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Über dieses Buch:

Eine alte schwedische Villa, Rosen ranken sich um die Haustür und Efeu über die Veranda … Für Bonita ist ihr Zuhause jedoch weit von einem Paradies entfernt: Seit Jahren schon pflegt sie ihre alte Mutter und verliert sich im Alltagstrott – bis Doris im Nachbarhaus einzieht, deren Traum von der großen Liebe gerade zerplatzt ist. Doch wozu sind Freundinnen da, wenn nicht, um dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen? Als sie in dem kleinen Städtchen auf weitere Frauen treffen, die sich in ihrem Leben ein wenig verrannt zu haben scheinen, kommt den beiden eine verwegene Idee: Könnte Bonitas Villa für sie alle vielleicht eine kleine Insel des Glücks werden?

Unterhaltsam, charmant und liebenswert: »Karin B. Holmqvists Bücher sind typisch schwedisch und mit einer ganz besonderen Wärme erzählt«, sagt der erfolgreiche schwedische Blog ›En bokcirkel för alla‹.

Über die Autorin:

Karin B. Holmqvist, geboren 1944 im südschwedischen Simrishamn, machte eine kurze Karriere in der Kommunalpolitik und arbeitete anschließend als Sozialarbeiterin. In ihrer Freizeit ist sie Kabarettistin und schreibt Romane sowie Gedichte.

Bei dotbooks veröffentlichte Karin B. Holmqvist bereits ihre Romane »Schwedischer Sommer«, »Schwedisches Glück«, »Schwedische Herzen«, »Das fabelhafte Haus des Glücks« und »Die Liebe kommt an Regentagen«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe September 2020

Dieses Buch erschien unter dem Titel »Villa mit Herz« bereits 2008 bei Piper und 2018 bei dotbooks.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2006 Karin Brunk Holmqvist

Die schwedische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Villa Bonita« bei Kabusa Böcker, Göteborg

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/united photo studio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-375-4

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Karin B. Holmqvist

Die kleine Villa mit Herz

Roman

Aus dem Schwedischen von Holger Wolandt und Lotta Rüegger

dotbooks.

Kapitel 1

Die Fliederdolden hingen schwer über den ungestrichenen Holzzaun. Die Beete in dem großen Garten waren voller Unkraut. Vereinzelte Blumen bahnten sich unverdrossen zwischen Löwenzahn und Brennnesseln einen Weg zur Sonne. Im Beet vor der Veranda lagen eine Harke und eine Schaufel und verrieten, dass jemand zumindest die Absicht gehabt hatte, für Ordnung zu sorgen.

Der Sommerabend war ruhig, und man hatte den Eindruck, man könne die Schritte der Marienkäfer auf den Steinplatten hören, die zum Haus führten. Das Holzhaus war zweistöckig und hatte eine große Glasveranda. Die grüne Farbe blätterte schon ein wenig von den Häuserwänden, und über der Tür hing ein großes Schild mit dem Namen Villa Bonita. Die Tür war von Kletterrosen umrahmt, die sich ungezähmt einen Weg in den nach Blumen duftenden Juniabend suchten.

Das alte Villenviertel lag am Rande von Ystad. Hier hatten sich wohlhabende Bürger in den Dreißigerjahren ihre Häuser gebaut. Die meisten Anwesen besaßen prächtige, gepflasterte Auffahrten mit Buchsbaum in großen Terrakottatöpfen und blühenden Bonsais. Die Villa Bonita hingegen glich einem verzauberten Schloss, hinter dessen großen Sprossenfenstern man fast mit dem Anblick eines vorbeiflatternden Gespenstes gerechnet hätte. Es bestand jedoch kein Zweifel, dass das Haus mit seinen majestätischen Schnitzereien um Fenster und Veranda einst eines der prächtigsten des Viertels gewesen war.

Zwischen den Häusern zog vom Meer her ein Geruch nach Tang durch. Die Dämmerung erstickte den Sommerabend regelrecht und versuchte den Tag zu vertreiben, indem sie ihren dunklen Flor wie eine Persenning über die ganze Stadt legte. Der Schrei im Inneren des Hauses ließ die Scheiben erzittern.

»Ruhe!«

Bonita Larsson biss die Zähne zusammen. Sie ballte die Hände in den Taschen ihrer Schürze zu Fäusten und betrat das Wohnzimmer. Als sie eintrat, schrie sie erneut:

»Ruhe!«

In einem Bett an einer Längsseite des Zimmers lag Elvy Larsson. Sie wirkte verängstigt und zog mit ihren schmalen, sehnigen Händen, unter deren Haut sich blaulila Adern abzeichneten, vorsichtig die Decke über das Kinn.

»Sag Assar, dass er kommen soll«, sagte sie mit schwacher Stimme.

