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Hermann Schreiber

Die Deutschen und der Osten

Band 1

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Titel von Hermann Schreiber bei hockebooks

Die Deutschen und der Osten

Band 1

978-3-95751-292-5

Die Deutschen und der Osten, ein Standardwerk zu einem wichtigen Kapitel deutscher Geschichte. Hermann Schreiber, Gelehrter mit großem erzählerischen Talent, ruft einen vergessenen Teil der Geschichte wieder in Erinnerung: Was geschah während der Kolonialzeit in den deutschen Kolonien, wo genau lagen die Kolonien, Schutz und Pachtgebiete? Hermann Schreiber beschäftigt sich aber auch mit der Vorgeschichte: von der germanischen Landnahme über die Kolonialisierungsarbeit des Ritterordens, die Ausbreitung der Hanse bis zu den brandenburg-preußischen Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert sowie die wegbereitenden Forschungsreisen. Das Ergebnis ist ein zentrales Werk der deutschen Geschichte, das so exakt dokumentiert wie unterhaltsam zu lesen ist.

Die Deutschen und der Osten

Band 2

978-3-95751-293-2

Hermann Schreiber, Gelehrter mit großer erzählerischer Begabung, stammt selbst aus einer alten ostdeutschen Familie. Im zweiten Teil von Die Deutschen und der Osten, seinem Standardwerk zu einem wichtigen, aber fast vergessenen Thema der deutschen Geschichte, untersucht er die schon immer umstrittene historische Rolle des deutschen Volkes in den Gebieten jenseits der Oder, der Sudeten und Karpaten. In gründlichen Studien hat Hermann Schreiber nicht nur die alten Quellen, sondern auch Resultate der Bodenbefunde, der stadtgeschichtlichen und geopolitischen Forschungen gesichtet. Entstanden ist dabei eine wahrheitsgetreue und lebendige Darstellung des bewegten Geschichtsablaufs, die immer auch unterhaltsam zu lesen ist.

Der Autor

Hermann Schreiber (1920 bis 2014) studierte Germanistik, Philosophie und Ästhetik in Wien und wurde mit einer Arbeit über Gerhart Hauptmann zum Dr. phil. promoviert. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete er zunächst als Lektor und Redakteur, bis er als Schriftsteller (zum Teil unter Pseudonymen) insgesamt rund 100 Romane, Essays, Novellen und Sachbücher veröffentlichte. Einer breiten Leserschaft wurde Hermann Schreiber vor allem durch seine populärwissenschaftlichen Sachbücher zu geschichtlichen Themen und Personen bekannt.

Vorwort

Eine große Wanderung und viele kleine

Altertum und Neuzeit sind uns einigermaßen gegenwärtig: Cato, Cicero und die Cäsaren dort, Fürsten, Feldherren und Friedensschlüsse hier. Das Mittelalter dazwischen entzieht sich uns, verhüllt sich und gerät in Vergessenheit, obwohl es doch das Großereignis der deutschen Geschichte birgt – jene gewaltige, in unzählige Wanderungen aufgesplitterte Bewegung, die deutsche Menschen aus dem alten Reich nach Osten führte. Sie wanderten vom Rhein bis an die Wolga, von den Nordseeküsten bis ans Kurische Haff, vom Schwarzwald bis an die untere Donau.

Zehn Generationen wanderten und ließen sich nieder, rodeten und legten trocken, säten und errichteten Dämme, bauten Häuser und brachten Ernten ein. Dann kam das zweite Wunder: die vielgestaltige Gegengabe der Siedelstämme, das künstlerisch-schöpferische Aufblühen aus wilder Wurzel, nach Jahrhunderten der härtesten Handarbeit, der Kämpfe, Siege und Niederlagen. In den neubegründeten Städten und auf den Gutshöfen entstanden neue Zentren deutschen Geistes, wuchsen dem alten und dem neuen Volk Dichter und Baumeister zu, Maler, Denker und jene Männer, die mit der deutschen Reformation die Erneuerung des Christentums einleiteten. Während das alte Reich durch all die Jahrhunderte seine Anregungen aus dem Süden und dem Westen empfing, nach Italien und Frankreich blickte, überwand die auf dem ostelbischen Siedlerboden aufbrechende deutsche Romantik all diese Vorbilder und brachte die Besinnung auf unsere eigenen Überlieferungen, unser Land, uns selbst.

Dieses Hinausziehen in den Osten und der mächtige Rückstrom im Geist vollziehen sich zwischen Kaiser Heinrichs Ungarnsieg an der Unstrut im Jahr 933 und jenem Jahr 1933, da dieses große Geschehen seinen Sinn verlor und sein Ziel verriet, und diese tausend Jahre sind eigentlich unsere deutsche Geschichte. Was immer wir davon im Gedächtnis behalten haben, wie es anfing an der Elbe mit schwierigen Annäherungen und sich fortsetzte im endlich fruchtbaren Zusammenleben mit Slawen und baltischen Völkern, diese heroische Frühzeit eben, das droht in Vergessenheit zu geraten zwischen der lebendigen Antike und der präsenten Neuzeit. Darum versucht dieses Buch, ein einziger, überschaubarer Band, den großen Aufbruch und das Ankommen darzustellen, soweit dies auf beschränktem Raum möglich ist.

Es war, das darf hier vielleicht vorangestellt werden, für den Verfasser selbst ein Weg, der nachdenklich stimmte; dies vor allem dann, wenn von Orten zu sprechen war, an denen die einst im ganzen deutschen Nordosten verbreitete Sippe der Schreiber nachgewiesen ist – Kolberg und Treptow an der Rega, Greifenberg und Labes, das westpreußische Konitz und das ostpreußische Angerburg. Dann die Familien ihrer Frauen, mit denen zusammen sie den ganzen deutschen Osten vertreten, aber auch die ostelbische Mitte mit Mecklenburg, der Mark, Thüringen, Schlesien und Erzgebirge; selbst in Siebenbürgen sitzen Ahnenstämme mit den Hutter und Rökk, ehe alles in Wien zusammenläuft, wo der Vikar und Pfarrverweser Schreiber, 1889 in Sternberg geboren, eine Elsinger aus dem Wiener Industriepatriziat ehelicht.

Obwohl alt genug, den Zweiten Weltkrieg bewusst durchlebt zu haben, war es mir nie vergönnt, diese pommerschen, ost- und westpreußischen Orte zu betreten, in denen meine Vorfahren gelebt haben und woher es mich seit einem Vierteljahrhundert ruft, mich immer wieder mit diesen verlorenen Landschaften zu beschäftigen; und es wird wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis ich zu diesen Vorvätern versammelt bin, deren pommersches Platt, deren Streusandbüchsenmärkisch ich gewiss kaum verstehen werde.

