Wolfgang Grüner

Futura II

der Untergang Europas

Verlag tredition GmbH, Hamburg

Der Staat aus der Zukunft II

Vorwort

Gegen alle physikalischen Gesetze und infolge eines Unfalls landet eine Crew von neunzehn Astronauten auf ihrem Weg zum Mars unfreiwillig auf der Erde, mitten im Urwald Brasiliens. Aufgebrochen waren sie im Jahr 2120 aus ihrer Hauptstadt Futura, gelandet sind sie 122 Jahre früher, im Jahr 1998. Ihr Raumschiff und ihre Landung bleiben in diesem riesigen Regenwald unbemerkt und sie beschließen, ihr enormes Wissen aus der Zukunft für sich zu nützen. Es gelingt ihnen, sich in Manaus am Rio Negro eine erste Existenz aufzubauen und die Grundlage für ihren eigenen Staat in einem der Länder Mittelamerikas zu schaffen. Durch ihren riesigen Vorsprung an Wissen und Technologie schaffen sie sich Macht und Reichtum. Bob, ihr beinahe allwissender Computer, unterstützt sie dabei. Ein glücklicher Zufall lässt sie im Jahr 2017 ihr Ziel erreichen. Doch einundzwanzig Jahre nach der Gründung Futuras zwingt ihnen ihr weitaus größerer Nachbarstaat einen Krieg auf, aber ihre überlegene Technik lässt den Angreifer schmählich scheitern. Dieser Teil der Geschichte wird im ersten Buch: Futura – der Staat aus der Zukunft beschrieben.

Dieser Roman beschreibt nun die Zeit nach dem Dreistundenkrieg im Jahr 2038 bis zur folgenschweren Reise zum Mars im Jahr 2120.

Die futuristische Handlung ist der Rahmen für Gedanken zur künstlichen Intelligenz, zur Sozialpolitik, zur Umwelt, zur Wirtschaft und zum kaum regulierten Zustrom von Flüchtlingen nach Europa. Das Buch warnt vor den Gefahren durch eine unverantwortliche Sozialpolitik, der ungenierten Ausbeutung durch hemmungslose Banker und dem Verfall von Bildung und Verantwortung. Die Zukunft der Menschen ist durch die mögliche Klimakatastrophe, die Fluchtbewegungen ganzer Völker und soziale Unruhen gefährdet. Hoffnung bieten die technische Entwicklung, der zunehmende Austausch unter den Völkern und die steigende Einsicht, dass die Lösung aller Probleme nur gemeinsam erfolgen kann.

Die wichtigsten Personen Futuras

Thomas Pernstein, der alte Präsident und Gründer Futuras, schon zu Lebzeiten eine Legende.

Laura Pernstein, seine Tochter und eine kluge Frau, die nach ihm den aufstrebenden Staat als Präsidentin regiert.

Die Fiedlers, Christian und Nora, die samt ihren Kindern Jonas und Julie als Ärzte in der Klinik beinahe Wunder wirken.

Wissenschaftler wie Miller George, Mantini Julia, die Kronbergers und andere, die Futuras technischen Ruhm begründen und Menschen wie Miller Pascal, die kluge Bücher schreiben.

Die Richterin Carmen Buffet mit ihren beiden Kindern Philipp und Stephanie, und Arifa, ein junges Mädchen aus Syrien.

Dann noch ziemlich viele andere, deren Namen hinten im Buch stehen und die auch an der Geschichte dieses Staates beteiligt sind.

Schließlich noch Bob, der beinahe allwissende Computer, der mit seiner Künstlichen Intelligenz einem Menschen schon ziemlich nahe kommt oder ihn vielleicht sogar übertrifft. Außerdem Beate, ein weiblicher Androide, die ein gefährliches Abenteuer erlebt.

Kapitel 1: Neustart

2038

Jeder von ihnen hatte Dutzende Milliarden Dollar in Aktien, in Gold und in bar. In den Augen anderer Menschen waren sie unvorstellbar reich. Sie konnten sich alles kaufen, was sie wollten. Aber sie wollten kaum noch etwas. Sie hatten alles. Noch mehr Besitz anzuhäufen, war nur noch Belastung.

Das >sie< bezeichnete die Elite Futuras, die schon etwas älteren Senatoren Futuras und ihre Kinder.

Was sie noch nicht hatten, konnten sie auch nicht kaufen: die Kunstschätze des Vatikans, die gut in ihr Museum und ihre Häuser gepasst hätten, ebenso wie die des Louvre und anderer Museen.

Diese Kulturgüter waren immer noch nationaler Besitz, auch wenn die eigene Bevölkerung kaum davon Notiz nahm. Nur die Touristen stellten sich in langen Reihen an und versicherten sich, dass die berühmte Mona Lisa wirklich geheimnisvoll lächelte und die Nike von Samothrake aus weißem Parischen Marmor trotz ihrer Flügel noch immer auf ihrem Sockel stand. Zwei Tage Louvre für die Kenner, für die meisten genügte die Bestätigung, dass die Dinger tatsächlich da waren und sie zu Hause beweisen konnten, sie gesehen zu haben. Ohne ihre Smartphones wären sie ohnehin schon nach zwei Stunden im Kaffeehaus gesessen.

