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Über dieses Buch:

Einst wurde ihr Name voller Liebe auf den Straßen Roms bejubelt – nun soll er für immer ausgelöscht werden.

Als Tochter des ebenso verehrten wie gefürchteten Kaisers Augustus war Iulia stets nur ein Spielball der Politik mächtiger Männer. Die einzige Freiheit, die sie sich erlaubt, sind die rauschenden Feste bei Nacht. Weintrunkene Glückseligkeit im Kreis ihrer Freunde, hier und da ein flüchtiger Kuss, der träumen lässt ... Doch dann wird Iulia bitterlich hintergangen: Hochverrat lautet die Anklage gegen sie – und ihr eigener Vater ist der Richter. Iulia kann sich an die Geschehnisse jener verfluchten Nacht nicht mehr erinnern. Aber sie ist fest entschlossen, den Kampf um ihre Freiheit und diejenigen, die sie liebt, niemals aufzugeben!

Über die Autorin:

Beate Schaefer, geboren 1961 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Danach arbeitete sie als PR-Referentin, ehe sie sich 1996 als freie Autorin und Übersetzerin selbstständig machte. Sie veröffentlichte seitdem mehrere Romane und Theaterstücke. Mit der Biografie »Weiße Nelken für Elise« erschien 2013 ihr erstes Sachbuch bei Herder. Heute lebt Beate Schaefer mit ihrem Mann in Kiel und Lübeck. In der Stadt an der Trave gründete sie zudem 2017 die Kunstgalerie »NausikaART«.

Mehr über Beate Schaefer erfahren Sie auf ihrer Homepage: www.beate-schaefer.de/

Von Beate Schaefer erscheint bei dotbooks auch der historische Roman Die Geliebte des Bischofs.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Januar 2019

Dieses Buch erschien bereits 2002 unter dem Titel Bacchantische Nacht im Eichborn Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2002 Eichborn AG, Frankfurt am Main

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock/HeinNouwens und Ammak

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-450-8

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Beate Schaefer

Die Tochter der Ewigen Stadt

Historischer Roman

dotbooks.

»Wenn aber sogar Gründe von nicht geringem Gewicht es wahrscheinlich machten, dass Iulia vielmehr das Opfer einer abscheulichen Cabale als ihrer eigenen Ausschweifungen gewesen: würde da nicht doch die Gerechtigkeit selbst erfordern, dass man sie, nach einer billigen Schätzung ihrer schönen Eigenschaften, wenigstens mit der eben so liebenswürdigen Maria von Schottland (gegen welche doch die Nachwelt endlich unparteiisch wird) in dieselbe Linie stelle?«

Christoph Martin Wieland (1733-1813)

PROLOG

Der Caelius mons träumt unter immergrünen Bäumen; wer es sich leisten kann zu dieser fünften römischen Stunde, träumt mit und überlässt die trockene, staubige Stadt ihrem Treiben. Faul verirrt sich die Zeit, streift träge über den Esquilin, wo auf dem hässlichsten Friedhof der Welt die Lebenslichter nie ausgehen, und wo die Endstation nicht Sehnsucht heißt, sondern Termini; wandernd quert die Zeit schmale Schluchten, eingekerbt zwischen Viminal und Quirinal, verweilt endlich in den Gärten des Pincius, beruhigt von Myrten und Lorbeer, Zypressen und Buchs; auf einem Brunnenrand sitzend schaut sie den Algen zu, die glasig grün unter Wasser wehen wie ausgekämmtes Nymphenhaar. Götter fürchten die Zeit wie alle, die herrschen; das macht sie unfrei und die Zeit mächtig – seltsam, dass sie, die vergeht, unvergänglich ist, wir aber im Vergehen enden, wenn sich niemand erinnert. Wir warten, bis die Zeit auf den Hügeln verweilt. Dann sind wir frei zu erinnern.

SYMPOSIUM

I.

»Au!«

Iulia schlägt nach ihrer Friseuse, die ungerührt mit einem Elfenbeinkamm das lange, dunkelblonde Haar ihrer Domina zerteilt, zielsicher zugreift, ein weiteres graues findet und es ausrupft.

»Au!«, ruft Iulia erneut. »Kannst du nicht aufpassen?«

»Au oder grau«, gibt die Alte zurück. »Halt still.«

Iulia lacht. »Au oder grau. Wie findest du das, Phoebe?« Sie dreht sich nach rechts, wo ihre Hausgenossin auf einem ganz ähnlichen Lehnstuhl aus Weidengeflecht sitzt, wie sie selbst, und sich von zwei Sklavinnen Wellen in die glatten schwarzen Haare pressen lässt, während eine andere Dienerin sich um die Nagelpflege der Hände, eine weitere sich um die der Füße kümmert. Phoebe muss stillhalten; sie dürfte allerdings etwas sagen, doch sie tut es nicht, sondern lächelt nur, wie sie immer lächelt, die Mundwinkel straffgezogen, ein bisschen nach unten; es macht sie nicht hässlich, weil es wenig gibt, was sie hässlich machen könnte, aber sie wird dadurch auch nicht anziehender. Iulia stört es nicht, sie ist es gewöhnt, nimmt es gar nicht mehr wahr, nimmt die strengen Mundwinkel als das, was gemeint ist: ein Lächeln.

Sie sticht ihrer Friseuse spielerisch mit einer Haarnadel in den Arm: »Wart’s ab, Lusia. Wenn dir das nächste Mal ein Zahn so abfault, dass du nichts mehr essen kannst und du heulst, weil du nicht zum Chirurgus willst, um ihn dir ziehen zu lassen, dann sag ich einfach: au oder kau!«

Iulia streckt ein Bein aus, damit eine Sklavin jene Härchen aus ihrer Wade zupfen kann, die sie vielleicht gestern übersehen hat, und weil sie nicht ruhig sein kann beim Schöngemachtwerden, fragt sie Phoebe: »Wieso hast du eigentlich noch keine grauen Haare? Du bist zwei Jahre älter als ich.«

»Warum glaubst du, dass es mich noch nicht erwischt hat?«, fragt Phoebe zurück. Sie besitzt das passende klassische Profil zur neuen Haarmode, die üppiges Plissee samt Mittelscheitel und rückwärtigem Knoten verlangt; jede Römerin trägt es zurzeit, wenn die Haarpracht nur irgendwie ausreicht, und wenn nicht, ist das Ergebnis zumindest die Karikatur davon.

»Ich hab noch nie eins entdeckt«, schmollt Iulia.

»Und das heißt, dass ich keine habe?«, sagt die Freundin, und: »Zu heiß!«, schnauzt sie das Mädchen an, das mit der Brennschere dicht an ihre Kopfhaut gelangt ist.

