Für Julie:

meine Partnerin, meine Muse,

meine Stimme der Vernunft.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.


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2. Auflage 2020

© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096


© der Originalausgabe 2019 by Calvin C. Newport.

Die englische Originalausgabe erschien bei Portfolio, einem Imprint der Penguin Publishing Group, einer Abteilung von Penguin Random House LLC unter dem Titel Digital Minimalism.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.


Übersetzung: Jordan Wegberg, Berlin

Redaktion: Desirée Simeg, Gersthofen

Umschlaggestaltung: Marc Fischer, München

Umschlagabbildung: shutterstock/Lutsina Tatiana

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern


ISBN Print 978-3-86881-725-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-060-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-061-0


Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter

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Inhalt

Einleitung

Teil 1
Die Gundlagen

1 Einseitiges Wettrüsten

2 Digitaler Minimalismus

3 Die digitale Entrümpelung

Teil 2
Übungen

4 Verbringen Sie Zeit allein

5 Klicken Sie nicht auf »Gefällt mir«

6 Die Rückeroberung der Muße

7 Widerstand gegen die Aufmerksamkeits­industrie


Fazit

Danksagung

Über den Autor

Einleitung

Im September 2016 schrieb der einflussreiche Blogger und Kommentator Andrew Sullivan für das Magazin New York einen Essay von 7000 Wörtern mit dem Titel »Ich war früher mal ein Mensch«. Der Untertitel war alarmierend: »Ein endloses Bombardement von Nachrichten und Klatsch und Bildern hat uns zu manischen Informationssüchtigen gemacht. Mich hat es kaputtgemacht. Es könnte auch Sie kaputtmachen.«1

Der Artikel erzeugte große Resonanz. Ich gebe aber zu, dass ich Sullivans Warnung beim Lesen zunächst nicht ganz verstanden habe. Ich bin einer der wenigen Vertreter meiner Generation, die keinen Social-­Media-Account haben, und ich verbringe auch nicht viel Zeit mit dem Surfen im Internet. Infolgedessen spielt mein Smartphone eine relativ untergeordnete Rolle in meinem Leben – was mich zur Randfigur der weitverbreiteten Erfahrungen machte, die in diesem Artikel aufgegriffen wurden. Mit anderen Worten, ich wusste, dass die Innovationen des Internetzeitalters im Leben vieler Menschen eine immer wichtigere Rolle spielten, aber ich hatte keinen intuitiven Zugang zu ihrer Bedeutung. Zumindest so lange, bis alles anders wurde.

Etwas früher im selben Jahr war mein Buch Konzentriert arbeiten veröffentlicht worden. Darin geht es um den unterschätzten Wert der intensiven Konzentration und darum, dass der Schwerpunkt der Berufswelt auf ablenkende Kommunikationsmittel die Leute daran hindert, ihr Bestes zu geben. Während mein Buch sich ein Publikum eroberte, meldeten sich immer mehr Leser bei mir. Einige schickten mir Nachrichten, andere sprachen mich bei öffentlichen Auftritten an – und viele stellten dieselbe Frage: Was war mit ihrem Privatleben? Sie stimmten meinen Thesen über die Ablenkungen im Büro zu, aber dann erklärten sie, dass sie unzweifelhaft noch stärker davon gestresst waren, wie die neuen Technologien ihrer Freizeit zunehmend Sinn und Zufriedenheit zu rauben schienen. Das weckte meine Aufmerksamkeit und verschaffte mir einen unerwarteten Intensivkurs über die Versprechungen und Gefahren des modernen digitalen Lebens.

Fast jeder, mit dem ich mich unterhielt, glaubte an die Macht des Internets und erkannte, dass es eine Kraft sein kann und sollte, die das Leben verbessert. Diese Menschen wollten nicht unbedingt auf Google Maps verzichten oder sich bei Instagram abmelden, hatten jedoch auch den Eindruck, dass ihr derzeitiges Verhältnis zur Technologie so nicht unverändert bestehen bleiben konnte – bis zu dem Punkt, dass sie es sogar abbrechen würden, wenn sich nicht bald etwas änderte.

