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Hermann Ehmann

Münchner Kollegium

Kriminalroman

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Zum Buch

Tod nach Schulschluss Drei Tage vor Beginn der Pfingstferien findet ein Spaziergänger die Lateinlehrerin eines Gymnasiums erstochen am Waldrand nahe einem idyllischen Badesee auf. Am ersten Ferientag wird eine weitere Oberstudienrätin auf bestialische Weise mit neun Messerstichen beim Joggen ermordet. Zwei tote Lehrerinnen mit auffälligen biografischen Parallelen – das neu zusammengestellte Ermittlerteam um Nadine Lange und Simon Sonnleitner von der Kriminalpolizeiinspektion München-West steht vor einem Rätsel. Als die Beamten in der elitären Vorzeigeschule ermitteln, stoßen sie zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Nach und nach decken sie haarsträubende Missstände auf – Willkür, Mobbing, Vorteilsnahme und Intrigen sind nur die Spitze des Eisbergs. Während sie sich dem eigentlichen Motiv annähern, plant der Täter minutiös seinen dritten Mord …

Dr. Hermann Ehmann, geb. 1964, schrieb mit 13 Jahren seinen ersten Jugendkrimi, woraufhin ihm seine Deutschlehrer am humanistischen Gymnasium München nie mehr eine gute Aufsatznote gaben. Nach dem Abitur moderierte er beim Rundfunk und schrieb für Zeitungen. Bereits während seines Psychologie-, Philologie- und Pädagogikstudiums veröffentlichte er seine ersten Bücher. Seit seiner Promotion 1989 unterrichtet er mit Leidenschaft an höheren Schulen und gehört zu der Spezies Lehrer, die auch mal „Fünfe grade sein lassen“ können. 1998 heiratete er seine Frau Brigitte, der zuliebe er mit dem gemeinsamen Sohn an den Münchner Stadtrand zog, wo er viel mit dem Radl unterwegs ist und die Seen genießt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © birdys / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5912-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

»Alles geben Götter, die unendlichen,
ihren Lieblingen ganz.
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.«

Johann Wolfgang von Goethe, 1831

*

Die helle Glocke der etwas in die Jahre gekommenen Friedhofskapelle bimmelte lautstark. Es wehte ein eisiger Spätherbstwind, vereinzelt mischten sich Schneeflocken unter den seit Tagen anhaltenden Dauerregen. Die Trauergemeinde, die sich an diesem tristen Novembernachmittag vor der Aussegnungshalle des kleinstädtischen Friedhofs eingefunden hatte, fror.

Die seitliche Sakristeitür öffnete sich und der Pfarrer schritt, flankiert von zwei Ministrantinnen, bedächtig zu dem mit Chrysanthemen, weißen Rosen und Nelken geschmückten Vorplatz hinüber. Nach einem bedeutungsvollen Rundumblick, bei dem er in viele bekannte Gesichter sah, ergriff er mit tiefer, ernster Stimme das Wort:

»Liebe Angehörigen, liebe Trauergemeinde, wir sind heute zu einem traurigen Anlass zusammengekommen. In tiefer Betroffenheit und Demut nehmen wir Abschied von unserem geliebten Mitbruder Benjamin Sellmeier, der leider viel zu früh von uns gegangen ist. Ein junges Leben wurde vorzeitig seiner irdischen Vollendung zugeführt. Mit unserer menschlichen Begrenztheit werden wir nie ergründen können, was ihn dazu getrieben haben mag, sein Leben bereits in seinem 14. Lebensjahr, in der vollen Blüte seiner Jugend, in freier Entscheidung an seinen Schöpfer zurückzugeben. Für uns ist es unbegreiflich, wie es so kommen konnte. Uns bleibt nur, es zu akzeptieren. Doch wir sind außerstande, es zu erfassen.«

Der Priester betonte jedes Wort. Er atmete tief durch, blickte in die Runde. Aus der Richtung, wo Benjamins Mitschüler standen, meinte er Grummeln zu vernehmen. In den Augenwinkeln sah er in jugendliche Gesichter, auf denen sich Trauer, Verzweiflung und Leere spiegelten. Er fuhr fort:

»Von Augustinus stammt der Spruch: ›Unsere Toten sind nicht abwesend, nur unsichtbar. Sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Trauer.‹ – Ja, wir sind heute unsagbar traurig. Vielleicht mag uns ein kleiner Trost sein, dass wir glauben, dass der irdische Tod nicht das Ende von allem ist. Jesus Christus versichert uns: ›Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.‹«

Er pausierte erneut, spielte mit der Wirkung der Stille, ehe er fortfuhr: »Wir dürfen hoffen, dass Benjamins irdische Leiden nun ein Ende gefunden haben und er den ihm vorbestimmten Platz im himmlischen Paradies einnehmen wird. Dieser wird im Herzen Gottes sein. Das schönste Denkmal, was ein Mensch bekommen kann, steht im Herzen seiner Mitmenschen. Ein Teil von ihm wird weiterleben – in unseren Erinnerungen, unseren Gedanken, unserem Innersten … Dennoch: Sein allzu frühes Dahinscheiden lässt uns fassungslos zurück. Wer ihn kannte … oder besser: Wer das große Glück hatte, ihn kennen zu dürfen, wird unschwer nachvollziehen können, wie tief der Schmerz und der Verlust ist, den wir heute alle empfinden. Benjamin wird eine tiefe Lücke hinterlassen. Eine Lücke, die nicht zu schließen sein wird.«

Einige von Benjamins Mitschülerinnen fingen zu weinen an. Auch seine Mutter und seine Schwester in der ersten Reihe wischten sich Tränen aus den Augen. Der Vater saß gefasst daneben und strich behutsam über die Hand seiner Frau.