»Du betrügst mich also?«, ruft Iulia. »Reißt sie dir im Geheimen aus, während ich mich für dich zur Schau stelle? Bist du so feige?«

»Nicht feige. Nur ein bisschen diskreter als du.«

»Wieso diskreter? Wer sieht uns denn bei diesem langweiligen Ritual?«

»Ich zum Beispiel«, meldet sich eine angenehme, relativ helle Männerstimme aus dem Hintergrund. »Was ist dir lieber, Iulia. Graues Haar oder eine Glatze?«

Iulia hebt den silbernen Handspiegel, um ihren Vater anzuschauen, der hinter sie getreten ist. »Noch habe ich die Wahl«, sagt sie. »Und später? Ich weiß nicht. Es gibt gute Perückenmacher.«

Augustus legt ihr eine Hand auf die Schulter; Iulia weiß, dass es väterlich gemeint ist, aber sie hasst es, wenn er sie unaufgefordert anfasst, dazu noch vor anderen Leuten. Obwohl die ganze Person des Kaisers nicht massiv ist, nie massiv war, und seine Gesten wie beiläufig wirken, spürt sie hinter allem, was er tut, was er sagt, nur eines: Ich will!, und der geringe Druck, den seine Hand auf ihre Schulter ausübt, wird zur Last, als hätte man ihr einen Sack Mehl aufgeladen.

»Ich war den ganzen Tag im Senat«, berichtet Augustus, »ich dachte, ich komme bei dir vorbei, um dir eine gute Nachricht zu bringen. Wir schicken deinen Sohn Caius nächstes Jahr in den Osten. Er soll mit den Parthern verhandeln. Es scheint, als hätten sie nichts dagegen, mit uns dauerhaft Frieden zu schließen.«

»Aber er ist doch erst achtzehn!«, protestiert Iulia und wendet so heftig den Kopf, dass im Kamm der Friseuse ein Büschel Haare zurückbleibt. Iulia kümmert sich nicht darum, sondern sagt, die Stimme eine Nuance höher gerutscht: »Caius hat keinerlei Erfahrung. Was ist, wenn sie ihm einen Krieg aufzwingen?« Sie steht auf, hektisch, sieht unordentlich aus mit den langen, offenen Haaren, die ihr über Brust, Schultern, Rücken hängen; das Kleid, in dem sie Toilette macht, nicht mehr als ein Hemd; es ist außerdem warm an diesem Septembertag, und Iulia hat Schweißperlen auf der Oberlippe. »Hast du Carrhae vergessen?«, ruft sie. »Oder das Desaster von Antonius in Armenien? Willst du meinen Sohn bei diesen unzivilisierten Monstren verheizen?«

»Ich denke doch, dass du in der Lage bist, dich zu erinnern, dass ich den Namen, den du gerade erwähnt hast, zu nennen verboten habe. Im Übrigen dachte ich, du würdest dich freuen«, erwidert Augustus. »Ich habe angenommen, die Ehre, die der Senat einem Mitglied unserer Familie erweist, würde dich stolz machen.«

»Stolz! Ehre!«, wiederholt Iulia verächtlich. »Und was heißt: der Senat. Die Senatoren tun doch sowieso nur das, was du willst. Ich habe meinen Sohn nicht großgezogen, damit du ihn den Parthern zum Fraß vorwirfst.«

Augustus bleibt gelassen; auch dies etwas, was sie regelmäßig zur Raserei bringt. »Du regst dich umsonst auf, Iulia. Caius wird keine Armee führen, sondern eine diplomatische Mission.«

»Mit ein paar Legionen und einem halben Dutzend Generälen im Gepäck!«, höhnt Iulia.

Augustus lächelt nur: »Diplomatie muss flexibel sein. Was du außerdem bedenken solltest: Caius ist nicht mehr dein Sohn, seit ich ihn adoptiert habe.«

»Das sind wohl zwei verschiedene Dinge«, entgegnet Iulia. »Ich habe ihn geboren, er ist ein Teil von mir.« Sie will noch etwas hinzufügen, verbietet es sich, schweigt verbissen, öffnet noch einmal den Mund, um zu protestieren, doch dann zuckt sie die Achseln. »Mach, was du denkst«, sagt sie. »Du wirst wenig Interesse daran haben, ihn zu verlieren.«

»Wenn du willst, kannst du sehr klug sein«, erwidert Augustus. »Warum ärgerst du mich zuerst immer?«

Iulia, schon wieder lächelnd: »Weil ich dein Temperament geerbt habe, vermutlich.«

»Mein Temperament ist sehr ausgeglichen«, widerspricht ihr Vater.

»Wirklich?«, entgegnet Iulia. »Phoebe, was sagst du dazu? Du kennst ihn fast ebenso lang wie ich.«

Phoebe hat angespannt dagesessen, blass, und ohne Mienenspiel von einem zum anderen geschaut.

»Phoebe ist meiner Meinung«, sagt Augustus. »Nicht wahr?«

Phoebe nickt.

»Sie würde immer sagen, was du hören willst«, wirft Iulia ein. »Aber sie liebt dich vermutlich auch noch mehr als ich.«

Phoebe nimmt es ohne Regung hin und konzentriert sich wieder auf das, was die Dienerinnen geschickt und in ziemlich rasantem Tempo tun, um ihre Domina noch attraktiver zu machen, als sie ist.

»Ich habe euch was mitgebracht«, wechselt Augustus das Thema und winkt einem Sklaven, der vor der Tür gewartet hat. Der Junge bringt zwei kleine blaue Glasschälchen mit je einem grünen und einem weißen Deckel. »Süßigkeiten für die Damen«, sagt der Kaiser, während der Sklave die Geschenke überreicht.

Iulia greift nach der Glasschale und hebt sofort den Deckel. »Mandelnougat!«, sagt sie erfreut. »Hast du auch welches bekommen, Phoebe?«

Phoebe öffnet den Deckel, sieht die Notiz, auf ein kleines Holzplättchen gekritzelt. Ihr Mund zuckt fast unmerklich. »Ich auch«, sagt sie dann. »Danke.«

»Ja, Dank sei dem Spender«, fügt Iulia hinzu. Sie kaut bereits und fragt mit vollem Mund: »Möchtest du Wein?«

»Nein, ich muss weiter. Ihr beide scheint heute Abend auszugehen, sonst würdet ihr nicht so einen Aufwand betreiben, richtig?«

»Crispinus feiert«, sagt Iulia undeutlich, schluckt, greift nach einem weiteren Konfekt und nutzt den Moment des Nichtkauens, um zu berichten: »Er weiht sein Haus am Tiber ein. Er ist mein Nachbar geworden. Seine Villa grenzt genau an meinen alten Kasten. Aber während ich es vorziehe, hier oben auf dem Oppius zu wohnen, glaubt er, da unten sei das Leben angenehmer und will demnächst völlig umsiedeln. Er wird sich wundern. Am Fluss ist es heiß und drückend. Wahrscheinlich werden wir heute Abend die ganze Zeit nur gegen die Stechmücken kämpfen, statt uns zu amüsieren.«

»Wer wird noch da sein?«, fragt der Kaiser.

»Oh, alle«, erwidert Iulia und schiebt Nougat nach. »Lauter Leute, die du nicht magst.«

Augustus nickt. »Dann wünsche ich euch viel Spaß.«

»Wo ist Livia?«, erkundigt sich Iulia, nicht, weil es sie tatsächlich interessiert, wo die Frau des Kaisers gerade Hof hält, sondern um zu provozieren, was ihr Vater regelmäßig übelnimmt.

»Ad Gallinas«, antwortet er abweisend.