Ein Begriff, den ich in diesen Gesprächen über das moderne digitale Leben häufig hörte, war Erschöpfung. Es ist nicht so, als wäre irgendeine bestimmte App oder Website für sich betrachtet besonders schlecht. Wie viele meiner Gesprächspartner klarstellten, bestand das Problem mehr in der Gesamtheit so vieler unterschiedlicher bunter Spielereien, die pausenlos um ihre Aufmerksamkeit buhlten und ihre Stimmung manipulierten. Ihr Problem bei dieser fieberhaften Aktivität lag weniger in den Details als in der Tatsache, dass sie zunehmend außer Kontrolle geriet. Nur wenige wollten so viel Zeit online verbringen, aber diese Tools haben die Eigenheit, ein gewisses Suchtverhalten zu kultivieren. Der Drang, »mal schnell« bei Twitter reinzuschauen oder Reddit zu aktualisieren, wird zu einem nervösen Tick, der ununterbrochene Zeit in Bruchstücke zerteilt, die zu kurz sind, um die für ein bewusstes Leben notwendige Präsenz zu stärken.

Wie ich bei meinen nachfolgenden Recherchen herausfand und im nächsten Kapitel darlegen werde, erfolgen einige dieser Suchtverhaltensformen zufällig (kaum jemand konnte voraussehen, wie stark das Schreiben von Textnachrichten unsere Aufmerksamkeit beanspruchen würde), während andere durchaus absichtsvoll sind (exzessive Nutzung ist die Grundlage vieler Businesspläne für Social-Media-Unternehmen). Doch worin auch immer die Ursache liegt, die unwiderstehliche Anziehungskraft von Bildschirmen vermittelt den Menschen das Gefühl, dass sie mehr und mehr ihre Autonomie einbüßen, wenn es um die Lenkung ihrer Aufmerksamkeit geht. Natürlich hat sich niemand für diesen Kontrollverlust entschieden. Jeder hat schon einmal aus guten Gründen Apps heruntergeladen und Accounts eingerichtet, nur um mit bitterer Ironie festzustellen, dass diese Dienste eben jene Werte untergraben, die sie überhaupt erst so überzeugend machten: Man meldet sich bei Facebook an, um mit Freunden im ganzen Land in Kontakt zu bleiben – und sieht sich dann plötzlich nicht mehr in der Lage, ein ungestörtes persönliches Gespräch mit einem Freund am selben Tisch zu führen.

Ich erfuhr auch etwas über die negativen Folgen uneingeschränkter Onlineaktivität für das psychische Wohlbefinden. Viele Menschen, mit denen ich mich unterhielt, unterschätzten die Fähigkeit der sozialen Medien, ihre Stimmung zu beeinflussen. Wenn man ständig der von Freunden sorgfältig kuratierten Darstellung ihres Lebens ausgesetzt ist, erzeugt dies ein Gefühl der Unzulänglichkeit – insbesondere in Zeiten, da man sich ohnehin bereits schlecht fühlt –, und Teenager können dadurch auf grausam wirkungsvolle Weise öffentlich ausgegrenzt werden.

Wie die US-Präsidentschaftswahl von 2016 und ihre Nachwirkungen bewiesen haben, scheinen Onlinedebatten darüber hinaus die Tendenz zu emotional aufgeladenen und spaltenden Extremen zu beschleunigen. Der Technologiephilosoph Jaron Lanier legt überzeugend dar, dass die Vorherrschaft von Wut und Aufgebrachtheit online in gewisser Weise ein unvermeidbares Charakteristikum des Mediums ist:2 Auf einem offenen Marktplatz der Aufmerksamkeit ziehen düstere Emotionen mehr Blicke auf sich als positive und konstruktive Gedanken. Für starke Internetnutzer kann die wiederholte Begegnung mit dieser Düsterkeit ein Quell zehrender Negativität werden – ein hoher Preis, den viele für ihre zwanghafte Vernetzung bezahlen, ohne es überhaupt zu bemerken.