Was alle in Futura und in den Ländern darüber hinaus noch immer im Griff hielt, war der vergangene Krieg im Jahr 2038, den der korrupte Diktator des Nachbarlandes gegen ihr Land mit seinen verlockenden Reichtümern geführt hatte. Tödlich für ihn war, dass er die Kampfstärke Futuras krass unterschätzt hatte.

In nur drei Stunden hatten tausende Drohnen hunderten feindlichen Soldaten, ihren Offizieren und den heimtückischen Politikern des angreifenden Landes das Leben genommen und deren Angriff abgeblockt. In Futura selbst hatte es nur einen beschädigten Grenzzaun und ein ausgebranntes Apartment gegeben, in das sich eine feindliche Granate verirrt hatte. Schäden, die natürlich längst repariert waren.

Auch in der Analyse wirkte der Krieg wie eine klinisch saubere Operation. Lichtstreifen auf den Bildschirmen, Blitze, die Panzer zerstörten und Feinde in verdampfende Asche verwandelten, ein paar verbrannte Büsche und hässliche Brandflecken im Gras.

Dazu ein ausgebrannter Panzer, der als einziges Kriegsrelikt im Park hinter dem Regierungsgebäude aufgestellt worden war.

Alle anderen verbliebenen Panzer, Truppentransporter, Waffen und Metallteile, auch die ihrer Rakete, die sie, also die alte Crew, statt zum Mars in die Vergangenheit gebracht und die die stark gesicherte feindliche Leitzentrale samt ihrer Besatzung vernichtet hatte, waren eingeschmolzen und recycelt worden.

Die Bergung der geschmolzenen Raketenteile war blitzartig geschehen, um keine Spekulationen nach deren Herkunft aufkommen zu lassen.

Es war ein Krieg, in dem nicht die Zivilbevölkerung ihren Kopf hinhalten musste, wie so oft in den vergangenen Jahren, sondern einer, der die Verursacher persönlich getroffen hatte.

Ein Krieg, der selbst mächtige Politiker der Weltmächte in Angst und Schrecken versetzte. Offensichtlich war die Zeit aus, wo sie lokale Spielchen an glänzenden Mahagonitischen aushecken konnten, die mit schöner Regelmäßigkeit vom Zaun gebrochen worden waren, um das eigene Volk enger um sich zu scharen und den Feinden eins auszuwischen. Das Kanonenfutter, meist aus der Unterschicht des eigenen Volkes und erst recht die Soldaten des Feindstaates, zählte ohnehin nicht.

Wenn man als Politiker aber das Kanonenfutter oder das Ziel der Drohnen selber war, dann ja, dann zählte das plötzlich doch.

Pernstein, als Präsident Futuras immer noch im Amt, schloss einen milden Frieden, der dem eigenen Land eine zusätzliche Fläche von etwas über hundert Quadratkilometern hinzufügte, womit Futura nun auch einen eigenen Flughafen samt Verbindungsstraße zur Küste besaß. Die ebenfalls geforderte Kriegsentschädigung von fünfhundert Millionen Dollar ging überwiegend an die Spieler und Soldaten ihres Untergrunds.

Ein seit Jahren am Weltmarkt eingesetztes und äußerst erfolgreiches Computerspiel hatte der Regierung Futuras ermöglicht, über eine geheime Ebene eine Untergrundorganisation aufzubauen. Der angekündigte Wettbewerb am Tag X, dem Tag des hinterlistigen Angriffs auf Futura, ließ das bisher fiktive Kampfspiel zum echten Angriff auf die einfallenden Truppen werden. Die gesteuerten Drohnen und Waffen waren diesmal real, die Ziele ebenfalls. Asiatische, europäische und amerikanische Spieler, oft tausende Kilometer vom Kampffeld entfernt, versuchten, die ihnen zugewiesenen Drohnen und Waffen ins Ziel zu bringen. Die eingespielte Landschaft und die Zerstörungen, die auf den Computern zu sehen waren, waren die echten Szenen, die sich auf dem Kampffeld vor Futura abspielten. Eine Tragödie und unerwartete Niederlage für die Angreifer, ein Blitzsieg für die Bewohner Futuras, ein Schock für die Geheimdienste der großen Nationen.

Der Präsident lud den siegreichen Inder, der den Hauptpreis errungen hatte, und die nächsten fünfhundert Besten im Ranking des Kampfes um Futura zum Empfang der Preise ein und ließ sie in die Hauptstadt einfliegen. Der Inder, ein schmächtiger junger Mann von knapp 28 Jahren, war selbst bei der Übernahme des Preises noch fassungslos, dass er gewonnen hatte. Er hatte die ihm zugewiesenen Drohnen geschickt platziert und mit dem Verlust von nur drei Drohnen vier hochrangige Ziele und ein paar kleinere eliminiert. Doch auch die fünfhundert nächstplatzierten Kämpfer aus Indien, China, Vietnam, Frankreich, Deutschland, Spanien und den Staaten hatten in unwahrscheinlicher Präzision ihre Ziele getroffen und damit wesentlich zum raschen Sieg Futuras beigetragen. Alle bekamen das Angebot, in der Kampftruppe oder im Sicherheitsbereich Futuras mitzuarbeiten, mehr als die Hälfte unter ihnen nahm an. So eine Chance würde sich so schnell nicht wieder bieten.

