May, Valentina Porzellanhimmel

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Ulla Mothes
Covergestaltung: Favoritbüro München
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1.

Wieder verlor sich eine Spur im Dunkel der Zeit. Es war wie verhext. Sophie zerknüllte den Brief vom Amt und pfefferte ihn auf den Boden.

»Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um keine Dämonen zu wecken«, hatte ihre Pflegemutter Dorit erst neulich zu ihr am Telefon gesagt, als sie ihr von den erfolglosen Recherchen berichtet hatte. Vielleicht hatte Dorit Recht.

Seufzend sank Sophie auf den Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Trübsinnig starrte sie auf den Boden. Es war ein Scheißgefühl, nichts über sich zu wissen! Seit einigen Jahren forschte sie vergeblich nach ihren Wurzeln. Es schien, als wäre sie nie geboren worden, hätte nie Eltern oder Familie besessen. Freundin Frida hatte sie als Einzige stets in ihren Bemühungen motiviert und unterstützt. Jetzt war sie tot, und Sophie fehlte der Antrieb, weiterzuforschen.

Es klingelte an der Wohnungstür. Hastig wischte Sophie sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie sich erhob und hinauslief. Sie überlegte, nicht zu öffnen, aber es war Günter, Fridas Mann, der ihr ein paar Dinge der verstorbenen Freundin vorbeibringen wollte.

Er sah heruntergekommen aus. Seit Fridas Tod hatte Günter sich weder rasiert noch sein Haar schneiden lassen. Sophie öffnete ihm die Tür und umarmte ihn schweigend. Mit hängenden Schultern lief er durch den Flur in ihr winziges Wohnzimmer, in seinen Händen eine Holzkiste, in denen üblicherweise Dahlienknollen überwinterten. »Es war ihr wichtig.« Mit diesen Worten stellte er die Kiste mitten auf den Tisch. Abgenommen hatte er, und in seinen Augen war der Glanz erloschen.

Sophie nickte.

Die Kiste barg Erinnerungen und Schätze. Traurig und zugleich voller Dankbarkeit schlug sie das Vlies zurück, das sonst die Blumenknollen vor Licht schützte. Als Erstes sah sie einen Stapel vergilbte Fotos und Fridas stoffbezogenes Geheimbuch über Züchtungen. Darunter lag noch etwas in Zeitungspapier gewickelt, das ihre Neugier weckte.

»Frida hat immer gewollt, dass du das hier bekommst«, sagte Günter sichtlich bewegt. Sophies Kehle war wie zugeschnürt. Es war erst ein paar Wochen her, dass Frida völlig unerwartet gestorben war. Der Schmerz drohte Sophie erneut zu überwältigen. Und Günter litt wie ein Hund. Er und Frida hatten sich über alles geliebt. Sophie konnte sich an kein böses Wort zwischen ihnen erinnern, im Gegenteil, sie hatten immer glücklich gewirkt und waren das für die heutige Zeit selten gewordene Vorzeigepaar, das es über die Silberhochzeit hinausgeschafft hatte.

Frida war eine charismatische Persönlichkeit gewesen, und trotz ihrer sechzig Jahre noch voller Tatendrang und stetig neuen kreativen Ideen. Die Inhaberin und Seele der Landschaftsgärtnerei Heuermann am Stadtrand von Paderborn. Ihr verdankten sie sämtliche Aufträge, die Günter und seine Projektteams mit Akribie ausführten.

»Danke. Es bedeutet mir sehr viel, dass du mir Fridas Schätze anvertraust. Ich werde sie in Ehren halten. Versprochen.« Sie griff nach der Hand des Freundes und drückte sie.

Ein scheues und zugleich wehmütiges Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht.

»Wir hatten noch so viel Pläne! Ich hatte bereits unsere Reise zum dreißigsten Hochzeitstag in die Toskana gebucht …« Er stöhnte gequält auf und fuhr sich mit der Hand durchs graue Haar. Sophie fühlte mit ihm. Tröstende Worte konnten seinen Seelenschmerz nicht lindern, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Auch sie vermisste Frida schrecklich. Nichts war mehr so wie vorher, weder im Gartenbaubetrieb noch in ihrem Leben. Frida war mehr als nur ihre mütterliche Freundin, sondern ihre Vertraute gewesen, mit der sie über alles hatte reden können und die ihre Leidenschaft zur Gartengestaltung teilte. Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.

»Ich weiß … Sie fehlt mir mehr, als ich beschreiben kann.« Vielleicht tröstete es ihn, dass sie den Schmerz teilten.

Günter nickte schweigend und sah beiseite.

»Wenn ich irgendwas für dich tun kann, lass es mich bitte wissen.« Sophie beugte sich zu ihm vor.

Er holte tief Luft.

»Wir sehen uns dann Morgen, Sophie. Mach’s gut«, sagte er mit belegter Stimme. Über Gefühle zu reden, fiel ihm schwer. Sie hielt ihn nicht zurück, als er sich umdrehte und ihre Wohnung eilig verließ.

Sie schaute in die geöffnete Kiste. Ihre Finger berührten den Inhalt und zuckten zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Es fühlte sich seltsam an, dass alles nun ihr gehören sollte. Mit zitternden Händen nahm Sophie das Büchlein mit den handschriftlichen Aufzeichnungen Fridas über deren eigene Zuchtversuche heraus, dann die Fotos. Das in Zeitungspapier Gewickelte darunter weckte ihre Neugier. Zum Vorschein kam ein Bildband über die schönsten Gärten Europas. Frida hatte oft von ihrem Lieblingsbuch gesprochen. Das Elfen-Lesezeichen, das Sophie ihr zu einem Geburtstag geschenkt hatte, klemmte noch zwischen den Seiten. Sie schlug das Buch an dieser Stelle auf und las die Überschrift. Romantik pur – Eine Traumreise durch Schloss Sophiengarten bei Hameln. Eine Haftnotiz klebte auf der Seite mit Stichwörtern Fridas zu den Höhepunkten dieses Gartens.

Sophie betrachtete die Fotos und Zeichnungen. Jetzt konnte sie Fridas Vorliebe dafür besser verstehen. Schade, dass sie der Freundin immer nur mit halbem Ohr zugehört hatte, wenn sie davon geschwärmt hatte. Sie würde vielleicht nie diesen Garten betreten. Ihr Blick überflog die Zeilen, die von der Renovierung des Schlosses und Gartens berichteten. Sie erfuhr, dass der Garten vor einem guten Jahr von der Malerin Eva Allenheim, der Verlobten des jetzigen Schlossbesitzers, neugestaltet worden war. Allenheim war auch die Restaurierung der jahrhundertealten Wasserkaskaden und Marmorstatuen zu verdanken. Immer tiefer tauchte Sophie in den Bericht über das Anwesen ein und war fasziniert. Sophiengarten galt als einer der schönsten Gärten Europas.

