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Norbert Leitner

IN DER NATUR ZU HAUSE

Geschichten
von
draußen

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Für meine Brüder Peter und Harald, und in Erinnerung
an meinen Freund Dr. Simon Eppacher (1971–2013)

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.

Alle Angaben in diesem Buch wurden sorgsam recherchiert. Dennoch besteht die eigene Verantwortung, sich über mögliche Gefahren, die vor Ort geltenden Vorschriften und rechtliche Vorgaben zu informieren.

1. Auflage © 2019 Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Gestaltung: wir sind artisten

ISBN 978-3-7112-0003-7

INHALT

KAPITEL 1

EINE WINTERNACHT

KAPITEL 2

ZU FUSS

KAPITEL 3

WILDE NÄCHTE

KAPITEL 4

TENKARA

KAPITEL 5

DIE LÜCKE

KAPITEL 6

URPOWER

KAPITEL 7

IM WALD

KAPITEL 8

IM FLUSS

KAPITEL 9

DAS BIWAK

KAPITEL 10

KINDERTAGE

KAPITEL 11

KLEINE HÜTTE

KAPITEL 12

ALTE HEIMAT

AUSRÜSTUNG, REZEPTE, PRAKTISCHES, …

INFO

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Ich wurde

als Entdecker geboren. Wie alle Kinder. Immer weiter zog ich meine Kreise. Zuerst der eigene Garten, dann der des Nachbarn. Die offenen Wiesen, der Bach, das Umland, weiter bis zum großen, dunklen Wald im Süden. Als Kinder haben wir alle eine ganz intensive Beziehung zu unserer Umwelt, fühlen uns verbunden mit den Tieren und den Pflanzen. Die Bücher von Mark Twain, Jack London und James Fenimore Cooper trugen für mich das ihre dazu bei und beflügelten meine Fantasie. So konnte ich, wenn ich Lust hatte, Tom Sawyer sein, und jeder Bach, egal wie groß, war der Mississippi. Im Spiel wurde ich davongetragen zu wilden Landschaften, ich rutschte wie die Abenteurer über schlüpfrige Dünen, zog meinen Schlitten über knackendes Eis oder schnitt mich mit der Machete durch den dornigen Dschungel.

Die Leidenschaft für Landschaften, innere wie äußere, ist mir bis heute geblieben. Mit zunehmendem Alter wurden die gezogenen Kreise weiter, die Distanzen größer, meine Touren in die Wildnis abgelegener, ambitionierter.

Aber wie es so ist, wenn man erwachsen wird, hat auch mich der Alltag mit seinen Verpflichtungen im Griff. Doch im Trubel des Alltags wächst immer die Sehnsucht nach draußen. Neben dem Reisen ist der »Ausstieg«, wenn auch nur für einige Stunden, für mein Wohlsein unentbehrlich. Einfach vor die Tür gehen, den Aufwand gering halten. Sich mit der unmittelbaren Umgebung verbinden, sehen und wissen, was um einen herum los ist, sich auf der Erde heimisch und verantwortlich fühlen. Dies alles ist eine Übung im tiefen Schauen. Dort, wo ich wohne, gibt es keine Wildnis im eigentlichen Sinn, bestenfalls wilde Ecken. Auch die Highlights sind überschaubar. Es ist eine Gegend, wie es viele gibt, ganz ohne Extras. Dennoch gibt es dort Platz für Abenteuer, kleine Räume der Freiheit. Diese zu finden, um sie in unseren Abenteurerherzen zu bewahren, sie an unsere Kinder weiterzugeben, ist eine wichtige Sache.

