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Ulrich Radermacher

Hundsbua

Kommissar Alois Schöns 3. Fall

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Zum Buch

Fataler Irrtum Die elf Monate alte Sophia Christ wird aus dem Kindergarten entführt, doch die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Mutter Katja ist psychisch labil, Vater Clemens verweigert sogar die Zusammenarbeit mit der Polizei. Was haben Drehbuchautor Peter Wächter und seine Frau Fabienne zu verbergen? Wieso nehmen sie die Kriminalbeamten nicht ernst?

Nicht nur Julia, die wie der Franke Martin als frischgebackene Kommissarin ins Team der Münchner Mordkommission zurückgekehrt ist, leidet unter der Tatsache, dass sich die Entführer nicht melden. Ihr Chef Alois Schön muss darüber hinaus eine private Herausforderung bewältigen.

Als Spuren nach Hamburg führen, bittet Hauptkommissar Alois Schön seine ehemalige Stellvertreterin Diana Schubert um Unterstützung. Dennoch spitzt sich die Lage zu. Denn die Entführer scheinen nur ein Ziel zu kennen, das sie hartnäckig und ohne Skrupel verfolgen.

Ulrich Radermacher, geboren 1964 in Trier, studierte BWL in Nürnberg, bevor er 1990 im Münchner Umland eine neue Heimat fand. Seit 1995 ist der Vater von zwei erwachsenen Söhnen als unabhängiger Finanzexperte selbstständig tätig. Mit dem Schreibvirus infizierte er sich im Sommer 2010, seine Leidenschaft für München-Krimis entdeckte er ein Jahr später. »Hundsbua“ ist nach »Saukerl“ und »Schickimicki“ der dritte Teil von Radermachers Krimireihe um die Kommissare Alois Schön und Natascha Frey.

Lesungstermine, Presseartikel und viele weitere Informationen finden Sie auf seiner Website:

www.krimi-muenchen.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schickimicki (2017)

Saukerl (2016)

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Hinter der Rosskastanie

Eltern werden ist nicht schwer …

Das kann ja heiter werden

Hollywood lässt grüßen

Vaterfreuden

Verschollen

Kinder des Zorns

Missachtet

Dumm gelaufen

Versöhnung

Alles nur Show?

Pech gehabt

Von Frau zu Frau

Vergebung

Crisis, what crisis?

Schmetterlinge

Sommerfreuden

Zeit zum Handeln

Momente des Glücks

Eine schwere Entscheidung

Warum nur, warum?

Der Preis der Sehnsucht

Danke

Lesen Sie weiter …

Hinter der Rosskastanie

Das kleine Mädchen schrie, so laut es konnte. Tränen der Anstrengung liefen über ihre zarten Wangen. Der schrille Klang ihrer Stimme stoppte jegliche Aktivitäten in ihrer Umgebung, zog sämtliche Blicke magnetisch an.

Sofort eilte ihr älterer Bruder zum Ende der Rutsche, wo er den Sand seiner Schaufel ins Gesicht des Übeltäters spritzte, bevor er ihn seitlich zu Boden stieß. Noch einmal würde Luca seine Schwester nicht von der untersten Sprosse der Leiter schubsen.

Nun plärrte auch der Vierjährige, und die Erzieherinnen hatten alle Hände voll zu tun, die Knirpse zu beruhigen. Sophia dagegen schien von der Aufregung nicht das Geringste mitzubekommen. Schon kurz, nachdem sie der Vater am Morgen gebracht hatte, waren ihr die Augen zugefallen. Weder das Gebrabbel der anderen Kleinkinder noch der Gesang der Vorschulgruppe hatte sie aufgeweckt. Selbst als man sie in den Bollerwagen gelegt und diesen fernab der spielenden Kinder an einem schattigen Plätzchen hinter der großen Rosskastanie geparkt hatte, hatte sie keinen Mucks von sich gegeben. Immerhin träumte sie nun an der frischen Luft.

Schlapp und ungewohnt blass erschien Kommissarin Natascha Frey an diesem Montag an ihrem Arbeitsplatz in der Hansastraße. Ihre langen blonden Haare, sonst eine Augenweide, hingen lustlos an ihr herab. Wortlos bediente sie sich an der Kaffeemaschine, bevor sie an der Besprechung des Teams teilnahm.