»Er ist tot, Mutter, er ist doch tot ...«

Bonita ging auf das Bett zu. Ihre Mutter zog die Decke weiter ins Gesicht, und ihr Blick suchte verängstigt im Zimmer herum.

»Stimmt das?«

»Das weißt du doch, Mutter. Vater ist schon lange tot.«

»Du lügst, Bonita. Er war eben noch hier. Hol ihn«, fuhr die Mutter jetzt ungeduldig fort, fuchtelte mit der Hand herum und stieß dabei das Wasserglas vom Tisch.

»Ruhe, Mutter!« Bonita hielt sich die Ohren zu und ging in die Küche.

»Ruf ihn, Bonita«, war die verzweifelte Stimme der Mutter zu vernehmen.

Bonita knallte die Tür zu und setzte sich an den Küchentisch. Sie legte den Kopf in die Hände, starrte auf das Wachstuch mit den roten Blumen und atmete tief durch.

»Ruf ihn, Bonita«, fuhr ihre Mutter mit immer schwächerer Stimme fort.

Bonita tat, als würde sie nichts hören. Sie ging zum Spülbecken und begann ein paar Kaffeetassen abzuwaschen.

In einem Käfig auf der Spüle lärmte ein Nymphensittich. Bonita schlug mit der flachen Hand fest auf den Käfig, und der Vogel flatterte verängstigt mit den Flügeln. Vogelsand wirbelte auf die frisch gespülten Tassen. Bonita nahm eine der Tassen und pfefferte sie auf den Käfig. Sie zersplitterte, und die Scherben regneten auf die Spüle.

»Ist Assar jetzt gekommen?«

Die Küche war groß und hatte ein hohes Fenster zum Garten. Die hohen Kastanien davor verhinderten jedoch, dass das Licht mit voller Kraft in die Küche drang. Sie wirkte kalt, dunkel und ungastlich.

Bonita trat ans Fenster. In den letzten zehn Jahren hatte sie jeden Abend am Küchenfenster gestanden, wenn der Pflegedienst seinen Abendbesuch bei der Nachbarin Olga Kvist machte. Letzte Woche waren sie zum letzten Mal gekommen. Bonita hatte wie immer an ihrem Platz gestanden, als die beiden Frauen vom Pflegedienst ihre Fahrräder an die Ligusterhecke vor Olgas Haus gelehnt hatten. Sie waren nur kurz im Haus gewesen und hatten es dann sofort wieder verlassen. Am folgenden Morgen hatte dann der Leichenwagen auf der Straße gehalten, und zwei unauffällig gekleidete Herren hatten einen Sarg ins Haus getragen. Wenig später hatte dann Olga ihre letzte Reise angetreten.

Als Bonita am Abend zu Bett gegangen war, hatte sie sich des Wunsches nicht erwehren können, sie hätten ihre Mutter abgeholt. Bonita wusste jedoch, dass diese bei aller Gebrechlichkeit ein starkes Herz besaß. Dr. Koch hatte bei seinem letzten Besuch freundlich und aufmunternd zu Bonita gesagt:

»Sie wird noch hundert, mindestens.«

Das Obergeschoss wurde seit dem Tod des Vaters nicht benutzt. Den beiden Frauen gelang es ja kaum, die Räumlichkeiten im Erdgeschoss mit Leben zu erfüllen. Das Elternschlafzimmer, Bonitas Mädchenzimmer, die Dienstmädchenkammer und die große Bibliothek im ersten Stock waren unverändert geblieben – wie eine versteinerte Erinnerung an eine Zeit, in der das Haus von Freude und Geselligkeit erfüllt gewesen war.

Bonita holte die Medikamentenschachteln aus dem Schrank, legte ein paar Pillen zusammen mit einem Glas Saft, einem Teelöffel und einem kleinen Glas Marmelade auf ein Tablett. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer hielt sie inne, holte tief Luft und trat dann ein.

»Zeit für deine Tabletten, Mutter«, sagte sie übertrieben freundlich.

»Was würde ich nur ohne dich tun, mein Mädchen«, erwiderte ihre Mutter zärtlich.

Assar erwähnte sie nicht. Es war, als hätte das vorhergehende Gespräch nie stattgefunden. Bonita legte eine Tablette auf den Teelöffel, tat etwas Marmelade darauf und hielt ihn ihrer Mutter ihn. Diese riss den Mund auf wie ein Vogeljunges seinen Schnabel. Ihr dünnes, graues Haar klebte wie Watte am Schädel, vermochte aber kaum die weißrosa Kopfhaut zu verbergen.

»Wasser?« Bonita reichte ihr das Glas. Die Mutter nahm einen Schluck, behielt das Wasser aber im Mund, als hätte sie Angst vor dem Schlucken. Sie setzte mehrmals an, schluckte dann, wobei sie das Gesicht verzog, und hustete anschließend.

