit keine Spur zu sehen, als wir durch die Gänge liefen. Lenidas legte ein Tempo vor, mit dem ich nur schwer mithalten konnte. Selbst auf der kurzen Strecke schaffte ich es, zweimal zu stolpern. Über meine eigene Unfähigkeit schüttelte ich den Kopf. Anscheinend konnte man selbst das Fliehen verlernen.

Endlich hatten wir den Ausgang erreicht. Ich verdeutlichte dem Mann an der Rezeption, dass wir es eilig hatten. Da Kil bereits für alle Unkosten aufgekommen war, musste ich lediglich noch den Schlüssel abgeben.

Draußen erschien mir die Nacht um einiges schwärzer als eben. Obwohl der Mond am Himmel stand, kam es mir sehr finster vor. Vielleicht lag das aber auch daran, dass die Fahrt zum Flughafen in völliger Stille geschah und ich die Brüder nur von der Rückbank aus beobachten konnte. Mit Kils Fahrstil war ich an sich vertraut und dennoch schockierte es mich erneut, wie wenig Rücksicht er auf Geschwindigkeitsbegrenzungen, Stoppschilder oder Ampeln nahm. Ab und an schaute ich auf Lenidas, doch der zuckte nicht einmal zusammen, als wir fast aus einer Kurve geflogen wären. Die ganze Fahrt über stand ich unter permanenter Anspannung. Glücklicherweise war es bis zum Flughafen nicht allzu weit. Irgendwann bog Kil in eine Seitengasse ein. Er parkte das Fahrzeug vor einem kleinen, urig wirkenden Haus. Instinktiv fragte ich mich, wer sich wohl in Kils Abwesenheit um das Auto kümmern würde. In der kurzen Zeit mit ihm hatte ich gelernt, dass er überall auf der Welt gut vernetzt war und sich seine Kontakte lang nicht nur auf Amerika beschränkten.

Ich griff nach meiner Reisetasche und öffnete die Hintertür. Lenidas war bereits ausgestiegen. Mit Mühe unterdrückte er ein Gähnen und hielt sich am Zaun des Hauses fest. Daran, dass er müde war, erkannte ich zweierlei: Erstens, dass er Schlaf dringend nötig hatte (seine Augenringe fielen mir jetzt erst auf), und zweitens, dass er in einem Zustand war, der dem menschlichen sehr ähnlich schien. Je mehr Animus die Schatten in sich aufnahmen, desto mehr glichen sie einem Vertreter meiner Spezies. Dies bedeutete auch, dass sie die menschlichen Bedürfnisse übernahmen. Schlaf war eines davon. Ein Schatten in seiner Urform konnte kaum schlafen. Aber als ich in Lenidas’ Augen blickte, sah ich keine leeren Pupillen, sondern eine mittelbraune Iris, die mich prompt neugierig musterte, als sie meinen Blick auffing. Schnell wandte ich mich ab und schaute stattdessen Kil an, der den Kofferraum des Wagens öffnete und eine weitere Reisetasche zutage förderte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich dabei um Lenidas’ Gepäck. Kil selbst reiste lediglich mit einer schwarzen Aktentasche – mehr brauchte er auch nicht, da er ja in Oklahoma eine Bleibe hatte.

»Bis zum Flughafen gehen wir zu Fuß«, ordnete er an, »es ist nicht weit.« Lässig warf er Lenidas die Reisetasche zu. Ich griff nach meinem Gepäckstück und folgte den Brüdern, die mit zielsicheren Schritten die Straße hinter sich ließen. Als wir nach wenigen Minuten den Flughafen erreicht hatten, kam es mir vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Damals, als ich mit Lynn hier gelandet war, hatte er anders auf mich gewirkt. Vielleicht lag es an einer anderen Betrachtungsweise. Heute, mitten in der kalten Dezembernacht, erweckte das Gebäude einen einschüchternden Eindruck. Ich kam mir neben ihm nicht nur klein und unbedeutend vor, auf eine Weise machte es mir auch Angst. Wann immer ich mit meiner Tante geflohen war, hatten wir das Auto genommen. Zu fliegen war nie eine Option für uns gewesen. Mittlerweile aber hatte ich schon mehrere Male in einem Flugzeug gesessen. Trotzdem überkam mich immer ein nervöses Kribbeln, wenn es so weit war. Flugzeuge überbrückten riesige Distanzen, weswegen ich oft glaubte, nicht nur den Boden unter den Füßen, sondern auch meine Wurzeln zu verlieren. Überrascht über mich selbst schüttelte ich den Kopf. Seit wann hatte ich Wurzeln? In meinem ganzen Leben war ich nie irgendwo wirklich zu Hause gewesen.