»Diana hat heute früh angerufen, sie ist seit einer Woche wieder im Dienst«, berichtete Alois Schön, der Leiter der Mordkommission, zu Beginn des Meetings. »Ich soll euch schön grüßen.«

Weil ihr Mann seine Karriere in Hamburg fortsetzen wollte, hatte seine Stellvertreterin noch während ihres Erziehungsurlaubs einen Antrag auf Versetzung beim bayerischen Innenministerium gestellt. Und da sich die Hanseaten über eine gut ausgebildete Oberkommissarin aus München freuten, und Diana für ihren Sohn sogar einen Krippenplatz fand, jagte sie nun an Alster und Elbe Verbrecher.

»Wie gefällt’s ihr im hohen Norden?«, meldet sich Julia Neubauer als Erste zu Wort.

»Gut.« Alois Schön machte eine kurze Pause. »Aber a bisserl vermisst sie uns schon.« Er schmunzelte. »Es ist halt doch eine andere Mentalität dort oben.«

»Mir gönners ja amol bsuchn«, schlug Martin daraufhin vor. Der Franke hatte wie Julia sein Studium an der Polizeischule in Fürstenfeldbruck im Frühjahr beendet und trug nun ebenfalls den Titel eines Kommissars. Er hatte sich sehr zu seinem Vorteil verändert: Kontaktlinsen statt Brille, dazu eine neue, flotte Frisur. Darüber hinaus hatte sein Schwärmen für Natascha aufgehört. »Is scho schood, Nadascha«, hatte er an ihrem Polterabend frech erklärt, »etzed wersd nie erfahrn, was du bei mir verbassd hosd.«

»Ich weiß«, hatte die Braut mit gespielt trauriger Stimme erwidert, »die Geheimnisse fränkischer Liebhaber werden mir für immer und ewig verschlossen bleiben. Ich hoffe, mein Hase wird mir über diesen unsäglichen Verlust hinweghelfen.« Anschließend hatte sie ihren Phil mit einem leidenschaftlichen, nicht enden wollenden Kuss beglückt.

Eine Szene, die allen im Gedächtnis geblieben war und im Team schon mehrfach für Neckerei und Heiterkeit gesorgt hatte.

Heute dagegen war Natascha überhaupt nicht gut drauf. »Sorry, Leute, mir ist schlecht.« Ohne eine Antwort der Kollegen abzuwarten, eilte sie aus dem Zimmer zur Damentoilette, in die sie ihr Frühstück entleerte.

»Am besten fährst du wieder heim und legst dich ins Bett!«, kommentierte Alois Schön die Leichenblässe seiner neuen Stellvertreterin nach ihrer Rückkehr. »Martin, bringst du die Kollegin bitte nach Hause?«

»Gehd gloar, Chef«, erwiderte der Franke, ehe er mit Natascha den Raum verließ.

Es dauerte viele Minuten, bis im Kindergarten sämtliche Tränen getrocknet und den beiden Jungen die Verwerflichkeit ihres Handelns bewusst gemacht worden war. Vor allem der Fünfjährige zeigte sich uneinsichtig. Schließlich hatten ihm Mama und Papa eingebläut, er müsse seine kleine Schwester beschützen. Und deshalb wollte er nicht einsehen, dass er etwas Falsches getan hatte.

Im Gegensatz zu den Erzieherinnen, die auf Anhieb erkannten, dass ihnen ein schwerer Fehler unterlaufen war. Weshalb die Leiterin sofort die 110 anrief, während ihre Kolleginnen versuchten, die Eltern der Zöglinge zu erreichen.

Die Dame vom Notruf informierte nicht nur die örtliche Wache, sondern ebenso Alois Schön und die Spurensicherung. Denn in München kümmert sich die Mordkommission auch um Menschenraub und Erpressung. »Delikte an Leib und Leben«, ist die offizielle Bezeichnung der zuständigen Dezernate.

Natürlich hatte das silbergrüne Polizeiauto das Interesse der Kinder geweckt. Ein Junge hatte sich sogar von der Hand der Großmutter losgerissen, um seinen Freunden von der Ankunft der Polizei zu berichten. Und als der Polizist den Gruppenraum betrat und sämtliche Fragen bis hin zur PS-Zahl seines Wagens ausführlich beantwortete, waren alle zufrieden. Die Kriminaltechniker konnten in Ruhe im Garten arbeiten, das Eintreffen der Beamten in Zivil wurde nicht bemerkt.