Die Kommandozentrale und ihr zukünftiger Arbeitsbereich faszinierten sie. Alles, was topaktuell war, war sowieso hier, dazu Bildschirme, Navigationseinheiten und Computer, die sie noch nie gesehen hatten. Als Ausgangsbasis lockte ein Gehalt, von dem sie in ihrem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatten.

Abgelehnt hatten ein paar der Eingeladenen, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollten oder ihnen das illegale Eindringen in fremde Netze mehr Spaß als die regelmäßige Arbeit machte und sie durch kleinere Betrügereien im Internet auch genug abschöpfen konnten. Aber, so sagten sie, wenn es darauf ankommen sollte, wären sie gern wieder zu einem Scharmützel dieser Art bereit.

Erstaunlicherweise hatte keiner Skrupel wegen der getöteten Feinde. Auf dem Bildschirm sahen sie auch nicht anders aus als die Aliens und andere Monster in ihren bisherigen Kämpfen. Es war ein Wettkampf gewesen und sie hatten Punkte gemacht.

Das feine Hotel in Futura, ein Komfort, der für viele neu war, verunsicherte sie mehr. Was sollte man auch mit einem Kilo Besteck links und rechts von den Tellern, wenn sie sonst vielleicht mit der rechten Hand geschickt den Reis zu einer Kugel rollten und mit ein bisschen Soße im Mund verschwinden ließen? Oder während tagelanger Spiele gegen andere Gegner im Internet gerade noch Zeit fanden, eine bestellte Pizza hinunterzuschlingen?

Einige von ihnen fuhren stundenlang mit den Roboshuttles, Fahrzeugen, die führerlos auf Zuruf die genannten Ziele anfuhren.

„Zum Museum, bitte.“

„Wo bekomme ich ein gutes Eis?“

„Zum Anlegeplatz der Yachten.“

Was sie immer wieder faszinierte: Alles war peinlich sauber, alles funktionierte. Die Fahrzeuge reihten sich brav und automatisch hintereinander ein, auf den Hauptlinien gab es etwas größere Busse, die mehr Personen aufnahmen und die Stationen anfuhren. Für Nebenziele mussten sie auf kleinere Fahrzeuge umsteigen, die aber auch jede öffentlich zugängliche Nebenstraße ansteuerten. Hin und wieder begegneten sie den eleganten Gefährten der Senatoren, die nur für diese reserviert waren, und die diese von ihren Häusern direkt in die Garagen des Regierungspalastes brachten. Oldtimer, also normale Autos, die noch von Hand gesteuert wurden, gab es kaum. Für die Einwohner lohnten sie sich nicht und wenn sie ihr Land verlassen wollten, nahmen sie meist einen der elektrischen Mietwägen von Tesla, VW, BYD, Toyota, Geely, Daimler oder BMW. Auch wenn diese Autofirmen eine Menge Probleme gehabt hatten, konnten sie doch überleben, während viele andere es nicht geschafft hatten.

Automatisch fuhren auch nicht alle. Es gab in Süd- und Mittelamerika zu viele schlechte Straßen und ob ein Büschel Zweige auf der Straße vor einer tiefen Grube warnte oder doch nur ein abgebrochener Zweig war, konnten selbst die fortentwickelten Navigationssysteme nicht immer eindeutig entscheiden. Was in Futura kein Problem war, denn da gab es keine unvorhergesehenen Löcher. Die Straßen waren glatt und fehlerlos.

Die dreihundertsechzig Computerfreaks, darunter vierunddreißig Frauen, die in Futura bleiben wollten, mussten zuerst ihren Militärdienst absolvieren, wobei ihnen die Ausbildung als Cyberkrieger erspart blieb. Die hatten sie ohnehin unter Beweis gestellt. Wenn sie Familie hatten, durfte diese nachkommen. Auch den Ehegatten wurden Arbeitsplätze angeboten, im Geheimdienst, als Kindergärtnerin, Stubenmädchen, Kellnerin, Arzthelferin, Technikerin, Polizist oder Professorin, je nach Ausbildung. Wenn sie wollten, bekamen sie einen Platz an den höheren Schulen oder der Universität.

Jeder Besuch der Senatoren in anderen Ländern zeigte ab diesem Krieg überdeutlich die geänderte Wahrnehmung. Sie waren nun keine Touristen mehr, sondern Staatsgäste. Jeder Schritt wurde beobachtet, jedes Wort gewann Bedeutung und wurde von den Medien verbreitet und kommentiert. Lobbyisten, politische Vertretungen und Händler stürmten ihre Hauptstadt und trieben die Miet- und Kaufpreise der Immobilien in die Höhe, sodass sie mit Monaco, London und Singapur konkurrierten. Ihr Land, das noch vor einigen Monaten kaum in der öffentlichen Wahrnehmung existierte, wurde beinahe über Nacht zu einem Pflichtziel und Thema zahlloser Fernsehstationen auf der ganzen Welt. Anfragen zu Interviews überfluteten die wenigen Entscheidungsträger, Buchautoren rissen sich darum, Biographien über die Senatoren und ihre Kinder und Sachbücher über ihre erfolgreiche Politik zu verfassen. Sie kamen allerdings bald an ihre Grenzen, denn die meisten ihrer persönlichen Anfragen stießen auf wenig Gegenliebe und die Gesetze Futuras verboten jede Verletzung der Privatsphäre, was das Verfassen von Biographien fast unmöglich werden ließ.