Die Begegnung mit dieser erschütternden Ansammlung von Bedenken – von der erschöpfenden und suchtartigen übermäßigen Nutzung dieser Tools über ihre Fähigkeit zur Verringerung der Autonomie, die Minderung von Zufriedenheit und die Auslösung dunkler Instinkte bis hin zur Ablenkung von wertvolleren Aktivitäten – öffnete mir die Augen für das angespannte Verhältnis, das so viele mittlerweile zu den Technologien unterhalten, die unsere Kultur beherrschen. Mit anderen Worten, sie verschaffte mir ein viel besseres Verständnis dessen, was Andrew Sullivan meinte, als er sich in seinem Artikel beklagte: »Ich war früher mal ein Mensch.«

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Diese Erfahrung des Austauschs mit meinen Lesern überzeugte mich davon, dass die Auswirkungen der Technologie auf das Privatleben eine gründlichere Untersuchung verdienten. Ich begann, ernsthafter zu diesem Thema zu recherchieren und darüber zu schreiben, wobei ich sowohl seine Umrisse besser zu erfassen als auch die raren Beispiele für Menschen zu finden versuchte, die aus diesen neuen Technologien großen Nutzen ziehen, ohne die Kontrolle zu verlieren.3

Eines der ersten Dinge, die während dieser Untersuchung deutlich wurden, ist die Tatsache, dass unsere kulturelle Beziehung zu diesen Tools aufgrund ihrer Vermischung von Schaden und Nutzen verkompliziert wird. Smartphones, allgegenwärtiges WLAN, digitale Plattformen, die Milliarden Menschen miteinander verknüpfen – das sind großartige Innovationen! Nur wenige ernst zu nehmende Kommentatoren sind der Meinung, dass wir besser dran wären, wenn wir in ein früheres technologisches Zeitalter zurückfielen. Doch gleichzeitig sind wir es leid, uns als Sklaven unserer Mobilgeräte zu fühlen. Diese Tatsache erzeugt eine durcheinandergewürfelte emotionale Landschaft, in der Sie zu schätzen wissen, dass Sie auf Instagram inspirierende Fotos finden, und sich gleichzeitig darüber ärgern, dass die App sich in Ihren Feierabend drängt, den sie früher im Gespräch mit Freunden oder lesend verbracht haben. Die häufigste Reaktion auf diese Klagen ist die Weitergabe schlichter Lifehacks und Tipps: Wenn Sie ein digitales Sabbatical einlegen oder Ihr Smartphone nachts nicht neben das Bett legen oder die Benachrichtigungen deaktivieren und sich für mehr Achtsamkeit entscheiden, können Sie vielleicht all das Gute behalten, das Sie überhaupt erst an diesen neuen Technologien gereizt hat, und trotzdem ihre negativsten Auswirkungen umgehen. Ich verstehe den Reiz dieser schlichten Vorgehensweise, denn sie enthebt Sie der Notwendigkeit, harte Schnitte in Ihrem digitalen Leben vorzunehmen: Sie müssen nichts aufgeben, auf keine Vorteile verzichten, keinen Ihrer Freunde vor den Kopf stoßen und keine größeren Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.