»Der Täter hat den Zaun mit einer Drahtschere von oben bis unten durchgeschnitten und zur Seite gebogen«, erhielt Alois Schön gleich zur Begrüßung eine Schilderung des mutmaßlichen Tathergangs. »Danach hat er sich vermutlich zum Baum geschlichen, die Kleine auf den Arm genommen und leise einen Abgang gemacht. Die Fußspuren im Gras deuten darauf hin, dass er sehr vorsichtig und auf Zehenspitzen gegangen ist.«

»Könnt ihr die Art der Schuhe bestimmen oder die Schuhgröße?«

»Tut mir leid, Alois. Das Einzige, bei dem wir sicher sind, ist, dass nur eine Person die Wiese betreten hat. Was jedoch nichts zu bedeuten hat.«

»Stimmt.« Alois Schöns Blick glitt über das unbebaute Grundstück, das an den Kindergarten grenzte. Die letzte Parzelle in einer Seitenstraße, die als Sackgasse in einer Wendehufe endete. »Ein Komplize könnte im Auto gewartet haben.«

Zu Fuß dagegen konnte der Täter durch den schmalen Weg und das dahinter liegende Wohnviertel geflüchtet sein.

Der Leiter der Mordkommission sah den Kollegen von der Spurensicherung an. »Wie sieht’s mit DNS aus?«

»Bis jetzt Fehlanzeige, weder am Bollerwagen noch am Zaun. Ein paar Fasern von der Wolldecke, aber die bringen uns kaum weiter«, stellte der Spezialist fest.

»Warum hat das Mädchen nicht geschrien?«, wollte Julia wissen.

Der Experte zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es betäubt worden.«

Der Leiterin des Kindergartens war die innere Anspannung nach wie vor anzusehen, als sie die Tür ihres Büros schloss. »In unseren neuen Kitas wäre das niemals passiert, die haben stabile Umzäunungen aus Schmiedeeisen um ihre Grundstücke und nicht so lumpige Hasenzaun-Maschendrahtgitter wie wir!« Mit zittrigen Händen fingerte sie nach einem Papiertaschentuch in ihrer Rocktasche. »Aber das Allerschlimmste ist, wir haben die Eltern von Sophia noch nicht erreicht!« Als sie es fand, schnäuzte sie hinein. Anschließend setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Mit einem verkrampften Lächeln deutete sie auf die beiden freien Stühle ihr gegenüber. »Nehmen Sie Platz.«

»Geben Sie uns die Adresse, wir kümmern uns darum.« Alois Schön rief den Vertreter der örtlichen Wache, der sofort losfuhr.

Nachdem der Polizist gegangen war, erkundigte er sich freundlich: »Was können Sie uns über Sophias Familie berichten?«

»Nicht so viel«, begann die Kindergartenleiterin nun wesentlich ruhiger. »Sophia ist erst seit Anfang Mai bei uns, sie ist die Jüngste in der Gruppe.«

»Wie alt ist sie?«

»Knapp elf Monate, eine süße Maus!« Die Erzieherin holte eine Mappe aus der Schreibtischschublade hervor. »Hier sehen Sie, dieses Foto haben wir letzte Woche von ihr gemacht.«

»Eine schöne Aufnahme, wirklich gut gelungen. Dürfen wir sie mitnehmen?«

»Von mir aus gerne.«

»Selbstverständlich werden wir die Eltern nachträglich um Erlaubnis fragen.« Alois Schön steckte das Bild in die Innentasche seiner Jacke. Anschließend sah er die Kindergärtnerin fragend an. »Wie schätzen Sie die finanzielle Situation der Familie ein?«

»Das wage ich nicht zu beurteilen«, erwiderte diese rasch. Offenbar zu schnell, denn kaum hatten ihre Worte den Mund verlassen, entfernte sich ihr Oberkörper einige Zentimeter vom Schreibtisch. Ihr rechter Zeigefinger berührte ihre Backe, ihre Augen wanderten zur Decke. Jeder im Raum konnte erkennen, wie sie über ihre Äußerungen nachsann. »Einen Antrag auf Ermäßigung unserer Gebühren haben sie jedenfalls nicht gestellt. Hätte mich allerdings auch gewundert, das Haus, in dem sie wohnen, ist ziemlich groß, um nicht zu sagen, protzig.« Wie sie offensichtlich bemüht war, der Polizei nützliche Tipps zu geben. »Aber ich weiß nicht einmal, ob sie es gekauft oder gemietet haben«, fügte sie mit jammernder Stimme hinzu.

»Was machen die Eltern beruflich?«

»Die Mutter ist meines Wissens nicht berufstätig. Der Vater ist Anwalt. Seine Kanzlei befindet sich in bester Lage von München, in der Nähe vom Marienplatz.« Die Gesichtszüge der Erzieherin versteinerten sich. »Heute hat er Sophia gebracht.« Als sie den Satz beendet hatte, biss sie sich auf die Unterlippe.