Wir alle sind Kinder der Natur! In unseren modernen Zeiten wird das gerne vergessen. Doch die Natur ruft uns zu sich zurück. Sie zu spüren, ist für mich so elementar wie ein Glas Wasser zu trinken, wenn ich durstig bin. Es braucht nicht viel, um ein Abenteuer zu erleben. Das Leben selbst ist eines. Also kann jeder ein Abenteurer sein. Wie die Offenheit, etwas scheinbar Bekanntes neu zu entdecken, ist es eine Frage der Einstellung, eine Bereitschaft des Herzens. Genauer hinzusehen, in sich hineinzuhorchen, sich selbst besser kennenzulernen. Dies macht uns zu Feldforschern innerer wie äußerer Landschaften. Das Unmittelbare einfach mit dem Jetzt zu verbinden, darin steckt ein großes Geheimnis der Kinder. Wie sie sollten wir für einige Zeit etwas verspielter, fantasiereicher und verrückter sein. Einfach von Zuhause aufbrechen. Für einen Spaziergang, ein paar Stunden, bis zum Sonnenuntergang, vielleicht bis zum nächsten Morgen. Egal, wo du wohnst, überall gibt es vier Himmelsrichtungen, und jede Gegend hat ihre eigene »Wildnis«. Für Abenteuer, die das Leben spannend machen. Was können wir finden, wenn wir nach draußen gehen, wenn nicht das Leben selbst?

Viel Freude beim Entdecken!

Norbert Leitner

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Inzwischen

ist es ein Ritual geworden: Mein Bruder Harald und ich besprechen und planen kleine wie größere Aktivitäten, doch gerne kommt etwas dazwischen. Die Arbeit, das Wetter oder schlicht unsere Bequemlichkeit. Oft im Leben verschiebt man gerade das, was wichtig ist: gemeinsame Zeit. Harald ist seit unserer Pfadfinderzeit etwas eingerostet. Viele Jahre sind seit seiner letzten Übernachtung in der Natur vergangen, und dass er aus seinem Bedürfnis nach Komfort keinen Hehl macht, ist bekannt: »Warum zum Kuckuck gerade im Winter?«, brummt er als Antwort auf meinen Vorschlag. Harry ist ein Sonnenanbeter. Auch bei 35 °C im Schatten bevorzugt er direkte Sonneneinstrahlung. Rundum braun, eindeutig ein südländischer Typ. Ganz anders als ich. Mich macht die Hitze müde und lethargisch, ich bin blass wie Butter und liebe die Kälte. »Du musst draußen schlafen, damit du die Nächte im warmen Bett wieder richtig schätzen kannst«, sage ich. Ich erzähle ihm von der ganz besonderen Stimmung, dem weichen Licht und der feierlichen Stille, die eine Winternacht draußen ausmacht. So einfach will er meinem Werben für ein eisiges Winterbiwak nicht nachgeben. »Kalt! Vor allem arschkalt ist es«, hält er dagegen. Aber insgeheim freut er sich darauf, das merke ich, und ich mich auch.

Im Buch Herr Eichhorn und der erste Schnee* sagt der Bär: »Ohne Schnee keine Ruhe.« Das finde ich auch. Nichts entspannt meinen Geist so verlässlich wie fallender Schnee. Wenn es im Winter schneit, habe ich das Gefühl, dass die Welt in Ordnung ist und die Natur ihren Rhythmus noch nicht ganz verloren hat. Der Klimawandel ist überall spürbar – und weil Frau Holle nur noch selten ihre Betten über dem flachen Land aufschüttelt, ist der Schnee inzwischen kostbar.

Es ist Mitte Jänner und erst seit zwei Tagen ist Winter. Ich kann mich nicht erinnern, dass es um diese Zeit jemals so warm gewesen wäre. Die Natur kam nicht zur Ruhe und ich auch nicht. Bäume und Blumen ließen irritiert ihre Knospen sprießen, und ich wartete ungeduldig auf Schnee. Nun endlich ist es kalt geworden. Der Wetterdienst meldet etwas Schnee und bis zu minus 17 °C. Perfekte Bedingungen, um draußen zu schlafen. Kalt muss es sein und trocken. Es ist Zeit, sich mit der Natur zu synchronisieren.