Doch wie denjenigen, die solche Formen kleinerer Korrekturen vorgenommen haben, inzwischen zunehmend klar wird, sind Willensstärke, Tipps und halbgare Lösungen nicht ausreichend, um das Eindringen der neuen Technologien in unsere kognitive Landschaft im Zaum zu halten. Das Suchtpotenzial ihrer Erscheinungsform und die Stärke des damit zusammenhängenden kulturellen Drucks sind zu stark, als dass ein Ad-hoc-Ansatz Wirkung zeigen könnte. Bei meiner Arbeit zu diesem Thema bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir stattdessen eine voll ausgereifte Philosophie der Technologienutzung brauchen, die tief in unseren Wertvorstellungen verwurzelt ist und klare Antworten auf die Fragen bietet, welche Tools wir verwenden und wie wir sie verwenden sollten, und die uns – was ebenso wichtig ist – in die Lage versetzt, selbstbewusst alles andere zu ignorieren.

Es gibt viele Philosophien, mit denen sich diese Ziele erreichen lassen. Das eine Extrem sind die Neoludditen, die eine Abkehr von den meisten modernen Technologien propagieren. Am entgegengesetzten Ende der Skala stehen die Quantified-Self-Verfechter, die sorgfältig digitale Geräte in alle Aspekte ihres Lebens integrieren mit dem Ziel, ihr Dasein zu optimieren. Von den unterschiedlichen Wertvorstellungen, die ich untersucht habe, ragte als überlegene Antwort insbesondere eine heraus für all diejenigen, die sich trotz der derzeitigen technologischen Überforderung immer noch wohlfühlen wollen. Ich bezeichne sie als digitalen Minimalismus, und sie folgt der Überzeugung, dass bei unserem Verhältnis zu digitalen Tools weniger mehr sein kann.

Diese Idee ist nicht neu. Schon lange vor Henry David Thoreaus Ausruf »Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit«4 fragte Marc Aurel: »Siehst du, wie wenig du benötigst, um ein zufriedenes und ehrfurchtsvolles Leben zu führen?«5 Digitaler Minimalismus überträgt diese klassische Einsicht in die Rolle der Technologie auf unser modernes Leben. Die Auswirkungen dieser schlichten Übertragung können allerdings enorm sein. In diesem Buch werden Sie vielen digitalen Minimalisten begegnen, die eine äußerst positive Veränderung erlebt haben, indem sie ihre Onlinezeit massiv beschränkt haben, um sich auf eine kleine Anzahl von hochwertigen Aktivitäten zu konzentrieren. Weil digitale Minimalisten so viel weniger online sind als ihre Pendants, kann man ihre Lebensweise leicht für extrem halten, aber sie selbst würden behaupten, dass diese Wahrnehmung die Fakten auf den Kopf stellt: Extrem ist, wie viel Zeit alle anderen damit verbringen, auf ihre Bildschirme zu glotzen. Der Schlüssel zum Wohlgefühl in unserer Hightech-Welt, das haben sie gelernt, liegt darin, viel weniger Zeit mit der Nutzung von Technologien zuzubringen.

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Dieses Buch soll eine Lanze brechen für den digitalen Minimalismus, ausführlich erläutern, welche Anforderungen er stellt und warum er funktioniert, und Ihnen dann vermitteln, wie Sie diese Philosophie für sich übernehmen können, wenn Sie entschieden haben, dass sie das Richtige für Sie ist. Dazu habe ich das Buch in zwei Teile untergliedert. In Teil 1 beschreibe ich die philosophischen Grundlagen des digitalen Minimalismus, angefangen mit einer näheren Untersuchung der Kräfte, die das digitale Leben so vieler Menschen zunehmend unerträglich machen, ehe ich eine detaillierte Darstellung der Philosophie des digitalen Minimalismus vornehme, in der ich auch meine Argumente dafür vorbringe, warum es sich dabei um die richtige Lösung dieser Probleme handelt. Zum Abschluss von Teil 1 schlage ich eine Methode zur Umsetzung dieser Philosophie vor: die digitale Entrümpelung.