Seufzend legte sie den Bildband neben die Kiste, bevor sie das nächste Stück herauszog. Dieses war mit mehrfachen Zeitungslagen und Schaumstoff gepolstert, in deren Mitte sich ein quadratisches Lederkästchen mit einem Klappverschluss befand. Nachdem sie es geöffnet hatte, hielt sie vor Bewunderung den Atem an. Auf Schaumstoff gebettet war ein handbemalter Wandteller. Das Bild, ein idyllischer Teich, war von solcher Lebendigkeit und Detailtreue, wie es nur wenige Künstler malen konnten. Auf der Tellerrückseite stand E. A. Sophie nahm sich vor, nach Eva Allenheim im Internet zu suchen. Vorsichtig legte sie den Wandteller auf die Schaumstoffunterlage zurück. In der Kiste befanden sich noch ein Ordner mit Bepflanzungsvorschlägen Fridas, alte Pläne von umgestalteten Gärten und Notizen über gesammelte Erfahrungen beim Okulieren historischer Rosensorten. Zusammen mit dem Zuchtbuch bedeutete ihr dieser Wissensschatz viel.

Ganz unten in der Kiste entdeckte sie mehrere Alben mit Fridas Reisefotos. Die Freundin hatte als passionierte Gärtnerin hauptsächlich bekannte Gärten und Parkanlagen besucht. Zu jedem Ziel hatte sie einen handschriftlichen Kurzbericht geschrieben und manchmal Fotos der Eigentümer oder Gärtner beigefügt. Frida in Monets Garten auf der japanischen Brücke, vor der Fontäne im Park von Versailles, vor einer Palmengruppe auf der Insel Mainau, im Staudenbeet von Sissinghurst Castle und unter der mit blauen Glyzinien berankten Terrassenpergola von Schloss Sophiengarten. Das Foto hatte die Freundin mit Mein Lieblingsgarten überschrieben. Sophie zog sich einen Stuhl heran und blätterte weiter. Auf einem der Fotos vom letzten Jahr saß sie mit zwei überaus gutaussehenden, jungen Männern und einer schwarzhaarigen Frau am gedeckten Tisch auf der Terrasse. Mein Treffen mit den Brüdern von Güldenstein, Carl-Christian und Emanuel sowie der bekannten Künstlerin Eva Allenheim.

Wie glücklich Emanuel von Güldenstein und die Malerin wirkten, die händchenhaltend nebeneinandersaßen. Eva Allenheim war eine wunderschöne Frau mit klassischen Gesichtszügen, umrahmt von einem schwarzen Bob. Sophies Neugier war jetzt so groß, dass sie aufsprang und zum Computer rannte.

Sie tippte die Namen ein, und wenige Sekunden später erschienen zahlreiche Fotos und Berichte. Allenheim hatte nicht nur Preise und Auszeichnungen für ihre Gemälde und Dekorentwürfe erhalten, sondern auch für die Gestaltung des Sophiengartens. Einige Fotos zeigten, dass sie selbst Hand bei der Gartenarbeit angelegt hatte. An ihrer Seite war stets Emanuel von Güldenstein zu sehen, der auf den Aufnahmen von seinen Zügen her sensibler wirkte als sein älterer Bruder. Ein Mann, bei dem sie schwach werden könnte, der aber unerreichbar bliebe.

Bei der weiteren Suche nach Details über Eva Allenheim stieß Sophie auf deren Traueranzeige. Emanuel von Güldenstein – ein gebrochener Mann lautete die Überschrift eines Zeitungsartikels. Die Malerin war vor einem guten Jahr im Alter von Ende zwanzig plötzlich verstorben.

Eine Gänsehaut überlief Sophie. Seufzend fuhr sie den Computer herunter und lief zur Kiste zurück. Fridas Schätzen gebührte ein besonderer Platz. Sie trug die Kiste ins Schlafzimmer und verstaute sie in der Abseite neben ihrem Bett.

Draußen dämmerte es bereits. Sophie setzte sich mit einem Glas Rotwein in ihren uralten Ohrensessel vor den Ofen und ließ ihre Gedanken schweifen. Die Bilder vom Sophiengarten und die Schicksale der Bewohner wollten ihr nicht aus dem Kopf. Was wohl nach Eva Allenheims Tod geschehen war? Die Homepage des Schlossgartens war geschlossen.

Das Leben der Künstlerin bewegte Sophie so sehr, dass sie in der Nacht von Blumen träumte, die das Gesicht Eva Allenheims trugen. Im Traum wandelte sie über bunte, bizarr geformte Brücken und an einem riesigen Teich entlang, bis sie auf einer Holzbank Platz nahm.

2.

Unter den Flügeln des steinernen Engels fühlte er sich ihr besonders nah. Wie jeden Tag legte Emanuel eine gelbe Lilie, Evas Lieblingsblume, vor das Podest der Marmorstatue. Eva hatte ihn für immer verlassen. Seit Tagen trug er dieselbe Kleidung. Sein fleckiges Hemd hing aus der Hose. Seine Schwester meinte, er sei dünn wie eine Bohnenstange. Lag wohl daran, dass er seit Wochen selten aß, weil er keinen Hunger verspürte. Es war ihm gleichgültig, was er trug und ob er abgenommen hatte, wie ihm alles egal geworden war. Er ließ den Blick über die hellen Mauern des Schlosses schweifen. Hier fühlte er sich zu Hause und geborgen. Es lag fünfzig Kilometer vom Hauptsitz der von Güldensteins entfernt, einem prunkvollen Renaissancepalais.

Vieles war nach Evas Wünschen fertiggestellt worden, bis auf den Nordturm und die Grotte neben den Wasserkaskaden. Die Presse schrieb voller Begeisterung über das prachtvolle Schloss mit dem bezaubernden Garten und überschüttete sie mit Lobeshymnen für die erste Porzellanserie mit dem bedeutungsvollen Namen Evas Paradies. Jedes einzelne Geschirrteil war Handarbeit. Eva hatte es geschafft, die traditionelle Manufaktur der von Güldensteins wieder ins Gespräch zu bringen.

Doch jetzt war Eva tot!

Er schloss die Augen und dachte an die letzten gemeinsamen Minuten. Fast glaubte er ihre eiskalte Hand noch in seiner zu fühlen. Sie hatte ihre Finger nicht mehr bewegen können. Unter Morphium hatte sie fantasiert, und das Sprechen war ihr schwergefallen. Doch in der Stunde vor ihrem Tod war ihr Verstand unglaublich klar gewesen und die Worte über ihre Lippen geflossen.

»Emanuel … bitte hör mir zu. Die Schatten des Bösen, die über dir und … deiner Familie schweben … sie verlangten ein Opfer. Die Schachfiguren … in meinen Träumen … sie haben mir mein … Ende prophezeit. Ihr müsst den … Elfenbeinschnitzer finden, bevor … der Fluch das nächste … Opfer wählt. Du wirst jemanden … treffen, der euer Schicksal beeinflusst. Versprich mir, dass du … dass ihr … den Fluch brechen werdet. Nur dann … dann kann das Glück … wieder einkehren.«

In diesem Moment hätte er Eva alles versprochen. Verzweifelt in der Gewissheit, dass ihr endgültiger Abschied bevorstand, hatte er genickt.

