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Kurfürstenklinik
– 95–

Wenn eine Schwester hasst

Karla M. kann nicht verzeihen

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-027-0

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»Ich glaube, heute hat sich alles gegen uns verschworen«, sagte Dr. Adrian Winter und wischte sich mit einer müden Handbewegung über die Augen. Seit mehr als zehn Stunden war er jetzt bereits im Dienst, und noch immer war kein Ende abzusehen. Gerade war ein neuer schwerer Unfall angekündigt worden. Der Patient würde mit dem Hubschrauber gebracht werden.

»Ich koche noch mal rasch neuen Kaffee«, bot Oberschwester Walli an, die auch dunkle Schatten der Müdigkeit unter den Augen hatte. Ihre sonst stets heitere Miene wirkte jetzt, gegen sieben Uhr abends, blaß und angespannt.

»Eine gute Idee, danke.« Adrian dehnte im Sitzen den Rücken. Am frühen Morgen hatte er drei große Operationen durchgeführt, weil zurzeit ein personeller Engpaß auf der Chirurgie herrschte, dann war er hinunter in die ­Not­aufnahme gegangen, sein haupt­sächliches Wirkungsfeld.

Und hier gaben sich die Patienten an diesem naßkalten Wintertag die Tür in die Hand. Es galt, große und kleine, unbedeutende und lebensbedrohlich erkrankte Patienten zu behandeln.

Bis vor einer Viertelstunde hatte Adrian im Not-OP um das Leben eines kleinen Jungen ge­kämpft, der sich auf einer der vielen Seen gewagt hatte, die im Einzugsgebiet von Berlin lagen.

Natürlich war die Eisdecke jetzt, im frühen Dezember, noch viel zu dünn gewesen, der Sechsjährige war eingebrochen und nur dank des mutigen Einsatzes einer siebzehnjährigen Schülerin gerettet worden.

Das Mädchen hatte, ohne auf die eigene Gefahr zu achten, dicke Äste abgebrochen und auf das Eis gelegt. So hatte sie sich langsam bis zu dem kleinen Jungen vorgearbeitet – und das unterkühlte Kind schließlich retten können.

Drei ältere Damen, die am Seeufer mit ihren Dackeln spazieren gegangen waren, hatten ihr dann noch geholfen. Eine hatte zum Glück ein Handy dabei und den Notarzt alarmiert.

Jürgen war mit nur leichten Verletzungen und einer Unterkühlung davongekommen, seine Retterin, Ute Schäffner, konnte nach einer umfangreichen Untersuchung wieder nach Hause entlassen werden.

Die Eltern des Jungen waren voller Dankbarkeit und versicherten dem Mädchen immer wieder, daß sie ihr diese Heldentat gutmachen würden.

»Das will ich nicht«, hatte Ute daraufhin erwidert, »es ist doch selbstverständlich zu helfen, wenn jemand in Not ist.«

»Und da sag noch mal einer was gegen die heutige Jugend«, hatte Oberschwester Walli leise zu Adrian Winter gesagt, als sie diese Einstellung hörte.

»Zum Glück überwiegen die jungen Leute, die so sind wie Ute«, hatte Adrian geantwortet. »Wenn’s anders wäre, müßte man ja auch verzweifeln.«

»Hier, dein Kaffee. Und ein Sandwich hab’ ich auch noch aufgetrieben.« Walli stellte das Tablett auf den kleinen runden Tisch, der in einer Ecke des Arztzimmers stand und wo sie sich aufhielten, wenn gerade mal eine ruhige Minute war.

»Danke.« Erst als er das Essen sah, bemerkte Dr. Winter, wie hungrig er war. Seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr gegessen, nur zwischen den Operationen mal einen Schluck Kaffee getrunken und ein Plätzchen dazu geknabbert.

Jetzt biß er herzhaft in das Schinkensandwich und trank den Kaffee dazu. Dann warf er einen kontrollierenden Blick auf die Uhr – der Hubschrauber würde sicher jeden Moment landen. Zur gleichen Zeit stand Dr. Janine Kramer am Fenster der chirurgischen Station und sah in den Klinikpark hinaus, der jetzt schon in tiefem Dämmerlicht lag. Nur ein paar Lampen markierten die schmalen Wege, die an Büschen und Beeten entlang führten.