»Eines dürfen wir ganz gewiss sein: Die Liebe ist stärker als der Tod. Sie ist heller als alle Dunkelheit. Das göttliche Licht der Hoffnung leuchtet tief hinein in unsere geschundenen Seelen. Jenes Band, das uns unverbrüchlich verbindet, ist selbst über die Schwelle des Todes hinaus lebendig. Unsere Hoffnung ist wie ein Sonnenstrahl, der in ein trauriges Herz zu dringen vermag. Denn was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht verlieren.«

Die kräftig gebaute Oberministrantin schwenkte das Weihrauchfass so leidenschaftlich, als ginge es darum, den Teufel höchstpersönlich zu verscheuchen. Die Schneeflocken wurden dichter.

»Und so gehen wir nun hin und übergeben die sterbliche Leibeshülle unseres Freundes und Bruders ihrer letzten Bestimmung. Wie sagte der Apostel Paulus: ›Was du säst, du säst nicht den Leib, der werden soll, vielmehr ein nacktes Korn, es sei von Weizen oder von einem anderen Samen. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie Er gewollt hat.‹ Nicht das Samenkorn wird auferstehen, sondern die aus ihm hervorgegangene Frucht.«

Als sich der Leichenzug langsam hinter dem Sarg in Bewegung setzte, löste sich ein einzelner, schmächtiger Junge aus der Schülergruppe. Gebückt, aber sehr zielstrebig ging er allein zu dem großen hölzernen Friedhofskreuz, das auf einer leichten Anhöhe stand, umfasste den Stamm mit den Armen und kniete davor nieder. Mit bloßen Händen vergrub er einen Zettel in der Erde, auf den er geschrieben hatte: »Only the good die young … see you, Benni!« – Er weinte bitterlich.

Zitat

»Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in der Klasse, und genau betrachtet, hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres vom anderen leidet, der Lehrer vom Schüler oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist, und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden.«

Hermann Hesse, Unterm Rad, 1917

*

»Unser Schulsystem produziert leidenschaftslos gewordene Pflichterfüller, denen man das Wesentliche aberzogen hat: die Freude am Lernen.«

Prof. Dr. Gerald Hüther, Hirnforscher, 2017

Zweieinhalb Jahre danach

»Nichts ist gewisser als der Tod,

nichts ungewisser als seine Stunde.«

Anselm von Canterbury, Theologe und Philosoph

(1033–1109)

Dienstag, 30.05.1017,
vier Tage vor Beginn der Pfingstferien

Fast Ferien. Endlich. Die letzten Wochen waren mal wieder reichlich stressig gewesen. Vor Pfingsten kam immer alles zusammen: Abiturprüfungen, Fachbesprechungen, endlose Notenkonferenzen. Dazu Leistungsnachweise in Unter- und Mittelstufe mit zahllosen Korrekturen und zu allem Überfluss Dutzende nerviger Krisengespräche mit besorgten Eltern, die in der zweiten Hälfte des Schuljahres so langsam zu begreifen schienen, dass sie jetzt mal aktiv werden mussten, wenn ihre Sprösslinge das Klassenziel vielleicht doch noch schaffen sollten.

Rike Gruber fühlte sich urlaubsreif. Nur noch drei Schultage, die kriege ich auch noch rum, dachte die 54-jährige Oberstudienrätin für Latein, Spanisch und Deutsch, schloss sorgfältig die Türe ihres gepflegten, in einer Münchener Vorstadtsiedlung gelegenen Reihenhauses ab und stieg auf ihr schneeweißes Mountainbike. Die nächsten beiden Wochen habe ich endlich mal wieder Zeit zu lesen. Diesmal nehme ich mir aber wirklich den Megaseller »Nächste Ausfahrt Zukunft« von Ranga Yogeshwar vor, plante sie. Vielleicht gehe ich auch mal wieder ins Theater oder ins Kino – »das Pubertier« soll ja recht amüsant sein, jedenfalls hatte es super Kritiken.

In ihrem eng anliegenden hellroten Radler-Leuchtfarben-Outfit sah sie deutlich jünger aus. Ein paar Pfündchen zu viel um die Hüften, aber durchaus noch im grünen Bereich, wie sie fand. Für ihr Alter war sie sehr attraktiv, insbesondere wenn sie sich mit ihren übergewichtigen oder aber zur Magersucht neigenden Kolleginnen verglich. Auf einen Helm verzichtete sie aus Eitelkeit, die Dinger sahen einfach zu albern aus. Außerdem liebte sie es, wenn der Fahrtwind durch ihr schulterlanges rotbraunes Haar strich, das in den letzten Jahren leider unübersehbare graue Strähnchen bekommen hatte. Dieser Alterserscheinung wirkte sie gelegentlich mit einer sanften weinroten Tönung entgegen, was ihr ein leicht anzügliches Flair gab und von manchen hinter vorgehaltener Hand mit verständnislosem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde.