Phoebe hebt ruckartig den Kopf, senkt ihn aber sofort wieder und starrt auf die blaue Glasdose in ihrer Hand.

»Fährst du auch hinüber in die Villa?«, will Iulia wissen.

»Morgen oder übermorgen. Soll ich Livia grüßen?«

Iulia legt kokett den Kopf schief: »Wenn du es für sinnvoll hältst.«

Augustus sieht sie kopfschüttelnd an, geht nicht darauf ein und sagt: »Zieh heute Abend ein Kleid mit einem Ausschnitt an, den ich ohne rot zu werden betrachten könnte, Iulia.«

»Dann müsste ich mich bis zum Kinn zuschnüren«, erwidert sie. »Über Mode rede ich nicht mit meinem Vater.« Sie setzt sich wieder auf den Frisierstuhl. »Grüß meine Stiefmutter auf jeden Fall von mir.«

Augustus dreht sich wortlos um und will gehen. In der Tür wendet er sich Iulia jedoch noch einmal zu und rächt sich: »Gibt es Neuigkeiten von deinem Mann?«

Iulia nimmt erneut ihren Spiegel und sieht ihren Vater darin spöttisch an. »Das müsstest du besser wissen als ich«, bemerkt sie. »Du schreibst Tiberius Briefe. Ich nicht. Aber da wir schon über ihn reden: Warum schickst du nicht ihn nach Parthien? Von Rhodos hat er es nicht halb so weit dorthin wie mein kleiner Caius von Rom aus.«

»Tiberius ist für diese Mission nicht geeignet. Ich möchte einen Unterhändler, keinen General zu Phraates schicken.«

»Du meinst eine Geisel!«

»Du vergisst«, sagt Augustus scharf, »dass wir diejenigen sind, die parthische Prinzen als Geiseln haben. Caius wird mir die Feldzeichen wiederbringen. Es geht um unsere Ehre. Früher haben auch römische Frauen einen Begriff davon gehabt.« Damit verlässt er endgültig den Raum.

Die Friseuse beginnt nun ungerührt, auch Iulias Haar in modische Wellen zu zwingen. Iulia hat rote Flecken auf den Wangen, auf Hals und Dekolletee; ihr hübsches, unkonventionelles Gesicht gleicht mit den hohen Wangenknochen, den tiefliegenden blaugrauen Augen, der schmalen Nase und dem kleinen, sensiblen Mund dem Gesicht ihres Vaters, wenn auch auf eine weichere, die Konturen zunehmend vernachlässigende Art.

»Verdammt!«, ruft Iulia. »Phoebe, sag mir, warum ich mich immer noch aufrege? Jedes Mal freue ich mich, wenn er kommt, und jedes Mal kriegen wir Streit. Immer die alte Leier. Früher war alles besser. Römische Ehre. Unsere Feldzeichen. Was kann ich denn dafür, dass Crassus die Dinger vor fünfzig Jahren dort im Dreck hat liegenlassen?«

Phoebe schweigt und dreht nur nervös das Glasschälchen in den Händen.

»Was hast du?«, will Iulia wissen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Phoebe schüttelt den Kopf, was sie darf, da ihre Friseuse fertig ist. Sie steht auf, stellt das Glasdöschen auf einen Tisch und lässt sich ihr Unterkleid überstreifen. Sobald ihr Kopf aus dem hauchzarten safrangelben Stoff wieder auftaucht, sagt sie: »Dein Vater denkt politisch, Iulia. Du denkst privat.«

Iulia lacht: »Du willst damit ausdrücken, ich denke nur an mein Vergnügen, während der Kaiser nur Rom im Kopf hat? Ich sag dir eins, Phoebe: mein Vater amüsiert sich genau so oft wie ich, aber er macht es so, dass es niemand mitbekommt. Außerdem war ich nicht umsonst zehn Jahre lang mit seinem Stellvertreter Agrippa verheiratet. Und davor mit dem armen Marcellus, der jetzt fast vierzig wäre und immer noch vergeblich darauf warten würde, endlich Princeps zu werden. Ich bin nicht nur politisch, ich bin Politik!«

Das verlockt sogar Phoebe zu einem jener strengen Lächeln; vielleicht hat sie sich nur deshalb angewöhnt, so zu lächeln, weil der Gegensatz zu ihren vollen, weichen, nie geschminkten Lippen sie interessant macht? Ehe Phoebe noch etwas sagen kann, wickeln sie zwei Mädchen in das blassgelbe Kleid mit den Goldstickereien und befestigen die Schulterspange und den Gürtel. Während eine kleine Dienerin, fast noch ein Kind, Phoebe die weißen Sandalen anzieht und sie schnürt, will die andere großzügig Schmuck auf ihrer Herrin verteilen, doch Phoebe lehnt, ohne dazu ein Wort sagen zu müssen, allein mit der Bewegung zweier Finger das meiste ab, und lässt allein Perlenohrringe und eine goldene Kette zu. Eine Sklavin hält ihr eine Schatulle mit Ringen hin, aber Phoebe schüttelt nur den Kopf.

»Ich weiß, was für einen Ring du brauchst«, ruft Iulia und lässt die Sklavinnen, die ihr gerade das Frisierhemd ausziehen wollen, einfach stehen. Sie klappt den Deckel einer kleinen silbernen Kiste auf, die mit blauem Stoff ausgeschlagen ist, und nimmt einen einfachen Goldring heraus, der statt einer Gemme oder einem Stein ein Siegel aus massivem Gold trägt. Iulia kommt zu ihrer Freundin, nimmt ihre Hand und steckt ihr den Ring an.

Phoebe wirft einen Blick auf das eingravierte Bild und entzieht Iulia hastig ihre Hand. Mit der Linken will sie den Siegelring mit dem kaiserlichen Profil wieder entfernen, aber er sitzt zu fest, so dass es ihr zunächst nicht gelingt. Iulia fasst sie am Arm. »Behalte ihn für heute Abend, Phoebe«, sagt sie. »Er ist geliehen, nicht geschenkt.«

»Warum machst du dich über mich lustig?«, fragte Phoebe und streift den Ring mit einiger Gewalt von ihrem Finger. Sie hält ihn Iulia fast feindselig hin. »Da, nimm.«

Iulia seufzt. »Na gut. Ich dachte, du freust dich.« Sie nimmt den Ring und steckt ihn sich selbst an. »Du siehst ziemlich schön aus«, sagt sie. »Wie eine sizilianische Schlüsselblume. Deine Figur hätte ich gern.«

»Ich habe auch keine fünf Kinder geboren«, sagt Phoebe kurzangebunden. Dann merkt sie, dass ihr Ton wie eine Anklage ist. »Tut mir leid«, entschuldigt sie sich. »Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Ich glaube, ich möchte mich noch kurz ausruhen, ehe wir gehen.«

»Mach das. Ich brauche bestimmt noch eine Weile«, sagt Iulia und winkt ihr zu. »Denn das Kleid, das ich mir ausgesucht habe, gefällt mir nicht mehr.«

Phoebe nimmt die kleine blaue Glasdose von einem Klapptischchen, geht und kommt erst Abends zurück, als Iulia längst ungeduldig auf sie wartet.