Zwei Monate nach dem Ende der Friedensverhandlungen trat Pernstein zurück. Einundzwanzig Jahre war er Präsident Futuras gewesen. Seit dem Sieg über Präsident Diego Corades und seine Generäle war er endgültig zur Legende geworden. Reich, geheimnisumwittert und ungeheuer mächtig.

Für sein hohes Alter war er unglaublich robust. Trotzdem war es hoch an der Zeit, die Regierung in jüngere Hände zu legen. Er bat seine Freunde, das Amt seiner Tochter Laura zu übertragen.

Nach der derzeitigen Verfassung waren nur Senatoren stimmberechtigt, deren Zahl seit dem Übergang einiger Regierungsämter auf die jüngere Generation vierzig betrug. Neben einigen von ihren Kindern, meist jene mit öffentlichen Ämtern, hatten sie auch einige ihrer Bürger in den Rang von Senatoren gewählt, was praktisch der Erhebung in den Adelsstand gleichkam. Unter diesen waren der Polizeipräsident und zwei Milliardäre, die sich Verdienste um Futura erworben hatten.

Einer von ihnen hatte dem Museum und damit der Bevölkerung Futuras eine wertvolle Kunstsammlung des zwanzigsten Jahrhunderts geschenkt. Die Bilder von Picasso und seinen Zeitgenossen, von Andy Warhol bis Roy Lichtenstein, Joseph Beuys und Salvadore Dali und einige Skulpturen erweiterten die Bestände des Museums enorm. Mit dieser Sammlung zusammen hätte der Ankauf des Flaschentrockners von Duchamps vor etwa dreißig Jahren tatsächlich Sinn gemacht.

Der zweite unter den Milliardären hatte sich samt seiner florierenden Technologiefirma in Futura angesiedelt und mit seinen Innovationen den Wissensvorsprung Futuras weiter gesteigert. Nebenbei zahlte er auch hohe Steuern, die dem Gemeinwesen zugutekamen.

Wie schon vor langer Zeit, es schien tatsächlich eine Ewigkeit her zu sein, seit sie ihren General zum Präsident gewählt hatten, leuchtete wieder der Wahlvorschlag auf ihren Sapientas, den weiter entwickelten Smartphones und Wundergeräten ihres Landes, auf. Diesmal leitete Dr. Paul Urban die Wahl, der 2037 das Amt des Innen- und Außenministeriums von Dr. Pernstein übernommen hatte und seit 2033 auch den Titel Senator trug.

„In wenigen Sekunden erscheint der Wahlvorschlag. Ich bitte euch, eure Wahl in den nächsten fünf Minuten durchzuführen.“

Sechs Minuten später verkündete er das Ergebnis: „Sechsundzwanzig Stimmen für Senatorin Dr. Laura Pernstein, sechs Stimmen für mich und je vier Stimmen für Senator Dr. Phil Pernstein und Senator Dr. David Buffet.

Damit ist mit absoluter Mehrheit Senatorin Dr. Laura Pernstein unsere neue Präsidentin. Darf ich ihnen als Erster gratulieren?“

Trotz der feierlichen und förmlichen Anrede waren sie befreundet und er küsste sie links und rechts auf die Wange. Als Nächster gratulierte ihr Vater. Er umarmte sie und wischte sich eine Träne aus seinen Augen. Laura hatte ihren Vater noch nie weinen gesehen. Auch ihre Mutter nahm sie in die Arme, dann beglückwünschten sie alle anderen.

Aus dem Nebenraum drang schon Jubel herüber, weil das Ergebnis auch auf dessen Bildwand aufleuchtete.

Sie gingen in den Repräsentationssaal des Palastes, wo schon die Fernsehkameras verschiedenster Länder aufgebaut waren und zahlreiche Journalisten aus Amerika, Europa und sogar China standen. Das übliche Blitzlichtgewitter durchzuckte den Raum, die Journalisten versuchten, ihr ein paar Worte zu entlocken.

Senator Paul Urban trat vor die Fernsehkameras und verkündete noch einmal das offizielle Ergebnis: „Unsere neue Präsidentin, Senatorin Dr. Laura Pernstein. Ich bitte um ihre Worte.“

Sie trat vor die Mikrofone und wartete das Blitzlichtgewitter ab: „Freunde, Bürgerinnen und Bürger von Futura! Durch das Vertrauen meiner Freunde, ich darf euch doch so nennen“, sie blickte kurz auf die aufgereihten Senatoren, „wurde ich zur Präsidentin dieses herrlichen Landes gewählt. Ich danke dafür. Ich werde das große Werk meines Vaters in seinem Sinn fortsetzen. Ich danke ihm besonders, dass er mich nicht die große Bürde des eben überstandenen Krieges tragen ließ, sondern diese schweren Entscheidungen noch selbst übernommen hat. Es liegt jetzt an uns allen, nicht nur den bisherigen Teil unseres Staates, sondern auch den neu gewonnenen Landesteil zur Blüte zu führen. Es wird eine große Aufgabe, aber wir werden sie schaffen. Futura wird noch schöner als bisher. Schon in den nächsten Tagen wird der Ausbau des neuen Landesteiles beginnen.