»Ja und?«

»Hingestellt ist wohl der bessere Ausdruck«, erläuterte sie sichtlich verärgert. »Er setzte Sophia einfach auf den Boden im Gruppenraum und war sofort wieder weg.«

Alois Schön lächelte mitfühlend, sagte jedoch bewusst kein Wort.

»Der Mann ist mir unsympathisch. Er wirkt so arrogant, fast schon skrupellos. Und seine Augen, die sind so kalt. Da wird einem richtig Angst!«

»Warum kümmert sich die Mutter nicht selbst um ihr Kind, wenn sie nicht arbeitet?«, unterbrach Julia ihr Mitschreiben.

»Ach, das ist heutzutage nicht so ungewöhnlich.« Obwohl das Lächeln der Kommissarin Sympathie verstrahlte, wich die Erzieherin ihrem Blick aus. Stattdessen starrte sie auf die Tür und die Aktenordner im Regal. »Es liegt mir fern, irgendwelche Gerüchte zu verbreiten«, begann sie zögerlich, »aber manchmal entstand bei mir der Eindruck, Sophias Mutter hätte psychische Probleme.«

»Woran haben Sie das festgemacht?«, erkundigte sich Alois Schön.

»Ihre Stimmung schwankt enorm. Mal redet sie ohne Unterlass, mal bringt sie kein einziges Wort heraus. An manchen Tagen wirkt sie fahrig und aufgedreht, während man an anderen denkt, sie hätte eine ganze Schachtel Schlaftabletten genommen. Wir mussten sie schon zwei Mal anrufen, damit sie Sophia überhaupt abholt!«

»Hoffen wir, dass sie heute halbwegs gut drauf ist«, merkte der Leiter der Mordkommission an.

Der Polizist der örtlichen Wache wollte das Grundstück bereits wieder verlassen, als eine in schrillem Pink gekleidete, klein gewachsene Frau mit asymmetrisch geschnittener Bobfrisur in die Einfahrt fuhr.

»Hallo, Herr Wachtmeister«, rief sie ihm durch das geöffnete Fenster ihres Minis entgegen, »wollen Sie zu mir?«

»Wenn Sie Katja Christ sind.«

»Aber ja!« Mit leuchtenden Augen stieg die Dame aus ihrem Auto und holte eine Vielzahl großer und kleiner Tüten aus Rücksitz und Kofferraum, bevor sie auf ihren für ihre pummelige Figur viel zu hohen Absätzen zum Eingang stöckelte. »Möchten Sie hereinkommen, junger Mann?«

»Gerne.« Der Beamte wartete mit weiteren Ausführungen, bis die Haustür geschlossen war. »Es geht um Ihre Tochter Sophia.«

»Schauen Sie mal, was ich ergattern konnte!« Katja Christ ging schnurstracks ins Wohnzimmer, stellte ihre Einkäufe auf den ausladenden Marmortisch und begann auszupacken. »Schuhe, Rock und Bluse, alles in derselben Farbe.« Sie redete laut und schnell.

Der Polizist runzelte die Stirn. »Frau …«

»Am Anfang dachte ich«, wurde er abermals überhört, »ich würde gar nichts bekommen, müsste wieder unverrichteter Dinge heimfahren. Doch nun habe ich sogar die passenden Dessous und Handys dazu. In Mint, blau und orange.« Sie drehte sich zu ihrem Gast um. »Toll nicht?«

Statt zu antworten verdrehte dieser die Augen. Wozu brauchte man so viele Mobiltelefone? Zumal noch eines auf der Anrichte lag. Ebenso glaubte er, ein weiteres auf dem kleinen Tisch in der Garderobe gesehen zu haben. Er holte tief Luft, bevor er seine Stimme erhob: »Wissen Sie, wo Sophia ist, Frau Christ?«

»Na, im Kindergarten, wo sonst?« Mehr schien die Mutter nicht zu interessieren. Stattdessen nahm sie ein Mieder aus einer der Einkaufstaschen und hielt es sich vor die Brust. »Glauben Sie, dass ich meinem Mann in diesem Body gefalle?« Erst als sie keine Antwort erhielt, erkundigte sie sich: »Hat Clemens sie dort nicht abgeliefert?«

»Dann schlage ich vor, dass wir jetzt gemeinsam dorthin fahren«, forderte der junge Beamte mit strenger Miene.