»Die hier gehen leichter. Die kannst du wie Süßigkeiten essen.« Bonita lachte krampfhaft.

»Die Marmelade ist gut. Ist das die, die du letzten Sommer gekocht hast?«

Bonita antwortete nicht, sondern seufzte. Das Haar fiel ihr in die Stirn. Sie warf den Kopf zurück und strich sich dann die Strähne mit der Hand hinters Ohr.

»Die Marmelade ist wirklich gut geworden, findest du nicht auch, Bonita?«, fuhr die Mutter fort, als sie nicht antwortete.

»Wir haben letztes Jahr keine Marmelade gekocht, das weißt du.«

»Unsinn, das siehst du doch, Mädchen.« Die Mutter deutete auf das Glas und sah ihre Tochter vorwurfsvoll an.

»Wir haben keine Marmelade gekocht, hörst du nicht?«, schrie Bonita. »Auf dem Glas steht Findus ... siehst du das denn nicht? Das ist die Marmeladenfirma!« Sie hielt ihrer verängstigten Mutter das Glas unter die Nase.

»Nun ja, dann haben wir vielleicht doch nicht Marmelade gekocht«, erwiderte sie kläglich. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Tut mir leid, Mutter. Ruh dich eine Weile aus, dann bist du zum Abendkaffee wieder bei Kräften.« Bonita stellte das Tablett weg, schüttelte das Kissen auf und strich ihrer Mutter behutsam über die Stirn.

»So, jetzt ruh dich aus. Vielleicht kochen wir ja dann nächsten Sommer Marmelade.«

Elvy Larssons schmächtiger Körper wirkte in dem großen Bett sehr zerbrechlich. Neben dem Bett standen ein Rollstuhl und ein Paar weiche Filzpantoffeln. Nach dem Tod ihres Mannes war im Erdgeschoss ein Schlafzimmer für Elvy eingerichtet worden. Ein paar große Ölgemälde zierten die Wände, und in einer Ecke stand eine schöne Sitzgruppe um einen runden Tisch aus Birkenholz mit Intarsien. Die große Alabasterlampe an der Decke verbreitete ein angenehmes, goldgelbes Licht. Ein hoher abgebeizter Schrank wirkte etwas deplatziert, war aber mit allen seinen Schubladen und seiner Abstellfläche für gerahmte Fotos sehr brauchbar.

Auch die folgenden Abende stand Bonita am Küchenfenster und schaute zu Olga Kvists Haus hinüber. Ihr fehlten die Frauen vom ambulanten Pflegedienst fast. Sie hatte das Gefühl, sie durchs Fenster geradezu kennengelernt zu haben. Natürlich fehlte ihr auch Olga, aber seit ihr Vater gestorben und ihre Mutter krank geworden war, hatten sie sich kaum mehr gesehen. In Bonitas Kindheit und Jugend hatten sich die Familien regelmäßig getroffen, und sie hatte häufig mit Doris, der einzigen Tochter der Kvists, gespielt. Sie waren gleich alt und waren unzertrennlich gewesen, bis Doris von zu Hause ausgezogen war. Dann war der Kontakt abgebrochen. Doris war nur selten nach Hause gekommen, um ihre Eltern zu besuchen. Es hieß, sie habe eine gute Arbeit als Sekretärin bei einem großen Unternehmen in Malmö und sei mit einem Lehrer verheiratet. Es hieß auch, Doris sei die Hochnäsigkeit in Person und wisse ihre alten Freunde nicht mehr zu schätzen. Doris und ihr Mann waren kinderlos geblieben, und als Olgas Mann Elon gestorben war, war Doris allein zur Beerdigung gekommen. In einem schwarzen Cape und einem Hut mit breiter Krempe war sie in die Kirche gerauscht. Sie hatte ausgesehen, als käme sie direkt aus einer Modezeitschrift. Während des gesamten Trauergottesdienstes hatte sie sehr gefasst gewirkt, und Bonita hatte sich regelrecht geschämt, mehr als Doris zu weinen. Beim anschließenden Beisammensein im Restaurant hatte Doris Bonita gefragt, ob sie sich immer noch um ihre alte Mutter kümmere. Als Bonita erzählt hatte, dass sie vorhabe, das so lange zu tun, wie sie die Kraft dazu habe, hatte Doris so verächtlich geschnaubt, dass ihre Hutbänder geflattert hatten.

»Dafür gibt es doch andere Leute«, hatte sie in herablassendem Ton gesagt.

Bonita erinnerte sich an die Enttäuschung ihrer Mutter, als Doris nicht zu Assars Begräbnis gekommen war. Schließlich hatten beide Familien viel Umgang gepflegt. Aber wie gesagt: Doris war in die große Stadt gezogen und fühlte sich dort laut eigener Aussage zu Hause.