Wir haben gegen die Niedertracht unserer Feinde gesiegt. Wir wollten das Land nicht demütigen, denn nicht deren Bürger haben den Krieg gesucht, sondern eine kleine Clique von Verrätern. Sie haben ihre gerechte Strafe gefunden. Es gibt sie nicht mehr.

Mit dem neuen Präsident Antonio Calderez, den wir gut kennen, haben wir Frieden geschlossen und wir werden auch gut mit ihm zusammenarbeiten. Einundzwanzig Jahre Frieden haben diesen unseren Staat aufblühen lassen, wir werden uns mit voller Kraft bemühen, dass dieser Staat weiterhin gedeihen wird.

Ich bitte euch alle um eure Unterstützung, denn nur unser gemeinsamer Einsatz für dieses große Werk wird zum Erfolg führen. Streit kann Familien und ganze Länder zerstören, es liegt an uns, Frieden zu halten und Frieden zu geben.

Jeder von uns hat seine Probleme und Zeiten der Not. Wir sind es gewohnt, die nötige Hilfe zuerst einmal bei uns selbst zu suchen. In einem gewissen Sinn sind wir Pioniere, die wissen, dass Leben nun einmal das Lösen von Problemen bedeutet. Wer aber wirklich Hilfe braucht, wird nicht allein gelassen.

Wir haben mit dem neuen Staatsgebiet auch etwa zweiunddreißigtausend Bürger dazugewonnen. Die meisten von ihnen sind mit unserem Staat vertraut, schließlich sind wir seit langen Jahren gute Nachbarn. Viele von ihnen haben uns schon besucht, bereits bei uns gearbeitet oder tun dies auch gerade jetzt. Wir heißen unsere neuen Staatsbürger herzlich willkommen. Es wird weder für sie noch für uns leicht sein. Unsere Kulturen sind unterschiedlich, unser Bildungsanspruch stellt hohe Anforderungen. Gemeinsam werden wir es schaffen.

Es wird rasche Entscheidungen geben. Auch für unsere neuen Mitbürger werden Kindergärten, Grundschulen sowie Schulessen, Ausflüge, Sportkurse und öffentliche Verkehrsmittel frei sein, womit die Ausbildung vor allem der Jugend verbessert wird und schon einmal viel unnötiger Verwaltungsaufwand wegfällt.

Unsere Kindergärten und Schulen sind im Prinzip Ganztagesangebote, wobei parallel Sportvereine und Kulturangebote den Nachmittagsunterricht ergänzen. Wichtig erscheint uns vor allem, dass Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten ausbauen. Ob Sprachen, Computer, Schach, Klettern, Schwimmen, Segeln oder Fußball trainiert werden ist uns weniger wichtig als das Ausloten der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Interessen. Die Konkurrenz der vielfältigen Angebote sorgt ganz automatisch für hohes Engagement der Betreuer. Mit ihrer Hilfe wird es uns auch gelingen, die bisherigen Defizite einer schwächeren sozialen Herkunft weitgehend zu beheben, vor allem aber, die vorhandenen Fähigkeiten und Gaben der Kinder ans Tageslicht zu bringen.

Wir arbeiten nach dem einfachen Grundsatz, dass wir es uns als Staat nicht leisten können, auf die individuellen Talente unserer Bürger zu verzichten. Wobei – und das möchten wir betonen – es nicht auf die materielle Verwertbarkeit ankommt. Es geht uns um die Vielfalt und die Vorbildwirkung. Wer seine Fähigkeiten nützt, lebt glücklicher und gesünder. Zufriedene Menschen machen ihre Arbeit besser, sind ausgeglichener und schaffen es auch, ihr Leben und das ihrer Familie sinnvoll zu gestalten. Ich darf ein altes Zitat von Southwest Airlines zitieren: Menschen sind selten wirklich Weltklasse auf einem Gebiet, an dem sie keine Freude haben.

Bildung und all diese Aufwendungen in Sport und Lebensfreude stellen für uns daher keinen Kostenfaktor dar, sondern sind eine sinnvolle Investition in die Zukunft unseres Staates. Aber wir sind uns ebenso bewusst, dass dieses Angebot zwar Chancen bietet, aber auch enorme Anforderungen stellt.

Unannehmlichkeiten werden unsere umfangreichen Bauarbeiten bringen. Sie werden Lärm, Staub und Verkehr verursachen und sie werden das bisherige Bild unseres neu dazugewonnen Gebietes völlig verändern. Sie sind aber notwendig, um unseren neuen Bewohnern und den zuströmenden Bürgern Arbeitsplätze, Infrastruktur und Wohnmöglichkeiten zu schaffen. Für euch und für uns werden die Herausforderungen der nächsten Jahre gewaltig sein.