Sie testete die Bremsen, die sie letzte Woche in der Werkstatt hatte nachstellen lassen, weil sie ständig gerieben hatten. Jetzt quietschte nichts mehr. Gut gelaunt fuhr sie los. Zuerst ein paar Kilometer durch das Gewerbegebiet von Freiham-Bahnhof ortsauswärts, dann weiter über Land auf dem schmalen Verbindungssträßchen parallel zur S-Bahn-Linie nach Aubing.

Sie ließ den Aubinger Lohenwald links liegen und bog über den beschrankten S4-Bahnübergang rechterhand in einen sonnendurchfluteten Feldweg ab, wie es sie vor den Toren Münchens zu Hunderten gibt. Das Wetter hatte es gut gemeint, die Sonne wärmte an diesem Mainachmittag schon ganz ordentlich. Ein herrlich duftendes Blumenmeer in Bunt, das an Rike Gruber vorbeiflog. Löwenzahn, Gänseblümchen, Butterblumen und verführerisch duftender Klatschmohn sprießten aus allen Ecken. Hier konnte sie abschalten, hier bekam sie den Kopf frei. Hier war sie sie selbst. Keine rotzfrechen Schülersprüche, keine zermürbenden Auseinandersetzungen mit Fachkollegen, keine verzweifelten Eltern, die jede ihrer Korrekturen dreimal hinterfragten. Sie drosselte das Tempo, fuhr an einer kleinen Marienkapelle vorbei und kam an den Gröbenbach, der sich inmitten eines Birkenhaines kilometerlang durch die Landschaft schlängelte. Ihr Zwischenziel war der Langwieder See in sechs Kilometern Entfernung – ein in den letzten Jahren immer beliebterer Treff für Naturfans und Verliebte vor den Toren der Großstadt. Um diese Jahreszeit war er zum Baden noch zu kalt, das wusste sie, aber die ehemalige Baggergrube schmiegte sich so herrlich in die wunderbare Vogelschutzlandschaft ein, dass sie dort eine längere Picknickpause machen wollte. Ein Klavierkonzert in der Philharmonie wäre auch mal wieder ganz nett, sinnierte sie, während sie kräftiger in die Pedale trat. Es war schon eine ganze Zeit her, dass sie sich diesen Luxus gegönnt hatte. Oder eine Open-air-Serenade im Schloss Nymphenburg mit anschließender Einkehr in der königlich-bayerischen Schloss-Schänke? Gastierte nicht gerade Lang Lang, jener charismatische chinesische Pianist, in München? Das wäre ein Ohren- und Augenschmaus …

Jede Weggabelung war ihr vertraut. Wie oft war sie hier schon vorbeigekommen! Jetzt nach dem langen, kalten Winter protzte die saftige Natur in ihrer ganzen Schönheit. Der Schotterweg führte durch ein kleines Nadelwäldchen, ehe sich der letzte Kilometer in sanften Serpentinen zum See hinunterschlängelte. Sie konnte bereits das Blau des Wassers durch die dicht gewachsenen Bäume hindurchschimmern sehen. Seitdem sie vor einer Viertelstunde die Landstraße verlassen hatte, war ihr keine Menschenseele mehr begegnet. Genau das, was sie suchte: Ruhe und Einsamkeit.

Hm, eigentlich könnte ich von Langwied noch weiter in Richtung Pilsensee oder Ammersee fahren, plante sie. Die reizenden Seebiergärten an den Uferpromenaden in Hechendorf oder Herrsching haben sicherlich schon geöffnet. Vielleicht ergibt sich ja was mit einem netten Single-Herrn, wer weiß …

Jetzt noch eine letzte Biegung. Da erblickte sie das menschliche Hindernis – in ganzer Breite versperrte es völlig unerwartet den Weg. Mit aller Kraft quetschte Rike Gruber die beiden Bremsgriffe, dass ihre Handknöchel schmerzten. Sofort brach das Hinterrad aus, die feinen Steinchen unter den Rädern knirschten bedrohlich, eine gute Sekunde später brachte sie ihr Gefährt zum Stehen. Puh, noch mal gut gegangen.

»Hey! Was soll das?« – Rike Gruber war total erschrocken. Und verärgert. Wie leicht hätte das einen sehr unangenehmen Zusammenprall geben können! »Sie können doch hier nicht einfach mitten …!« – Sie stockte im Satz. In diesem Augenblick erkannte sie ihr Gegenüber. Erleichtert atmete sie auf.

»Ach, du bist es! Mensch, das hätte aber ganz schön ins Auge gehen können!« Sie zögerte. Sie wusste nicht warum, aber plötzlich kam ihr die Situation komisch vor. »Was … was willst du denn hier?«

Anstatt einer Antwort holte die Person mit dem linken Arm weit aus und hämmerte mit einem langen spitzen Gegenstand frontal auf die völlig perplexe Radfahrerin ein. Rike Gruber war so perplex, dass sie noch nicht mal eine Ausweichbewegung machen konnte.