Ich gehe also einen weiten Weg zurück mit diesem Buch, und so wie die Schreiber von Greifenberg an der Ostseeküste über Westpreußen und Nordmähren bis nach Wien gewandert sind, so haben andere Familien den ganzen ostelbischen Raum durchmessen seit dem Aufbruch vor siebenhundert Jahren bis hin zu der Massenflucht und der Vertreibung in unserem Jahrhundert. Die mehr als dreihundert Seiten, die nun folgen, wollen als ein Versuch der Wieder-Annäherung an dieses vielen schon ferne Geschehen verstanden sein und als eine Hilfe zu der eigenen Erinnerung des Lesers. Weite Wege wurden zurückgelegt, Wege, die von den jüngeren Generationen nicht ohne Mühe beschritten werden. Auf langen Wegen tut ein wenig Zuspruch not; ja einmal soll auf der Eisenbahnfahrt von Berlin ins pommersche Stolp gar eine später sehr glückliche Ehe angebahnt worden sein. Anbahnen kann dieses Buch nichts mehr; das ferne Stolp ist ferner denn je, aber erzählen kann man von vergangenen Dingen bekanntlich besser als von jenen, die uns noch bevorstehen; denn es ist vermutlich erfreulicher, sich beim milden Licht der Studierlampe zu erinnern, als in die grellen Blitze der Zukunft zu starren.

München, im Februar 1984

Dr. Hermann Schreiber

Die Heiligen und die unheiligen Könige

Die Piasten, oder: Bauern auf dem Thron – Arzt und Papst im Jahr 1000 – Fürst Gottschalk, gottesfürchtig, aber unmäßig – Das flandrische Tuch bringt den Reichtum – Kriegsmann und Kirchenfürst: Wichmann von Magdeburg – Die Siedler und ihre Verträge

Nach dem Jahr 1000 tritt in Europa die einzigartige Situation ein, dass es drei heilige Könige gibt, einen eher unheiligen Papst und einen Herzog, der sich selber zum König macht und danach den Beinamen der Tapfere führt.

Stephan I., der Heilige, König von Ungarn, führt sein noch ein halbes Jahrhundert vorher räuberisch in Erscheinung getretenes Volk in die Ordnungen der europäischen Staatengemeinschaft und gründet so wichtige und zukunftsreiche Bistümer wie Gran. Heinrich II., der Heilige, Kaiser des Römischen Reiches Deutscher Nation, verbindet sich zur Niederwerfung innerdeutscher Unruhen oft mit der Kirche, führt seine Kriege aber vorwiegend in Italien. An den Ostgrenzen des Reiches hat er nur einen hartnäckigen Gegner, nämlich den König Boleslaw Chrobry, dessen Eltern Mieszko I. und seine Frau Dobrawa wir bereits kennen, einen Fürsten von außerordentlicher Tatkraft. Er unterwirft sich Pommern, danach Krakau und Schlesien, endlich die Oberlausitz, das Gebiet um Kiew mit der Westukraine und zweitweise auch Böhmen und Mähren. Erst nach seinem Tod geht im Nordosten Europas ein neuer Machtanspruch von ebenso rücksichtsloser Energie auf, der von Knut dem Großen, dem Wikingerkönig, der Olav den Heiligen vertreibt.

Trotz anhaltender Kriege ist die Jahrtausendwende eine gute Zeit für das im östlichen Mitteleuropa noch sehr junge Christentum. Der Papst ist, nach so manchem unwürdigen Statthalter Gottes auf Erden, seit 999 der gelehrte Franzose Gerbert aus der Auvergne, ein Polyhistor, der an arabischen Universitäten in Südspanien studiert hat, der einzige Arzt, der je auf dem Stuhle Petri saß, der Papst, der am wenigsten an die alleinseligmachende Rolle der katholischen Religion glaubte und dennoch einer der größten Päpste aller Zeiten war.

Der wilde Polenfürst Boleslaw, der ganz Europa das Fürchten lehrt, ist zugleich ein großer Vorkämpfer des Christentums. Nach dem Bistum Gnesen, das noch Otto III. gestiftet hat und das fortan Krönungsort der polnischen Könige sein wird, löst sich ganz Polen aus der Vorherrschaft westlicher Einflüsse und sucht die unmittelbare Verbindung mit dem Papst in Rom. Das ist ein wichtiger Schritt, der dieses Land zwischen Russen und Deutschen tausend Jahre lang nicht immer vor Unterwerfung schützen, aber doch immer mit Selbstvertrauen und Hoffnung erfüllen wird.

Vorbei ist die Zeit, da Mieszko I., der letzte der bäuerlichen Piasten, es nicht wagte, neben dem deutschen Markgrafen Hodo sitzen zu bleiben, wenn dieser sich erhob. Vorbei auch die Zeit, wo man polnische Fürsten, nur weil sie zu herrschen verstehen, als Dänen ansieht: die Eltern von Boleslaw Chrobry sind ja bekannt, und daran, dass er als Slawe einer der großen Herrscher des elften Jahrhunderts wurde, ist nicht mehr zu zweifeln. »Der polnische Bauer stand auf der Anfangsstufe kultureller Betätigung«, schreibt der Historiker Albert Brackmann 1933 und fährt geringschätzig fort: »Und die politischen Leistungen der ersten Piasten erhoben sich nicht viel über das Niveau der Stammeshäuptlinge jener Zeit.« Immerhin aber waren die Piasten ein einheimisches Bauerngeschlecht, das aus eigener Kraft an die Macht gekommen war und an die vierhundert Jahre lang diese Macht auch behielt. Für Boleslaw spricht auch, dass er frei von Vorurteilen mit dem deutschen Missionar Brun von Querfurt zusammenarbeitete, dass er Wojtech (Adalbert) von Prag aussandte, das Christentum zu predigen, und dass er den Leichnam des erschlagenen Glaubensboten den Heiden abkaufte, um ihn von der Weichselmündung, aus dem Bereich der wehrhaften Pruzzen, in den Schutz des Bistums Gnesen zu überführen. Adalbert wurde schon 999 von Papst Silvester II., dem französischen Arzt Gerbert, heiliggesprochen. 1009 erlitt auch Brun von Querfurt in Ostpreußen, in der Landschaft Sudauen, mit seinen Gefährten das Martyrium und gilt nach Adalbert als zweiter Apostel der Preußen.

Trotz der langen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Boleslaw und Kaiser Heinrich II. sind die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen intensiv, und in den Friedensjahren wird gemeinsame christliche Politik gegen die noch heidnischen Stämme der Ostseeslawen und gegen das baltische Urvolk der Pruzzen gemacht. Otto III., der fromme Vorgänger Heinrichs II., hatte Boleslaw das Recht eingeräumt, in Kolberg, Breslau und Krakau Bischöfe zu ernennen. Die Pomoranen sahen sich nicht selten einem gemischten deutsch-polnischen Heer gegenüber. Freilich kam es auch vor, dass auch heidnische Slawenstämme, ihre alten Götterbilder vorantragend, an der Seite des Kaisers gegen die Polen ins Feld zogen. Im Krieg musste eben alles recht sein, vor allem, wenn es gegen einen Mann wie Boleslaw den Tapferen ging, und so ergaben sich nicht selten absurde Konstellationen: Einmal verschanzten sich die christlichen Polen auf der schlesischen Burg Nimptsch, einem alten heiligen Sitz der germanischen Silinger, und hielten die Burg gegen die heidnischen Liutizen, die mit Kaiser Heinrich im Bunde waren.