»Das … ist gut, das ist … gut«, hatte sie gewispert und ihn liebevoll und zugleich schmerzerfüllt angesehen. Als er ihr Gesicht gestreichelt hatte, war ihr Blick plötzlich starr geworden und ihre Hand in seiner schwer.

Er hatte ihren leblosen Körper an sich gerissen und seinen Schmerz hinausgebrüllt. Eva hatte recht behalten, der Fluch hatte auch ihn ereilt.

Während Chris, Amelie und Tilda weiter nach dem Fluch forschten, fehlte ihm jedoch die Energie dafür, auch wenn er es Eva versprochen hatte. Die Tage wurden zur Qual.

Morgens stand er nicht auf, nachdem er in den Nächten ruhelos das Schloss durchstreift hatte. Er konnte nicht essen und ertränkte seinen Kummer im Rotwein. Der Gedanke machte ihn zornig, für die Sünden seiner Ahnen büßen zu sollen, und er plagte sich mit Selbstvorwürfen, die Schuld an Evas Tod zu tragen. Hätte er sie doch nur nicht dazu überredet, mit ihm auf diesem Schloss zu leben.

Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Er ließ es klingeln, bis der Anrufer schließlich aufgab.

Als sich ein Sonnenstrahl durchs Geäst mogelte, erhob er sich und lief zum Schloss zurück.

Er hasste es, sich stetig schlecht zu fühlen. Aber ihm fehlte die Kraft, die Motivation, um sich abzulenken. Im Arbeitszimmer angekommen, setzte er sich an den Schreibtisch, auf dem sich seit Tagen unbeantwortete Kauf- und Pachtanfragen zu Evas Werken und zur Porzellanmanufaktur türmten. Das Leben geht weiter.

Bald war sein letzter Rest Vermögen aus dem Erbe des Vaters verbraucht. Zwei von Evas Gemälden hatte er deshalb bereits schweren Herzens verkauft, die übrigen Christian zur sicheren Verwahrung gegeben. Im Atelier befanden sich noch ein paar unvollendete Werke der Verstorbenen, die er auf einer Auktion anbieten wollte.

Er schaltete den Computer ein und schrieb an das Hannoversche Auktionshaus. Mit jedem Werk verband ihn eine Erinnerung. Evas Werke waren ihm ans Herz gewachsen. Doch es half nichts, er musste sich davon trennen und Eva Stück für Stück gehen lassen, auch wenn es ihm noch so schwerfiel. Und er musste Sophiengarten instandhalten. Das hätte sie so gewollt, und das war er seiner Familie schuldig. Dafür brauchte er das Geld.

3.

Wieder stand Sophie vor einem Wendepunkt in ihrem Leben. Der Abschied von Vertrautem und Liebgewonnenem fiel ihr schwer. Soeben hatte sie von einer Kollegin erfahren, dass die Landschaftsgärtnerei Heuermann vor dem Aus stand. Für die passionierten Gärtner Frida und Günter waren Finanzen stets nur unangenehme Nebensächlichkeiten gewesen. Aber Frida hatte zumindest das Notwendigste halbwegs fristgerecht erledigt. Nun war es Sophie, als risse ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie hatte sich bei Frida und Günter geborgen gefühlt, wie ein Familienmitglied. Auch hatten beide ihre Leistungen immer anerkannt.

Sie musste jetzt mit jemandem reden, der sie verstand, und wählte Dorits Nummer im Kinderdorf.

Es dauerte nicht lange, bis ihre Pflegemutter sich am anderen Ende meldete.

»Hallo, Ma Dorit«, begrüßte Sophie sie. Alle Pflegekinder im Dorf nannten Dorit so. Eine magere, drahtige Frau mit Silberfäden im aschblonden Haar. Dorit, die immer einen humorvollen Spruch auf den Lippen hatte, musste man einfach gernhaben. Unermüdlich sorgte sie für alle Pflegekinder, hatte stets ein offenes Ohr für Kümmernisse und Probleme und immer einen Rat.

»Sophie, mein Liebes, das ist aber schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir denn?«

In wenigen Sätzen schilderte sie der Pflegemutter ihre Befürchtungen, den Job zu verlieren aufgrund der desolaten finanziellen Lage der Gärtnerei.

»Was hast du vor?«, fragte Dorit.

»Bewerbungen schreiben.«

»Dann natürlich im Berliner Umland, scherzte Dorit. Ich würde mich freuen, dich öfter zu sehen.«

Das weckte Sophies schlechtes Gewissen. Ihr letzter Besuch bei der Pflegemutter lag fast zwei Jahre zurück.

»Ja, du hast recht, ich sollte mich auch rund um Berlin bewerben.« Manchmal vermisste Sophie ihre Pflegemutter und die alten Freunde sehr, aber weniger die Großstadt mit ihrem hektischen Treiben.

»Und wie geht es dir sonst so?«, fragte Dorit. Sophie berichtete ihr von ihrer Enttäuschung über die Antwort des zuständigen Jugendamtes.

»Sie geben mir nicht den kleinsten Hinweis! Aber ich habe ein Anrecht darauf zu erfahren, wer meine Eltern sind und woher ich komme! Und jetzt fang nicht wieder davon an, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich kann es nicht.« Ohne ihre Herkunft zu kennen, fühlte sie sich wie Treibholz, das irgendwo strandete. Es musste doch herauszufinden sein. Einzig Dorit war noch mit ihrer Vergangenheit in Berührung gekommen, an dem Tag, an dem sie Sophie vor der Eingangstür zum Kinderdorf gefunden hatte. Vielleicht hatte ihre Pflegemutter doch jemanden gesehen oder bemerkt.

»Ma, auch wenn es dich nervt, aber ist dir denn damals wirklich nie jemand aufgefallen? Ein paar Tage vorher oder später?«

Dorit seufzte. »Das liegt doch über zwanzig Jahre zurück. Wie soll ich mich da an jedes Detail erinnern? Das Wichtigste habe ich dir gesagt.«

»Und in der Tasche, in der ich lag, war da kein Zettel oder Ähnliches? Gibt es etwas, das du mir verschweigst?«

»Nein … nein. Wie kommst du darauf? Meinst du, wir hätten nicht alles durchsucht?«

Doch Sophie entging nicht, dass ihre Pflegemutter bei der Antwort gezögert hatte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Dorit etwas verschwieg. Wenn sie sich doch selbst nur erinnern könnte. Sophie wollte ihre Pflegemutter nicht weiter mit Fragen verärgern. Vor ein paar Jahren waren sie wegen des Themas arg aneinandergeraten. Tagelang hatte sie unter der bedrückenden Stimmung gelitten, die die innige Beziehung zu Dorit belastet hatte. Schwieg ihre Pflegemutter aus Fürsorge und Schutz?

Sie plauderten noch eine Weile über den Gartenbaubetrieb, bis Dorit sich verabschiedete, weil sie ein neues Pflegekind erwartete.

Das Leben ist wie ein Buch, jeder Lebensabschnitt ein Kapitel, hatte sie irgendwo gelesen. Dann besaß ihr Buch sehr viele kurze Kapitel. Aber Sophie war eine Kämpferin. Niemals die Hoffnung verlieren, war ihre Devise. Auch Frida hatte immer positiv in die Zukunft geblickt.