Unsere Rucksäcke sind zwar voluminös, aber nicht besonders schwer. Warme Kleidung haben wir eingepackt, ebenso Planen für unser Biwak, Schlafsäcke, Unterlagsmatten, Thermoskannen mit Tee, Bier und Weihnachtsgebäck. Wir haben uns für unsere Winternacht einen Ort ausgesucht, der im Winter eine ganz besondere Stimmung hat: Der Auwald zeigt sich im Winter ganz anders als im Sommer – keine Moskitos und auch kein Laub an den Bäumen. So werden die nackten Balken des Auwaldes sichtbar, und das Gewölbe der Äste wirkt weit wie das einer Kathedrale. Unser Weg dorthin ist einfach, Silberweiden begleiten uns. Auch sie folgen dem Lauf des Flusses gegen Norden, genau wie wir.

Die Weide ist ein wahrer Tausendsassa. Schon Hippokrates, Hildegard von Bingen und Paracelsus schätzten sie in hohem Maße, denn die Rinde enthält das schmerzlindernde und fiebersenkende Salicin. Wir kennen heute diese Arznei als Bestandteil von Aspirin. Weidenrinde ist ein altbewährtes Mittel bei Erkältungskrankheiten und Kopfschmerzen.

Mit den Schuhspitzen pflügen wir Furchen in den flockigen Schnee. Kindliche Freude über drei Finger hoch Pulver. Unsere Körper werden durch die Bewegung warm. Nur in die Lungen beißt der Frost und schneidet im Gesicht. Wir reden wenig, genießen die Bewegung. Vor etwa drei Stunden sind wir aufgebrochen und jetzt erreichen wir die Auen am Wasser. Hier mündet der kleine Fluss von zu Hause in einen großen. Es ist das Refugium des Architekten und Baumeisters des Auwaldes: Der Biber ist hier der Chef. Einen Meter lang und 30 kg schwer, ist er das größte Nagetier Europas. Im 19. Jahrhundert wurde in Österreich der Biberbestand auf Null gesetzt: Der letzte eingesessene Biberbestand verschwand 1869. Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist er wieder zurück und damit auch die Konflikte. Nicht überall ist der Biber willkommen. Er ist ein Freigeist, gestaltet die Welt, wie sie ihm gefällt. Fraßschäden und Vernässung in Land- und Forstwirtschaft sorgen für Spannungen. In Wahrheit ist das nichts im Vergleich zu den Schäden, die wir Menschen verursachen. Gedopt durch Weidenrinde, seine bevorzugte Winternahrung, ist er hoch produktiv, nachtaktiv und gönnt sich keine Ruhe. Etwa drei bis vier Kilo Blätter und Rinde vernascht der Vegetarier jeden Tag.

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Wer im Auwald rasch vorankommen will, muss langsam gehen. Man verliert Zeit, wenn man in Eile ist. Ständig halten wir Ausschau, um im Labyrinth umgefallener Bäume und sperrigen Buschwerks einen gangbaren Weg zu finden. Der Boden ist weich und federnd. Geschmeidig schleichen wir dahin. Kreuz und quer, durch Schneisen und über Baumstämme, vorbei an winterwelkem Farn, smaragdgrünem Moos und standhaften Binsen. Ein Sammelsurium fantastischer Formen und überall der typisch modrige Geruch des sandigen Bodens. Am Fluss sehen wir einen Kormoran aufsteigen. Ein Schwanenpaar schrickt auf und treibt auseinander, um sich im nächsten Augenblick neu zu begegnen.

Mittlerweile ziehen dunkle Wolken daher und gelegentlich zeigt der Mond seine scharfe Sichel. Es ist 17 Uhr und das Licht zerbröselt in der Dämmerung. Wie im Theater reguliert sich die Beleuchtung zum Auftakt. Der Vorhang geht auf und präsentiert: eine Winternacht. Blassblau strahlt der Schnee. Solange uns noch warm ist, trinken wir ein irisches Bier, dazu gibt es weihnachtliche Reste. Früchtebrot und Kekse, die draußen noch besser schmecken als zu Hause.