»Wann geht unser Flugzeug?«, fragte Lenidas seinen Bruder.

»Weiß ich nicht genau. Ich habe ihnen etwas mehr Geld in Aussicht gestellt, damit sie auf uns warten. Trotzdem müssen wir uns beeilen.«

Instinktiv legte Kil an Tempo zu; Lenidas hatte seinerseits kein Problem, ihm zu folgen. Ich jedoch bekam Seitenstechen, weswegen ich mich dazu gezwungen sah, einen Moment innezuhalten und Luft zu schnappen. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis Lenidas meine Schwäche erkannte. Auf den Fußballen machte er kehrt und griff nach meiner Reisetasche.

»Die trage besser ich«, meinte er und lächelte mich aufmunternd an. »Wir haben es gleich geschafft. Gib noch einmal Gas; im Flugzeug kannst du dich dann ausruhen.«

Tapfer biss ich die Zähne zusammen und ging weiter. Kil holte ich zwar nicht mehr ein, aber Lenidas’ Solidarität war groß genug, um sich meinem Tempo anzupassen.

 

Ich wusste nicht, wie Kil es geschafft hatte, in einem nahezu vollen Flugzeug Sitzplätze nebeneinander zu ergattern, aber irgendwie war es ihm gelungen. Da ich die Erste von uns dreien war, die den schmalen Gang zwischen den Reihen betrat, griff ich die Gelegenheit beim Schopfe und sicherte mir den Platz am Fenster. Zwar war es stockdunkel, aber die Aussicht, mich notfalls wegdrehen zu können und nicht an den Gesprächen zwischen Kil und Lenidas beteiligen zu müssen, erschien mir verlockend. Lenidas war es, der den Platz in der Mitte bekam.

Der Flug würde einige Stunden dauern. Da ich kein Handgepäck dabeihatte, wusste ich nicht, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte. Schlaf wäre eine Möglichkeit, aber für mich keine ernst zu nehmende. Selbst wenn ich Kil und Lenidas so weit vertraute, schaltete das in meinem Kopf noch lange nicht den quälenden Gedanken aus, dass sie eigentlich meine Feinde waren und ich daher vorsichtig sein sollte. Ab und an schloss ich die Augen, aber mir gelang es nie, vollständig wegzudämmern. Vor mir im Netz des Sitzes lag eine Zeitschrift, aber schon ein Blick auf das Deckblatt bewies mir, dass ich keine Lust hatte, mir nackte Frauen in lasziven Posen anzusehen. Seufzend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust und starrte aus dem Fenster. Nichts als Schwärze breitete sich vor meinen Augen aus.

Eine Weile war ich damit beschäftigt, meinem gleichmäßigen Atem zu lauschen und zu zählen, wie oft ich Luft holen musste. Tausende Gedanken schwirrten durch mein Bewusstsein, sodass ich es nicht schaffte, abzuschalten. In meinem Leben hatte es nie so etwas wie Sicherheit gegeben, aber Tante Grace war immer mein Fels in der Brandung gewesen. Nun aber begab ich mich auf eine Reise ins Ungewisse und konnte niemandem richtig vertrauen. Kil hatte ich einst geliebt – aber an die Stelle des innigen Gefühls waren nun eine Reihe neuer Empfindungen getreten: Hass, Zorn und Enttäuschung gesellten sich zu Skepsis, Unverständnis und … Sehnsucht. Ja, irgendein Teil von mir trauerte der Zeit hinterher, in der ich ehrlich glücklich gewesen war, während er ein perfides Spiel mit mir gespielt hatte.