Traurig hockte Sophie sich vor das Grab und harkte die Erde, bevor sie die Blumenschale darauf platzierte.

Frida hatte die Natur geliebt, den Wechsel der Jahreszeiten. Behutsam strich Sophie über die Köpfe der blauen Traubenhyazinthen und gelben Narzissen, die sie gepflanzt hatte. Die gemeinsamen Jahre mit der Freundin waren ein Geschenk gewesen und erfüllten sie mit tiefer Dankbarkeit.

Noch im vergangenen Frühjahr hatten sie im Gewächshaus gemeinsam Blumen verkauft, dabei gescherzt und gelacht, bis ihnen die Tränen gekommen waren.

Ein paar Monate später war Frida plötzlich im Gewächshaus zusammengebrochen. Ihr Herz war stehengeblieben. Einfach so.

Selbst heute konnte Sophie es noch immer nicht fassen. Sie warf sich vor, die Vorzeichen nicht erkannt zu haben. Fridas plötzliche Melancholie ein paar Tage vor dem Tod, die Schwindelanfälle und Schweißausbrüche. Das alles waren Warnzeichen gewesen, die sie übersehen hatte.

Einen Tag vor ihrem Tod hatten sie in der Mittagspause zusammen auf der alten Bank hinter dem Laden gesessen und zum Himmel aufgeschaut.

»Wenn ich tot bin, wünsche ich mir, wie eine Wolke am Himmel zu schweben. Dann kann ich die Erde von oben betrachten«, waren Fridas Worte gewesen. Es waren nicht die Worte an sich, die Sophie erschreckt hatten, sondern der ernste Unterton.

»Du bist nicht mal vierzig! Hör auf, von so was zu reden!«, hatte sie die Freundin empört zurechtgewiesen.

»Der Tod gehört nun mal zum Leben. Mein Geist, meine Seele werden dann wieder Teil der Natur sein«, war Frida mit einem verträumten Blick fortgefahren.

Ein Leben nach dem Tod? Gab es das? Geist und Seele vereint mit der Natur?

Sophie glaubte eher daran, dass ein Weiterleben nur in den Erinnerungen anderer bestand.

»Wenn ich irgendwann nicht mehr bin, du mir aber nah sein willst, besuche meinen Lieblingsgarten. Es ist der Sehnsuchtsort meiner Seele.«

Sophie wusste, dass ihre Freundin vom Sophiengarten sprach, von dem sie ihr oft genug vorgeschwärmt hatte. Hatte ihre Freundin den Tod vorausgeahnt?

Trotz aller Trauer verlieh Sophie die Vorstellung, dass Fridas Geist umgeben von blühenden Blumen war, Kraft und versöhnte sie mit dem Tod.

Vorsichtig stellte Sophie die Schale ab, rückte sie noch ein wenig nach links, bis sie mit dem Ergebnis optisch zufrieden war. Dann erhob sie sich und blieb mit gefalteten Händen vor dem Grab stehen, tief in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit versunken.

Vielleicht würde sie tatsächlich eines Tages nach Schloss Sophiengarten fahren.

Nach einer Weile drehte sie sich um und lief zum Friedhofstor zurück.

Die Landschaftsgärtnerei war Fridas Passion gewesen. Würde doch noch ein Wunder geschehen und der Betrieb gerettet werden können?

Das Friedhofstor knarrte, als Sophie es hinter sich zuzog.

Auf dem Parkplatz dahinter bemerkte sie einen vertrauten Wagen. War das etwa …? Nein, das konnte nicht sein, David war an den Rhein gezogen und nie wieder hierher zurückgekommen. Nicht einmal zu Besuch. Doch die Neugier ließ sie auf das Nummernschild schauen. Sophie erstarrte. Es war tatsächlich sein Wagen. Der Kerl hatte den Mut hierher zurückzukehren, nach allem, was er ihr und anderen angetan hatte? Sie schaute sich um und atmete auf, als er nirgendwo zu sehen war. Gerade, als sie ihren Wagen aufschließen wollte, vernahm sie hinter sich Schritte. Bitte lass es nicht David sein!

»Sophie?« Früher hatte sie beim Klang seiner Stimme vor Freude vibriert. Heute wäre sie am liebsten geflohen. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört, und zog die Wagentür auf.

»Hey, Sophie! Warte. Bitte.«

Es war zu spät, um ihn zu ignorieren. Langsam wandte sie sich zu ihm um.

»Hallo, David«, begrüßte sie ihn. Wie immer sah er äußerst gepflegt aus. Seine legere Kleidung trug das Emblem einer Nobelmarke. Nur sein schwarzes Haar war kürzer geschnitten als früher. Er hatte kein Gramm Fett zu viel, was ihr verriet, dass er sich noch immer mit Tennis und Joggen fit hielt. Jede Frau aus ihrer Clique hatte für Assistenzarzt Dr. David Hofer geschwärmt. Einschließlich ihr. Nein, mehr. Sie war bis über beide Ohren in diesen Charmeur verliebt gewesen, weil er ihr das Gefühl vermittelt hatte, sie als Einzige zu begehren. Ein Trugschluss, wie sie hatte feststellen müssen. Mit allen Frauen ihrer Clique hatte er eine Affäre gehabt. Keine wusste etwas von den anderen, bis alles durch einen dummen Zufall herausgekommen war. Ausgerechnet Sophie hatte er eine Nachricht für Elfie auf die Mailbox gesprochen, weshalb sie ihn zur Rede gestellt hatte. Ihre Auseinandersetzung war belauscht worden. Nachdem alle von seinen Eskapaden erfahren hatten, war er von der Clique ausgeschlossen worden. Kurz darauf hatte David Paderborn für einen Job in einer Kölner Klinik verlassen. Selbst nach seinem Fortgehen blieben die Spannungen in der Clique bestehen, dass Sophie sich unwohl gefühlt hatte. David hatte alles zerstört, ihre Liebe, die Freundschaften und den Zusammenhalt der Clique. In dieser Zeit hatte Sophie Frida kennen und schätzen gelernt und war in ihre jetzige kleine Wohnung in der Nähe der Gärtnerei gezogen.

»Lange nicht gesehen. Gut siehst du aus, sexy«, riss David sie in die Realität zurück. Sein begehrliches Lächeln hatte sie früher um den Verstand gebracht. Heute verfehlte es die Wirkung. Wie oft mochte er das Frauen schon gesagt haben? Wäre sie doch nur damals immun gewesen, es hätte ihr eine Menge Kummer erspart.

»Danke, du auch. Aber das weißt du ja eh selbst«, antwortete sie höflich, aber distanziert. Es zuckte unter seinem Lid.

Davids Züge waren schärfer, bitter geworden, als hätte das Leben ihn geschliffen.

»Und was machst du hier in Paderborn?«

»Ich habe Opas Grab besucht. Bin schon lange nicht mehr dort gewesen.« Es schien, als hätte er das aufrichtig bereut. Dieser Zug passte nicht zu dem alten David, der sich wenig aus den Gefühlen anderer gemacht und seinen schwerkranken Großvater nie besucht hatte.