Im Auwald kommt die Gefahr von oben: von herabstürzenden, morschen Ästen. Auch der Biber kann in nur einer Nacht einen Baum mit 40 cm Durchmesser fällen. In einer kleinen Lichtung sind wir sicher, da werden wir die Nacht verbringen. Wir befreien mit den Stiefeln den Boden weitgehend von Schnee und errichten unser Biwak (vom französischen bivouac für Feldlager, Nachtlager). Zwei alte Baumwollplanen sind schnell aufgestellt. Wie ein in der Mitte geteiltes Zelt stehen die beiden Dachschrägen sich gegenüber. Nach vorne hin sind sie offen, sie schützen uns vor allem vor dem kalten Wind. 90 cm hoch und 220 cm lang ist unser Unterschlupf. Anders als bei einem geschlossenen Zelt bleibt die Verbindung zur Natur, und der Blick in den Wald ist offen.

In der Mitte flackert ein kleiner Holzbrenner. Das orange Farbenspiel tut den Augen gut, und die schüchterne Wärme wird von den Planen reflektiert. »Der weiße Mann macht ein großes Feuer und setzt sich weit weg. Der rote Mann macht ein kleines Feuer und setzt sich nah dran«, lautet ein Sprichwort der Indianer. Auch wir rücken zusammen. Mit Isomatte und Schlafsack haben wir uns auf dem eisigen Boden ausgestreckt. Die Kälte kommt vom Boden, ohne eine gute Unterlagsmatte nützt der beste Schlafsack wenig. Obwohl wir zwei Matten übereinander legen, bleibt es ein Balanceakt auf 50 cm Breite. Punktgenau muss der Hintern positioniert werden, sonst zieht er Kälte und Feuchtigkeit an.

Weich und leicht fällt der Schnee aus dem Himmel. Ganz leise bedeckt er unser Biwak. Mein Bruder kämpft mit dem für ihn ungewohnten Lümmeln auf dem Boden, dreht und windet sich. Für Harry ist es eine Herausforderung. Es ist seine erste Winternacht im Freien. Aber er vertraut mir, dass sie gut wird.

Der frühe Abend macht uns müde. Ganz leise plätschern unsere Gespräche. Harry trotzt der Kälte und dem Schnee und ist stolz auf sich. »Sich selbst und die Natur wieder spüren! Wann hat man das schon?« Die Nacht ist hell. Große Schneeflocken fallen nun wie Fallschirme aus dem Himmel, weich und ohne Geräusch. Folgt man dem Fall, schließen sich dabei ganz natürlich die Augen. Der Schneefall hypnotisiert, lullt ein und wiegt uns in den Schlaf. Harry schläft bereits, sein Wetzen hat ein Ende und er atmet tief und gleichmäßig. Wie wichtig diese Erlebnisse für uns sind! Gerade weil es kalt und unbequemer als zu Hause auf dem Sofa ist, wird uns diese Nacht in guter Erinnerung bleiben. Während ich darüber nachdenke, schmilzt mein Geist und auch ich schlafe ein.

Schneeflocken küssen mich wach. Ganz zart und leicht, ich liebe das! Es ist kurz nach Mitternacht und der Wind hat aufgefrischt, fährt jetzt wie auf Schienen durch die Bäume. Einmal aufrausend hoch in den Wipfeln, um im nächsten Zug tief unten über den Boden zu rollen. Ich höre ihn von Weitem kommen, er bringt Kristalle in unser Heim. Auch Harry ist wach geworden und klagt über die Unterlagsmatten: »Wie um Himmels willen kann man nur so schmale Matratzen machen?« Ich bin es gewöhnt, auf 50 cm Breite zu schlafen, und bestehe darauf, die Matten zu tauschen. Meine ist etwas weicher und eine halbe Pobacke breiter. Ich schäme mich, dass ich ihm nicht gleich die komfortablere angeboten habe.