»Nie habe ich von Belagerten gehört«, schreibt Bischof Thietmar von Merseburg in seiner Chronik, »die sich mit größerer Ausdauer und klügerer Umsicht zu verteidigen wussten. Den Heiden gegenüber (also gegen die angreifenden Liutizen) richteten sie ein heiliges Kreuz auf und hofften, sie mit dessen Hilfe zu besiegen ...«

Das Kuriosum geht noch weiter: Die Polen warfen die kostbaren Belagerungsmaschinen in Brand, die Einschließung musste aufgehoben werden, und die erbosten Deutschen gerieten in Streit mit den abziehenden Liutizen. Dabei warf ein Ritter einen Stein so geschickt, dass er das Gesicht eines Heidengottes durchlöcherte – das kostete Heinrich II., also einen heiligen deutschen Kaiser und König, nicht weniger als zwölf Pfund Silber an Buße.

Um die Liutizen zu besänftigen, gab Heinrich ihnen – nach dem bewährten Muster der Römer von Pompeius bis Aëtius – die Obotriten preis, einen erst seit Kurzem unter polnischer Mitwirkung christianisierten Stamm von Elbslawen, der sich geweigert hatte, gegen die Polen ins Feld zu ziehen. Nun gelang den Liutizen alles, was sie gegen Boleslaw Chrobry nicht erreicht hatten: Sie verwüsteten das Land der Obotriten, vertrieben die christlich gewordene Herrscherfamilie, erschlugen die Priester, verbrannten die Kirchen und gaben damit den Wagriern, einem Slawenstamm auf dem Boden von Schleswig-Holstein, das Signal zum Abfall vom Christentum.

Das Ergebnis waren schwere Rückschläge für das junge Christentum zwischen Unterelbe und Ostsee; erst vierzig Jahre später konnten sich wieder Priester in diese Gegenden wagen und nach und nach das Küstenland für das Christentum zurückgewinnen. Das war das Werk eines Slawenfürsten mit dem deutschen Namen Gottschalk, Sohn eines Udo, ein Prinz, der trotz seiner Klostererziehung in Lüneburg zunächst keineswegs christlich gesinnt war und am Hof Knuts des Großen von Dänemark lernte, wie man ein großes Reich verwalte. Das seine fasste die Wagrier, Obotriten und Polaben zusammen und stand unter der geistlichen Patronanz des Erzbistums Hamburg-Bremen. Dessen Erzbischof Adalbert (um 1000–1072) nennt Gottschalk in seinen Denkwürdigkeiten, dem unschätzbaren, vor 1070 verfassten Quellenwerk, einen »Mann von rühmlicher Klugheit und Entschlossenheit. Gottschalk nahm eine Tochter des Dänenkönigs (Knut) zur Frau und hatte die Slawen so fest in der Hand, dass sie ihm als ihrem König Ehrfurcht bezeigten, Tribut leisteten und unterwürfig seine Gewogenheit erbaten. Unter solchen Verhältnissen hatte unser Hamburg damals Ruhe, und überall im Slawenland gab es Priester und Kirchen. Der fromme und gottesfürchtige Gottschalk verkehrte auch freundschaftlich mit dem Erzbischof und ehrte Hamburg als seine geistliche Mutter … Er hatte sich vorgenommen, alle Heiden zur Annahme des Christentums zu bringen, falls ihm ein längeres Leben bescheiden sei, und er bekehrte fast ein Drittel der Stämme, die vordem, unter seinem Großvater Mistiwoj, ins Heidentum zurückgefallen waren (983–1018)«.

Der Chronist Adam von Bremen berichtet um das Jahr 1070 von Gottschalk die bemerkenswerte Gewohnheit, dass dieser Fürst sich beim Gottesdienst oft einmischte, wenn er den Eindruck hatte, die Priester wüssten sich nicht verständlich zu machen. Das deutet darauf hin, dass die Glaubensboten die Sprache der Obotriten nicht zureichend beherrschten und dass es noch zu wenig Priesternachwuchs aus dem eigenen Land gab, das noch jahrzehntelang im Heidentum verharrt hatte. »Nur über seine Unmäßigkeit (wohl im Essen und Trinken) und über die Weiber, Laster, die in der Natur dieser (slawischen) Völker liegen, ließ Gottschalk nicht mit sich reden. In allen anderen Dingen fügte sich der König dem Bischof.« Adam deutet an, dass Gottschalk wie Knut in diesen Lastern gemeinsam befangen waren und dass alle Ermahnungen gegen diese Ausschweifungen nichts fruchteten, was zumindest bei dem großen Knut nicht weiter verwunderlich ist: er hatte sich nie von irgendjemandem irgendetwas sagen lassen … Gottschalk spielte an der Seite des Sachsenherzogs Bernhard II. (gestorben 1059) und Knuts des Großen auch eine bedeutende Rolle bei der Zerschlagung des heidnischen Liutizenbundes. Das war ein slawischer Bruderkrieg, der die Ostseeslawen jeglicher Chance auf Selbständigkeit und Beibehaltung ihrer angestammten Religion beraubte. Am standhaftesten wehrten sich die heute vergessenen Circipanen gegen die Übermacht der drei christlichen Fürsten und boten, als sie schließlich unterlagen, nicht weniger als 15 000 Pfund Silber als Kriegsentschädigung für Verschonung und Frieden. Daraus muss man freilich schließen, dass dieser wehrhafte Stamm, der sieben Wochen lang die drei vereinigten Heere Knuts, Bernhards und Gottschalks in Schach hielt, vorher eifrig geräubert hatte, und gewiss nicht nur zu Lande. »Die Unseren«, schließt Adam von Bremen seinen Bericht, »kehrten ruhmbedeckt heim; von Christentum war nicht die Rede; die Sieger waren nur auf Beute bedacht. Das ist der Heldenkampf der Circipanen, die zum Hamburger Bistum gehören. Ein edler nordelbischer Sachse hat mir verlässlich von diesen und anderen Ereignissen berichtet … Ich habe auch vernommen, dass die Slawenstämme schon längst hätten zum Christentum bekehrt werden könnten, und zwar mit Leichtigkeit – wäre nicht die Habsucht der Sachsen dem im Wege gestanden. Die Unseligen achten gar nicht auf die große Gefahr, dass sie für ihre Begehrlichkeit büßen müssen; zuerst haben sie im Slawenlande aus Habsucht den Christenglauben beeinträchtigt, dann durch ihre Härte die Unterworfenen zum Aufruhr getrieben, und jetzt nehmen sie schon gar keine Rücksicht mehr auf das Seelenheil von Menschen, die glauben möchten, sondern fordern nur noch Geld … Forderten wir von ihnen (den Slawen) nur den Glauben, dann wären sie schon gerettet, und wir hätten bestimmt Frieden.«