Seid mutig. Stellt euch dem Leben.“

In den nächsten Stunden kamen Glückwünsche aus allen Ländern.

Sie wusste: Der Staat hatte seine Anerkennung gefunden. Sie fühlte die Last einer großen Aufgabe, aber sie spürte auch die Kraft in sich, diese Aufgabe zu meistern.

Heute aber war der Abend zum Feiern da. Auf den Plätzen Futuras waren Tische mit Speisen aufgebaut worden. Sie hatten alle Bürger, gerade auch die neuen, aufgefordert, selbst zu kochen und ihre Speisen anzubieten, es sollte ein Fest für alle sein. Die Regierung hatte tausend Schweine, Fische und einige Tonnen Maismehl samt Zutaten gesponsert. Die meisten aus dem eroberten Gebiet hofften, dass nun auch für sie eine rasche Verbesserung ihres Lebensstandards eintreten würde. Die Senatoren wollten, dass alle neuen Bürger den kommenden Aufschwung sofort spüren konnten und gerade in ärmeren Gegenden bestand ein guter Tag in einem Tag mit gutem Essen und Trinken.

Natürlich wurde das Angebot dankbar angenommen und bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.

Auch zahlreiche Kreuzfahrtschiffe hatten kurzfristig den Anlass genützt und zusätzliche Fahrten nach Futura ins Angebot aufgenommen. Schiffe und Hotels waren bis zum letzten Platz ausgebucht. So mischten sich Touristen und Einheimische bunt durcheinander, Straßenkünstler waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und belebten die Plätze und Straßen. Der Duft von gebratenen Schweinen, Hühnern und Schafen mischte sich mit lauer Luft vom Meer, scharf gewürzten Gemüsen, unterbrochen vom Brutzeln frischer Speisen und von Musik und dem fröhlichem Geplauder der Gäste und Bewohner.

Das neue Gebiet, das die Fläche Futuras auf fast 160 Quadratkilometer erweiterte, brachte auch etwa dreißigtausend neue Einwohner. Mit dem Wissen um den Gebietszuwachs durch den Dreistundenkrieg hatten die älteren Senatoren schon in den vergangenen Jahren große private Landflächen angekauft. Seit dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen versuchten Spekulanten, von den weit höheren Grundstückspreisen im zukünftigen Staat zu profitieren, die neuen Gesetze verhinderten das soweit wie möglich.

Kapitel 2: Der Aufbau

Die Aufgabe war riesengroß.

Wieder schwoll der Strom an zugeliefertem Baumaterial und Waren aller Art gewaltig an. Über Straßen, den Hafen und über Frachtmaschinen auf ihrem neuen Flughafen wurde herangebracht, was zum Ausbau des neuen Landesteiles notwendig schien. Die Bewohner des eroberten Gebietes waren zunächst unsicher, was die neuen Gesetze und die neue Regierung ihres Landes an Veränderungen bringen würden. Andererseits hatte es in der Grenzregion schon seit der Gründung Futuras einen regen Austausch gegeben, zahlreiche Menschen waren zwischen Futura und ihrer Region hin und her gependelt, weil sie in Futura die besseren Arbeitsplätze gefunden hatten. Durch die Einnahmen und Umsätze mit Futura hatte sich auch dieses Gebiet bereits gut entwickelt und zahlreichen Handwerkern aller Art Verdienstmöglichkeiten geboten. Die Bewohner der angrenzenden Stadt waren eher enttäuscht, dass sie nicht mit annektiert worden waren. Fast jeder von ihnen wäre gern Bürger des neuen, größeren Staates geworden. Zumindest jene, die bereit für harte Arbeit und volle Leistung waren und die die übliche Korruption und Schlamperei, die in ganz Süd- und Mittelamerika Alltag waren, nicht länger erdulden wollten.

Als Erstes wurden der Grenzzaun rund um die neuen Landesteile gezogen und zwei vollautomatische Grenzstationen aufgebaut. In den Schulen mussten sofort die Gesetze und Regeln Futuras unterrichtet, neue und bessere Lehrer gefunden oder ausgebildet werden.

Auch zusätzliche Bildungseinrichtungen zur Schulung der Erwachsenen wurden angeboten. Da übernahmen die Senatoren das Vorbild des Wirtschaftsförderungsinstituts, kurz WIFI genannt, und der Berufsschulen, die sie in Österreich kennengelernt hatten. Eine fundierte Ausbildung für Handwerker, Büroangestellte und Schulabbrecher war dringend notwendig. Viele waren auch noch Analphabeten und mussten ihre fehlende Basisbildung nachholen. Das erwies sich als schwieriger als gedacht, alte Gewohnheiten ließen sich nicht über Nacht ändern. Die Jugendlichen stellten sich meist rasch um. Für sie galt Schulpflicht, bis sie die normalen Kulturtechniken und eine Ausbildung erlernt hatten, die ihnen die Möglichkeit gab, die völlig neuen Anforderungen zu bewältigen. Anstrengender war es für die Älteren im Land. Viele von ihnen mussten monatelang umgeschult werden, wenn ihr alter Beruf nicht mehr ausreichend gefragt war. Andere brauchten überhaupt eine begleitende Familienhilfe oder Mentoren, die ihnen beim Start in die neue Lebenssituation halfen. Ärzte, Lehrer und Handwerker aus den krisengeschüttelten Ländern Europas wurden mit Freude aufgenommen. Besonders gern nahmen sie Pädagogen und Trainer aller Art aus den USA, Kanada, Spanien, Portugal, Irland und Deutschland. Auch die vorhandenen Kleinbetriebe brauchten unterstützende Beratung und billige Kredite für ihre Modernisierung. Allein aus Europa siedelten sich wegen der guten Lebensbedingungen über tausend der engagierten Berater und Pädagogen an.