»Da bist du ja«, ruft Iulia, als die Freundin im Tablinum erscheint. »Wir müssen uns langsam auf den Weg machen. In Kürze rollen die ersten Lastwagen in die Stadt. Dann kommen wir mit unseren Tragsesseln nur im Schneckentempo vorwärts.«

»Sei mir nicht böse, aber ich wollte nur vorbeischauen, um dir zu sagen, dass ich später nachkomme«, sagt Phoebe.

»Ist dir nicht gut? Du bist so blass.«

»Doch, doch. Ich brauche nur noch etwas Zeit.«

»Soll ich auf dich warten?«

»Nein«, wehrt Phoebe ab, vielleicht etwas zu schnell, zu laut.

»Wirklich nicht?«

»Es ist nicht nötig.«

»Aber du kommst?«, bedrängt Iulia die Freundin.

»Auf jeden Fall.«

Iulia geht zu Phoebe und umarmt sie. »Ich bin so aufgeregt«, gibt sie zu.

Phoebe steht mit hängenden Armen. »Ich weiß«, sagt sie leise.

Iulia schaut ihr in die Augen. »Wünsch mir Glück.«

Phoebe weicht ihrem Blick nicht aus, aber ihr Sehen ist nach innen gerichtet, und so wirken ihre dunklen Augen seltsam stumpf. »Ich weiß nicht, was ich dir wünschen soll, Iulia«, erwidert sie. »Glück? Natürlich. Aber alles andere, wonach du dich gerade sehnst?«

»Wünsch mir auch das!«

»Du wirst es dir schon nehmen«, sagt Phoebe kühl und tritt einen Schritt zurück, so dass Iulia sie loslassen muss.

»Du benimmst dich komisch heute Abend«, beschwert sich Iulia und mustert die Frau, die einmal ihre Sklavin war, die ihre Freundin wurde in den einsamen Kindertagen, die sie zu ihrem dreißigsten Geburtstag freigelassen hat, und die bei ihr geblieben ist, obwohl sie reich ist und schön und ein eigenes Leben führen könnte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass du eifersüchtig bist.«

»Unsinn«, antwortet Phoebe. »Mir ist nur etwas Unangenehmes eingefallen, das ich noch erledigen muss.«

»Aber du willst mir nicht sagen, was es ist.«

Phoebe schüttelt den Kopf. »Es ist nicht so wichtig.«

»Aber unangenehm.«

»Ja. Eine lästige Pflicht.«

»Na gut. Behalt dein Geheimnis. Ich erwarte dich bei Crispinus.« Iulia lässt die Freundin stehen und geht hinüber in den Trakt des Hauses, wo die Kinderzimmer liegen, um sich von der zwölfjährigen Vipsania und dem kleinen Agrippa zu verabschieden. Sie findet ihre Tochter nicht vor, aber ihre Mutter, Scribonia.

»Wo ist Vipsania?«, will Iulia unter dem Wutgebrüll des neun Jahre alten Agrippa wissen, der beim Mühlespielen gegen seinen Hauslehrer verloren hat und drauf und dran ist, das Brett mit den Spielsteinen vom Tisch zu fegen.

»Bei ihrer Schwester«, sagt die alte Frau schmunzelnd, die trotz knotiger, halb steifer Finger am Spinnrad sitzt, und fügt hinzu: »Seit Iuliola verheiratet und schwanger ist, findet ihre einstige Feindin sie hochinteressant.«

Iulia lacht und streicht Agrippa, der sich maulend an ihr Kleid gehängt hat, über den Lockenkopf. Er bettelt so lange, bis sie nachgibt und noch eine Partie Hase und Jäger mit ihm spielt.

»Du nimmst Schwarz«, ruft er und zieht die Nase hoch.

»Gut, dann nimm du Weiß«, stimmt Iulia zu. »Aber wir spielen erst, wenn du dir die Nase geputzt hast.«

Ausnahmsweise gehorcht er sogar. Er ist von starkem Körperbau, aber sein Wesen ist noch sehr kindlich, sein Temperament heftig, dabei weint er oft ohne Grund. Während Iulia, ihrem Sohn halbwegs genau folgend, damit sie ihn gewinnen lassen kann, ihre Spielsteine setzt, sagt sie zu ihrer Mutter: »Augustus war vorhin hier. Er will Caius nächstes Jahr in den Osten schicken. Nach Parthien. In diplomatischer Mission, behauptet er. Um diese blöden Standarten wieder einzusammeln, die sie Crassus damals bei Carrhae abgenommen haben. Als hinge Roms Weiterbestehen davon ab. Ich habe mich wieder mal mit ihm gestritten.« Sie seufzt, lächelte aber dabei.

»Du weißt doch, dass es nichts bringt«, sagt Scribonia. »Warum sollte Caius nicht nach Parthien? Er ist alt genug.«

»Findest du? Mit achtzehn?«

»Es wird Zeit, dass er sich der Welt draußen vorstellt. Dein Vater ist einundsechzig. Wenn er stirbt, wird Caius Kaiser.«

Iulia kann nicht verhindern, dass Schwarz Weiß ausnahmsweise einen Haken schlägt, was Agrippa dazu veranlasst, sie zu boxen. Sie lacht und hält seine Hand fest: »Das Spiel ist noch nicht aus, Schatz. Setz deinen Stein.« Sie schaut zu ihrer Mutter, die routiniert, wenn auch langsam, das Spinnrad dreht und den Faden zwischen den Fingern zwirbelt. »Und was ist, wenn Caius dort umkommt?«, fragt sie.

»Erstens wird das nicht passieren, zweitens gibt es keine Garantie«, sagt Scribonia. »Es hat keinen Sinn, sich wegen solcher Dinge mit deinem Vater zu streiten.«

»Ich weiß. Aber irgendwie muss ich.«

»Warum?«

Iulia zuckt die Achseln.

»Gewonnen!«, jubelt Agrippa und nimmt Iulia den letzten Stein weg. »Ich habe gewonnen!«

Iulia küsst ihn schmatzend auf beide Wangen und auf den Mund: »Hast du, mein Lieber. Jetzt geht’s ins Bett.« Sie übergibt ihren Sohn dem Hauslehrer und steht auf.

»Hat Augustus dein Kleid gesehen?«, fragt Scribonia beiläufig.

Iulia lacht. »Nein, aber er hat mir geraten, den Durchmesser meines Ausschnitts generell zu verringern.«

Scribonia blickt von ihrer Arbeit auf. »Du hast ihn vergrößert, würde ich sagen.«

»Gefällt es dir?«

»Wie es mir gefällt, ist wahrscheinlich eher unwichtig.«

»Nicht ganz«, erwidert Iulia und küsst ihre Mutter kurz auf die alterszarte, faltige Wange. »Du warst früher berühmt für deine Extravaganz. Hättest du’s getragen?«

Scribonia lächelt: »Je nachdem, bei wem ich Eindruck machen wollte.«

Iulia schaut aus dem Fenster des Kinderzimmers, das zum Garten hinausgeht. Es ist fast dunkel draußen. »Nehmen wir an, bei der Liebe deines Lebens«, sagt sie leichthin.