Adam von Bremen, einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber des deutschen Mittelalters, saß als Dom-Scholaster an der Quelle für die verlässlichsten Nachrichten, und er hat sie uns nicht vorenthalten, sondern legt wie Thietmar von Merseburg die Finger auf die wunde Stelle: Die heidnischen Slawen waren schutzlos, sie konnten ausgebeutet, drangsaliert und beraubt werden; waren sie jedoch erst Christen, dann hatten sie zumindest in der kirchlichen Organisation eine gewisse Hilfe gegen die Ritter oder andere gewalttätige Herren, entrichteten geregelte Abgaben, waren nicht mehr jedem Zugriff ausgesetzt. Also beließ man sie im Heidentum. Wie sagte es Adam von Bremen, als er die Heimkehr der Sieger über die Circipanen schilderte? De christianitate nullus sermo von Christentum war nicht die Rede. Man hatte an 15 000 Pfund Silber genug zu schleppen …

Adam von Bremen erzählt im Übrigen sehr offen und mit allen Zeichen ungeschminkter Wahrheit weiter, welche Fehler in der Missionskirche Hamburg gemacht wurden, von der doch die Christianisierungsbemühungen in den ganzen Ostseeraum ausgegangen waren. Mit Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen, einem Grafen von Goseck, begann eine tiefe Krise der Ostexpansion. Der Erzbischof hatte eine hohe Beraterposition bei Hof und offenbar unmäßigen Ehrgeiz. Da Knut von Dänemark für sein nun christliches Land verschiedene Bischofssitze forderte, trachtete Adalbert, um sich hinreichend über diese Neugründungen zu erheben, nach einem Patriarchat für Hamburg, so etwa, wie es zum Beispiel Konstantinopel oder Aquileia/Venedig innehatten; er ließ sich auch als Patriarch titulieren, noch ehe der Papst irgendetwas in dieser Richtung unternommen oder auch nur gebilligt hatte. Um ertragreiche Ländereien für das Erzbistum erwerben zu können, wurden kostbare Stücke des Kirchenschatzes ohne Skrupel eingeschmolzen. »Der Goldschmied, der sie einschmolz, erzählte, zu seinem tiefen Schmerz sei er zu dem Frevel gezwungen worden, diese Kreuze zu zerstören, und heimlich versicherte er, er habe unter den Hammerschlägen die Stimme eines stöhnenden Kindes vernommen. So wurden also damals die vor alters und unter großen Mühen in tiefer Verehrung von den Gläubigen zusammengebrachten Schätze der (Hamburg-)Bremer Kirche in einer einzigen beklagenswerten Stunde für nichts dahingegeben. Nicht einmal die Hälfte der Schuldsumme konnte dadurch aufgebracht werden. Die von den heiligen Kreuzen abgenommenen Edelsteine sollen gewisse Leute an Dirnen verschenkt haben.«

Erzbischof Adalbert wurde vertrieben und zog sich auf ein Gut bei Goslar zurück; über den ausgedehnten Kirchenbesitz aber fielen nun christliche Grafen und heidnische Stammeshäupter von allen Seiten her. Gottschalk, offenbar wirklich eine bemerkenswerte Gestalt an dieser Zeitwende, wurde erschlagen, wobei der Chronist Adam andeutet, dass die Mörder zwar Heiden gewesen seien, dass hinter der Untat jedoch ein Sachsengraf gestanden habe. Am 7. Juni 1066 kam es bei der Erstürmung der Burg Lenzen zu einem großen Morden, dem auch Priester und Missionare erlagen, und am 15. Juli wurden der Mönch Answer und seine Gefährten gesteinigt.

»Der greise Bischof Johannes und die übrigen Christen in der Burg Mecklenburg wurden als Gefangene für die Siegesfeier aufgespart. Für sein Bekenntnis zu Christus erhielt er Stockschläge und wurde dann zum Hohn in den verschiedenen Slawenorten herumgeführt; da man ihn der Sache Christi nicht abspenstig machen konnte, hieb man ihm Hände und Füße ab und warf seinen Leib auf die Gasse; sein Haupt aber wurde abgeschnitten. Die Heiden spießten es als Siegeszeichen auf und opferten es ihrem Gott Redigost. Das geschah am 10. November in der slawischen Hauptburg Rethra.«

Johannes war ein schottischer Missionar, den andere Quellen Jon Irski nennen. Um die Lokalisierung des mitten in ungeheuren Wäldern liegenden Hauptheiligtums der Slawen, die Tempelstadt Rethra, haben sich der Vorgeschichtsforscher Schuchhardt und andere ohne schlüssigen Erfolg bemüht. Der tschechische Historiker Jan Filip, der die neuesten Forschungen zusammenfasst, sagt nur »irgendwo in Mecklenburg« und bringt die in westlichen Quellen belegte Bezeichnung Urbs Tricornis, die Dreihörner-Stadt. Der Wanzkaersee südlich von Stargard oder aber der Südosten Mecklenburgs kommen in Frage. Die aufgebrachten Slawen rächten sich für die jahrelange Unbill durch die Christen nicht nur an Priestern und Missionaren; auch die junge Witwe Gottschalks, Tochter des Dänenkönigs, fiel in der Obotritenfestung Mecklenburg mit ihren Frauen den heidnischen Angreifern in die Hände; man jagte sie schließlich nackt in die Wälder. Ihr kleiner Sohn Heinrich wurde, offenbar von treuen Dienern, nach Dänemark gerettet, denn er herrschte später noch bis 1127 über die Obotriten; Gottschalks Sohn Butue von einer anderen Frau und vermutlich früher geboren, fiel 1075 bei Plön. Die Slawen standen unter der Führung eines Kriegskönigs namens Kruto. »Seine siegreichen Scharen verheerten das ganze Hamburger Land mit Feuer und Schwert. Fast alle Bewohner Stormarns (das heißt des Landes zwischen Stör, Trave und Bille) wurden erschlagen oder gefangen weggeschleppt, die Burg Hamburg gründlich zerstört – etwa zugleich mit Schleswig –, und als Spott auf unseren Erlöser verstümmelten die Heiden sogar Kreuze … Blusso, der eine Schwester Gottschalks zur Frau hatte, soll der Unheilstifter gewesen sein; auch er wurde nach der Heimkehr ermordet. Das ist der dritte Abfall der Slawen (vom Christentum), die zum ersten Mal Karl (der Große) für das Christentum gewonnen hatte, zum zweiten Mal Otto (der Große), zum dritten Mal jetzt Fürst Gottschalk. So fielen alle Slawen während dieses allgemeinen Aufstands wieder ins Heidentum zurück, und alle, die am (christlichen) Glauben festhielten, waren erschlagen. Vergeblich kämpfte unser Herzog Ordulf in den zwölf Jahren, um die er seinen Vater überlebte, oftmals gegen die Slawen, nie konnte er den Sieg erringen; sogar seine eigenen Leute witzelten schon über ihn, da er jedes Mal von den Heiden geschlagen wurde.«

Aus dieser Sachlage wird deutlich, warum die große deutsche Ostsiedlung nicht an die Festigung des Reiches durch Otto den Großen anschließen konnte.