»Eeey, hör auf! Was zum Teufel soll das denn?«, kreischte sie in Todesangst, während sie an sich hinabschaute und instinktiv zu Fuß zu fliehen versuchte. Unterhalb ihres linken Brustkorbs vernahm sie einen stechenden Schmerz, wollte noch etwas sagen, war jedoch außerstande. Sie brachte nur Röcheln, begleitet von einer schrägen Grimasse, hervor und merkte, wie sie in sich zusammensank wie ein Betrunkener. Anstatt von ihr abzulassen, stach die Person schwungvoll ein zweites und drittes Mal zu, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt erst begriff Rike Gruber so richtig mit allen Sinnen, was hier gerade vor sich ging. Sie versuchte sich instinktiv aufzubäumen, zu wehren, wegzulaufen, doch ihr fehlte zu allem die Kraft.

»Hilfe, Hi…!«, versuchte sie zu schreien, doch es kam nur ein gedämpftes Gurgeln.

Wie im Rausch stach die Person weiter zu: ein drittes Mal, ein viertes Mal … Da wurde es der Lehrerin milchig-weiß vor Augen, die Umgebung verschwamm zusehends, ihre Hände, die ihr Gegenüber beherzt packen wollten, griffen ins Leere, wurden schlaff. Das Letzte, was sie noch wahrnahm, war, dass sie in die Knie sank und alles an ihr ganz leicht wurde.

O Gott, so also fühlt es sich an, wenn …, war alles, was sie noch denken konnte. Dann wurde alles in ihr seltsam leer und schlaff. Die Person hieb noch fünf weitere Male zu. Anschließend wischte sie das blutverschmierte Messer fein säuberlich an einem mitgebrachten Papiertaschentuch ab, steckte es zusammen mit dem Taschentuch in die Seitentasche ihres Fleeceshirts und setzte zu Fuß ihren Weg fort, als sei nichts geschehen.

*

Kriminaloberkommissarin Nadine Lange stand nach ihrem zweieinhalbstündigen Lauf- und Fitnesstraining am Olchinger See gerade unter ihrem neuen Multifunktions-Regenduschkopf und genoss den warmen Wasserstrahl auf ihrer nackten Haut, als im Flur das Telefon klingelte.

Optimaler Zeitpunkt! Wer das wohl ist?, überlegte sie. Flink sprang sie aus ihrer selfmade-Duschkabine, die sie erst vor wenigen Tagen selbst angebracht hatte und die leider nicht ganz dicht war, warf sich ein Handtuch über und lief hinüber zum Telefon in den Flur. Dort hörte sie ihren Kollegen Simon Sonnleitner auf den Anrufbeantworter sprechen.

Die 32-Jährige hatte sich vor zwei Jahren aus dem sächsischen Zwickau nach München versetzen lassen, nachdem sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte und dringend auch räumlich Abstand brauchte. Doch bei der stark männerdominierten Münchner Kripo, wo ein patriarchalischer Wind wehte, hatte sie als »Ossi-Tusse« von Anfang an einen schwierigen Stand gehabt. Immer wieder hatten die Kollegen sie spüren lassen, dass die »Zuagroaste« am Weißwurstäquator fehl am Platz war. Seit drei Monaten nun war die Polizeidienststelle München-West am Rande der Landeshauptstadt ihre neue Heimat geworden. Hier war sie hervorragend aufgenommen worden, wo sie sich als einzige Kandidatin auf eine vakante Stelle bei der Mordkommission beworben hatte. in den Stadtteilen Pasing, Allach und Menzing mit den historischen Wurzeln tickten die Uhren noch gemütlicher. Alle waren froh, mit ihr eine hungrige junge – und noch dazu hübsche – Kollegin gewonnen zu haben. Denn die meisten strebten doch eher in Richtung Metropole. Hiervon war sie erst einmal gründlich kuriert. Sie nahm den Hörer ab.

»Simon, was gibt’s?«

»Ein Glück, dass du da bist, Nadine!«

Kriminalhauptkommissar Simon Sonnleitner, 33, war die Erleichterung anzuhören. »Sorry, ich weiß, du hast deinen freien Tag, aber der Kaindl hat sich krankgemeldet. Und ausgerechnet heute geht’s hier rund. Am Morgen ein Juwelier-Überfall mit Todesfolge, wo wir mit fünf Mann stundenlang beschäftigt waren. Du kannst dir vorstellen, was hier alles liegen geblieben ist. Und jetzt noch ein Mord, ich komm mir langsam vor wie in Schwabing – dabei wollte ich doch heute früher Feierabend machen, ich hab doch Karten für die Allianz-Arena: 1860-Relegationsspiel, wird wohl nix.« Er seufzte. »Frauenleiche nahe am Langwieder See. Höchst unappetitlich. Sieht fast wie eine Hinrichtung aus. Da dachte ich, ob du vielleicht ausnahmsweise …«