Scribonia schüttelt den Kopf, steht mühsam auf, weil ihre Knie geschwollen sind und es pocht und sticht, wenn sie sich bewegt. Sie kommt zu Iulia ans Fenster. »Woher hast du denn diesen Traum?«, fragt sie.

»Ich weiß nicht. Er war einfach da.«

»Und wer ist es?«

Iulia legt den Finger auf die Lippen und erwidert nichts.

»Dann pass auf dich auf«, sagte Scribonia. »Oder bleib am besten heute Abend hier.«

»Um einen Brief an Tiberius zu schreiben, damit er endlich heimkommt, wie es Augustus so gern hätte?«, fragt Iulia spöttisch.

Scribonia lacht. »Bloß nicht. Dann geh lieber feiern.«

Iulia umarmt ihre Mutter. »Dachte ich mir’s doch. Gute Nacht. Wir sehen uns morgen.«

Als sie endlich das große Stadthaus in den Carinen verlässt und sich in ihren Tragsessel schwingt, ist es dunkel. Zwei Fackelträger und ein Schreihals, der dem kleinen Tross den Weg durchs Gewühl der Subura bahnen wird, stehen bereit. Iulia überlegt kurz, ob sie eine Sklavin zu Phoebe schicken soll, um zu sehen, ob diese mittlerweile ausgehbereit oder sogar schon aufgebrochen ist, aber dann lässt sie es bleiben und befiehlt den beiden Sesselträgern, loszutraben.

II.

Der altreiche Bohèmien Crispinus hat als Bauherr keine Kosten gescheut. Wer sein Haus am Tiber betreten will, muss zunächst durch einen langen, gedeckten Portikus, eine Erfindung von Modearchitekten, die neue Häuser mit solchen Wandelgängen, Exedren und anderem Schnickschnack bauen, Platz damit verschwenden und die Zimmer dann lieblos und mickrig aneinander schachteln, weil sie sich verkalkuliert haben oder weil es ihnen egal ist, wie beengt der Hausherr wohnt – Hauptsache, nach außen stimmt das Bild. Der überdachte Gang, den Iulia ohne ihren Anhang, den sie an der Pforte zurückgelassen hat, nun mit gebremster Eile entlang geht, ist zweigeteilt durch hohe, Gewölbe tragende Pfeiler, deren Backsteininneres verborgen ist hinter hellgrauem Marmor. Ihnen gegenüber an den Wänden Blendpfeiler aus eben demselben Marmor, dazu für Iulias Geschmack ziemlich grässlicher Stuck an der gewölbten Decke, und Wandmalereien in zartem, wie hingewischtem Stil – arkadisches Leben in Villen am Meer, sirupsüße Liebesszenen in Gondeln oder in rosenumrankten Pergolen, glückliche Fischer mit fettem Fang, alles in warmbraunen, ockrigen, goldgehöhten Farbtönen ... Iulia gönnt der Idylle kaum einen Blick; das Gleiche hat sie in ihrem eigenen Haus nebenan, nur dass der Maler, den sie beauftragt hat, ein Könner ist, während dieser hier vermutlich nur teuer war.

Von hinten legt ihr jemand zwei kräftig zupackende Arme um die Taille und küsst sie ziemlich feucht auf den Hals. »Wen willst du denn auf deine alten Tage noch aufreißen?«, fragt der feuchte Küsser dicht an ihrem Ohr. »Die, die heute Abend hier sind, kennst du und willst sie nicht, oder du hast sie schon gehabt.«

Iulia versucht, die Arme des Mannes loszuwerden. »An Geschmacklosigkeit bist du nicht zu überbieten, Sempronius«, sagt sie.

Er lacht geschmeichelt und geht neben ihr her, einen Arm um ihre Hüften gelegt. »Oh, doch«, meint er. »Den Gipfel der Geschmacklosigkeit hat Afranius erreicht. Er hat seine Frau mit irgendeinem illiteraten Subjekt im Bett erwischt, und statt die beiden, wie es Sitte und Gesetz erfordern, sofort totzuschlagen und sich was nettes Neues zu suchen, hat er den Kerl laufenlassen und ihr verziehen. Ein Nachbar hat ihn verpfiffen, weil Afranius nicht Anzeige gegen seine Frau und ihren Liebhaber erstatten wollte. Und als dann die Sittenpolizei kam, hat er sich geweigert, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Weil er sie angeblich liebt. Gibt es etwas Geschmackloseres? Ich meine, man liebt Gottweißwen, ein Mädchen, einen Jüngling, von mir aus eine alte Hure, aber doch nicht seine Ehefrau!«

Zwei Männer in leichten, eleganten Togen kommen ihnen entgegen. Sie fächeln sich Luft zu und haben offenbar gehört, was Sempronius erzählt. Sie schlendern herüber, wobei sie Iulia mit gezielter Bewunderung anstarren. Der eine von ihnen ruft Sempronius zu: »Wie willst du das wissen, Caius? Du warst ja noch nie verheiratet, obwohl es auch dafür ein Gesetz gibt. Verrate mir den Trick.«

»Ich bin verlobt«, gibt Sempronius zurück.

»Unsinn. Wer verlobt ist, muss irgendwann heiraten. Vielleicht schaffst du es, den Termin ein, zwei Jahre hinauszuzögern, aber spätestens dann sitzt du in der Falle.«

»Nicht, wenn die Auserwählte noch in den Windeln liegt«, sagt Sempronius überlegen.

Die beiden Männer lachen: »Du machst Witze!«

Sempronius schüttelt den Kopf. »Es ist wahr. Meine Braut heißt Statilia und ist anderthalb Jahre alt. Macht noch dreizehn Jahre Freiheit.«

»Das ist verrückt«, sagt der eine Mann.

»Aber genial«, sagt der andere. »Bloß, das Ehegesetz ist doch schon über zehn Jahre alt. Was hast du vorher gemacht?«

»Das Gleiche«, erwidert Sempronius. »Ich hatte Glück, und die andere ist an einem Fieber gestorben, als sie dreizehn war.«

»Du bist widerlich«, sagt Iulia, aber sie lächelt. »Was sind das für barbarische Eltern, die ihre Säuglinge mit dir verloben?«

Sempronius küsst sie aufs Ohrläppchen. »Weißt du, Iulia, ich bin ein ziemlich begehrter Heiratskandidat. Reich, schön, aus guter Familie. Es gibt Leute, die dafür, mit einem Gracchus verwandt zu sein, noch mehr geben würden als nur ihre Töchter.« Er wendet sich an die beiden Männer, die sich, nachdem sie stehengeblieben sind, nur um so heftiger Luft mit ihren Elfenbeinfächern zuwedeln. »Warum lauft ihr hier draußen rum?«, will er von ihnen wissen. »Ist drin nichts los?«

»Doch«, sagte der Eine. »Es ist zum Ersticken voll. Tausend Leute.«

»Die kommen nur zum Fressen«, konstatiert Sempronius. »Wenn sie weg sind, wird’s gemütlich. Wir sehen uns nachher.« Er winkt den beiden Männern zu, und die schlenderten weiter.