Polen war christlich und lag in der Größe, die ihm König Boleslaw Chrobry gegeben hatte, wie ein Sperrriegel quer vor den entfernteren Slawenländern. Die Ostseeslawen aber, die waren in einer Weise erstarkt und aufgerüstet, dass ihnen die Deutschen damals noch nicht gewachsen waren. Es rächte sich offensichtlich, dass Heinrich II. sie zeitweise zu seinen Verbündeten gemacht hatte. Die Ostseeslawen hatten die Kampfesweise der Ritter genau studiert und waren in ihrer Heimat, in den ausgedehnten Wald- und Sumpfgebieten Mecklenburgs und Wagriens, kaum zu schlagen. Wenn aber Norden und Mitte versperrt waren und Böhmen mit seinen Randgebirgen ohnedies dem deutschen König untertan, wohin sollte dann das auswanderungswillige Bauernvolk aufbrechen?

Der Wandel der Situation konnte also nicht aus den deutschen Ländern selbst kommen, es bedurfte der Anstöße von außen. Diese waren einmal wirtschaftlicher Art, soweit sie aus dem flandrischen und niederländischen Raum kamen, zum andern aber politisch-religiösen Charakters.

Westlich und südlich der Ems war der Christianisierungsprozess schon in den Zeiten der Karolinger abgeschlossen worden, so hartnäckig der Widerstand der Friesen auch gewesen war. Dies kam wohl daher, dass die Landschaften am Niederrhein und an der Maas nach dem Abebben der Wikinger-Überfälle eine beträchtliche Blüte des Verkehrs, der Stadtkultur und frühindustrieller Werkstätten zu verzeichnen hatten, und wenn es einer Bevölkerung wirtschaftlich gut geht, dann hält sie naturgemäß auch lieber an diesen Verhältnissen friedlich fest, als sie durch Revolten zu gefährden.

Die flandrischen Tuche waren bald ebenso ein Begriff wie die Erzeugnisse der Metallwerkstätten am Oberlauf der Maas, und die nahen nordfranzösischen Märkte schufen für diese Waren ebenso gute Absatzmöglichkeiten wie die Hafenorte in den Mündungen von Schelde und Rhein. Der wachsende Wohlstand erfasste zwar die bäuerlich gebliebenen Gebiete von Brabant nicht im gleichen Maß, aber es war nun Geld im Land. Die landwirtschaftlichen Produkte ließen sich in den Städten zu guten Preisen absetzen, und die Bauern trachteten nicht nur nach einer Vergrößerung der Anbauflächen, sondern auch nach ihrer Sicherung gegen das Meer.

Was in den Niederlanden seit dem neunten Jahrhundert und unterstützt durch den allgemeinen Wohlstand an Damm- und Kanalbautechniken entwickelt wurde, blieb für ganz Europa jahrhundertelang vorbildlich. Als die holländischen Fachleute, die diese Künste beherrschten, in ihrem kleinen Land keine nennenswerten Möglichkeiten mehr sahen, neues Bauernland dem Meer abzugewinnen, setzte eine zahlenmäßig zunächst schwache, in ihren Methoden jedoch höchst folgenreiche Abwanderung nach Osten ein. Sie wurde ermutigt durch die großzügige Förderung, die in den Niederlanden selbst die wohlhabenden Grundherren und Grafen allen jenen Siedlern zuteilwerden ließen, die bisher in den kleinen Räumen zwischen Ärmelkanal und Maas die letzten Geestflächen und Heidegebiete urbar gemacht hatten. »Die Siedler wurden durch Zusicherung bedeutender Vorrechte nach den Ödländereien gelockt. Grund und Boden wurden ihnen für mäßige Abgaben überlassen. Ihre Rechtsstellung wurde in ähnlich freiheitlicher Weise wie in den neuen Städten geregelt. Diese Kolonisten wurden als Gäste (hospites) des Fürsten behandelt, sie galten von vornherein als freie Leute (franci homines). Vielerorts wurden die bäuerlichen Bewohner dieser villes neuves einfachhin Bürger genannt. Durch die Anziehungskraft dieses neuen Vorbildes bahnte sich eine völlige gesellschaftliche Umwälzung an« (Stadtmüller).

Sie musste von wirtschaftlich blühenden, relativ dicht besiedelten Gegenden ausgehen, und da es nördlich der Alpen kein Land gab, auf das diese Kriterien in höherem Maß zugetroffen hätten als die Niederlande mit ihrem flandrischen Vorfeld, setzte dort eine Ostbewegung ein, die zunächst von den binnendeutschen Bauern noch nicht aufgenommen und fortgesetzt werden konnte. Zwar hatte der geschilderte Landesausbau auch am Rhein die letzten Freiräume gefüllt, aber eben noch nicht überfüllt. Heinrich Dannenbauer hat schon 1940 dargelegt, dass von einer Übervölkerung des alten Reichsgebietes im elften Jahrhundert noch nicht gesprochen werden kann. Das deutsche Königreich zwischen Cambrai und Magdeburg, zwischen Hamburg und Bozen hatte etwa 440 000 bis 460 000 Quadratkilometer, auf denen maximal sechs Millionen Menschen lebten, also etwa dreizehn Menschen auf dem Quadratkilometer. Das sind Zahlen, die nicht absolut verlässlich sind, aber eine Vorstellung geben. – Hätten die deutschen Könige nach dem britischen Vorbild Wilhelms des Eroberers eine genaue Zählung der Höfe und Häuser in Deutschland vornehmen lassen, also ein deutsches »Domesday Book« geschaffen, wüssten wir mehr.