»Kein Problem. Sag mir einfach, wo!«

Klar, dass Nadine Lange ihren Kollegen nicht hängen lassen würde. Erstens war er ihr Lieblingskollege, und zweitens wusste sie sowieso nicht, was sie mit dem Rest des Nachmittages in ihrem möblierten Singleapartment im fünften Stock des Langwieder Hochhauses anfangen sollte, das sie seit einigen Wochen angemietet hatte. »Wohnen mit Ausblick!«, so hatte das Maklerangebot gelautet. Der Ausblick freilich bestand darin, dass man auf das 50 Meter entfernt stehende nächste Hochhaus sah. Aber sie war heilfroh gewesen, überhaupt zum Zug gekommen zu sein, denn mit ihr hatten mindestens 25 andere Bewerber die Wohnung am westlichen Münchner Speckgürtel besichtigt. Den Ausschlag für sie hatte gegeben, dass das ältere Vermieter-Ehepaar gerne an eine alleinstehende Polizistin vermieten wollte. »Da hat man wenigstens keinen Ärger!«, meinten sie.

Nadine Lange ließ sich den genauen Fundort der Leiche beschreiben, wenige Minuten später saß sie in ihrem metallicgrünen Ford Fiesta, den sie am Vortag umgemeldet hatte, und fuhr zum zehn Minuten entfernten Tatort. Sie kannte die romantische Seegegend rund um die aufstrebenden Vorstädte Langwied, Gilching und Freiham mit ihren Satellitenburgen, aber auch den zahlreichen anheimelnden Reihenhaussiedlungen wie ihre Westentasche – hier ging sie öfters joggen. Inmitten der landschaftlichen Idylle lag völlig deplatziert dieser blutüberströmte Frauenkörper auf dem Schotterweg. Der Tatort war abgesperrt. Kollegen von der Spurensicherung suchten in der Peripherie nach Spuren oder Gegenständen. Neben der Toten kniete die Polizeipathologin Dr. med. Dorothea Thalhammer in ihrem weißgelben Overall. Die Rechtsmedizinerin galt als sehr korrekt. Erst kürzlich hatte sie ein lukratives Angebot einer Privatklinik am Starnberger See ausgeschlagen, da sie ihre Arbeit bei der Polizei leidenschaftlich gerne verrichtete. Hier konnte sie mithelfen, den einen oder anderen Bösewicht hinter Schloss und Riegel zu bringen und so die Welt ein klein wenig besser zu machen, wie sie gern zu sagen pflegte.

Hauptkommissar Simon Sonnleitner, der sich mit einem älteren, etwas hageren Mann unterhielt, machte ein ernstes Gesicht. Nadine Lange gesellte sich zu ihrem groß gewachsenen, schlanken Kollegen, der wie immer gut gekleidet war – heute dunkelbrauner Sommeranzug mit hellem Hemd, wie immer ohne Krawatte. Letztere hasste er.

Der Anblick eines gewaltsam getöteten Menschen ließ Nadine Lange auch nach fünf Jahren bei der Mordkommission noch immer nicht kalt. Trotz der angenehmen Frühlingstemperaturen fröstelte sie.

»Die hat’s ja voll erwischt«, stellte sie leicht angeekelt fest.

»Super, dass du so schnell gekommen bist!«

Sonnleitner war sichtlich erleichtert, die Verantwortung teilen zu können. »Du siehst ja selber: mehrere ungezielte Messerstiche. Der Dame wurde vermutlich gezielt bei ihrem Fahrradausflug aufgelauert, wenn’s nicht eine völlig spontane Tat eines Irren war. Da hat ihr jemand die wärmende Frühlingssonne nicht gegönnt.«

Typisch Simon!, dachte Nadine Lange. So überspielte er immer seine Gefühle. Im Kommissariat galt der durchtrainierte Sonnleitner mit den schulterlangen braunen Naturlocken als sehr sensibel, aber auch als analytischer Kopf. Und gerade diese seltene Kombination machte ihn zu einem erstklassigen Polizisten, wie sie fand. Kaum einer vermochte sich so hervorragend in andere Menschen hineinversetzen wie er. Aus ihrer Sicht eine absolute Glücksbesetzung.

»Zeugen?«

»Nein, nichts. Der Herr Bleifuß hier«, er zeigte auf den leicht ausgemergelten Mann neben sich, der immer noch ungläubig den Kopf schüttelte und seinen Horrorfund kaum zu fassen schien, »der hat die Tote bei einem Spaziergang gefunden und sofort die Kollegen gerufen. Er geht hier bei schönem Wetter jeden Tag nachmittags spazieren.«

»Spuren? Tatwaffe?«

»Bis jetzt Fehlanzeige. Die Jungs sind dran. Den Ritchie mit seinem Suchhund haben wir schon informiert. Das Fahrrad kommt direkt in die KTU. In ein paar Tagen wissen wir mehr.«

Nadine Lange betrachtete die Tote, die von Einstichen übersät vor ihr lag. »Weiß man schon, wer die Frau ist?« Sie räusperte sich: »Äh … wer sie war