»Kann ich nicht vorher noch kurz die Unterwäsche probieren?« Wie eine Tochter, die ihren Vater bittet, länger in der Disco bleiben zu dürfen, sah Katja Christ den Polizisten an. »Sie dürfen mir auch beim Schnüren der Korsage helfen!«

»Nein, Frau Christ, wir müssen los!«, antwortete dieser im Befehlston. Doch erst als er hinzufügte, dass Sophia verschwunden sei, fand er Gehör.

Der Streifenbeamte hatte den Motor noch nicht abgestellt, als Katja Christ aus dem Auto sprang und in den Kindergarten stürmte. Kaum hatte sie eine der Erzieherinnen entdeckt, schrie sie: »Sind Sie zu blöd oder zu faul, auf mein Kind aufzupassen?«

»Frau Christ, mein Name ist Alois Schön.« Der Leiter der Mordkommission kam ihr im Flur entgegen. »Ich leite hier die Ermittlungen.«

Doch anstatt die ausgestreckte Hand des Kommissars zu ergreifen, rauschte die Lady an ihm vorbei in den Gruppenraum, wo sie diverse Stofftiere vom Sideboard neben der Tür fegte. »Diese jungen Dinger sind alle absolut unfähig, dumm wie ein Stück Brot!«

»Frau Christ, beruhigen Sie sich doch bitte!« Die Leiterin des Horts ging unsicher, aber mutig auf die Furie zu.

Wodurch sie diese offenbar noch mehr erzürnte: »Mein Mann wird Sie verklagen! Dann sind Sie Ihren Job los, dann können Sie im Imbiss Buletten braten oder von mir aus auch putzen gehen!«

Die Erzieherin schluckte. Wortlos drehte sie sich um und lief in ihr Büro.

Alois Schön erkannte, dass die Anwesenheit von Katja Christ nicht von Nutzen war. Er bat Julia, sie nach Hause bringen. »Es muss doch jemand bei Ihnen zu Hause sein«, wandte er sich mit väterlichem Blick der Mutter zu, »für den Fall, dass die Entführer anrufen.« Er lächelte: »Wer könnte das besser als Sie?«

Katja Christ nickte. »Natürlich, Sie haben ja so recht, Herr Kommissar!« Sie schien nicht zu wissen, dass die Überwachung der Telefongespräche heutzutage nicht mehr vor Ort, sondern über den Betreiber des Telefonnetzwerkes erfolgt.

Eltern werden ist nicht schwer …

Zu Julias Überraschung sprach Katja Christ während der Autofahrt kein einziges Wort. Weder mit ihr noch mit sich selbst. Kein Fluchen, kein Schimpfen, kein Jammern. Apathisch saß sie auf dem Beifahrersitz, starrte mit leerem Blick durch die Windschutzscheibe.

Zu Hause angekommen erklärte sie, sie sei hundemüde, wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, und müsse nun schlafen. Ohne eine Antwort der Kommissarin abzuwarten, ging sie ins Schlafzimmer. Sie ließ den Rollladen herunter, zog Schuhe, Bluse und Rock aus und verkroch sich unter der Bettdecke. Dass sie beobachtet wurde, schien sie nicht zu bemerken.

Julia rief Alois Schön an, um ihm mitzuteilen, dass es ihr momentan unmöglich sei, die Mutter zu befragen. Der bat sie dennoch, vor Ort zu bleiben.

20 Minuten nach seiner Frau traf Clemens Christ im Kindergarten ein. »I suach an Hauptkommissar Schön«, plärrte er, kaum, dass er das Gebäude betreten hatte.

»Hier!« Der Leiter der Mordkommission wartete bereits auf dem Flur.

Der Handschlag? Kurz und fest. »I hob ned vui Zeit.« Dazu ein prüfender Blick. »Außerdem gehe ich davon aus, dass ich Ihnen nicht erklären muss, wie Sie Ihren Job zu machen haben.« Offensichtlich konnte der Herr auch Hochdeutsch.

Ein Typ, wie man sich den Rausschmeißer einer Disco vorstellt. Oder einen Schauspieler, dem die Rolle des Mannes fürs Grobe in einem Mafiafilm auf den Leib geschrieben wurde. Ende 30, etwa 1,70 Meter groß, mit Glatze und schwarzer Brille. Mit einem gedrungenen Körper, der in einem dunkelblauen Designeranzug steckte.

»Wir tun unser Bestes.« Alois Schön erinnerte sich an die Aussage der Leiterin des Kindergartens. »Dann will ich gleich zur Sache kommen.« Eindringlich sah er den Anwalt an. Dessen Augen wirkten in der Tat sehr kalt.