Der erste und zunächst noch dünne Siedlerstrom aus den Niederlanden konnte, wie dargelegt, nicht geradenwegs nach Nordosten wandern; dort war die militärische Überlegenheit der Ostseeslawen noch nicht gebrochen. Die Auswanderer konnten auch nicht nach Südosten ziehen, weil ihnen die Bergnatur doch wohl zu fremd war und weil die Bayern inzwischen die Alpenslawen abgedrängt und auch an der Donau Raum nach Südosten gewonnen hatten. Blieb also die Mitte des Reiches, das Land zwischen Elbe und Saale, das einzige, das seit Karl dem Großen, Heinrich I. und Otto dem Großen den Slawen nicht nur abgerungen, sondern auch gegen sie gehalten worden war. Weder der große Slawenaufstand von 983 noch die Erfolge der Ostseeslawen im frühen elften Jahrhundert hatten hier die deutschen Grenzgebiete und ihre Burgen ernsthaft gefährdet. Aber obwohl vier deutsche Bischöfe hier erfolgreich amtierten, obwohl die slawische Vorbevölkerung unter dem Druck der deutschen Grundherren abwanderte oder sich angesichts der überharten Lebensbedingungen verminderte, waren fast keine deutschen Neusiedler bis hierher gelangt, nur die Kaufleute hatten die große West-Ost-Straße von Köln über Magdeburg zunehmend genutzt.

Die Deichbauer, aber auch die bäurischen Kolonisten aus den Niederlanden sind also begehrt, und die Bischöfe von Bremen und Magdeburg müssen sich dazu verstehen, den Einwanderern genau ausgearbeitete Verträge zuzubilligen. Damit entsteht auch der Typus jenes Mannes, den man nun dreihundert Jahre lang den Locator nennen wird. Er ist eine Art wandernder Bürgermeister, der die Bedingungen aushandelt, den Auswandererzug führt und betreut und am Ort die Niederlassung, die Grundverteilung, die ersten Organisationsformen überwacht, auch selbst viele Entscheidungen fällt. Durch diese Tätigkeit naturgemäß bevorrechtet, darf er sich meist selbst gute Grundstücke aussuchen, die ihn nichts kosten und oft größer sind als die seiner Schutzbefohlenen. Als die Partner dieser niederländischen Lokatoren erscheinen an der Wende vom elften zum zwölften Jahrhundert in erhaltenen Urkunden zahlreiche deutsche Kirchenfürsten, aber auch Äbte, viel seltener weltliche Autoritäten: Erzbischof Friedrich von Bremen und Hamburg (es geht um trockenzulegendes Bruchland an der Unterweser), Bischof Udo von Naumburg (über die Ansiedlung von Holländern in Flemmingen), Bischof Gerung von Meißen (Einweisung der Flamen in das Dorf Kühren bei Wurzen), Abt Arnold vom Kloster Ballenstedt (er verkauft den Einwanderern zwei ehemals slawische Siedlungen an der Mulde östlich von Dessau).

Obwohl diese Verträge natürlich nach den örtlichen Gegebenheiten differieren, genügt es, einen einzigen näher anzusehen; die Grundbestimmungen und Zusicherungen, auf die eine Einwanderergruppe Wert legen musste, waren im ganzen Jahrhundert die gleichen:

»Wissen möge die Gesamtheit der Getreuen jetzt und in Zukunft, dass ich, Wichmann, durch Gottes Erbarmen Erzbischof der heiligen Kirche von Magdeburg, dem Heinrich und anderen Flamen, die durch ihn und mit ihm zu mir kommen, das Dorf Wusterwitz nahe bei der Havel übergeben habe, mit allem Zubehör dieses Dorfes – den bebauten und unbebauten Fluren, Wäldern, Wiesen, Weiden, Gewässern und Wasserläufen, Teichen und Fischwassern; und zwar sollen sie in allem das Recht von Schartau haben.«

Wusterwitz liegt westlich von Brandenburg bei dem Dorf Kirchmöser; Schartau ist eine waldnahe Siedlung unweit Magdeburg, wo schon vorher Flamen angesiedelt worden waren. Heinrich ist der Lokator, und die nachfolgenden Bestimmungen lassen erkennen, dass ein tüchtiger Mann seines Schlages mit einem einzigen solchen Zug von den Niederlanden nach Ostsüdost sein Glück machen konnte:

»Auch habe ich Heinrich und seinen Erben vier Hufen und ein Talent dort als Lehen überlassen; eine Hufe aber habe ich der Kirche, die dort mit Gottes Hilfe erbaut werden soll, sozusagen als Morgengabe geschenkt.«

Die Hufe war eher ein ideeller Begriff als ein exaktes Flächenmaß, und wenn man auch für die flämischen Einwanderer in der Regel die sogenannte Kulmer Hufe als Grundlage wählte, so war im zwölften Jahrhundert doch nicht mehr genug freier Boden vorhanden, um das alte Maß von dreißig Morgen je Hufe zu erfüllen. Es gab auch die unterschiedlich großen Wald- oder Moorhufen, und es gab bald auch Halb-Hufener, also Bauern, die keine ganze Hufe erhielten und mit einem anderen (beim Viertelhufener mit drei anderen!) zu einer Zins- oder Zehntgemeinschaft zusammengefasst waren. Diese komplizierten Bezeichnungen haben allerdings die Jahrhunderte der Eigennamen-Abschleifung durch zahllose Kanzlisten und Taufregisterführer nur zum geringsten Teil überlebt. So häufig die Höfner und Huber sind, so selten sind die Halbhuber, Viertlbauer usw.

»Ich habe auch den Bewohnern des Dorfes zugestanden, dass sie frei und ledig von dem sogenannten Burgwerk-Dienst sein sollen, die Verpflichtung ausgenommen, sich zu Schutz und Trutz gegen die benachbarten Heiden mit einem Wall zu umgeben.« Es handelte sich also praktisch um Wehrbauern, wie sie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an vielen Orten kennt, als chinesische Wehrbauern, die gegen die Nomadenzone Nordwestchinas vorgeschoben werden, als christliche Wehrbauern gegen die Türken im Donau-Save-Raum. Flamen mussten also die Grenzen des deutschen Königreichs verteidigen, wodurch sie allerdings auch die eigene Haut retteten. Die Verpflichtung zu solchen Bauten fehlt nie, nur ist in manchen Gegenden der Damm- oder Deichbau gegen Hochwasser oder zur Trockenlegung wichtiger als der Bau von Befestigungen, so zum Beispiel auf der Wüstung Poppendorf an der Elbe.

»Bestätigt wird auch, dass sie außer Heinrich weder Grafen noch Vogt über sich haben sollen. Heinrich aber oder sein Erbe soll all ihre Streitsachen und Rechtshändel entscheiden, und von allen Gerichtsgefällen sollen zwei Teile zu Nutzen des Erzbischofs gehen, ein Teil aber dem Richter gehören.«

Heinrich als Lokator hatte also über sich nur den Erzbischof, der auch der Gerichtsherr war, das Richteramt selbst aber dem Lokator überließ, ein Maß an Eigenständigkeit, wie es heute keine Gemeinde mehr genießt. Die Bauern hatten damit die Gewissheit, in allen üblicherweise vorfallenden Streitsachen von einem der Ihren gerichtet zu werden.