Im Sommer war der Park der Kurfürsten-Klinik ein beliebter Aufenthalt für die Patienten, die nicht bettlägerig oder schon auf dem Weg der Genesung waren. Jetzt jedoch wirkte er trist und leer, die Lampen spendeten nur ein wenig Licht, ließen die Büsche teilweise bedrohlich werden.

Dr. Janine Kramer seufzte auf. Sie durfte sich nicht wieder in ihre Traurigkeit vertiefen. Jan war tot. Seit zwei Jahren schon. Inzwischen tat es nur noch ein bißchen weh, an ihn zu denken. Doch wenn sie die Büsche und Bäume sah, wurde ihr regelmäßig das Herz schwer, denn Jan Kaspers war Landschaftsgärtner gewesen, er hatte die Natur geliebt und mit Janine, die er seit seiner Schulzeit kannte, viele Ausflüge ins Grüne unternommen.

Vor zwei Jahren aber war Jan gestorben – bei einem Unfall auf der Autobahn. Ein Geisterfahrer, fast neunzig, hatte Jans Wagen erfaßt und gegen die Leitplanke gequetscht. Fünf Stunden lang hatten die Ärzte um das Leben des Mannes gekämpft – vergebens.

Nicht mehr dran denken, befahl sich die junge Ärztin, straffte den Rücken und wandte sich wieder dem Arztzimmer zu. Sie würde noch zwei OP-Berichte diktieren, dann endlich heimfahren.

Doch noch bevor sie den Vorsatz in die Tat umsetzen konnte, hörte sie laute Geräusche, dann sah sie den Rettungshubschrauber, der sich der Kurfürsten-Klinik näherte. Er landete genau im Mittelpunkt der kreisrunden Markierung. Gleichzeitig setzten sich zwei Pfleger mit einer Trage in Bewegung. Der Patient würde in wenigen Minuten die Notaufnahme erreicht haben.

Für die junge Chirurgin war das schon ein gewohntes Bild. Sie arbeitete seit vier Jahren in der Klinik.

Nein, dachte sie jetzt, nie werde ich mich daran gewöhnen, wie viel Leid verursacht wird, wenn ein Mensch auf solch dramatische Weise hier eingeliefert wird. Schließlich ist es dann immer ein besonders schwerer Fall – und es ist fraglich, ob man ihm noch helfen kann.

Obwohl Janine Kramer müde war, beschloß sie, hinunter zur Unfallstation zu gehen und Dr. Winter ihre Unterstützung anzubieten. Sie wußte, daß der Chef der Notaufnahme einen extrem harten Tag hinter sich hatte. Vielleicht war er froh, wenn er noch ein wenig Zusatz-Hilfe bekam.

*

»Wie sieht’s aus?« erkundigte sich Pfleger Ludwig, als er zusammen mit seinem Kollegen Oliver die Trage aus dem Hubschrauber zog.

»Der Kreislauf sackt immer wieder weg. Wir haben getan, was wir konnten, aber die inneren Verletzungen scheinen gravierend zu sein. Außerdem hat er jede Menge Rauschgift im Blut, das erschwert uns noch zusätzlich das Arbeiten.«

»Dr. Winter wird begeistert sein«, murmelte Ludwig vor sich hin. Er warf einen Blick auf den jungen Patienten. Gerade achtzehn Jahre alt, aber schon ein Wrack, ging es ihm durch den Kopf.

Man sah dem Patienten an, daß er seit langem drogensüchtig war. Er wirkte ausgemergelt, unterernährt. Die Haut war fleckig und teilweise bereits mit Ekzemen übersät.

Ludwig, fast fünfzig Jahre alt, dachte an seine beiden Zwillingstöchter Sarah und Anna. Sie waren sehr behütet aufgewachsen und hielten sich zurzeit als Austauschschülerinnen in Florida auf. Hoffentlich kamen sie dort nicht mit Drogen in Berührung!

Er wurde diese Angst nicht los, seit er in der Kurfürsten-Klinik immer öfter mit Drogenpatienten zu tun hatte. Die jungen Leute liefen von der oft tristen Wirklichkeit davon, flüchteten sich in einen kurzen Rausch – und begriffen gar nicht, was sie sich antaten, wenn sie sich den ersten Schuß setzten oder die erste Pille mit irgendeinem Gift schluckten.

Ludwig hatte zum Glück keine Zeit mehr, diesen Gedanken nachzuhängen, denn jetzt ging es im Laufschritt hinüber zum Klinikgebäude und in die Notaufnahme.