Bonita senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. Ihre Fingernägel waren abgekaut und die Haut schwielig und rissig. Sie dachte an Doris' gepflegte Hände. Bei der Beerdigung ihres Vaters hatten die Hände gewissermaßen die Hauptrolle gespielt. Doris hatte die Hände mit den langen, rot lackierten Nägeln auf den Tisch gelegt, und selbst die Krabbenbrote hatten daneben farblos gewirkt. Bonita erinnerte sich, wie sehr sie sich ihrer abgekauten Nägel geschämt hatte. Sie hatte ihre Hände geradezu unter der Serviette versteckt oder in den Schoß gelegt. Aber irgendwie war es auch unpassend gewesen, auf der Beerdigung des eigenen Vaters mit rot lackierten Fingernägeln zu erscheinen.

Bonita fehlten die vertraulichen Gespräche, die ihre Mutter und sie geführt hatten, ehe die Demenz ihr Gehirn zerrüttet und sie in eine andere Dimension transportiert hatte, die für Bonita so unzugänglich wie erschreckend war. Anfänglich hatte es noch Tage gegeben, an denen sie sich in Zeit und Raum hatte orientieren können, aber in den letzten Jahren hatte sie nur noch wirr und ohne den geringsten Wirklichkeitsbezug dahergeredet. Oft musste sich Bonita sehr zusammennehmen, damit ihre Verärgerung nicht in reine Wut überging. Gelang es ihr nicht, so wurde sie beim Anblick ihrer verängstigten Mutter von Reue und Verzweiflung heimgesucht. Manchmal zog diese sich ihre Decke über den Mund, als wolle sie Schutz suchen. Einmal hatte Bonita die Hände ihrer Mutter mit Gewalt losgemacht, als diese sich an ihr festgeklammert hatte, um sie am Bett zurückzuhalten. Die Mutter hatte vor Schmerzen geschrien und hatte am Tag darauf einen blauen Flecken am Handgelenk gehabt. An diesem Tag hatte die Reue wie ein Kloß in Bonitas Hals festgesessen. Sie hatte geschluckt und geschluckt, aber der Kloß war nicht verschwunden, und zeitweise war sie von dem panischen Gefühl heimgesucht worden, ersticken zu müssen. Sie war in die Konditorei gegangen und hatte zum Nachmittagskaffee für sie beide Torte gekauft.

»Richtig, heute hast du ja Geburtstag, Bonita ... Zum Zwanzigsten sollte man nicht auf die Geburtstagstorte verzichten.«

»Mein zwanzigster Geburtstag liegt schon viele Jahre zurück«, hatte Bonita lächelnd erwidert.

»Was du wieder redest.«

Gerade dies hatte Bonita so zu schaffen gemacht. Nie zu wissen, wann ihre Mutter scherzte und wann sie verwirrt war.

Bonita näherte sich dem Nymphensittich. Vorsichtig steckte sie einen Finger in den Käfig. Der Vogel pickte, und sie blieb eine Weile stehen und sprach mit ihm.

»Hallo, Schmutzfink«, schäkerte sie.

Bonita hatte den Vogel nach dem Tod ihres Vaters bekommen.

»Schließlich brauchen wir einen Mann im Haus«, hatte ihre Mutter wehmütig gesagt.

Sie hatten keinen passenden Namen für den Vogel gefunden. Er machte wahnsinnig viel Schmutz, und eines Tages hatte Bonita gesagt: »Er soll Schmutzfink heißen.«

Am Ende ihrer Straße wohnte ein Mann, der Schmutzfink genannt wurde, weil sein Grundstück voller Unrat und Gerümpel war.

»Möchtest du ein Stück Gurke, Schmutzfink?« Bonita ging zum Kühlschrank. Sie schnitt eine Gurkenscheibe ab und steckte sie zwischen die Gitterstäbe.

»Bonita ... Bonita! Beeil dich, das Taxi kommt ...« Bonita seufzte, trocknete sich die Hände an der geblümten Schürze ab und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

»Wir fahren aber nirgendwo hin, Mutter.«

Es zog, und die Tür fiel hinter ihr zu.

»Knall nicht so mit den Türen, Mädchen! Sonst wacht Vater noch auf.«

Schmutzfink pickte eifrig an der Gurke. In den verwilderten Büschen vor dem Haus summten Insekten. Aus dem Nachbarhaus erklang Tanzmusik aus dem Radio, und aus dem offenen Fenster der Villa Bonita waren Elvys schwache, jämmerliche und danach Bonitas unwirsche Stimme zu vernehmen, dann knallte die Tür erneut zu, und alles war still.