Ich muss daran denken, wie mir als Kind immer schnell kalt wurde, ich konnte mich einfach nicht warmhalten. Aus welchem Grund auch immer, an meinen Handschuhen hingen stets die Eiszapfen, während die von Harry immer warm und trocken waren. Ganz selbstverständlich hat er seine immer an mich, seinen zwei Jahre jüngeren Bruder, abgegeben.

Ein Specht weckt uns. Auch Harry hatte nach dem Tausch der Matten in den Schlaf gefunden.

Ob man eine Winternacht in guter Erinnerung behält, hängt entscheidend davon ab, wie man sich bettet. Der Knackpunkt für Harry war dann auch die Unterlagsmatte. »Hätten wir die Matten nicht getauscht, ich hätte abgebrochen«, erzählte er mir später.

Das Aufstehen im Winterbiwak ist hart. Viel einfacher ist es, im kuschelig warmen Schlafsack liegen zu bleiben und in das kalte Gewölbe des Waldes zu blicken. Die Zweige, wie mit Tusche sind sie in den frischen Himmel gezeichnet. Ein schöner, ruhiger Morgen, und auch wenn wir mit dem ersten Licht munter sind, wir haben keine Eile. Die Hose nehme ich jetzt mit in den Schlafsack, damit sie warm wird. Harry hat seine über Nacht angelassen. Mit dem matten Licht der Wintersonne kommen wir in die Gänge und langsam schälen wir uns aus dem Schlafsack. Sofort greift die Kälte zu, die Nestwärme ist verflogen, nun muss die Wärme aus der Bewegung kommen. Eine Runde um das Lager laufen, recken und strecken hilft uns, wieder warm zu werden. Zum Frühstück gibt es Ingwertee aus der Thermoskanne und Lebkuchen. Wenige Meter neben unserem Biwak entdecken wir Spuren. Von Reh und Hase. Der Schnee hat sie für uns aufgezeichnet, während wir schliefen. Unser Heim ist mit wenigen Handgriffen zusammengepackt, die Lagerstelle bedecken wir wieder sorgfältig mit Schnee. Es ist 8:30 Uhr, wir verlassen den Wald, wie wir gekommen sind: leise und mit großer Dankbarkeit. Nur zwei Spuren kommen dazu und das Gefühl, beschenkt worden zu sein.

* Herr Eichhorn und der erste Schnee von Sebastian Meschenmoser.

Erschienen im Thienemann Verlag

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Handwerker

sind verspannte Typen. Ich weiß das. Wenn man immer konzentriert und körpervergessen arbeitet, schlägt sich das irgendwann auf Körper und Geist nieder. Erst wenn das Tagwerk beendet ist, bemerke ich die strapazierten Augen und dass mein Rücken mürbe wie trockenes Brot geworden ist. Aber diese Spannung fällt nicht spontan nach Feierabend ab, sie summiert sich und bleibt mir als Unruhe erhalten. In meinem kleinen Werkstatthäuschen fertige ich seit knapp 20 Jahren Messer von Hand an. Werkzeuge für ein Leben draußen. Es ist ein Ort des Schaffens, der Kreativität, aber auch der Reflexion. Die Uhren gehen hier anders, sie folgen dem Rhythmus meiner Hände. Ich arbeite analog, automatische Maschinen haben hier nichts zu suchen. Die Jahreszeiten schleichen an meinem Werkstattfenster vorbei wie zutrauliche Katzen. Ich grüße den Herbst, dann knuspert der Werkstattofen, ich sehne mich nach dem Frühling, dann hänge ich die Tür zum Garten aus der Angel und die Sonne kommt herein. Ich bin Vollerwerbseremit und kenne die zwei Seiten der Einsamkeit.