»Keine Ahnung. Bis jetzt ist noch keine Vermisstenmeldung eingegangen. Ausweis hatte sie keinen mit. Wir wissen noch gar nichts. Aber das kann sich jederzeit ändern, die Jungs an der 110 sind informiert.«

*

Eineinhalb Stunden später saßen sie in ihrem Zwei-Mann-Büro im Kommissariat und versuchten sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Der Suchhund hatte in der Umgebung außer zwei durchgewalkten Kaugummis, die kriminaltechnisch untersucht wurden, keine verwertbaren Hinweise gefunden. Geschweige denn ein potenzielles Mordwerkzeug. Auch die Aussage des Finders gab nicht viel her: Gegen 15.30 Uhr hatte er die Tote entdeckt und sofort per Handy den Notruf gewählt. Geatmet habe sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Gesehen oder gehört hatte er nichts. Die Polizeipathologin hatte in ihrer ersten Begutachtung festgestellt, dass der Tod zwischen 14.30 und 15 Uhr eingetreten sein musste. Um diese Tageszeit war die bewaldete Gegend rund um den See zwar nie besonders frequentiert, aber angesichts des guten Wetters hätte es gut sein können, dass jemand zumindest in der Nähe war. Der Mörder musste außerordentlich gute Nerven gehabt haben. Oder einen unheimlichen Druck.

»Wenn ich so etwas planen würde, würde ich mir dann nicht eher eine risikolosere Location aussuchen?«, dachte Sonnleitner laut. »In Seenähe besteht doch immer die Gefahr, jemandem über den Weg zu laufen, der mich später wiedererkennt.«

Seine Kollegin nahm den Gedanken auf: »Wir sollten einen Zeugenaufruf in der Lokalredaktion vom ›Münchner Merkur‹ und bei ›Radio Top FM‹ veröffentlichen – ich kümmere mich gleich darum. Vielleicht wurde unser Täter oder unsere Täterin ja tatsächlich beobachtet!«

»Ja, mach das. Gute Idee.«

Während Nadine Lange das Protokoll mit dem Zeugen abtippte und die Mediennummern heraussuchte, packte Sonnleitner seine Sachen zusammen. »Mir reicht’s für heute. Ich muss mich mal downcoolen.«

Mit diesen Worten verließ der Hauptkommissar das Büro. Zwei Tote bis 16 Uhr – so hatte er sich den Tag nicht vorgestellt gehabt, als er am Morgen gut gelaunt aus seinem Bett gesprungen war und sich auf das Fußballspiel gefreut hatte. Jetzt war ihm die Lust darauf vergangen. Außerdem war es bereits zu spät. Selbst wenn er wie der Teufel fahren würde, könnte er es höchstens noch für die zweite Halbzeit schaffen. Daher ließ er das Allianz-Arena-Ticket verfallen, holte sich beim Stammitaliener eine Pizza Funghi und fuhr direkt nach Hause, um sich den vielleicht letzten Zweitliga-Auftritt »seiner Löwen« alleine mit einer Flasche Bier in seiner kleinen Altbauwohnung im Fernsehen anzuschauen. Er streckte sich auf dem Sofa aus und verschlang eine ganze Tüte Chili-Chips. Zu allem Überfluss verlor 1860 München das Entscheidungsmatch und musste zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte in die Regionalliga absteigen.

Mittwoch, 31.05.2017, 8.13 Uhr

Ohrenbetäubendes Geplärre hallte durch den mit knalligen Aquarellen geschmückten Gang des Schulhauses. 26 Kinder der Klasse 7d kreischten durcheinander, was die jugendlichen Lungen hergaben. Fast schien es so, als hätten sie verabredet, dass derjenige, der am durchdringendsten brüllte, einen Preis bekommen solle. Die Schuluhr in der Aula des Robert-Koch-Gymnasiums zeigte 8.13 Uhr. Der Unterricht begann hier seit 34 Jahren pünktlich mit dem Gong um 8 Uhr. Oberstudiendirektor Johannes Geiger, Lehrer für Mathematik, Physik und Informatik, war das sehr wichtig. Er hasste Unpünktlichkeit. Bei ihm herrschte seit jeher Ordnung und Disziplin. Naja, mit der Disziplin war es die letzten Jahre etwas schwierig geworden, seit er mehrere junge Lehrkräfte hatte einstellen müssen, weil einige seiner Alterskollegen ihre vorzeitige Pensionierung beantragt hatten. Manche der Referendare nahmen es mit der Pünktlichkeit nicht so genau, einige schienen sich – zu seinem Unmut – sogar mit den Schülern verbündet zu haben. Kein Wunder, dass ihnen diese teilweise auf der Nase herumtanzten.

Doch diesmal hatte die 7d in der ersten Stunde keinen Referendar, das wusste er genau, weil die Refs heute Seminartag hatten. Als Geiger auf seiner morgendlichen Runde durch sein Schulgebäude, vom Lärm im ersten Stock angelockt, dort ankam, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Sechs bis acht der 13-jährigen Jungen sprangen wie vom wilden Affen gebissen durcheinander, warfen Schultaschen wie Bälle hin und her und pufften einander. Zwar eher kameradschaftlich denn feindselig, aber überaus laut. Scheinbar kämpfte hier gerade jeder gegen jeden, während eine Handvoll Mädchen hüpfend daneben stand und lautstark anfeuerte.