Kapitel 2

Bonita ging ein paar Mal in der Woche einkaufen. Sie hatte sich einen Einkaufsroller geleistet, um die schweren Tüten nicht schleppen zu müssen. Beim ersten Mal war sie sich ziemlich doof vorgekommen. Schließlich war sie erst siebenundfünfzig, und sie assoziierte diese rollenden Ungetüme mit irgendeiner Art von Behinderung. Sie hatte jedoch in den Nachrichten gesehen, dass sogar junge Leute diese Wagen verwendeten, wenn sie zum Bierkaufen nach Dänemark fuhren. Mit der Zeit hatte sich Bonita an den Einkaufswagen gewöhnt und konnte sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, ohne ihren rollenden Begleiter in den Supermarkt zu gehen. Bonitas Vater war Rechtsanwalt gewesen und hatte Wert darauf gelegt, dass die Familie in standesgemäßen Geschäften einkaufte. Die großen Supermarktketten waren nicht infrage gekommen, weshalb die Familie stets in kleineren Läden eingekauft hatte, die aber alle nicht mehr existierten.

Obwohl ihr Vater außer dem Haus noch ein recht stattliches Vermögen besessen hatte, waren die laufenden Ausgaben mit Elvys geringer Witwenpension und dem Geld, das Bonita für die häusliche Pflege ihrer Mutter bekam, nicht zu decken gewesen. Sie hatten jeden Monat etwas von dem Ersparten nehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Nach einer beendeten Hauswirtschaftslehre hatte Bonita als Haushälterin in einer Kaserne in Ystad gearbeitet. Sie war erst neunzehn gewesen, als ihre Mutter erkrankte. Da ihr Vater damals bereits Rentner gewesen war, hatte er sich um die Mutter gekümmert. Ihre Gesundheit hatte sich immer weiter verschlechtert, und als Bonita siebenundzwanzig gewesen war, war der Vater gestorben. Sie hatte ihrem Vater auf dem Sterbebett versprochen, sich um die Mutter zu kümmern. Bonitas Erfahrungen mit dem Arbeitsleben waren also eher gering, und ihr hatten oft die Kollegen gefehlt, die man als Berufstätige hatte.

Die ersten Jahre nach dem Tod des Vaters war ihre Mutter immer noch bei klarem Verstand gewesen, und Bonita hatte sich nicht sonderlich viele Gedanken über soziale Kontakte außerhalb ihres Zuhauses gemacht, da ihr Beisammensein intellektuell, erfreulich und stimulierend gewesen war. Je mehr sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter jedoch verschlechtert hatte, desto einsamer war Bonita geworden. Manchmal fand sie, dass sich ihre Unterhaltungen mit ihrer Mutter ungefähr auf demselben Niveau befanden wie die mit dem Nymphensittich. Zwar konnte der Vogel nicht sprechen, aber seine Augen verrieten zumindest eine gewisse geistige Anwesenheit.

Bonita schrieb die Einkaufslisten stets zusammen mit ihrer Mutter. So war es schon immer gewesen. Im letzten Jahr hatte sie bei Willys eingekauft, einem Discounter, der jede Woche einen Reklamezettel mit den Sonderangeboten verteilte.

»Schau mal, Mutter! Kotelettfleisch ohne Knochen für nur neunundfünfzig Kronen das Kilo. Das gibt doch einen guten Sonntagsbraten?«

»Ja, gute Idee ... Nimm gleich fünf Kilo, dann reicht es bis Montag.«

Bonita seufzte und fuhr geduldig fort: »Hättest du gern Rosenkohl dazu oder lieber ein anderes Gemüse?«

»Keine Pupskugeln, Bonita«, lachte Elvy, und einen Augenblick lang hatten ihre Augen wieder den alten Glanz.

»Nein, Mutter, wir essen etwas Magenfreundlicheres.«

Bonitas Cousine, die manchmal mit ihren Eltern zu Besuch da gewesen war, als Bonita klein war, hatte Rosenkohl immer als Pupskugeln bezeichnet, da man davon Blähungen bekam.

»Wir essen stattdessen Erbsen und Möhrchen«, fuhr Elvy fort und tastete mit ihren weißen, mageren Fingern nach dem Zettel mit den Sonderangeboten. »Vergiss nicht, die Rabattcoupons auszuschneiden, Bonita.«

»Den Braten bekommt man auch ohne Rabattcoupon.«

»Immer diese Neuerungen.«

Bonita verließ das Zimmer mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. Es war eigenartig, dass ihre Mutter manchmal vollkommen normal wirkte und sich an alle möglichen Dinge erinnerte, selbst solche, die weit zurücklagen. Aber gelegentlich kam es zu einem totalen Kurzschluss, als entbehre jedes Wort seines Inhalts.