»Haben Sie Feinde, Herr Christ?«

»Naa, wieso?«

»Mandanten, die sich an Ihnen rächen wollen?«

»Moanan S’, ob i Schwerkriminelle oder Mafiosi vertret’?« Clemens Christ verschränkte seine muskulösen Arme vor seiner Brust. »I bin koa Strafrechtler ned, i bin a Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht.«

Alois Schön zog die Augenbrauen nach oben. »Wurden Sie in letzter Zeit bedroht?«

»Na. Schau i so aus, als ob ma mi einschüchtern kannt?« Obwohl ihm die Frage noch gar nicht gestellt worden war, schilderte Clemens Christ alsdann in knappen, präzisen Worten den Ablauf des Morgens. Kaum hatte er seinen Vortrag beendet, schaute er auf seine Uhr am Handgelenk. »Jetzt muass i aber wirkli los, Herr Kommissar.« Er drehte sich um und lief schnurstracks zum Eingang.

»Wir sind noch nicht fertig!«, rief ihm dieser hinterher.

»I hob Eahna g’sogt, dass’s mir pressiert!« Die Tür halb aufgestoßen, bedachte er den Leiter der Mordkommission mit einem herablassenden Lächeln. »Glaubn’s mir, des Geld, des i verlier, wenn i den Termin verpass, wolln mir Eahnare Chefs ned ersetzen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er aus dem Gebäude.

»Dann kommen Sie bitte anschließend zu uns ins Dezernat!«

»Heid nimma, Herr Hauptkommissar.« Clemens Christ hatte bereits die Tür seines Porsche Panamera geöffnet.

»Die Leiterin des Kindergartens hat uns ein aktuelles Foto Ihrer Tochter zu Fahndungszwecken gegeben. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Freili.« Der Vater lächelte, während er sich auf den Fahrersitz schwang und den Motor startete. »Allerdings muass i ned dabei sein, wenn S die Entführer von der Sophia schnappen. Es langt mir völlig, wenn S mir mei Deandl gsund zruckbringa.«

»Also gut. Dann morgen um acht Uhr bei uns in der Hansastraße!«

Clemens Christ antwortete nicht. Die rechte Hand am Lenkrad grüßte er lässig mit zwei Fingern und fuhr vom Parkplatz.

Katja Christ schlief ungefähr drei Stunden. Dass sie wach war, hatte Julia an ihrem Schluchzen bemerkt. Vorsichtig öffnete sie die Tür.

Im Bett lag eine in Tränen aufgelöste, hilflos wirkende Frau. »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte Sophia niemals in diesen Kindergarten geben dürfen«, jammerte sie wiederholt vor sich hin.

Die Kommissarin entschloss sich, Katja Christ in den Arm zu nehmen. »Es ist nicht Ihre Schuld, Frau Christ.«

Die klammerte sich an ihr fest. »Doch, doch. In dieser Krippe regiert der Teufel!«

Julia spürte, wie ihre Bluse nasser wurde. »Sophia kommt bestimmt bald wieder.« Sie legte die weinende Mutter behutsam aufs Bett zurück und strich ihr tröstend durch die Haare.

»Es ist alles so furchtbar. Und alles nur wegen mir!« Heulend drehte sich Katja Christ zur Seite.

»Hier, nehmen Sie!« Julia legte ihr ein Papiertaschentuch aufs Kopfkissen. Anschließend erkundigte sie sich: »Soll ich Ihnen etwas bringen? Eine Tasse Tee oder Kaffee vielleicht?«

»Nein danke, ich möchte nur schlafen.«

»Gut, dann lasse ich Sie in Ruhe, Frau Christ.« Julia stand auf und ging zur Tür. Nach kurzem Überlegen wandte sie sich um: »Darf ich mir mal Ihre Einkäufe anschauen?«

»Machen Sie nur, ich brauche den Plunder nicht mehr. Von mir aus können Sie das Zeug haben, ich bin morgen eh tot.« Diese Bemerkung veranlasste die junge Kommissarin, sich im Zimmer nach für einen Selbstmord geeigneten Gegenständen umzusehen. Ebenso ließ sie die Schlafzimmertür einen Spalt weit offen, um mitzubekommen, wenn sich Katja Christ rührte oder gar aufstand.