»Ru-he!!«, übertönte Geigers tiefer Bass die lärmende Schülerschar. »Hallo, geht’s noch? Wo ist euer Lehrer? Wen hättet ihr jetzt?«

Stille. Von einer Sekunde auf die andere. Wo gerade noch markerschütternder Kinderlärm die heiligen Hallen des Vorzeigegymnasiums, das in den 1970er-Jahren erbaut worden war, erfüllt hatte, konnte man jetzt die berühmte Stecknadel fallen hören. 52 Teenageraugen starrten den 1,90 Meter großen, hageren Mann in seinem dunkelgrauen C&A-Anzug an wie ein Wesen vom anderen Stern. Immerhin: Man hatte Respekt vor dem 64-Jährigen mit dem schütteren Haar und dem stets viel zu eng geschnürten Gürtel, der sein Studium mit einer Durchschnittsnote von 0,9 abgeschlossen hatte. Ein blondes dünnes Mädchen trat mutig vor und sagte selbstbewusst: »Wir warten auf Frau Gruber! Sie ist aber noch nicht gekommen. Dabei schreiben wir morgen eine Schulaufgabe. Kommen Sie jetzt zu uns?«

»Soso, Frau Gruber …« Geiger staunte. Ausgerechnet die. Eine seiner zuverlässigsten und besten Lehrerinnen. Das war absolut untypisch. In den ganzen acht Jahren, wo er hier Schulleiter war, hatte er noch nie mitbekommen, dass sie einmal zu spät gekommen oder aber den Unterricht zu früh beendet hätte. Ein Vorbild an Pünktlichkeit und Disziplin.

»Wissen Sie, ob sie krank ist?«, fragte das Mädchen selbstbewusst nach. Und: »Können Sie eigentlich Latein?«

Zu viele Fragen für Geiger. Er überlegte, ging im Geiste seinen Terminplan für den Vormittag durch, dann verteilte er Aufträge: »Du gehst ins Sekretariat. Frau Schwanthaler soll Frau Gruber anrufen, vielleicht ist sie aufgehalten worden. Sag ihr, dass ich so lange Aufsicht führe und im Notfall hier zu erreichen bin. Verstanden?«

Anstatt einer Antwort hüpfte das Mädchen schon den Gang entlang, während Geiger das Klassenzimmer aufsperrte und die Schüler sich ihre Plätze suchten. Doppelstunde Latein, das hatte ihm noch gefehlt! Mehrmals blickte der Direktor verstohlen auf seine Armbanduhr. Wo blieb bloß Frau Gruber? Die Schülerin, die er ins Sekretariat geschickt hatte, hatte ihm gemeldet, dass sie telefonisch nicht erreichbar gewesen war. Seltsam.

In der großen Pause fing ihn Frau Schwanthaler direkt ab. »Chef, Frau Gruber geht nicht an ihr Handy. Im Lehrerzimmer hab ich auch schon rumgefragt, aber keiner weiß etwas. Komisch, nicht?«

In der Tat. Soweit er wusste, war Frau Gruber alleinstehend und kinderlos. Sie lebte ausschließlich für ihren Beruf. Im Kollegenkreis galt sie als sehr engagierte, leicht extrovertierte Pädagogin, manche hielten sie für übermotiviert. Erst letzte Woche hatte es in der Abiturkonferenz wieder einen heftigen Streit über ihre dominante Haltung gegeben, Kollegen hatten sich regelrecht angeschrien und er war kaum imstande gewesen, die erhitzten Gemüter zu besänftigen – konnte das mit ihrem Nichterscheinen zusammenhängen? Er griff zu seinem Telefon und wählte die Nummer des Hausmeisters: »Herr Dorian«, sprach er in den Hörer, »wo sind Sie gerade?«

Dem Handwerker, der erst vor zwei Wochen über die gemeinnützige Integrationsfirma »Weiße Krähe e.V.« befristet eingestellt worden war, schwante nichts Gutes. Wenn sein Chef so fragte, ging es sicher um zusätzliche Arbeit. Dabei hatte er schon alle Hände voll zu tun und musste sich nach seiner Langzeitarbeitslosigkeit erst wieder langsam an regelmäßige Tagesabläufe gewöhnen. Deshalb versuchte er seine leicht gereizte Stimmung zu verbergen: »Im Physiksaal. Ich stehe gerade auf der Leiter und wechsle defekte Leuchtstoffröhren aus. Gleich muss ich noch in den Chemiesaal.«

»Hm, das ist natürlich wichtig«, sah Geiger ein, »aber ich hätte einen kleinen Anschlag auf Sie vor, Herr Dorian. Könnten Sie vielleicht alles stehen und liegen lassen und mal kurz bei der Frau Gruber zu Hause vorbeifahren! Die fehlt unentschuldigt und ich mache mir große Sorgen. Das ist bei der noch nie vorgekommen. Sie sind meine letzte Rettung, ich kann leider nicht weg.«

Der Hausmeister schnaufte in sich hinein. So würde er nie weiterkommen! Aber was blieb ihm anderes übrig, als dem Wunsch seines Chefs zu entsprechen. Schließlich war er heilfroh, nach seiner mehrjährigen Alkoholtherapie endlich wieder eine reguläre Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gefunden zu haben. »Alles klar, wird gemacht. Mit den Lampen wird’s dann heute aber nix mehr, weil danach wieder naturwissenschaftlicher Unterricht hier ist. Ich hab mir gerade die beiden Lückenstunden rausgegriffen.«

»Kommt nicht drauf an«, gab sich Johannes Geiger großzügig. »Ich warte dann auf Ihren Anruf.« Er legte auf und wickelte sein Pausenbrot aus. Endlich ein paar Minuten Ruhe.