Wie bereits erwähnt, ist ein aggressives Vorgehen notwendig, um Ihren Umgang mit Technologien grundlegend zu verändern. Die digitale Entrümpelung stellt ein solches aggressives Vorgehen dar. Dieser Prozess erfordert, dass Sie dreißig Tage lang auf optionale Onlineaktivitäten verzichten. In dieser Phase entwöhnen Sie sich von den Suchtzyklen, die viele digitale Tools auslösen können, und beginnen die analogen Tätigkeiten wiederzuentdecken, die Ihnen mehr Befriedigung bieten. Sie machen Spaziergänge, sprechen persönlich mit Freunden, engagieren sich in der Gemeinschaft, lesen Bücher und schauen den Wolken hinterher. Was das Wichtigste ist: Die Entrümpelung gibt Ihnen Raum, eine Vorstellung von den Dingen zu entwickeln, die Ihnen am meisten bedeuten. Am Ende der dreißig Tage fügen Sie wieder eine geringe Anzahl sorgfältig ausgewählter Onlineaktivitäten hinzu, von denen Sie annehmen, dass sie diesen für Sie bedeutsamen Dingen gute Dienste leisten. Im weiteren Verlauf tun Sie Ihr Bestes, um diese absichtlichen Aktivitäten zum Kern Ihres Onlinelebens zu machen – und lassen den Großteil all der anderen Zerstreuungen hinter sich, die früher Ihre Zeit fragmentiert und Ihre Aufmerksamkeit beansprucht haben. Die Entrümpelung ist so etwas wie ein holpriger Neustart: Sie gehen als erschöpfter Maximalist in den Prozess hinein und verlassen ihn als bewusster digitaler Minimalist.

Im letzten Kapitel von Teil 1 steuere ich Sie durch die Implementierung Ihrer eigenen digitalen Entrümpelung. Dabei nehme ich ausführlich Bezug auf ein Experiment, das ich im Winter 2018 mit über 1600 Menschen durchgeführt habe, die sich einverstanden erklärt hatten, unter meiner Leitung eine digitale Entrümpelung vorzunehmen und über ihre Erkenntnisse zu berichten. Sie erfahren die Geschichten dieser Teilnehmer, welche Strategien für sie gut funktioniert haben und welche der von ihnen entdeckten Fallstricke Sie vermeiden sollten.

In Teil 2 werfen wir einen genaueren Blick auf einige Ideen, die Ihnen dabei helfen können, einen nachhaltigen digitalen Minimalismus zu kultivieren. In diesen Kapiteln untersuche ich Themen wie die Wichtigkeit des Alleinseins und die Notwendigkeit von Qualitätsfreizeit, um die Zeit zu ersetzen, die jetzt hauptsächlich der gedankenlosen Gerätenutzung gewidmet ist. Ich vertrete und verteidige die möglicherweise kontroverse Auffassung, dass Ihre Beziehungen sich vertiefen, sobald Sie aufhören, Likes zu verteilen oder Kommentare zu Social-Media-Beiträgen zu verfassen, und weniger unmittelbar auf Textmitteilungen reagieren. Ich biete Ihnen auch einen Insiderblick auf den Aufmerksamkeitswiderstand – eine locker organisierte Bewegung von Menschen, die Hightech-Tools und strikte Abläufe verwenden, um aus den Produkten der digitalen Aufmerksamkeitswirtschaft Wert zu schöpfen und gleichzeitig zu vermeiden, dass sie einer übermäßigen Nutzung zum Opfer fallen.

Jedes Kapitel in Teil 2 schließt mit ausgewählten Übungen – das sind konkrete Taktiken, die Ihnen dabei helfen sollen, die wesentlichen Gedanken des jeweiligen Kapitels umzusetzen. Als angehender digitaler Minimalist können Sie diese Übungen als Handwerkskasten betrachten, mit dessen Unterstützung sie einen minimalistischen Lebensstil entwickeln können, der zu Ihren individuellen Umständen passt.