Natürlich ging es Julia bei der Durchsicht der Einkaufstüten nicht um die neueste Handytechnik oder die aktuelle Mode. Gleichwohl brachte die Kontrolle der Kassenbelege nicht den gewünschten Erfolg. Sämtliche Käufe von Katja Christ erfolgten innerhalb einer halben Stunde, die angegebenen Uhrzeiten passten zur Zeit ihrer Rückkehr nach Hause. Wann sie jedoch in die Stadt gefahren war, ließ sich mangels Parkticket nicht feststellen.

Die örtliche Wache mobilisierte derweil alle zur Verfügung stehenden personellen Reserven, um die Bewohner der Straße und des angrenzenden Wohnviertels zu befragen. Doch die meisten Anwohner waren zur Tatzeit nicht zu Hause und mussten am Abend ein zweites Mal aufgesucht werden. An auffällig oder unauffällig parkende Autos oder an auswärtige Nummernschilder konnte sich dennoch niemand erinnern. Weder an diesem Montag noch an den Tagen zuvor. Ein älterer Herr meckerte über jugendliche Rowdys, die sich regelmäßig nach Einbruch der Dunkelheit träfen und stets einen Saustall hinterließen, der Eigentümer des Nachbargrundstücks beschwerte sich, dass dieses praktisch wertlos sei, weil kein Mensch neben einem Kindergarten wohnen wolle. Probleme, für die die Mordkommission nicht zuständig war. Immerhin versprach der Bürgermeister, sich mit dem Jugendsozialarbeiter in Verbindung zu setzen, um die Jugendlichen als Zeugen vernehmen zu können.

Am nächsten Morgen erschien Alois Schön pünktlich im Büro. »Ist das Foto von Sophia Christ schon raus?«

»Gloar, Chef. An jede Bolizeidienssdschdell in Deutschland.« Vergeblich wartete er auf den Vater des entführten Kleinkinds. Nach Ablauf des akademischen Viertels checkte er die Verkehrslage im Internet.

»Sorry, mir ist was Wichtigs dazwischenkemma«, entschuldigte sich Clemens Christ emotionslos, als Alois Schön ihn in der Kanzlei erreichte.

»Wir hatten diesen Termin doch fest ausgemacht. Schließlich geht es hier um Ihre Tochter!«

»Des is doch wohl mei Sach, ob i kimm oder ned. Oder muass i Eahna erinnern, dass i mit Eahna überhaupt ned schmatzen muass?«

»Natürlich nicht.« Alois Schön atmete tief durch: »Wir wollen Ihnen doch nur helfen, Ihre Tochter zu finden, Herr Christ! Oder möchten Sie, dass wir wegen jeder Kleinigkeit sofort den Staatsanwalt einschalten?«

»Machtst, was wollts. Und jetzt lassts mir mei Ruah, i hob z’ doa!«

Alois Schön schüttelte den Kopf. Ein solches Verhalten war ihm in seiner gesamten Laufbahn noch nicht begegnet. So ein Benehmen wollte er schon aus Prinzip nicht tolerieren. Also informierte er die Staatsanwaltschaft, damit sie Clemens Christ vorlud.

»Kommst du bitte gleich zu mir rüber? Wir haben einen neuen Fall«, bat Alois Schön, als Natascha an seine Tür klopfte, um einen »Guten Morgen« zu wünschen. Sie sah wieder völlig gesund aus.

»Dann bleib ich gleich hier«, erwiderte die Kommissarin gut gelaunt.

»In Ordnung, schließ aber bitte die Tür.«

Natascha grinste. »Warum so förmlich? Sind wir jetzt beim Geheimdienst?« Gleichwohl tat sie ihrem Chef den Gefallen.

Der Leiter der Mordkommission räusperte sich: »Ich frage dich das jetzt mehr als Freund und weniger als dein Vorgesetzter.«

»Danach sieht’s aber nicht aus!«, wurde er von seiner neuen Stellvertreterin in seinem Redefluss gehemmt.

»Na gut, sagen wir halbe-halbe. Auf jeden Fall möchte ich nicht um den heißen Brei herumreden. Deswegen frage ich dich ganz direkt: Bist du schwanger?«

Natascha zögerte einen Moment, bevor sie ruhig antwortete: »Nein, Alois. Meinst du, weil mir gestern ausnahmsweise mal schlecht war?«

Alois Schön nickte. »Ich weiß ja, dass du und dein Phil schon eine Zeit lang daran arbeiten.«

»Stimmt, doch bislang ohne Erfolg.« Natascha schaute ihrem Chef selbstbewusst lächelnd in die Augen. »Gestern hatte ich nur etwas Falsches gegessen. Heute bin ich wieder voll fit und ganz die Alte!«