Eine Viertelstunde später meldete sich Herr Dorian. »Hier ist niemand. Eine Nachbarin sagt, dass sie Frau Gruber zuletzt gestern Mittag gesehen hat.«

Geiger stutzte. Das war wirklich eigenartig. »Dankeschön. Und nochmals vielen Dank für Ihre Mühe, Herr Dorian«, sagte er. »Sie können dann wieder zurückkommen.«

Geiger grübelte: Was, wenn etwas Schlimmes passiert war? Er nahm die Personalakte seiner langjährigen Mitarbeiterin aus dem großen Wandschrank und suchte nach Kontaktdaten von Angehörigen. Die schien es nicht zu geben. Geiger blätterte weiter. Eine klassische Lehrerlaufbahn mit den üblichen Dienstbeurteilungen und Beförderungen. Dann jedoch, als er schon wieder zuklappen wollte, stieß er auf einen Eintrag, der bereits mehrere Jahre zurücklag. Geiger hatte die Sache längst verdrängt gehabt. Tatsächlich: Ja, da war mal eine sehr, sehr unangenehme Sache gewesen. Der Oberstudiendirektor überlegte kurz, dann heftete er – von einem spontanen Impuls geleitet – die doppelseitige Notiz aus. Er schaltete den Aktenvernichter unter seinem Schreibtisch an und sah zu, wie die beiden Seiten geräuschvoll zerkleinert wurden und in dem schwarzen Auffangbehälter verschwanden. Niemand Außenstehender musste davon erfahren. Wer weiß, was für falsche Schlüsse aus dieser Lappalie gezogen wurden, wenn er nach einer Vermisstenmeldung womöglich die Polizei im Hause hatte und die Beamten herumschnüffelten! Immerhin hatte diese Sache ihn seinerzeit fast seinen Posten als Schulleiter gekostet – das war weiß Gott ärgerlich genug gewesen und musste nun wirklich nicht neu aufgerollt werden. Anschließend stellte er die Akte in den Wandschrank zurück und schloss diesen sorgfältig ab. In Schubladen suchte er gezielt nach weiteren Notizzetteln und übergab diese ebenfalls dem Reißwolf.

Jetzt ist hier wieder alles clean, freute er sich diebisch. Er wartete noch ein paar Minuten, dann ließ er sich von seiner Sekretärin die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle heraussuchen, um seine Mitarbeiterin als vermisst zu melden. Niemand sollte sagen, er nähme seine Fürsorgepflicht als disziplinarischer Vorgesetzter nicht ernst.

*

Die Person klickte sich durch bis zu Radio TOP FM 106,4. Dieser Lokalsender für den Großraum München, Fürstenfeldbruck, Dachau und Starnberg war ihr absoluter Favorit. Besonders gefiel ihr das Konzept aus aktuellen Regionalnachrichten und den besten Songs aus vier Jahrzehnten, hier langweilte sie sich praktisch nie – auch heute war wieder eine bunte Mischung aus Kim Wilde, Michael Jackson und The Chainsmokers vertreten. Nach den Nachrichten verlas die Moderatorin die Polizeimeldung vom Mord einer Fahrradfahrerin am Langwieder See und verband sie mit dem Zeugenaufruf, dass jeder, der etwas Auffälliges bemerkt hatte, sich doch dringend melden möge.

Die können Aufrufe senden, bis sie schwarz werden, lachte sich die Person ins Fäustchen und erfreute sich an den nächsten Songs, einige davon konnte sie sogar laut mitsingen. Die Person war gut drauf, so befreit wie heute hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Da klingelte das Handy. Anzeige anonym. Die Person zögerte einen Moment, ging dann ran.

»Ja?«

Schweigen.

»Hallo? Wer ist dran?«

Eine Stimme meldete sich: »Sie haben mir einen großen Gefallen getan gestern am See?«

»Wer … wer sind Sie? Woher haben Sie meine Nummer?«

»Unwichtig.«

»Was … was wollen Sie?«

»Nichts. Ich hab nichts gesehen und nichts gehört, ich bin wie Luft …«

»Nochmals: Wer sind Sie? Und was soll das?«

»Egal. Sollte es allerdings eng für mich werden, dann …«

»Ja?«

»… dann wäre ich eventuell gezwungen zu sagen, was ich gesehen habe.«

Die Person schluckte. Überlegte, was sie sagen sollte. Da ertönte auch schon wieder das Freizeichen. Der Gesprächspartner hatte aufgelegt.