»Die Bauern sollen jährlich für jede Hufe zwei Schilling am Sankt-Martins-Fest zahlen und außerdem für alle zehntpflichtigen Dinge den vollen Zehnt. Weil aber die Lage des Dorfes für Reisende und Handeltreibende ganz besonders günstig ist, habe ich nach dem Rat meiner Getreuen festgesetzt, man solle dort jährlich einen großen Markt halten mit möglichst vielen Waren; den Markthändlern aber und Fernkaufleuten, die dort wohnen werden, habe ich das Recht zu Kauf und Verkauf, sowie voll und ganz das Recht, das die Magdeburger haben, in allen ihren Rechtshändeln und Geschäften gewährt und bestätigt, und sie sollen keinen weltlichen Richter über sich haben außer dem schon mehrfach genannten Heinrich und seinen Erben.«

Die Siedlung wird außerdem für fünf Jahre von Zoll- und Wegegeld befreit, ein Beweis dafür, wie sehr man in diesem Jahrhundert schon auf den Handel als Hilfe für das Gedeihen neuer Siedlungen setzte; die Havel hatte schon den Slawen als ein wirtschaftlich wichtiger Wasserweg gedient. Die neu angesiedelten Bauern sollten die Möglichkeit haben, den nach dem Slawenabzug zurückgegangenen Handel wieder in den Ort zu locken. Der Hinweis auf das magdeburgische Recht sollte vor allem die Fernkaufleute beruhigen, denn Magdeburg war ein in ganz Ostmitteleuropa bekannter Handelsplatz, an dem sich auch Kaufleute exotischer Herkunft einfanden. So mancher Chronist hat sie uns geschildert, in Pelze gehüllt, Knoblauch kauend, ungewaschen und unrasiert, zu jedem Suff und Totschlag aufgelegt. Das galt natürlich nicht für alle, aber kam doch nicht selten vor, und dann musste jeder wissen, nach welchem Recht geurteilt werde, kam doch so mancher Händler aus Ländern, wo man mit dem Nasen- und Ohrenabschneiden oder gar dem Abhacken einer Hand nicht lange zauderte. Auch für den Fernhandelsmarkt, den der gleiche Erzbischof in Jüterbog begründete, bestimmte er die Geltung magdeburgischen Rechts. In diesem Fall macht der Urkundentext noch deutlicher, dass man die Einwohner vor einem wirtschaftlichen Rückgang bewahren wolle, wie ihn der Ausfall des Slawenhandels zumindest vorübergehend mit sich bringen musste: »Da es mit Hilfe der Gnade Gottes und durch Unsere Bemühungen dahin gekommen ist, dass in der Landschaft Jüterbog, wo das Heidentum im Schwange war und oft Verfolgung über die Christen kam, jetzt der christliche Glaube herrscht … ist es Unser brennender Wunsch … Schutz und Wohlfahrt all derer, die in diese Landschaft gekommen sind und noch kommen werden, mit nicht geringerem Eifer zu fördern als den Ertrag zu Unserem eigenen Nutzen.«

Die Urkunde über die Neubegründung von Großwusterwitz schließt dann mit der Bestimmung, dass auch die Bauern eine Abgabenbefreiung ähnlich wie die Händler auf fünf Jahre erwarten dürfen. Danach haben sie dann je Hausstelle »jährlich sechs Pfennig zu zahlen in Ewigkeit«.

Die Umrechnung dieser Angaben ist stets eine Crux, vor allem, da um jene Zeit der Schilling zu 30 Pfennig noch keine Münze war, sondern Rechnungseinheit, als Basis für Naturalabgaben. Die ersten Schillingmünzen dieses Bereichs prägte Winrich von Kniprode zweihundert Jahre nach den erzbischöflichen Ansiedlungsverträgen, und dann gingen 112 Schillinge auf eine Mark zu 1,87 Gramm Feingold – sehr viel war es also nicht, was die Bauern zinsen mussten, vor allem, da die Währung sich fortlaufend verschlechterte. Und doch mag in Jahren karger Ernten selbst diese geringe Abgabe vielen Einwanderern schwergefallen sein.

Die Bedeutung solch eines Vertrages geht aus der langen Reihe der Zeugen hervor, die ihn mitunterzeichneten: neben hohen geistlichen Herren finden wir einen Markgrafen, zwei Markgrafensöhne und – heute noch bekannte Adelsnamen – einen Richard von Alsleben und einen Otto Vitztum noch ohne Adelsprädikat. Dokumente wie diese haben also auch ihre genealogische Bedeutung und sind oft die einzige Spur von Dasein eines sonst nicht hervorgetretenen Mannes.

Es gibt heute wieder schwer zu entscheidende Auseinandersetzungen über diese und ähnliche Vereinbarungen zwischen großen Herren und armen Bauern. Die DDR-Forschung betont, dass die eigentliche harte Arbeit von den Siedlern geleistet wurde, die ausgedehnten Deichbauten am östlichen Elbufer, die kaum minder schwierigen Drainagearbeiten im Weserbruch und die Wiederbelebung der Wüstungen im Havel-Raum. Erdarbeiten dieser Art zählen noch heute zum schwersten Einsatz menschlicher Kraft, das wissen wir vom Schicksal der Moorsoldaten ebenso wie aus den Kanalbauten im Norden und Osten der Sowjetunion und im Donaumündungsgebiet Rumäniens. Keine Statistik meldet, wie viele der hoffnungsvoll ausgezogenen Flamen und Niederländer in diesen gewaltigen Unternehmungen den Tod gefunden haben, und von den Familien, die dieses Schicksal mitgetragen haben, spricht kaum ein Dokument; der Vertrag über Jüterbog oder der Vertrag über Großwusterwitz, sie sind ausschließlich von männlichen Zeugen unterfertigt.

Aber auch wenn man dies einräumt – und niemand wird die Härte solchen Einsatzes leugnen wollen –, bleibt den Herren der Bistümer und den Grafen doch das Verdienst, die Landgewinnung selbst erst möglich gemacht zu haben. Immerhin waren die Slawen ja nicht gutwillig gegangen, sie hatten Position um Position im Kampf aufgeben müssen, und auch bedeutende Fürsten wie Heinrich der Löwe hatten einen Gutteil ihres Lebens im Slawenkampf zugebracht. Die Siedlung war eine Gemeinschaftsleistung, über deren Größe und Schwierigkeiten wir erst seit einigen Jahrzehnten einen zutreffenden Überblick haben, und sie schuf die Voraussetzung für die Integration der Wagrier, des wehrhaften Ostseeslawenstammes, der sich erst für das Christentum entschied, als die deutschen Siedler vom Holsten- und vom Stormarngau aus immer dichter ins Slawengebiet einsickerten: Holländer, Friesen und zum ersten Mal auch Bauern aus Westfalen.