»Ah, ja.« Er blieb immer noch stehen und trat von einem Bein aufs andere. Die Lust auf eine Unterhaltung war ihr vergangen. Sie stieg in ihren Wagen. Als sie die Tür zuziehen wollte, hielt David sie fest. Fragend sah sie zu ihm auf. Er schien mit sich zu ringen.

»Tut mir leid wegen damals«, sprach er leise. Tatsächlich drückte seine Miene aufrichtiges Bedauern aus, aber sie zweifelte noch immer. Außerdem kam seine Entschuldigung zu spät.

»Du hast einen Riesenscherbenhaufen hinterlassen.«

Er zuckte zusammen. »Ich weiß und das bedauere ich aufrichtig«, entgegnete er. Wenn er damals ein Wort der Entschuldigung an alle gerichtet hätte, wäre vielleicht alles anders verlaufen.

»Gehört der Vergangenheit an. Lass jetzt bitte meine Tür los, ich hab’s eilig.« Letzteres war gelogen.

»Sophie, bitte, ich mein’s ehrlich. Es sind drei Jahre vergangen, in denen ich mich verändert habe. Glaub mir.«

Konnte sie das wirklich? Ihr Bauchgefühl sagte Nein, auch wenn die Stimme in ihrem Innern ihr sagte, dass jeder eine zweite Chance verdient hatte.

»Verzeihen vielleicht, aber nicht vergessen.« Ein letzter Rest Schmerz wallte in ihr auf. Er hatte sie betrogen, ihr vorgegaukelt, sie wäre die einzige Frau in seinem Leben, die ihm etwas bedeuten würde. Sie hatten Zukunftspläne geschmiedet. Nur leere Versprechungen. Wie könnte sie ihm noch vertrauen?

Frida war davon überzeugt gewesen, dass Menschen sich ändern können.

»Ich … glaub mir, ich bereue das zutiefst. Ich war damals blutjung und lebenshungrig, aber dumm und unerfahren. In den letzten Jahren habe ich über alles nachgedacht. Du warst immer etwas Besonderes für mich, Sophie. Vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen.«

Tatsächlich erkannte sie in seinem Blick einen Anflug von Schmerz. Urteilte sie vielleicht zu hart?

»Vielleicht«, antwortete sie und schaute auf seine Hand, die noch immer auf der Wagentür ruhte.

»Können wir in Ruhe mal bei einem Kaffee reden? Nachher vielleicht? Oder morgen?« Sophie unterdrückte ein Seufzen. Zu spät. Was hätte sie darum gegeben, wenn er sie das vor drei Jahren gefragt hätte.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre. Außerdem habe ich viel zu tun. Frühlingssaison.«

»Schade. Sicher laufen wir uns mal wieder über den Weg.« Sie stutzte und sah ihn fragend an. Plante er etwa, öfter Paderborn zu besuchen, oder zog sogar hierher?

»Ich habe eine neue Stelle in einem Krankenhaus nicht weit von hier. Außerdem löse ich gerade den Haushalt meiner Großeltern auf. Da könnte es sein, dass wir uns wieder über den Weg laufen.«

Die Begegnung mit ihm riss alte Wunden auf. »Ja, ja, kann sein. Also mach’s gut, ich muss jetzt los.« Sie startete den Motor, und David trat zurück.

Als sie den Parkplatz verließ, erkannte sie im Rückspiegel, dass er ihr nachsah.

Es war seltsam gewesen, David wiederzutreffen. Früher hatte sie sich die Begegnung dramatischer ausgemalt. Dennoch hatte es sie aufgewühlt. Erinnerungen strömten auf sie ein, die sie in den vergangenen Jahren erfolgreich verdrängt hatte. David hatte sie so tief verletzt wie kein anderer. Das konnte sie nicht einfach so vergessen. Ihre Hände am Lenkrad zitterten. »Verdammt! Warum bist du nicht in Köln geblieben!« Sie schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Ihre Aufregung legte sich erst, als sie auf den Hof der Gärtnerei fuhr.

4.

Dunkelheit und Stille spendeten Emanuel Trost. Er saß am Tisch, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Immer wieder schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Eva hatte ihn gewarnt, ihm von angeblichen Zeichen erzählt, über die er gelacht hatte. Wie konnte er nur! Dieser verdammte Fluch!

Lautes Klopfen an der Tür ließ ihn aufblicken. Doch er blieb sitzen, wollte nicht gestört werden. Sein Kopf dröhnte von den Flaschen Wein, die er in der Nacht geleert hatte. Hinter der Tür hörte er jemanden atmen.

»Emanuel?« Es war seine Schwägerin Amelie. Einen flüchtigen Moment lang war er versucht, ihr zu antworten, entschied sich aber anders.

»Wir wissen, dass du da drinnen bist!« Er stöhnte innerlich auf, als er nun auch die Stimme seiner Schwester Tilda erkannte. Die würde nicht so schnell aufgeben wie Amelie.

Wieder Geflüster im Korridor, weiter entfernt. Verdammt, er hatte vergessen, die zweite Tür abzuschließen. Plötzlich flog sie auf, und Schwester und Schwägerin stürmten in den Silbersalon herein. Nein, nein, nein! Wütend ballte er seine Hände zu Fäusten.

»Wir brauchen deine Hilfe. Jetzt gleich!« Die Frauen liefen an ihm vorbei.

»Nein!«, schrie er. Er schämte sich der geleerten Rotweinflaschen auf dem Tisch. Überhaupt schämte er sich seiner. Seit Tagen hatte er fast nichts gegessen, und sein Bad kannte er auch nur von außen.

Emanuel war wütend.

»Lasst mich bloß in Ruhe!«

Tilda öffnete die Flügeltüren nach draußen und streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte den Kopf.

»Nein«, entgegnete er bestimmt und winkte ab.

»Du bist stur wie ein Maulesel!«, rief Tilda.

Die beiden Frauen tauschten Blicke aus.

Ihm fiel auf, dass die zwei heute anders aussahen als sonst. Sie hatten ihre modische Kleidung gegen abgewetzte Jeans und karierte Blusen eingetauscht. Ihm schwante, was sie vorhatten.

»Was habt ihr vor?«, fragte er. Sein Kater bescherte ihm zu den Kopfschmerzen auch noch Übelkeit.

»Wieso? Wir sollen dich doch in Ruhe lassen.« Tilda blickte auf ihre Schuhspitzen herab. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan, weil ihr jeder ansehen konnte, wenn sie etwas verheimlichte. Auch seine Schwägerin schaute nach unten.

»Fahrt nach Hause.« Mit einer ungeduldigen Geste deutete er zur Tür. Die beiden Frauen wandten sich seufzend um. Kurz bevor sie hinaus in den Korridor traten, drehte Tilda sich noch einmal zu ihm um.

»Wenn du glaubst, dass ich weiter zusehe, wie hier der Garten runterkommt, hast du dich getäuscht!«

Emanuel antwortete nicht.