»Lass uns Crispinus begrüßen, Iulia«, fordert er sie auf. »Wir sagen ihm hallo und bewundern sein Haus, dann suchen wir uns ein nettes ruhiges Sofa ...«

Iulia macht sich lachend von ihm los. »Das wünschst du dir, Sempronius!«

»Warum sollte ich nicht?«

»Weil du, wie du vorhin großzügig erläutert hast, zu jenen gehörst, die ich bereits gehabt habe.«

»Immer mal wieder, wenn ich dich erinnern darf.«

»Schon lange nicht mehr.«

»Um so mehr ein Grund, unsere alte Freundschaft zu erneuern. Hör zu, Liebling, du siehst unglaublich aus heute Abend.«

»Unglaublich gut oder unglaublich schlecht?«

»Unglaublich unglaublich. Welcher Aphroditestatue hast du das Kleid geklaut? Du hast lauter Stoff an dir dran, aber du siehst aus, als wärst du nackt.«

»Also sieht es gut aus?«, fragt Iulia und zupft, plötzlich nervös, an einer plissierten weißen Stoffkaskade.

Sempronius vertritt ihr den Weg, hält sie mit der linken Hand am Arm fest und legt ihr die Rechte ums Kinn. Er zwingt sie, ihn anzusehen: »Was ist los mit dir, Iulia?«, fragt er mit spöttisch verzogenem Mund. »Bist du verliebt? Aber in wen? Doch nicht etwa in den alten Langweiler Crispinus? Oder in den neuen schicken Kitharaspieler. Ich gebe zu, er ist schön wie Apoll ...«

Iulia schiebt seine Hand weg. »Lass mich los, Sempronius.«

Er zuckt die Achseln. »Ich sehe schon, du gerätst auf Abwege. Iulchen, Iulchen, wohin soll das führen?«

»Sempronius, du bist ein Schwätzer.«

»Aber ein charmanter«, betont er, nicht im geringsten verärgert.

»Und ein fanatisch neugieriger Skandaltreiber«, schiebt sie nach.

Er zieht sein Gesicht in tragische Falten. »Du magst mich nicht mehr.«

Iulia lacht. »Doch. Ziemlich. Denn zumindest lügst du nie.«

Er grinst. »Wozu auch? Ehrlich schockt am längsten.«

»Dann komm.« Sie zieht ihn am Ärmel. »Lass uns Leute schockieren!«

III.

Phoebe wartet lange, so lange, bis sie sicher sein kann, dass Iulia unterwegs zum Tiber ist und auch nicht mehr umdreht, weil sie, wie so oft, etwas vergessen hat, einen Schal, ihr Parfüm ... Um in ihrer Abendkleidung nicht aufzufallen, hängt sich Phoebe ein dünnes Cape um, zieht den weiten Stoff als Schleier übers Haar – vorsichtig, um die Wellen nicht plattzudrücken – und eilt unbegleitet durch die nur spärlich beleuchteten Straßen und Gässchen auf dem Oppius; bald werden die Gebäude weniger zahlreich, die Häuser größer, reicher, bis es gar nicht mehr weiter geht und eine lange, hohe Mauer das Viertel auf dem Esquilin einfach quer abschneidet. Phoebe braucht einen Moment, um sich zu orientieren – wo ist die Pforte, das kleine Schlupfloch, fast unsichtbar? Instinktiv geht sie nach rechts und findet den Einlass nach wenigen Schritten. Sie hat einen Schlüssel – seit damals immer noch –, aber es dauert einen Augenblick, bis sie sich erinnert, wie das Schloss funktioniert; es ist eine trickreiche Konstruktion, drei Schlösser in einem, aber schließlich lässt sich die schmale, niedrige und doch massive Tür aufstoßen. Phoebe blickt sich hastig um, ob auch niemand sie gesehen hat, und huscht durch den Spalt. Mit zitternden Fingern schließt sie die Pforte wieder ab. Dann bleibt sie stehen. Lauscht. Strengt die Augen an. In dem großen Park ist es nahezu stockdunkel. Ein Stück entfernt sieht sie hoch oben zwischen Baumwipfeln Licht. Der Turm! Sie zögert etwas zu lange für jemanden, der sicher ist, was er tun soll. In dem erleuchteten Turmfenster ein Schatten. Phoebe zuckt unwillkürlich zusammen, obwohl sie doch weiß, dass Er dort ist und auf sie wartet.

Langsam geht sie durch die Finsternis auf das Licht zu, bewegt sich bald so zielsicher durch den nächtlichen Garten, als ob sie dort zu Hause sei, vermeidet nahezu automatisch die Kieswege und läuft auf dem Gras, damit man ihre Schritte nicht hört. Es macht ihr fast Spaß, dieses alte, verbotene Spiel, wie man als Erwachsene ehemals mit Tabu belegte Pfade noch einmal entlanggeht mit dem kindlichen, nicht mehr ganz echten Schauer, etwas zu tun, das man nicht darf. Kaum ein Luftzug bewegt die Zweige der Büsche, lässt die Blätter der alten Steineichen und Lorbeerbäume rascheln. Ab und zu der schläfrige Laut, den ein Vogel von sich gibt, der noch keinen Schlafplatz gefunden hat, ein kurzes Flattern. Danach nur noch Phoebes eigene, katzenhaft leichten Schritte im Gras.

Die Tür zum Turm, den sich Maecenas vor Jahren inmitten seines riesigen Anwesens hat errichten lassen – ein Gag, eine Laune –, ist nur angelehnt. Phoebe hält inne, als würde sie sich gerade erst bewusst, dass die Zeit des Spiels längst vorbei und der Weg, den sie heute Abend kam, gefährlicher geworden ist, statt seine Bedrohlichkeit zu verlieren. Sie lehnt sich gegen die kühle Mauer, rückwärts, mit geschlossenen Augen, hört auf die gedämpften Nachtgeräusche im Park und wartet. Auf was? Vielleicht darauf, dass ihre Gedanken sich bündeln lassen zu einer Entscheidung? Darauf, dass ihr Körper sich wehrt, indem er ihr Kopfschmerzen schickt, Übelkeit, Krämpfe? Nichts davon geschieht. Stattdessen freut sie sich auf eine bittere Weise, und als es ihr klar wird, öffnet sie die Augen, steigt entschlossen mit schnellen Schritten die Treppe hoch und klopft.

»Komm rein«, sagt Augustus von drinnen mit seiner hellen, angenehmen Stimme, die immer klingt, als amüsiere ihn etwas, als nähme er selbst in schwierigen Momenten weder sich noch die Welt um sich herum wirklich ernst.

Phoebe ist blass, als sie eintritt, blass selbst für eine Frau, die von Natur aus hellhäutig ist.

Augustus kommt auf sie zu, lächelt, nimmt ihre Hand und küsst sie. »Ich freue mich, dass du meine kleine Einladung nicht ausgeschlagen hast.«

Phoebe steht ganz kalt, ganz angespannt. Es ist ihr unangenehm, dass ihre Handfläche schwitzt. »Ich gehorche deinen Befehlen normalerweise«, sagt sie.