Eine wirkliche Wende, den Übergang zu einer echten Expansion mit beträchtlichem Übervölkerungs-Druck, sahen das elfte und zwölfte Jahrhundert noch nicht. Der Zustrom an Kolonisten, Deichbauern und Drainage-Technikern war nützlich, ihre Arbeit war verdienstvoll und für viele Generationen segensreich. In schwierigsten Gebieten an der Slawengrenze wurde Siedlungsraum geschaffen, aber all dieses Urbarmachen war letztlich nichts anderes als das, was wir auch aus Innerdeutschland schon kennen: Nutzung vorhandener Möglichkeiten, Zugewinn bescheidenen Ausmaßes am Rand erschlossener Gebiete, in politisch und militärisch bereits gesicherten Lebensbereichen der Deutschen.

Das hätte noch lange so weitergehen können und wäre immer mühseliger geworden, weil natürlich zunächst jene Flächen in Angriff genommen wurden, die sich dafür anboten, die geringere Schwierigkeiten machten. Und wäre es nach den Königen und Kaisern gegangen, so wäre es wohl auch noch lange so geblieben, reichte der Bevölkerungsdruck doch nur zur Auffüllung der deutschen Randgebiete, nicht aber zu gewaltsamen Aktionen über die deutsche Ostgrenze hinaus. Die politisch-militärischen Interessen und Engagements der Stauferherrschaft hatten nämlich eine andere Richtung eingeschlagen: die immer neuen Italienzüge der deutschen Herrscher banden wichtigste Kräfte in der Lombardei und in Mittelitalien, also in dicht besiedelten Gebieten, in die vorzudringen der deutsche Bauer keine Chance und wohl auch keine Absicht hatte.

Damit blieb der weitere Landesausbau an der Slawengrenze, blieben aber auch die politischen und militärischen Probleme dieser Grenze weitgehend den deutschen Territorialfürsten überlassen. Sie waren nun nicht mehr Markgrafen wie unter den Karolingern, sondern Fürsten eigener Herrschaften mit einer in ihren Besitztümern nur wenig beschränkten Befehlsgewalt. Wir haben gesehen, dass Erzbischöfe und Bischöfe Einzelverträge mit Siedlergruppen abschlossen, in denen weitgehende Vergünstigungen auch für die Zukunft zugesichert wurden; die Landesherren hatten darüberhinausgehende Möglichkeiten. Sie konnten begrenzte Feldzüge führen, sofern dadurch ihre Heerfolge für die Unternehmungen des Königs oder Kaisers nicht beeinträchtigt war und wenn dadurch nicht ein das ganze Reich schädigender Krieg entstand. Einen Fürsten wie den Polenkönig anzugreifen, das wäre Außenpolitik gewesen und in die Kompetenz des Königs gefallen; die staatlich weniger klar organisierten Ostseeslawen mit Krieg zu überziehen, bedeutete demgegenüber kein politisches, nur ein militärisches Risiko. Und da die Slawen an der Ostsee nach ihren großen Aufständen auch so gut wie vollständig ins Heidentum zurückgefallen waren und nicht wenige christliche Missionare erschlagen, Kirchen niedergebrannt und Klöster ausgeraubt hatten, ließ sich ein Feldzug gegen sie für das übrige Reich unschwer als Vergeltungsmaßnahme hinstellen.

Mission mit dem Schwert

Das hohe Ziel und die üblen Taten – Wohin mit den überzähligen Söhnen? – Aus dem Pruzzenland wird Preußen – Das Debakel von Tannenberg im Jahr 1410 – Königsberg, das Wunder einer Stadt – Das geheimnisvolle Truso – Elbing, oder: eine Meeresbucht wird zum See.

Es gehört zu den bestürzenden Widersprüchen der Weltgeschichte, dass zur Erreichung der höchsten Ziele die niedrigsten Taten vollbracht werden: in Eroberungszügen gegen Naturvölker, in Bekehrungsoperationen gegen Menschen, die auf ihrem Grund und Boden ja weiß Gott auch das Recht haben mussten, auf ihre angestammte Weise religiös zu sein und zu bleiben. Wehrten sich die Angegriffenen, so avancierten die erschlagenen Angreifer zu Blutzeugen, und die Priester unter ihnen wurden als Märtyrer heiliggesprochen.

Niemand wird den Glaubensboten des hohen Mittelalters persönlichen Mut und tiefe Religiosität absprechen; sie glühten für den Glauben, sie setzten ihr Leben für ihn ein. Es hat ja auch von Bonifatius, dem Apostel der Deutschen, bis zu Adalbert von Prag sehr viele unter ihnen gegeben, die für ihr Ziel, das Christentum auszubreiten und das Heidentum zu vernichten, in den Tod gingen. Betrachten wir freilich die Ereignisse genauer, studieren wir die Augenzeugenberichte in den Heiligenviten, die gewiss den Heiden nicht freundlich gesinnt waren, so zeigt sich jedoch, dass die waffenlosen Prediger des Christentums so lange mit heiler Haut davonkamen und allenfalls gewaltsam außer Landes gebracht wurden, als sie sich nicht selbst zu Aktionen gegen Heiligtümer oder Heidenpriester hinreißen ließen. Nicht immer herrschte bei den Heiden Einmütigkeit über solch glimpfliche Verfahren; wir wissen von Meinungsverschiedenheiten aus Niedersachsen, von Helgoland und von Birka in Schweden, wobei die junge Generation der Heiden meist für kurzen Prozess war, während sich die Toleranz der Älteren schließlich so gut wie immer durchsetzte. Es ging dabei nicht nur um die Religion, sondern um einen uralten, merkwürdigerweise bei Völkern aller Sprachen und Rassen von Gibraltar bis Kamtschatka geachteten Grundsatz, dass der Waffenlose an Leib und Leben ungekränkt bleiben müsse, auch auf fremdem Territorium. Diese ungeschriebene Regel war zwar ursprünglich für die Wanderhändler geschaffen worden, weil die ja einfach ins Land kommen mussten. Und über die Händler hatte sich diese jahrtausendalte Duldsamkeit schließlich auch zugunsten der Missionare für die römische, für die griechische und für die arianische Kirche ausgewirkt, in Osteuropa auch für jüdische und islamische Missionare. Natürlich wurden Kaufleute gelegentlich von Räubern überfallen, aber das stellte den großen, gültigen Landfriedensgrundsatz nicht in Frage, waren die Räuber doch auch für ihr eigenes Volk Asoziale und Gesetzesbrecher. Wäre es anders gewesen in der Welt, weder Herodot noch Ibn Battuta, weder Marco Polo noch Roebroek hätten uns von ihren Reisen berichten können, und die viele Jahre währende waffenlose Pilgerschaft des Cabeza de Vaca quer durch die Indianergebiete des südlichen Nordamerika wäre ebenfalls unmöglich gewesen – um nur fünf aus Hunderten von Beispielen anzuführen.