Die Schulungen waren kostenlos und die Lernenden wurden auch ausreichend gefördert. Wer allerdings nicht mit voller Kraft dabei war, lernte rasch die unangenehme Seite einer Leistungsgesellschaft kennen.

Der Polizeipräsident, einer der jüngst ernannten Senatoren, zog vorläufig in den eroberten Landesteil um. Die in Lateinamerika übliche Korruption musste bekämpft, die neuen Bürger mussten erfasst und mit Dokumenten ausgestattet werden. Viele der bisherigen Beamten wurden gekündigt, konnten sich aber neu bewerben. Es winkten höhere Gehälter, allerdings mit viel strengeren Anforderungen verbunden. Das schafften viele nicht und waren wütend oder resignierten, das hatten sie sich anders vorgestellt. Wer sich aber nicht anpassen konnte oder wollte, hatte als Alternative nur die Ausreise. Auch wenn ihnen ihr bisheriger Besitz samt den kleinen Hütten großzügig abgegolten wurde, mussten sie doch ihre Heimat verlassen und in das Gebiet ihres bisherigen Staates umziehen oder einen anderen Beruf ergreifen. Viele schafften auch die neuen Steuern nicht, die nach einer Orientierungsphase von wenigen Monaten von allen eingehoben wurden. Wie im bisherigen Staat Futura musste jeder zwanzig Prozent Steuer und fünf Prozent Sozialabgaben zahlen, ganz gleich wie hoch sein Einkommen war. Vor allem, dass jeder arbeitsfähige Erwachsene ab zwanzig, als Studierender ab sechsundzwanzig, ob er verdiente oder nicht, einen Sockelbetrag von hundertfünfzig Dollar zahlen musste, stieß bei vielen auf Unverständnis. Beihilfen gab es nur in wenigen Ausnahmefällen, dafür aber die Garantie, dass jeder einen Arbeitsplatz bekam, der einen wollte. Die Umstellung war auch für die schon vorhandenen Betriebe und kleine Geschäfte schwierig.

Sie fanden sich plötzlich in eleganten Einkaufszentren wieder und hatten fast über Nacht eine neue und anspruchsvolle Kundschaft. Wo sie den rasanten Umstieg trotz der Beratungen und billigen Kredite nicht schafften, wurden ihre Geschäfte abgelöst und stillgelegt.

Für Reiche war die niedrig angesetzte Flat Tax hochwillkommen, für viele Handwerker und Händler wegen der freien Kindergärten, Schulen und Verkehrsmittel angemessen. Für Arme oder für Hilfsarbeiter ohne Ausbildung, die mit den neu geschaffenen Arbeitsplätzen nicht zurechtkamen, waren die Steuern oft ein unüberwindliches Hindernis. Außerdem waren die Preise aller Waren und Lebensmittel schon in den ersten Tagen spürbar angestiegen. Die neuen Gehälter waren zwar hoch genug, wer aber nicht arbeitete, hatte ein Problem. Wer wegwollte oder die neuen Erfordernissen nicht akzeptieren wollte, bekam zwar eine kleine Starthilfe für ein Leben außerhalb des nunmehrigen Staates, glücklich war er damit meist nicht. „Ein fauler Apfel im Korb steckt alle anderen an“, war die Meinung der neuen Landesherren und so wollten sie von Beginn an jede Faulheit oder jeden Müßiggang unterbinden.

Die Senatoren hatten mit Widerstand gerechnet, da sich die Erweiterung des Staatsgebietes nicht für alle neu gewonnenen Bürger positiv entwickeln konnte. Aus genau diesem Grund hatten sie auf größere Gebietsforderungen und die nahe Stadt verzichtet. Jene, die bisher unter der fehlenden Infrastruktur gelitten und durch bürokratische Vorgaben gleichsam gefesselt waren, konnten nun ihre Fähigkeiten rasch, fast explosionsartig, entwickeln. Wer keine Talente zur Entfaltung hatte, zählte zu den Verlierern.