Ihre Absätze klapperten auf dem Parkett, dann fiel eine Tür zu. Emanuel atmete auf, als die beiden gegangen waren. Eine Weile blieb er auf dem Stuhl sitzen und schaute durchs Fenster hinaus in den Garten. Früher konnte er die Krokusse und Narzissen inmitten des Rasens blühen sehen. Jetzt war das Gras so hochgewachsen, dass es die bunten Blütenköpfe verdeckte, und die Hainbuchenhecke am Ende des Rasens wucherte wild.

Nach dem Tod seiner Verlobten hatte er das Gärtnerteam entlassen und den Schlosspark geschlossen. Er konnte die Gaffer nicht mehr ertragen und auch nicht die Gärtner, die durch die Beete stapften.

Das Schloss hatte sein Vater zum Teil noch renovieren lassen, während der Garten seit vielen Jahren stiefmütterlich behandelt worden war. Ein wahrer Dschungel. Das Schilf am Teich war wie ein undurchdringliches Dickicht gewesen, und viele Wildblumen hatten die einstigen Staudenbeete erobert. Efeu hatte sich um die Platanenstämme geschlungen und die einstigen Buchsbaumkegel waren zu unförmigen Gebilden verkommen.

Trotz des verwahrlosten Zustands war Eva ins Schwärmen geraten. Die fixe Idee, den Schlossgarten wieder für Besucher zu öffnen, hatte sich in ihrem Kopf wie ein Parasit eingenistet. Doch ihr Herz gehörte vor allem der Porzellanmanufaktur, die sich am Ufer des Teiches befand. Die Herstellung von Geschirr und Dekorartikeln gehörte neben der Goldschmiede und der Glasbläserei zur Familientradition. Im alten Ausstellungsraum hatte sie voller Entzücken das Tafelgeschirr aus dem vorvergangenen Jahrhundert bewundert. Sie hatte sich hingesetzt und Dekorentwürfe nach den alten Mustern, die sie gefunden hatte, auf Papier skizziert. Florale Ornamente, Singvögel auf Zweigen, aber auch moderne Entwürfe wie Rauten und Punkte. Evas Euphorie war nicht zu bremsen gewesen. Ihr Ziel war es, Schloss Sophiengarten mit allem Drumherum das wiederzugeben, was es nach der Schließung durch seinen Großvater verloren hatte.

Jetzt hatte sich die Natur den Garten in ihrer Wildheit zurückerobert, und von Evas Arbeit war kaum noch etwas zu erkennen. In jedem gepflanzten Beet steckte ihr Herzblut. Sie hatte diesem Garten Seele gegeben. Ihre Seele. Jetzt war sie gestorben, und mit ihr der Garten.

Evas letzte Ruhestätte befand sich inmitten der Gartenanlage. Es war ihr innigster Wunsch gewesen, nur wenige Schritte von der Porzellanmanufaktur entfernt beigesetzt zu werden. Anstelle eines Grabsteins stand ein Marmorengel auf einem Podest, dessen Schwingen sich schützend über die Grabstelle ausbreiteten. Eva war in schwungvollen Buchstaben in die Messingtafel am Podest graviert. Diesen Ort der Zuflucht suchte er täglich auf und zündete eine neue Kerze in der Laterne an. Eine Bewegung im Garten, dicht bei der Hainbuchenhecke, weckte seine Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen und erkannte das feuerrote Haar seiner Schwester. Sie und Amelie liefen entlang der Hecke in den hinteren Teil des Gartens zu Evas Grab. Was wollten sie dort? Als das Motorengeräusch einer Heckenschere ertönte, dröhnte es in seinem Kopf. Wütend sprang er vom Stuhl auf.

Mit langen Schritten eilte er durch den Garten zu dem Pfad, den Amelie und Tilda genommen hatten. Je näher er dem Teich kam, desto lauter wurde das Geräusch. Durch das dichte Blattwerk erkannte er die karierten Blusen der beiden Frauen.

Tilda hielt die Heckenschere in der Hand und versuchte, einen der Buchsbaumkegel neben dem Engel in Form zu schneiden, während Amelie das Schnittgut aufsammelte und in eine Schubkarre warf. Das ging jetzt wirklich zu weit.

»Halt!«, brüllte er außer sich. »Sofort aufhören!« Seine Schwägerin, die ihn zuerst gehört hatte, blickte erschrocken auf. Ihre Hände öffneten sich, und die Zweige fielen zu Boden. Tilda hingegen, mit Ohrenschutz ausgestattet, arbeitete weiter. Wutschnaubend rannte Emanuel zur Manufaktur hinüber und zog den Stecker aus der Dose. Abrupt verstummte das Motorengeräusch, und seine Schwester wirbelte herum.

»Schluss! Aus!«, brüllte er erneut und riss Tilda die Heckenschere aus den Händen.

»Sag mal, spinnst du jetzt komplett?«, rief seine Schwester zornig.

»Ich will nicht, dass ihr hier arbeitet. Nehmt die Geräte und verschwindet!«

Insgeheim wusste er, dass sie es nur gut gemeint hatten, und sein schlechtes Gewissen regte sich. Aber die Kopfschmerzen waren so stark, dass er bei jedem Geräusch litt.

»Hilf uns lieber dabei, Ordnung zu schaffen«, fauchte Tilda ihn an. Die Röte ihres Gesichts konkurrierte mit ihren Haaren.

»Nein! Jetzt nicht«, erwiderte er und rieb sich die schmerzenden Schläfen.

»Du siehst schon genauso verwildert aus wie der Garten. Du kannst dich hier nicht einschließen. Glaubst du, dass Eva das gewollt hätte?«

Tildas offene Worte trafen ihn bis ins Mark. Sie hatte recht, aber er konnte einfach nicht.

»Es hilft dir nicht, dich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Hilf uns lieber dabei, mehr über den Fluch herauszufinden«, warf Amelie ein.

»Das bringt Eva nicht zurück!« Seine Stimme schnappte über. Ihm war kotzübel, und er wollte schlafen. Ihre Vorwürfe waren nicht zu ertragen.

»Geht jetzt lieber«, stieß er hervor.

Betroffen blickten Amelie und Tilda ihn an, bevor sie schweigend die Arbeitsgeräte einpackten.

Nachdem sie weg waren, ließ Emanuel sich seufzend auf der Bank nieder. Wenigstens hatte die frische Luft die Übelkeit gemildert. Nur hinter seiner Stirn hämmerte es. Vielleicht sollte er sich doch öfter an die frische Luft begeben. Sollte er Amelies Bitte folgen und mit ihr und den anderen mehr über den Fluch herausfinden. Was brachte es denn noch? Nichts konnte Eva zurückbringen.

Er brauchte nur eine Weile für sich, um über die Zukunft nachzudenken. In Ruhe und allein. Wenn sie das doch nur alle endlich verstehen würden!

5.

Gartenbaubetrieb Heuermann prangte in großen Lettern über dem verglasten Eingang, hinter dem sich der Bürotrakt befand. Sophie suchte ihn nur selten auf, höchstens zu einer Projektbesprechung, denn sie arbeitete die meiste Zeit an der frischen Luft in einem Garten. Als sie die Eingangstür aufzog, hörte sie Stimmen. Sie schaute zur Uhr. Um diese Zeit war noch nie eine Teambesprechung gewesen. Wenn es ein außerordentliches Treffen war, warum hatte sie denn keiner informiert?