Der Einkaufsroller quietschte, und Bonita lächelte mit der Sonne um die Wette. Die kurze Zeit, die sie zum Einkaufen benötigte, war ein Luxus. Allein ihr Zuhause zu verlassen war befreiend, und sie schämte sich ein wenig für dieses Gefühl. Auf dem Weg zu Willys ging sie eine Runde durch den Surbrunnsparken. Ihre Mutter konnte allein das Bett nicht verlassen, es konnte also nichts passieren.

Der Park war gepflegt und einladend. Sie setzte sich einen Augenblick auf eine Bank. Hier im Restaurant Cabinen hatte Bonita in ihrer Jugend des Öfteren auf Vereinsfesten getanzt. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit Doris hingegangen war, damals, als sie beide achtzehn waren. Sie hatten sich zu Hause bei Doris verabredet, weil deren Eltern verreist gewesen waren. Doris hatte sich die Haare toupiert, sodass sie wie ein Heiligenschein von ihrem Kopf abstanden. Dann hatte sie Bonitas Haar mit einem Haarteil im Nacken eingerollt. Bonita hatte gezögert, als Doris sie aufgefordert hatte, doch Lippenstift und blauen Lidschatten aufzutragen. Schließlich hatte Doris Bonita mit Chanel No. 5 eingesprüht. Es hatte natürlich gut geduftet, war ihr aber ein bisschen peinlich gewesen. Nur mit Mühe hatte sich Bonita vom Spiegel losreißen können. Ja, sie hatte sich wirklich sehr gefallen.

Auf dem Weg zum Park hatte Doris ein schönes, glänzendes Zigarettenetui aus ihrer Handtasche gezogen.

»Nimm einen Glimmstängel, Bonita!« Doris hatte ihre Zigarette mit einem Streichholz aus einer ausländischen Streichholzschachtel angezündet.

»Nein, danke, ich rauche nicht.«

»Ich auch nicht, aber manchmal, da ... komm schon, Bonita, sei kein Frosch.«

Zögernd hatte sie die Zigarette angenommen, und Doris hatte sie ihr angezündet.

»Man gewöhnt sich dran, Bonita. Man gewöhnt sich an alles, auch an die Jungs.«

Doris war einiges mehr als Bonita gewöhnt gewesen und hatte der Freundin allerhand von ihren Erfahrungen und Heldentaten berichtet. Bonita hatte Doris immer bewundert, als käme sie aus einer anderen Welt. So war es immer gewesen. Deswegen hatte sie sich auch nicht im Geringsten gewundert, als Doris nach Malmö gezogen war. Sie passte irgendwie nicht nach Ystad.

Doris war beim Tanzen immer sehr forsch gewesen. Wurde sie nicht aufgefordert, ging sie einfach selbst zu einem Jungen. Bonita hatte das mutig gefunden. Im Verlauf des Abends war Bonitas Frisur immer weiter in sich zusammengesackt. Sie hatte begonnen, sich Sorgen zu machen, ob ihre Eltern ihren Lippenstift und ihr Parfüm wohl bemerken würden. Sie hatte ein paarmal getanzt und war mit dem Abend recht zufrieden gewesen. Vor dem letzten Tanz hatte Doris einen Jungen aufgefordert und war dann ganz einfach verschwunden. Bonita war allein mit ihrer Hochfrisur und dem Duft von Chanel No. 5, den sie selbst nicht mehr wahrgenommen hatte, zurückgeblieben. Recht verunsichert war sie allein durch Ystad zum Haus ihrer Eltern gegangen. Zwischen den Gemüsebeeten hatte sie verweilt und etwas Schnittlauch gegessen, damit der Geruch der Zigarette, die sie geraucht hatte, verschwinden würde. Mit ihrem Konfirmationstaschentuch, das in der Tasche ihres schönen Sommerkleids gesteckt hatte, entfernte sie die letzten Spuren des Lippenstifts und des Lidschattens. Ihre Eltern hatten bereits geschlafen. Vor dem Einschlafen hatte sie sich noch gewünscht, so selbstbewusst und sicher wie Doris zu sein.

Bonita lachte und erhob sich von der Bank. In den letzten Tagen, seit dem Tod von Olga, hatte sie immer häufiger an Doris denken müssen. Vor dem Supermarkt klappte sie ihren Einkaufsroller zusammen und legte ihn unten auf den Einkaufswagen. Im Laden war es angenehm kühl. Sie ging die Gänge auf und ab, schaute ziellos in den Regalen herum und nahm hier und da etwas heraus.