Ich liebe meine Arbeit, doch manchmal fühle ich mich in meiner Werkstatt wie eingesperrt. Es fehlt mir der Horizont und die Bewegung. Um dem etwas entgegenzustellen, gehe ich so oft als möglich zu Fuß. Zum Beispiel in die Arbeit, denn da muss ich sowieso hin.

Um in meine Werkstatt zu kommen, bieten sich drei Möglichkeiten an: Einmal kann ich mit dem Auto die fünf Kilometer auf der Bundesstraße zurücklegen. Mit allen Beleidigungen für das Auge, die Straßen und Gewerbegebiete an den Ortsrändern heute zu bieten haben. Das ist der schnellste Weg, und das muss auch schnell gehen, denn niemand hält so viel Hässlichkeit lange aus.

Ich kann mit dem Fahrrad durch passable Landschaft acht Kilometer bis zu meiner Arbeit fahren. Oder eben zu Fuß gehen, was mir am liebsten ist. Und weil ich die Wahl habe, fällt es mir leicht, das Auto auch mal stehen zu lassen. Eine Stunde marschieren wirkt auf mich in zweifacher Weise: Bin ich gestresst, beruhigt es mich, bin ich abgespannt und müde, vitalisiert es mich. Dazu wird im Gehen der Geist ruhiger, die Datenmenge überschaubarer und nicht selten komme ich dabei auf gute Ideen.

Es ist Mai. Winter und Frühling geben sich ein letztes Gefecht. Der Winter will sich noch nicht geschlagen geben und schickte letzte Woche schwere Wolken los. Kräftiger Nordwind trieb in wilden Schauern Schnee über das Land. Doch das weiße Pulver war schnell verschossen, und die immer stärker werdende Sonne hielt orangewarmes Licht dagegen. Ein Kräftemessen, dessen Sieger seit Tausenden von Jahren feststeht. Heute Morgen war es noch frisch, doch jetzt steht die Sonne über mir. Es wird ein schöner Tag werden.

Durch den Hauptplatz verlasse ich den Ort in südwestlicher Richtung. Nach zehn Minuten liegt die kleine Stadt hinter mir. Durch Wiesen und Felder winden sich kleine Pfade. Kreuz und quer spannt sich ein Verbindungsnetz, welches Orte, Wiesen und Äcker mit den Höfen verbindet. Ein kleines Stückchen meines Weges läuft auf dem Jakobsweg. Überlaufen ist er hier nicht. In den vielen Jahren habe ich erst zwei Pilger getroffen.

Der Weg in die Werkstatt führt mich weiter über einen Wiesensteig, vorbei an zwei großen Eichen mit Kreuz und Bankerl zu einem kleinen Bach. Dieser schleicht sich schlangenförmig durch die Felder und begrenzt dort, wo sich mein Weg mit dem Bach kreuzt, eine kleine Lichtung. Eine schmale Holzbrücke führt zu diesem wunderbaren Plätzchen. Viele Leute aus dem Ort mögen es. In den letzten Wochen wurde die Lichtung aufgeforstet. Die wachsenden Laubbäume werden bald das von der Sonne geflutete Plätzchen zum Verschwinden bringen.

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Der schmale Steig geht über in einen hauptsächlich von Bauern und Jägern benutzten Feldweg, führt unter zwei aufgeregt knisternden Hochspannungsleitungen hindurch, vorbei an einigen großen Bauernhöfen, die wie ein kleines Dorf zusammenstehen. Viele Ortsnamen in meiner Gegend enden mit »-ing«. Es sind Siedlungsnamen aus der Zeit der Bajuwaren, die im 6. Jahrhundert hier heimisch wurden. Die Ortsnamen setzen sich aus zwei Teilen zusammen, dem Personennamen des Grundherren und der Nachsilbe »-ingen« oder »-ing«, was so viel heißt wie »die zu ihm Gehörenden«. Wie zum Beispiel Diepolding.