»Meinen Bitten«, entgegnet er, immer noch lächelnd. Er lässt ihre Hand nicht los und führt sie zu einer Kline. »Setz dich, Phoebe.«

»Danke, ich bleibe lieber stehen. Ich habe eine Verabredung. Sag mir, was ich für dich tun kann. Dann lass mich gehen.«

»Das Fest bei Crispinus«, sagt Augustus und lässt sich auf dem blauen, mit goldenen Ornamenten gemusterten Polster des Sofas nieder. »Willst du dort wirklich hin? Meiner Tochter zuschauen, wie sie sich lächerlich macht?«

»Lächerlich?«

Augustus winkt ab. »Lass nur. Ich nahm an, du wüsstest, wovon ich rede. Komm schon, Phoebe, setz dich. Bleib einen Augenblick bei mir.«

»Was willst du?«

Er sieht zu ihr auf, gleichzeitig amüsiert und fordernd. Sechzig Jahre ist er alt oder ein Jahr mehr, vieles an ihm ist gealtert, das Gesicht nicht mehr faltenlos, die Hände voll brauner Flecken, die Augen noch tiefer eingesunken, die widerspenstigen Haare weniger voll und ziemlich grau mit einigen weißen Strähnen. Trotzdem ist er auf eine fast lächerliche Art schön geblieben, seine blaugrauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren, er hält sich extrem gerade, vielleicht weil er nicht groß ist und seine Gestalt so filigran; in der Bewegung seines Kopfes, seiner Arme und Hände liegt eine Gelassenheit, die täuscht, denn seine Reaktionen können schnell sein wie die eines Tiers.

»Muss ich etwas wollen?«, fragt der Kaiser.

»Warum hättest du mich sonst hergebeten?«

»Also habe ich gebeten, nicht befohlen?«

»Du weißt genau, dass jede deiner Bitten ein Befehl ist«, erwidert Phoebe.

Augustus seufzt. »Schade, dass du so denkst. Das war nicht immer so.«

»Doch. Es gab nur eine Zeit, da habe ich mir eingebildet, es sei nicht so wichtig, ob du wünschst oder befiehlst.«

»Weil?«

Phoebe steht vor ihm und sieht ihm geradeheraus in die Augen. »Weil ich wollte, was du wolltest, ob du nun gebeten hast oder befohlen. Aber das ist vorbei. Du hast seit anderthalb Jahren weder gebeten noch befohlen.«

»Dachtest du, ich hätte dich sattgehabt?«

»Natürlich.«

»Wäre es dann nicht anständiger gewesen, dir das mitzuteilen, statt mich zurückzuziehen ohne eine Erklärung?«

»Du bist mir keine Erklärung schuldig gewesen.«

Augustus steht auf. Er schenkt zwei Becher voll Wein und reicht einen davon Phoebe. Sie will ihn nicht nehmen, sieht jedoch am Blick des Kaisers, dass es nicht gut wäre, abzulehnen, und lässt sich den Becher in die Hand drücken. »Trink«, sagt er und stößt kurz mit ihr an, ohne zu warten, dass sie ihm entgegenkommt. »Ich bin dir durchaus eine Erklärung schuldig gewesen, Phoebe«, fügt er hinzu. »Auf deine Gesundheit!«

»Auf die Gesundheit des Princeps Augustus«, erwidert sie.

Beide trinken.

»Ich habe auch einen Vornamen«, bemerkt er dann.

Phoebe schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, was du bezweckst, Augustus. Was zwischen uns war, ist lange vorbei. Warum hast du mich heute Abend herbestellt? Doch wohl kaum, um unsere alte Beziehung wieder aufzunehmen.«

»Und wenn doch?«

»Dann verlasse ich sofort diesen Raum.«

Augustus lacht. »Beruhige dich, Phoebe. Es geschieht nur, was du willst. Um ehrlich zu sein, habe ich mich ganz einfach nach angenehmer, intelligenter Gesellschaft gesehnt. Nach Gesprächen, die mich anregen, statt mich zu ermüden. Nach einem schönen Gesicht, das ich dabei anschauen kann. Nach deiner Gesellschaft, Phoebe. Nach deinem Gesicht.«

»Es gibt intelligentere Frauen.«

»Wenige.«

»Schönere. Jüngere.«

»Ich wollte dich. Mit dir plaudern. Einen Abend lang frei haben. Genießen. Ganz ohne Zweck. Ganz ohne Absichten. Hättest du dagegen auch etwas einzuwenden?«

Phoebe geht ein paar Schritte durch das Turmzimmer. »Ich verstehe dich nicht«, stößt sie hervor. »Warum plötzlich heute Abend? Nach so langer Zeit?«

»Ah, da sind wir wieder bei unserem kleinen Problem. Darf ich dir erklären, warum ich mich damals zurückgezogen habe?«

Sie sieht ihn zweifelnd an. »Was würde das bringen?«

»Dass du mir nicht mehr böse bist, und wir uns einen schönen Abend machen können.«

»Und wenn ich das gar nicht will?«

Er legt den Kopf ein wenig schief und lächelt sie an. »Sag mir ehrlich, dass du es nicht willst. Dann lasse ich dich gehen und werde dich nicht mehr belästigen.«

»Du belästigst mich nicht!«, erwidert sie heftig.

»Lass uns reden, Phoebe«, bittet er und setzt sich wieder. »Du siehst übrigens sehr schön aus heute Abend ...«

»Mach mir keine Komplimente.«

Er lacht. »Ich mag dich sehr. Vor allem, wenn du so direkt bist.«

Phoebe dreht sich auf dem Absatz um und will gehen. Augustus springt auf und hält sie am Arm fest. Sie ist fast so groß wie er. Dicht nebeneinander stehend bilden sie einen aparten Kontrast – sein helles, graues Haar, ihre schwarzen Locken, seine weiße Toga, ihr gelbes Kleid. Einen Moment lang scheint es, als seien sie sich dieses Bildes bewusst, obwohl sie ja nur ihr Gegenüber sehen. Es ist, als führten sie beide ihre eigenes, für andere unsichtbares Spiegelbild mit sich, wie viele schöne Menschen, wie viele eitle Menschen.

Phoebe wendet sich ihm zu; es ist eine weiche, fast zaghafte und doch widerständige Hinwendung. Sie hält seinen Blick aus. Er rührt sich nicht. Sie rührt sich nicht. Sie stehen einfach nur da, sehen sich in die Augen und schweigen. Augustus ruhig, ohne Drängen im Blick, fast ohne jegliche Emotion. Phoebe zweifelnd, innerlich davonlaufend, dann wieder selbstbewusst, fast aggressiv.

»Ich glaube dir deine Gründe nicht«, sagt sie schließlich. »Was willst du, Augustus?«

»Dich.«

Phoebe schüttelt langsam den Kopf, aber sie lässt es zu, dass Augustus ihr eine Hand auf den nackten Arm legt.

»Und warum gerade heute Abend?«, will sie wissen.

»Weil ich bis gestern verreist war und bald wieder verreisen werde und nicht mehr länger warten wollte.«

»Warten?«, fährt sie auf. »Wieso warten? Du tust, als gäbe es irgendetwas, das dich daran gehindert hätte, mich zu sehen. Ich habe dich nicht warten lassen!«

»Ich weiß. Ich habe doch gesagt, dass ich dir eine Erklärung schulde. Setz dich hin. Lass uns reden.«

Phoebe seufzt. »Ich glaube dir kein Wort, Augustus. Ich bin nicht naiv. Du hast einen Grund. Aber der hat nichts mit mir zu tun. Wenn ich nur wüsste ...«

»Könnte der nicht einfach sein, dass Livia in Prima Porta ist?«, fragt Augustus schlicht.