Und Lenidas? Ihn einzuschätzen fiel mir nur minimal leichter, als Kil zu verstehen. In Embonis war er der Einzige gewesen, der mir Mitgefühl entgegenbrachte, während die anderen keine Gefühlsregung zeigten. Andererseits hatte ich auch sein zweites Gesicht kennengelernt. Ich schauderte angesichts der Vorstellung, die sich vor meinen Augen bot: Lenidas lag am Boden, von Krämpfen geschüttelt, Regen prasselte auf ihn ein, sodass seine Silhouette nur noch schemenhaft erkennbar war. Ich erinnerte mich an seine Schreie, die wie Messer in meine Haut schnitten. In diesem Moment hatte ich erkannt, was es wirklich bedeutete, sich nach Animus zu verzehren.

Beide Seiten vereinten sich in Lenidas. Nach dem Tod meiner Tante war er es gewesen, der sich verständnisvoll gezeigt hatte. Er war es gewesen, der mir Zeit gab, Mitleid hatte und mich zumindest irgendwie verstand. Von Kil war kein aufmunterndes Wort gekommen. Aber hieß das unweigerlich, dass ich Lenidas vertraute? Sanft schüttelte ich den Kopf. Nein. Ich kannte ihn zu wenig, wusste nicht wirklich, wer er war. Seufzend öffnete ich die Augen und zuckte prompt zusammen, als ich Lenidas’ Blick auffing.

Auf seinen Lippen lag jenes Lächeln, das mich immer verunsicherte, weil ich ganz und gar nichts Böses darin erkannte. Gleichzeitig fiel mein Blick auf seine Narbe am Hals, die mich schmerzlich daran erinnerte, dass er nicht war wie ich.

»Schlaf ruhig eine Weile, Ivory«, sagte er und streichelte mir beruhigend über den Kopf. »Wir haben eine lange Reise vor uns.«

»Ich kann nicht schlafen«, erwiderte ich wahrheitsgemäß und seufzte.

»Zu viele Gedanken im Kopf?«, erriet er meine Pein, woraufhin ich nur stumm nickte.

»Wenn es irgendetwas gibt, das du wissen willst, bin ich da. Ich beantworte dir jede Frage.«

Während ich den Mund zu einer Antwort öffnete, drehte sich Kil zu uns um. Bisher hatte er scheinbar interessiert in einer Zeitung gelesen, die er nun hektisch zuklappte. Schon hatte ich beschlossen, ihn nicht näher zu beachten, als mein Blick auf seine Augen fiel.

Und da brach das ganze Chaos über mir zusammen.

Im Nachhinein konnte ich nicht sagen, woran es lag, sondern nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht lag es an den vielen Jahren, in denen ich die Schatten gefürchtet hatte und vor ihnen weggelaufen war. Vielleicht lag es an dem Debakel, das ich mit Lenidas erlebt hatte. Vielleicht handelte es sich aber auch um die Tatsache, dass ich übermüdet war.

Jedenfalls sah ich ins Kils Augen – in diese schrecklichen, leeren Augen, die nirgendwohin blickten.

Und ich schrie.

Lenidas reagierte schneller als sein Bruder. Sanft, aber entschieden presste er mir die Hand vor den Mund und zog mich an sich. Noch immer saß mir der Schreck in den Knochen, ich begann am ganzen Körper zu zittern und obwohl ich wusste, dass von Kil eigentlich keine Gefahr ausging, schaffte ich es nicht, mich am Riemen zu reißen. Stattdessen drückte ich mich wie ein verschrecktes Mäuschen an Lenidas’ braune Jacke und kniff die Augen zusammen, so als müsste ich sie nicht mehr öffnen, wenn ich sie nur lange genug geschlossen hielt.

Ich hörte, wie Stimmen im Flugzeug laut wurden. Ein Mann erkundigte sich nach meinem Befinden, ein Kind rief durch den Gang, was ich für ein Problem hätte, und die Blicke der restlichen Passagiere spürte ich, ohne dass ich sie sehen musste. Mit wenigen, entschlossenen Worten klärte Lenidas das Dilemma auf, verdeutlichte den Anwesenden, dass es mir gut gehen würde, ich eine Spinne gesehen hätte und einfach etwas schreckhaft wäre. Wenige Sekunden später war wieder Ruhe eingekehrt und ich wagte es, Lenidas’ Jacke loszulassen. Schüchtern schlug ich die Augen auf und wollte sie am liebsten wieder schließen, als ich Kils zornerfülltes Gesicht sah.