Die Tür zum Besprechungsraum war weit geöffnet. Ihre Kollegen hatten sich im Halbkreis um Günter versammelt, der vorn am Flipchart stand. Neben ihm eine Frau mit dicker Brille und Zottelhaar. Sie hörte schweigend zu, während Günter von den letzten Projekten der Firma berichtete. Sophie blieb im Türrahmen stehen. Er winkte sie zu sich. »Ah, da kommt ja auch unsere Sophie Becker.« Sofort richteten sich alle Blicke auf sie. Sophie ging auf ihren Chef und die Fremde zu. Die Frau war etwa Mitte vierzig, blass und untersetzt wie jemand, der den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch verbrachte.

»Sophie, ich möchte dir gern Frau Kunze vorstellen, meine Geschäftspartnerin.« Das Wort Geschäftspartnerin hallte unheilvoll in Sophies Kopf. Und die Neuigkeit kam sehr überraschend. Wo hatte Günter sie so plötzlich hergezaubert? Weshalb hatte er nicht ein Sterbenswort gesagt? Leise Hoffnung keimte in ihr auf, ihren Job behalten zu können. Günter wusste doch, wie wichtig ihr das war.

»Frau Renate Kunze, Sophie Becker«, unterbrach Günter ihre Grübeleien und wandte sich wieder seiner Geschäftspartnerin zu, »Sophie hat mit meiner verstorbenen Frau zusammen die Ausschreibung für die Landesgartenschau gewonnen und sehr viel Lob und eine Prämie für die Ausführung erhalten«, erklärte Günter lächelnd.

Frau Kunzes Händedruck war lasch. Auf den ersten Blick wirkte Renate Kunze nicht so, als könnte sie zupacken, wie es für dieses Unternehmen erforderlich war. Vielleicht gehörte sie eher zu den kreativen Planern, die mehr vor dem Zeichenbrett oder Computer saßen. Renate Kunze musterte sie mit einem Ausdruck, den Sophie nicht deuten konnte.

»Ich habe schon von Ihnen gehört, Frau Becker. Auf eine gute Zusammenarbeit. Wir werden im Anschluss Ihre Aufgaben im Einzelnen besprechen.«

»Ja, sicher, gern«, antwortete Sophie und sah fragend zu Günter, der ihr zunickte.

Anschließend mischte sich Günters neue Geschäftspartnerin unter Sophies Kollegen.

»Kann ich dich mal einen Moment sprechen? Unter vier Augen?«, raunte Sophie Günter zu und zupfte an seinem Ärmel.

»Ja, natürlich. Komm, wir gehen in mein Büro.«

»Wieso hast du nicht einen Ton gesagt und stellst uns alle vor vollendete Tatsachen?«, brach es aus Sophie heraus, kaum dass die Tür hinter ihnen geschlossen war.

»Was meinst du denn?« Günter schob Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her.

»Spiel bitte nicht den Ahnungslosen. Du weißt genau, was ich meine. Die Sache mit Frau Kunze. Wie lange geht das denn schon?« Günter hatte doch gewusst, wie sehr sie die Misere der Gärtnerei belastete.

»Erst seit zwei, drei Tagen.« Noch immer mied er ihren Blick.

»Wusste von den anderen einer was davon?«, bohrte Sophie weiter.

Er schüttelte den Kopf, was sie mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Es hätte sie sehr enttäuscht. Schließlich war sie auch mit ihm befreundet.

»Woher kommt sie? Und wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt?«, wollte sie wissen. Günter hatte den Namen nie erwähnt.

»Auf der Ausstellung in Kassel«, antwortete er.

Die lag höchstens zwei Monate zurück. Wie konnte er jemanden, den er kaum kannte, zur Geschäftspartnerin machen? Warum hatte er das ihr nicht angeboten? Immerhin besaß sie genügend Know-how, Erfahrung und kannte sich auch in der Buchhaltung aus.

Vor zwei Jahren hatte Frida sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, in die Firma einzusteigen und sie vielleicht sogar irgendwann zu übernehmen, wenn sie und Günter in den Ruhestand gingen. Die Ehe der beiden war kinderlos geblieben, und auch sonst gab es keine Erben. Damals hatte Sophie sich das nicht zugetraut und deshalb abgelehnt. In diesem Moment bereute sie die Entscheidung.

»Renate hatte dort in der Nähe auch eine Landschaftsgärtnerei, zusammen mit ihrem Mann«, fuhr Günter fort und sah auf. »Der ist vergangenes Jahr gestorben. Allein wollte sie den Betrieb nicht weiterführen. Wir teilen ein ähnliches Schicksal und kamen intensiver ins Gespräch. In der Zwischenzeit haben wir uns schon mehrmals getroffen und viele Gemeinsamkeiten in der Firmenführung festgestellt. Renate ist ein wahres Finanzgenie, und sie steigt mit Kapital bei uns ein. Etwas Besseres hätte uns nicht passieren können.« In Günters Augen blitzte es seltsam auf. In letzter Zeit hatte er sich oft zurückgezogen, hatte sich sogar manchmal einen freien Tag genommen, was recht ungewöhnlich für den arbeitsamen Mann gewesen war. Sophie und die anderen hatten das immer mit seiner Trauer begründet. Doch in diesem Augenblick regten sich Zweifel in ihr. Konnte es sein, dass er sich mit Renate Kunze getroffen hatte?

»Renate bekommt Fridas Büro«, sagte er lächelnd. Sophie hatte das Gefühl, als hätte er ihr die Faust in den Magen gerammt. In den letzten Monaten nach Fridas Tod hatte sie dort am Schreibtisch gesessen und anstelle der Freundin die Planungen entworfen und geprüft.

»Du hast doch sicher nichts dagegen? Dann kannst du auch wieder mehr draußen arbeiten. War dir doch eh immer lieber.«

Bevor Sophie etwas entgegnen konnte, klopfte es an der Tür, und kurz darauf streckte Renate Kunze den Kopf herein.

»Störe ich?«, fragte sie und lächelte Günter an, der über beide Ohren strahlte.

»Aber Reni, nein, natürlich nicht. Komm doch herein«, flötete er.

Sophie stöhnte innerlich auf, sie fühlte sich in ihrer Vermutung bestätigt, Günter könnte in Renate Kunze verliebt sein. Die neue Geschäftspartnerin wirkte weniger taff als Frida, und attraktiv war sie in Sophies Augen auch nicht. Frida hatte stets Wert auf ihr Äußeres gelegt. »Als Geschäftsfrau muss man Eindruck schinden. Was sollen sonst die Kunden von einem denken«, waren ihre Worte gewesen.

»Schön, dann können wir ja über die Aufgaben reden«, begann Günter und blickte von ihr zu Renate Kunze. »Du kennst ja unseren Großauftrag in Hameln.« Er warf Renate Kunze einen bedeutungsvollen Blick zu, der Sophie signalisierte, dass die beiden längst darüber gesprochen hatten und ihr Einverständnis sicher nur pro forma war. Ihr schwante nichts Gutes. Die Stadt Hameln hatte einen Auftrag für eine Grünflächenanlage vergeben. Nicht gerade das, was Sophie sich wünschte. Sie wollte eine Herausforderung und nicht nur irgendwelche Ideen anderer Planer gärtnerisch umsetzen.