Am liebsten hätte Alois Schön mit einem lockeren Spruch geantwortet. Das jedoch erschien ihm völlig unpassend. »Das freut mich«, begann er zögerlich, »und selbstredend ist es deine Entscheidung, wann du mich über das freudige Ereignis informierst.« Zudem sprach er ungewohnt leise. »Allerdings handelt es sich …« Mit ernster Miene sah er seine Mitarbeiterin an, »… bei unserem neuen Fall um die Entführung eines Kleinkinds.« Er holte tief Luft. »Und da sich die Kidnapper bisher nicht gemeldet haben, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.« Nach diesem Satz atmete er hörbar aus, die folgende Pause geriet länger als gewöhnlich. »Du weißt, ich schätze es sehr, dass du eine überaus motivierte Kommissarin bist«, gewannen seine Worte an Bestimmtheit, »aber gerade wegen deines starken persönlichen Engagements, möchte ich dir eine Kindesentführung während einer Schwangerschaft nicht zumuten.«

»Deine Fürsorge ehrt dich, mein lieber Alois.« Natascha setzte sich aufrecht hin. »Aber du kannst ganz beruhigt sein.« Ihre Stimme klang fest, gleichwohl redete sie langsam und bedächtig. Als ob sie das Gesagte überdenken und verifizieren müsse. »Wie ich bereits sagte, es ist noch nichts passiert. Und deswegen bin ich absolut in der Lage, an diesem Fall mitzuarbeiten.«

»Es wäre trotzdem schön, wenn du mich zeitnah informierst, sobald es Neuigkeiten gibt.«

»Du erfährst es als Erster.« Natascha stand auf. Zwei Schritte später drehte sie sich um und lächelte. »Sagen wir als Zweiter.«

»Das reicht mir vollkommen«, lachte Alois Schön zurück. Wohl wissend, dass der Kollegin seine Worte mehr zu Herzen gingen, als sie zugeben mochte.

Clemens Christ wusste, dass er sich der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft nicht widersetzen konnte. Aus diesem Grund erschien er pünktlich im Kommissariat und gab bereitwillig Auskunft zu Name und Wohnort.

»Wie geht es Ihnen?« Alois Schön wollte eine entspannte Gesprächsatmosphäre schaffen.

Doch der Anwalt rümpfte die Nase. »Was soll des? Glaubts ihr im Ernst, dass i woan und wart, bis der Entführer oruaft?« Seine Stimme klang aggressiv, konnte ihren Zynismus nicht verbergen.

»Natürlich nicht.« Alois Schön beugte sich leicht nach vorne, sah den Zeugen beschwörend an und erwiderte betont sanft: »Ihre Frau scheint diese Situation aber nicht so gut zu verkraften.«

»Was wollts von mi hörn?« Clemens Christ saß gelangweilt auf seinem Stuhl. »I frog mi eh, was i da dua.« Er zuckte nicht einmal mit den Schultern. »I hob Eahna eh scho g’sagt, wann i d’ Sophia in den Kindergarten brocht hob. A scho, dass mir nix aufgfalln is! Weder am Montag in der Früh noch in der Woch davor.« Nach einer kurzen Pause fügte er motzend in nur leicht eingefärbtem Hochdeutsch hinzu: »Von mir aus wiederhole ich meine Aussage hier und heute vor der Staatsanwaltschaft. Oder möchten Sie es lieber schriftlich?« Dass er beim vorletzten Satz seine Hand wie zum Schwur erhob, verlieh seinen Worten eine bizarre Note.

»Etwas genauere Informationen könnten Sie uns schon geben«, forderte Alois Schön bestimmt, aber dennoch gelassen.

Clemens Christ stand auf und stützte seine muskulösen Arme auf den Vernehmungstisch. »Es interessiert koa Sau, ob i zwoa Minuten friahra oder später im Hort okumma bin.« Er kniff die Augen zusammen. »Wollts ihr mi testen? Oder hoits ihr mi für deppert?« Er sah seine Gesprächspartner an, als wolle er ihre Stirn mit seinem Blick durchbohren. »Wenn i Eahna sog, dass mir nix aufgfalln is, hob i a nix g’sehn. Und in 99,9 Prozent der Fälle war dann da a nix!« Zur Bekräftigung seines Statements haute er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Wissen S was?«, fuhr er in einem Ton, der an Arroganz nicht zu überbieten war, fort, »i sog jetzt gar nix mehr!«

»Warum das?«