»Kannst du mir erklären, was das sollte?«, wetterte er. Ich zuckte zusammen und presste mich gegen das Fenster.

»Lass sie in Ruhe«, fuhr Lenidas seinen Bruder an. »Sie hat es nicht leicht.«

»Was aber nicht heißt, dass sie das Flugzeug zusammenschreien muss. Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten.«

Ärger breitete sich auf Kils Gesicht aus. Ich wollte etwas sagen, mich verteidigen, aber seine leeren Augen hinderten mich daran, auch nur ein Wort herauszubringen.

»Es ist ja nichts passiert«, versuchte Lenidas zu schlichten. »Außerdem siehst du wirklich gruselig aus. Beinahe wie Hector aus Embonis.«

Kils Mund verwandelte sich in einen geraden Strich. Seine Hand ballte sich zu einer Faust.

»Wie lange ist es her, dass du dich aufgeladen hast?«, flüsterte Lenidas und sah seinen Bruder scharf von der Seite an. Kils Haltung war angespannt.

»Zu lange«, zischte er und beugte sich nach vorn. Kurz wühlte er in seiner Aktentasche, bis er eine dunkle Sonnenbrille gefunden hatte. Anscheinend war er für Situationen wie diese gerüstet.

»Falls jemand dumm fragt«, meinte er und zog den Lichtschutz auf, »ich habe eine Augenentzündung.«

»Spaß beiseite«, meinte Lenidas, »wie dringend ist es bei dir?«

Ich atmete hastig aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten hatte.

»Sagen wir es so: Mir wäre es lieber, wenn wir schon in Oklahoma wären.«

Die Adern an Kils Hand traten deutlich hervor. Seine Haut wirkte blass, beinahe leblos.

»Es ist aber nicht so, dass du hier …«

»Halt die Klappe«, fauchte Kil. »Kein Wort mehr. Ich muss nur diesen Flug überleben.«

Meine Gedanken spielten verrückt, in meinem Kopf malte ich mir Szenarien aus, die mich das Grauen lehrten. Was würde in Oklahoma passieren? Würde Kil die nächstbeste Person auf die öffentlichen Toiletten locken und dort grauenhaft ermorden? Oder hätte sein Durst noch Zeit, bis wir seine Wohnung erreichten …? Wie würde er dann vorgehen? Gänsehaut benetzte meine Arme, als ich an das dachte, was Kyreilja mir damals in Embonis über das Mittel erzählt hatte. Wenn ich ihr glaubte – und das tat ich – musste Kil nun Höllenqualen leiden, vor allem, weil nur eine Sitzreihe weiter bereits die Erlösung seiner Qualen saß. Welche Zurückhaltung und Selbstdisziplin es ihn kosten musste, nicht über die Menschen herzufallen! Es war eine Sache, sich nach etwas zu sehnen, aber eine ganz andere, etwas widerstehen zu müssen, das zum Greifen nah war. Neugierig betrachtete ich Kil. Einem Außenstehenden verriet er nichts. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass er steif dasaß und kaum einen ruhigen Atemzug zustande brachte. Im Hotel hatte er noch normal gewirkt – seine blicklosen Augen wären mir mit Sicherheit aufgefallen. Irgendwie schien es, als wäre das Verlangen von jetzt auf gleich gekommen. Möglich war aber auch, dass er seine Rolle besser mimen konnte, als ich es je für möglich gehalten hätte.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Lenidas nach einer Weile.

»Ich bin okay«, versicherte ich ihm, obwohl mein Blick noch immer auf Kil ruhte. »Das mit eben tut mir leid.«

»Muss es nicht. Du hast jedes Recht, so zu reagieren.«

»Lenidas …«, stammelte ich und fixierte den Boden unter mir, »Danke, dass du Verständnis hast. Aber du musst mich nicht mit Samthandschuhen anfassen. Normalerweise bin ich nicht so … schreckhaft. Ich schäme mich für meinen Ausraster.«

Kils Bruder schüttelte den Kopf.