In Walden oder Leben in den Wäldern schrieb Thoreau bekanntermaßen: »Die Mehrzahl der Menschen bringt ihr Schicksal in stiller Verzweiflung hin.«6 Weniger häufig zitiert wird dagegen die optimistische Bemerkung, die im nächsten Absatz folgt:7

»Indes sind sie ehrlich davon überzeugt, keine andere Wahl zu haben. Freilich, wache und gesunde Naturen sind sich noch dessen bewusst, dass die Sonne einmal rein aufging. Es ist jedoch nie zu spät, unsere Vorurteile aufzugeben.«

Unser derzeitiges Verhältnis zu den Technologien unserer hypervernetzten Welt ist unhaltbar und führt uns näher an die stille Verzweiflung heran, die Thoreau vor so vielen Jahren beobachtete. Doch er erinnert uns daran: »Die Sonne ging einmal rein auf«, und wir sind immer noch in der Lage, diesen Zustand zu ändern. Dazu dürfen wir aber nicht passiv zulassen, dass ein wildes Durcheinander aus Tools, Unterhaltungsangeboten und Zerstreuungen, wie sie das Internet­zeitalter bietet, darüber bestimmt, wie wir unsere Zeit verbringen oder wie wir uns fühlen. Stattdessen müssen wir Maßnahmen ergreifen, um das Gute dieser Technologien herauszufiltern und gleichzeitig das Schlechte zu vermeiden. Wir brauchen eine Philosophie, die unsere Erwartungen und Werte wieder von unseren täglichen Erfahrungen bestimmen lässt und zugleich den primären Verrücktheiten und Geschäftsmodellen des Silicon Valley ihre derzeitige Dominanz bei dieser Rolle entzieht; eine Philosophie, die neue Technologien akzeptiert, aber nicht um den Preis der Entmenschlichung, vor der Andrew Sullivan uns gewarnt hat; eine Philosophie, bei der langfristige Sinnhaftigkeit den Vorrang vor kurzfristiger Befriedigung hat. Mit anderen Worten: eine Philosophie wie den digitalen Minimalismus.


1 Andrew Sullivan, »I Used to Be a Human Being«, New York, 18. September 2016, http://nymag.com/intelligencer/2016/09/andrew-sullivan-my-distraction-sickness-and-yours.html

2 Weitere Überlegungen Jaron Laniers über die Vorherrschaft des Negativen auf dem Marktplatz der Aufmerksamkeit finden Sie in seinem Vox-Podcast-Interview mit Ezra Klein vom 16. Januar 2018,
https://www.vox.com/2018/1/16/16897738/jaron-lanier-interview.

3 Einige empfinden es als Manko, dass ich selbst nicht aus umfassenden persönlichen Erfahrungen schöpfen kann. »Wie kannst du denn die sozialen Medien kritisieren, wenn du sie selbst nie genutzt hast?«, ist einer der häufigsten Kritikpunkte, die ich als Reaktion auf mein öffentliches Eintreten für diese Themen zu hören bekomme. Die Beschwerde ist nicht ganz unberechtigt, aber wie ich 2016 erkannt habe, als ich mit dieser Untersuchung begann, kann mein Außenseiterstatus auch von Vorteil sein. Da ich unsere Technologiekultur aus einer unbelasteten Perspektive betrachte, kann ich vielleicht besser Behauptungen von Wahrheit und sinnvolle Nutzung von Manipulation unterscheiden.

4 Henry David Thoreau, Walden oder Das Leben in den Wäldern. Da der Text von Walden zum öffentlichen Gemeingut gehört, existieren viele unterschiedliche Online-, E-Book-, Audio-und Printausgaben dieses Buchs. Ich zitiere hier aus der Dover-Printausgabe.

5 Marcus Aurelius, Meditations, Übers. Gregory Hays (New York: Modern Library, 2003), 18.

6 Thoreau, Walden, 4.

7 Thoreau, Walden, 5.

Teil 1


Grundlagen