Dort standen schon Dr. Winter, Dr. Schäfer und die junge Chirurgin Dr. Janine Kramer bereit, um den Patienten in Empfang zu nehmen.

»Was fehlt ihm?« wollte Adrian wissen.

»Fenstersturz«, meldete der Notarzt knapp. »Er hat sich – wohl im Drogenrausch – aus dem zweiten Stock seines Wohnhauses gestürzt. Passanten haben ihn erst entdeckt, als er schon völlig durchfroren war.«

»Und? Wie sieht’s aus?«

»Schlecht. Ich hab’ getan, was ich konnte, aber der Kreislauf sackt immer wieder ab, das Herz stolpert… Ich denke, er ist total zugedröhnt.« Der noch sehr junge Notarzt gab die aktuellen Werte durch, die Dr. Bernd Schäfer gewissenhaft notierte.

Der Patient war schon in den großen Untersuchungsraum gebracht worden, wo ihn Schwester Walli, unterstützt von ihrer Kollegin Marion, von den durchnäßten und teilweise zerfetzten Kleidungsstücken befreite.

Dr. Winter trat an den Tisch und sah sich den Verunglückten an. »Meine Güte…, der arme Junge«, murmelte er. Und das galt nicht allein den vielen äußeren Verletzungen, die man sehen konnte. Das galt auch dem allgemeinen Zustand des jungen Mannes: Er war fast bis auf die Knochen abgemagert, Hämatome waren am ganzen Körper zu sehen, eine Rippe hatte die Haut durchstoßen und ragte jetzt an der rechten Seite hervor.

»Los, fangen wir an«, stieß

Adrian Winter gepreßt hervor. Er hatte große Sorge, daß der Patient, dessen Allgemeinzustand so furchtbar schlecht war, ihm unter den Händen sterben könnte.

Sie arbeiteten drei Stunden, dann war das Schlimmste geschafft. Die drei offenen Brüche waren provisorisch gerichtet, ein Milzriß, der für den hohen Blutverlust verantwortlich zeichnete, war genäht.

Jetzt lag der Patient auf Intensiv, und die Ärzte warteten besorgt ab, ob der Organismus

den Eingriff wirklich verkraften konnte.

»Bald werden die Entzugserscheinungen einsetzen«, sagte Adrian leise. »Ihr müßt ihm was geben, sonst bricht er völlig zusammen.«

»Wir tun, was möglich ist.« Dr. Werner Roloff, der erfahrene Anästhesist und Leiter der Intensivstation, beugte sich über den jungen Mann. »Ich könnte diese Drogenhändler eigenhändig erwürgen«, sagte er leise. »Seit wann wohl nimmt dieses halbe Kind wohl das Giftzeug?«

»Schon lange«, erwiderte Adrian Winter und wies auf Arme und Beine des Patienten. Überall gab es Einstiche, teils waren sie verschorft, eitrig… Der geschundene Körper konnte nichts mehr ertragen.

»Was denken Sie – ob er sich mit Absicht aus dem zweiten Stock gestürzt hat?«

Von den beiden Ärzten unbemerkt, war Janine Kramer zu ihnen getreten. Sie hatte die OP-Kleidung abgelegt und trug bereits einen saloppen Pullover und Jeans. Jung und schutzbedürftig sah sie darin aus, gar nicht wie eine Frau, die seit sechs Jahren mit der Facharzt-Ausbildung fertig war, zwei Jahre sogar in USA gearbeitet hatte und eine hervorragende Operateurin war.

»Vielleicht hat er im Rausch geglaubt, er könnte fliegen«, murmelte Adrian Winter. »Das hört man ja immer wieder, daß

es zu solchen Halluzinationen kommt.«

»Armer Kerl.« Janina mußte sich gewaltsam ein Gähnen verbeißen. »Ich gehe jetzt heim – gute Nacht.«

»Gute Nacht, Frau Kollegin. Und herzlichen Dank für Ihre Hilfe.«

»War doch selbstverständlich.« Sie lächelte den beiden matt zu, dann verließ sie den OP-Trakt.

»Ich gehe jetzt auch, bin hundemüde«, sagte Adrian. »Eine ruhige Nacht wünsch ich dir, Werner.«

»Danke.« Dr. Roloff überwachte persönlich den Transport des Patienten, und auch er zog sich erst beruhigt in sein Dienstzimmer zurück, als feststand, daß es vorerst mit dem Frischoperierten keine Probleme geben würde.