Die Schwierigkeiten waren zu erwarten, es war bei der Vereinigung Deutschlands und dem berühmten Fall der Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989 nicht anders gewesen. Zuerst die Euphorie, dann die nüchterne Erkenntnis, dass der Westen doch nicht das erwartete Paradies war, dass Freiheit auch ihren Preis hatte. Viele der ehemaligen Ostbürger hatten bald das Anstellen vor ihren leeren Geschäften vergessen und schwelgten in der Erinnerung einer besseren Vergangenheit. Manche der Westdeutschen grollten angesichts höherer Abgaben und der augenscheinlichen Undankbarkeit der Ostbürger: „Wenn wir dat gewusst hätten, hätten wir die Mauer noch drei Meter höher gebaut!“

Die neue Kopfsteuer, die ab dem Ende der Ausbildung und des Wehrdienstes, also ab einem Alter zwischen zwanzig und etwa sechsundzwanzig eingehoben wurde, traf vor allem die Frauen hart. Sie mussten sich komplett umstellen. Statt wie bisher mit ein oder zwei Körben von Früchten oder Gemüse am Markt zu sitzen und mit anderen Frauen zu plaudern oder mit den wenigen Touristen über Preise für Stickereien und Webwaren zu feilschen, mussten sie nun in kurzer Zeit auf die neuen Berufe umsatteln, die allerdings gut bezahlt wurden. Den Unternehmern fiel die Pflicht zu, die neuen Angestellten in Verbindung mit den neu eingerichteten Berufsschulen auszubilden. Sie wurden dafür aber auch großzügig von der Regierung unterstützt. In den ersten Jahren gab es Beihilfen für Firmen, die Produkte und Dienstleistungen anboten, die für den raschen Aufbau der Infrastruktur notwendig waren. Gefragt waren Arbeiter und Arbeiterinnen in den aus dem Boden gestampften Fabriken für elektronische Kleinteile oder Drohnen, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, Bürokräfte und Verkäuferinnen, Maurer und Tischler, Installateure, Fliesenleger, Straßenbauer, Psychologinnen und Sicherheitskräfte, Pflegerinnen, Ärztinnen und Ärzte.

Andererseits wertete es die Frauen ungeheuer auf. Statt von ihren Männern abhängig zu sein, konnte sich jede von ihnen fortbilden und genügend Geld für den eigenen Unterhalt verdienen. Damit entstand auch viel Streit innerhalb von Familien, da sich die Frauen plötzlich nicht mehr alles gefallen lassen mussten.

Wer noch glaubte, sich mit einem kleinen Feld und drei Kühen ernähren zu können, scheiterte. Die bisherigen Agrarflächen durften nur an die Regierung verkauft werden, die aber hohe Preise zahlte, was zumindest eine solide Starthilfe für eine neue Existenz bot.

Wer dagegen klug und jung war, konnte die Colleges besuchen, einen der begehrten Studienplätze ergattern oder ein beliebiges Studium an der Fernhochschule Futuras wählen. Für die Zeit der Ausbildung gab es Stipendien, die den Großteil der Lebenskosten abdeckten. Wer nicht schreiben und lesen konnte, musste die Alphabetisierungskurse besuchen und zuerst einmal das ungewohnte Lernen lernen. Wer es nicht tat, fand sich vor den Grenzen wieder.

Das klingt brutal und war es auch. Für einige bot es die Chance, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und dem bisherigen Elend zu entfliehen. Hunger und einseitige Ernährung waren von einem Tag auf den anderen vorbei, aber die Zwänge zur Eigenverantwortung und zum lebenslangen Lernen waren enorm gestiegen. Obwohl auch für die Zeit der Ausbildung und für zwei Jahre der Kleinkinderziehung vom Staat ein ausreichendes Grundgehalt gezahlt wurde, war die Umstellung schwer. Ein Basiseinkommen gab es auch für die körperlich oder geistig Kranken, wenn trotz modernster Medizin oder Therapie keine Heilung möglich war.

Die Änderungen waren wie eine Lawine, die über die bisherigen Bewohner der annektierten Landesteile hereingebrochen war. Bisher hatten sich Neuerungen in langen Zeitläufen abgespielt. Die Männer hatten sich oft als Taglöhner ihr karges Brot verdient, aber waren auch tagelang in Kneipen herumgelungert, hatten mit anderen Männern Karten gespielt und gestritten oder von kleinen Handwerksarbeiten gelebt. Mütter und Töchter hatten jahrzehntelang die Märkte bevölkert, wie es vor ihnen schon die Großmütter getan hatten. Sie hatten auf immer gleichen Plätzen ihre Früchte und ihr Gemüse feilgeboten. Sie hatten ihre traditionellen Muster gestickt und gewebt, die sie für sich selbst verwendet oder an die Touristen verkauft hatten. Sie hatten tagelang über die Geburt einer Nichte oder eine Hochzeit im Nachbardorf diskutiert oder die Mühsal des wöchentlichen Waschtags beklagt. Ab nun lief das Leben anders.

Über Nacht rumpelte nun eine Waschmaschine in ihrer neuen Wohnung im sechsten Stock eines Hauses, das an der Stelle ihrer alten Hütte stand. Massenware ersetzte ihre alten Muster, ein Staubsaugerroboter wuselte durch die Wohnung, der Strom fiel nie aus und der Bildschirm brachte Filme, Schulungen, Nachrichten, Aktienkurse und erinnerte sie an Geburtstage oder den Fitnesskurs.