»Du willst doch nicht ernsthaft, dass ich das stupide Projekt leite? Und was ist mit der Umgestaltung des Kurparks in Bad Münder? Ich dachte, ich sollte das übernehmen«, protestierte sie empört. Das Lächeln von Renate Kunze gefror, während Günter in diesem Moment ein verdattertes Gesicht zog, als hätte er mit einer anderen Reaktion gerechnet.

»Frau Becker, ich glaube, Sie haben nicht das Recht, die Ihnen zugeteilte Arbeit abzulehnen, auch wenn Sie mit Günters Frau eng befreundet gewesen sind.« Renate Kunzes Tonfall war ruhig, freundlich, aber bestimmt. Sie wies Sophie deutlich den Platz zu, der ihr künftig gebührte. Die Kunze war jetzt ihr Chef.

»Vielleicht kannst du Renate ja in Bad Münder zur Hand gehen, wenn du das Projekt in Hameln frühzeitig abschließt«, mischte Günter sich ein.

Sophie war von ihm enttäuscht. Günter war ein Waschlappen. Er stieß seine loyalste Mitarbeiterin und Freundin vor den Kopf. Seine neue Geschäftspartnerin hatte jetzt offensichtlich das Sagen.

Sophie war versucht, alles hinzuschmeißen. Aber ihre letzte Wagenreparatur war noch nicht mal zur Hälfte bezahlt. Sie brauchte dringend das Geld. Eine bittere Pille, die es zu schlucken galt, noch dazu, wenn sich die Neue gleich den lukrativsten Auftrag einverleibte.

»Ach, das brauche ich sicher nicht, da doch Frau Kunze bereits alles im Griff zu haben scheint.« Dich inbegriffen, hätte sie am liebsten gesagt, aber sie bremste sich.

Renate Kunze presste verärgert die Lippen zusammen.

»Günter, wäre es nicht sinnvoll, wenn Frau Becker gleich am Montag nach Hameln fährt, um mit dem städtischen Planungsbeauftragten die Gestaltung abzustimmen?«

In diesem Augenblick war Sophie klar, dass sie mit dem Einzug von Renate Kunze Gegenwind bekäme. Sie will mich so schnell wie möglich loswerden. Leider blieb ihr momentan keine andere Lösung, als sich zu fügen. Wenn sie jetzt ablehnte, käme es zu einer Auseinandersetzung, bei der sich Günter vermutlich auf die Seite der Kunze schlagen würde. Diesen Triumph würde sie der Frau nicht gönnen.

»Verstehe. Du bist der Boss, Günter. Übernimmst du wie immer die Übernachtungskosten?« Sie sah, wie die Kunze den Mund zum Protest öffnete. Doch dieses Mal kam ihr Günter zuvor.

»Ja, selbstverständlich. Danke, Sophie, dass du das übernimmst.« Sophie schluckte eine Entgegnung hinunter und stürmte aus dem Büro.

Draußen im Hof prallte sie mit Iris zusammen, die von ihrer Zigarettenpause zurückkehrte.

»Oh, entschuldige bitte«, sagte Sophie zu ihr. Sie wollte nur noch weg.

»Und? Kommst du gerade von Günter?«, hielt die Kollegin sie auf. Sophie schaute sie an und nickte.

»Jetzt weht ein anderer Wind, stimmt’s? Neue Besen kehren gut, heißt es doch immer.« Iris lächelte zynisch. »Mich haben sie für Hameln eingeteilt. Dabei wollte ich doch am Projekt in Pyrmont mitarbeiten. Günter will diesmal die Unterkunftskosten nicht zahlen. Hat die Kunze gemeint. Und wie soll ich mir das mit meinem schmalen Gehalt leisten? Die haben sich nicht mal meine Argumente angehört.«

Einerseits war Sophie froh, dass Iris mit ihr arbeiten würde, andererseits fand sie deren Behandlung ungerecht.

»Mich haben sie auch für Hameln eingeteilt. Wir können uns ja nach einem Privatzimmer umhören, was wir uns teilen.«

Iris schien erleichtert zu sein und nickte. »Das wäre wirklich toll. Vielleicht sollte ich doch noch mal bei Kremer nachfragen, ob der Job von neulich noch nicht vergeben ist.« Iris hatte sich nach Fridas Tod, als sie alle erfahren hatten, wie schlecht es um den Betrieb stand, anderswo beworben. Sophie hatte es nicht versucht, weil sie Günter nicht im Stich gelassen hätte. Doch jetzt war auch sie ins Grübeln geraten. Entweder den stupiden Job in Hameln oder sich etwas Neues suchen.

»Vielleicht ist das keine schlechte Idee. Ich glaube auch, dass sich hier vieles ändern wird.«

Sie wünschte Iris noch einen erfolgreichen Tag und begab sich in eines der Gewächshäuser, wo eine Menge Arbeit auf sie wartete.

6.

Emanuel fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich hin und her. Immer wieder sah er Eva vor sich mit den angstgeweiteten Augen. Er schloss die Augen und erlebte im Geist den Tag, an dem seine Verlobte völlig aufgelöst aus dem Arbeitszimmer seines Vaters gestürmt war. Sie hatte sich schluchzend in seine Arme geworfen und den Kopf an seiner Brust geborgen. Eine Weile hatte er ihr über den Rücken gestrichen und gewartet, bis sie einigermaßen gefasst war, ihm zu berichten, was ihr Angst bereitet hatte.

»Die finsteren Schatten in diesem Schloss … Ich fürchte mich«, hatte sie begonnen. Eva war eine überaus sensible Frau. Der Aberglaube ihrer Mutter lag auch ihr in Fleisch und Blut. In jeder Kleinigkeit hatte sie irgendwelche schicksalhaften Zeichen gesehen. Sicher war das verstärkt worden, als sie als Siebenjährige ihr Lieblingskaninchen aufgespießt in einer Blutlache gefunden hatte.

»Die Schatten bildest du dir nur ein, Liebste«, hatte er sie vergeblich beruhigen wollen.

»Wenn ich es dir doch sage … sie sind überall. Ich fühle sie. Ihre Kälte. Höre ihr Flüstern und immer wieder diesen gleichmäßigen Trommelschlag. Ich weiß, sie strecken ihre Finger nach mir aus. So wie sie es bei deinem Vater getan haben. Ich bin ihr nächstes Opfer! Bitte lass es nicht zu, Emanuel«, hatte sie ihn angefleht. Es war ihm damals schwergefallen, ihre Furcht zu verstehen, weil er nicht an solche Dinge glaubte. Auch hatte er die albernen Geschichten von den Schatten, die angeblich den Schachfiguren entstiegen, nicht ernstgenommen. Zugegeben, im Arbeitszimmer des verstorbenen Vaters herrschte eine seltsame Atmosphäre, die auch er sich nicht erklären konnte.