Als Wirtschafterin in der Kaserne war sie für sämtliche Einkäufe verantwortlich gewesen. Sie hatte auf diesem Gebiet eine solche Selbstsicherheit besessen, wie sie sie sich auch im Privatleben wünschte. Heutzutage gab es so viele komische Sachen in den Läden: fertige Salatsoßen, Gewürze, tausend unterschiedliche Nudelsorten und anderes, was ihr fremd war. Einmal hatte sie ein Rezept in einer Illustrierten gelesen, das ihr interessant erschienen war. Als sie sich jedoch die nötigen Zutaten angesehen hatte, waren ihr Zweifel gekommen, und sie hatte doch wieder das Althergebrachte gekocht.

Bonita hielt sich an den Einkaufszettel. An der Kasse legte sie die Waren ordentlich auf das Fließband, mit dem Strichcode in die richtige Richtung. Sie lächelte die Kassiererin an, als sie zahlte, lud die Waren in ihren Einkaufsroller und machte sich quietschend auf den Weg. Als sie sich ihrem Haus näherte, sagte sie zu sich selbst: »Die Daumen, Bonita.«

Diesen Tipp hatte ihr ihr Vater gegeben. Immer wenn sie nervös oder angespannt war, ballte sie die Hände um ihre Daumen. Das half.

Bereits aus einiger Entfernung waren die Rufe ihrer Mutter zu vernehmen: »Bonita, wo bist du? Bonita, beeil dich!«

Sie ballte ihre Hände fest um ihre Daumen und ging schweren Schrittes auf das Haus zu.

Am nächsten Tag stand die Todesanzeige von Olga Kvist in der Zeitung. Bonita las sie mehrere Male, ehe sie das Zimmer ihrer Mutter betrat.

»Heute steht Olgas Todesanzeige in der Zeitung, Mutter. Am vierzehnten ist die Beerdigung.«

»Ja, die haben immer was zu feiern, ich begreife nicht, wie die sich das leisten können. Findest du, dass ich das grüne Kleid mit den Blumen anziehen soll?«

»Das ist kein Sommerfest, Mutter, das ist eine Beerdigung. Olga ist tot.«

»Ach, dann kommt Olga also nicht ... Kommen denn Elon und Doris?«

»Elon und Olga sind tot, Mutter, aber vielleicht kommt ja Doris.«

Dann las Bonita ihrer Mutter die Todesanzeige vor. Unter dem Geburtsdatum und dem Sterbetag stand: »Meine liebe Mutter, Olga Kvist, hat mich verlassen. In Dankbarkeit, Doris.« Es folgte eine schwer verständliche Gedichtzeile. Typisch Doris. Alles musste immer anders und irgendwie besonders sein. Warum nicht einer von den normalen Bibelsprüchen, die so schön waren?

Bonita wischte die Tränen weg, die ihr über die Wangen liefen. »Der Trauergottesdienst findet in der St. Mariakirche in Ystad am Samstag, den 30. Juli, um 14 Uhr statt. Nach dem Gottesdienst wird zu einer Gedenkzeremonie in den Saal der Siriusloge in Ystad eingeladen.«

Ihre Mutter stellte keine Fragen, sondern machte sich an der Häkelspitze des Lakens zu schaffen. Als Bonita in die Küche kam, sah sie zu Doris' Elternhaus hinüber. Ob das Haus wohl verkauft werden würde? Vielleicht würde Doris ja sogar nach Ystad zurückkehren. Oder würde sie es als Sommerhaus verwenden? Nein, das war unwahrscheinlich. Na ja, sie selbst hatte sowieso keinen Einfluss darauf.

Sie setzte sich an den Küchentisch und betrachtete die Todesanzeige. Die einzige Hinterbliebene, eine Tochter. Wenn ihre eigene Mutter starb, würde es genauso sein, andere Nachkommen gab es nicht. Und sie selbst würde keine Spuren hinterlassen, sondern einfach verschwinden.

Wenn ich sterbe, steht unter meiner Todesanzeige überhaupt kein Name, dachte sie, und es schauderte sie. Schmutzfink vielleicht, dachte sie und musste trotz der Tränen lächeln. Aber wer würde sich um eine Todesanzeige für sie kümmern? Sie bekam plötzlich Angst. Wenn die Rente ihrer Mutter wegfiel und sie kein Geld mehr für die Betreuung bekam, was dann? Vielleicht musste sich ja das Sozialamt um ihre Todesanzeige kümmern? Doch irgendwo, tief in Bonitas Innerem, ertönte eine Stimme, die ihr beruhigend zuredete, ihr Hoffnung machte und sagte, dass seltsame Erlebnisse auf sie warteten. Ihr ganzes bisheriges Leben war eigentlich ein ewiges Warten gewesen, aber vielleicht ... Bonita schaute auf ihre Hände, die sie um ihre Daumen geballt hatte, und sagte laut:

»Die Daumen, Bonita, die Daumen.«

Kapitel 3

In der Kirche war es dunkel und kühl. Um den hübsch verzierten Sarg herum standen große Kerzen. Die schwachen, flackernden Flammen erleuchteten nur den Chorraum. Wie eine Kulisse im Theater, dachte Bonita. Heute die letzte Vorstellung ... Sie schämte sich ein bisschen. So war es immer gewesen. Wenn sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken, dann zwang sie sich, an etwas Verrücktes oder Absurdes zu denken.

In den ersten beiden Bankreihen saßen die Trauergäste. Soweit Bonita wusste, hatte Doris keine weitere Verwandtschaft, bei den Anwesenden musste es sich also um ältere Bekannte aus Ystad handeln. Alle waren alt und gebrechlich. Für sie lohnte es sich kaum, anschließend nach Hause zu gehen, dachte Bonita. Sie würden doch bald denselben Weg gehen wie Olga.

Sie setzte sich als Einzige ganz außen in die dritte Reihe, damit der Rollstuhl ihrer Mutter neben ihr auf dem Mittelgang stehen konnte. Bonita erkannte ein paar Nachbarn aus ihrer Straße, nickte und lächelte ernst.

Dann hob das Orgelspiel an. Gerade als der Geistliche eingetreten war und mit gesenktem Kopf vor dem Sarg verweilte, betrat Doris die Kirche. Die Absätze ihrer hohen Pumps hallten in der Kirche wider. Sie nahm ganz vorne Platz, ohne den anderen auch nur einen Blick zuzuwerfen. Der Pfarrer wirkte ernst und gesammelt, aber vielleicht hatte er während des Orgelvorspiels auch nur darüber nachgedacht, was er zum Abendessen einkaufen sollte. Er konnte ja kaum beim Ableben jedes alten Menschen, den er nicht einmal gekannt hatte, etwas empfinden, vermutete Bonita.

»Wer ist das?«, fragte Elvy mit lauter Stimme und deutete auf den Pfarrer.

»Sei still, Mutter.«

»Ich kenne ihn doch irgendwoher«, fuhr ihre Mutter mit noch schrillerer Stimme fort.

Bonita warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu, und diese begann mit den Gurten zu spielen, die sie im Rollstuhl hielten.

Nach dem Trauergottesdienst lud der Pfarrer alle im Namen von Doris zum Beisammensein in die Siriusloge ein. Als sich Bonita erhob und nach den Griffen des Rollstuhls fasste, ertönte wieder die schrille Stimme ihrer Mutter.

»Spielt denn niemand Ziehharmonika? Die Lieder haben mir nicht gefallen, die waren alle so traurig. Mit etwas Akkordeonmusik wäre alles viel munterer gewesen.«

Bonita schob den Rollstuhl ihrer Mutter rasch aus der Kirche. Die Wärme und das Licht schlugen ihnen entgegen. Das Fachwerkhaus gegenüber der Kirche leuchtete in der Nachmittagssonne, und die Blumenkästen auf den Balkons waren voller prächtiger Sommerblumen. Da gutes Wetter herrschte, hatte Bonita nicht den Fahrdienst bestellt, sondern schob den Rollstuhl zum Saal der Siriusloge. Die Spiegel an den Fenstern der kleinen Fachwerkhäuser wachten über die Passanten. Manchmal sah Bonita, wie sich hinter den Gardinen etwas regte. Als kleines Mädchen hatte sie diesen Spiegeln manchmal zugewunken und dabei ein Gefühl von Ungehorsam verspürt.

Erst als sie im Saal waren, erhielt Bonita Gelegenheit, Doris aus der Nähe zu betrachten. Ein langes, knittriges schwarzes Leinenkleid und beigefarbene Pumps mit hohen Absätzen, die vorne offen waren. Lange, silberne Ohrringe baumelten an den Ohrläppchen, und der Mund leuchtete wie eine rote Ampel. Sie begrüßte höflich die Gäste und beugte sich auch freundlich zu Elvy vor, um dieser im Rollstuhl die Hand zu geben. Elvy schwieg.

Bonita hatte vorgehabt, Doris nach ihren Plänen für das Haus zu fragen, aber Doris wurde von den anderen Gästen so in Beschlag genommen, dass sich keine Gelegenheit ergab.

Der Tisch im Saal war hübsch gedeckt und mit Blumen und Kerzen geschmückt. Die Servietten waren von demselben Rosa wie die Blumen, und nachdem alle Platz genommen hatten, wurden Kassler, Erbsen und Spargel serviert. Dazu gab es neue Kartoffeln und eine kräftige kalte Soße, Weißwein, Wasser oder Bier.

Nachdem Bonita ihrer Mutter das Essen auf den Teller gelegt hatte, steckte sie ihr eine Serviette in den Kragen und begann sie zu füttern.