»Wann hätte sie dich je bei deinen Abenteuern gestört?«, erwidert Phoebe grob.

Augustus lächelt nur. »Bei meinen Abenteuern nicht. Aber bei dir. Ich möchte nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst. Außerdem ist Iulia auf ihrem Fest heute Abend abgelenkt. Du hast ihr doch nichts von meiner kleinen Einladung erzählt, oder?«

»Nein.«

»Gut.« Er zögert. »Weiß sie ansonsten Bescheid?«

»Nein.«

»Ich wusste, dass du klug bist, Phoebe.« Er zögert erneut. »Hat sie jemals irgendetwas vermutet?«

»Kaum«, bemerkt Phoebe trocken. »In Iulias Welt dreht sich alles nur um sie selbst. Sie glaubt, ich himmele dich an, wie man dich ihrer Meinung nach anzuhimmeln hat, solange man nicht deine Tochter ist. Weiter schaut sie nicht und denkt sie nicht.«

Augustus lächelt. »Sie ist in letzter Zeit etwas zu forsch. Im Übrigen hat man mir erzählt, sie laufe Antonius hinterher. Stimmt das?«

Phoebe entzieht ihm ihren Arm. »Ich tratsche nicht.«

»Also stimmt es?

Du fragst die Falsche.« Sie öffnet die Tür.

Augustus drückt sie wieder zu. »Es tut mir leid, Phoebe«, sagt er. »Wir sollten nicht über Iulia reden. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Bleib eine Weile. Bitte. Er nimmt ihre Hand und streichelt wie beiläufig ihre Finger, einen nach dem anderen. Dabei schaut er über Phoebes Schulter hinweg ins Leere. Sie schweigen. Lange. Sie lässt es zu, dass er ihre Finger massiert, so scheinbar absichtslos wie zärtlich. »Du warst vor anderthalb Jahren kurz davor zu heiraten, Phoebe«, sagt Augustus leise. »Ich wollte dir die Möglichkeit geben, die richtige Entscheidung zu treffen. Balbus war eine gute Wahl.«

»Du hättest nichts dagegen gehabt, dass er eine Freigelassene heiratet?«, fragt Phoebe spöttisch.

»Bei jeder anderen, ja. Aber du bist nicht irgendjemand, Phoebe.«

»Es hätte trotzdem nicht verhindert, dass man ihn schief anschaut, von den rechtlichen Konsequenzen ganz zu schweigen, falls wir, was unwahrscheinlich war, noch ein Kind bekommen hätten. Deine Gesetze sind eindeutig.«

»Hast du ihn deswegen abgewiesen?«

Sie bleibt stumm.

»Oder weshalb?«, beharrt Augustus.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du willst, dass ich Balbus heirate?«, fragt Phoebe ungestüm.

»Hättest du es dann getan?«

»Vermutlich.«

Augustus streichelt mittlerweile ihr Handgelenk und die Innenseite ihres Unterarms, immer noch, als sei es etwas, das außerhalb seines Willens vor sich geht, das nichts ist als eine Geste, die niemandem im Besonderen gilt, schon gar nicht der Person, die die Folgen der Berührung spürt.

»Was war der Grund, warum du Schluss gemacht hast?«, fragt er. Ohne sich merklich bewegt zu haben, steht er dicht vor Phoebe, so dicht, dass sein Atem, wenn er redet, ihr Ohr streift, denn er hat den Kopf halb zur Seite gewandt, schaut ihr nicht ins Gesicht, sondern an ihr vorbei und fixiert die kleinen Alabasterscheiben, die in Blei gefasst das Turmfenster ausfüllen.

»Als du mich verlassen hast, gab es keinen Grund mehr zu heiraten«, antwortet Phoebe so leise, dass es kaum hörbar ist.

»Verstehe«, sagt er lächelnd, als ob die Logik des Arguments vollkommen sei, und dann küsst er sie.

IV.

Stimmengewirr und Musik. Kindersklaven, keiner älter als acht, im weißen Schurz, mit bunten Krauskopfperücken, die sich Wege bahnen im Gedränge und Tabletts mit salzigem Gebäck hochhalten: eine Kostprobe gefällig? Oder die herangewinkt werden mit ihren Mischkrügen, um Becher nachzufüllen, die immer schon wieder leer sind, ehe die grellgelben, froschgrünen oder knallroten Locken des Knaben zwischen weißen Männertogen, bestickten Frauenkleidern verschwunden sind, um den Nächsten, die Nächste zu bedienen.

Sempronius und Iulia haben die Festräume durch den kleinen Garten betreten, in den man vom Wandelgang aus durch einen schmalen Zugang gelangt. Sie haben sich nicht damit aufgehalten, Bekannte zu begrüßen, gönnen dem kleinen, muschelbesetzten Nymphaeum an der rückwärtigen Mauer des Gärtchens nur einen halben, etwas verächtlichen Blick, und schlendern dann zielstrebig, doch nicht zu sehr, an weiteren, sich heftig fächelnden Gästen vorbei ins erste der Speisezimmer. Der Raum nicht groß, die Klinen weggeräumt ...

»Stehparty«, bemerkt Sempronius, »oder Crispinus ist das Geld für Möbel ausgegangen – was meinst du, Iulia?«

Diese antwortet nicht, sondern tippt ihn nur an die Schulter, um ihn aufmerksam zu machen auf den schmalen Fries, al fresco auf schwarzem Grund; das ganze Zimmer ist schwarz ausgemalt und durch spindeldürre weiße Säulen, an denen Girlanden aus Weinlaub hängen, unterteilt in viereckige Felder mit weißen, durchsichtigen Zeichnungen: Landschaften, Häuser, Tempel, darüber dann der Fries mit lauter Gestalten, entweder nackt oder in Schleiergewändern, die Körper irgendwie zu lang, Hände und Füße nur Schemen, hingewischt, um die Richtung der Bewegung anzudeuten.

Crispinus hat sich anscheinend jetzt auch unter die Jünger von Isis begeben, spottet Sempronius, der ohne Mühe die Szenen des Frieses interpretiert; dann, in einer raschen Bewegung, geht er um ein paar Leute im Gespräch herum, bückt sich und nimmt einem halberwachsenen Mann, der in der Hocke sitzt und dabei ist, unterhalb der rotgrüngelben Bordüre Verse in die einladend glatte schwarze Wand zu ritzen, das schmale Klappmesser aus der Hand.

»,Oh, Cypria, Ahnherrin jener, die ich verehre ...’«, liest Sempronius das Graffito laut vor, klappt das Messer zu und wirft es dem jungen Mann hin, der es knapp auffängt. »Kratz deinen Herzschmerz in die Latrinenwände, Fannius«, sagt er zu dem Vandalen. »Dort gehört er hin!«

Ein paar Umstehende lachen, einer ruft: »Latrine? Der wird doch noch von seiner Amme trockengelegt!« Das hat noch mehr Gelächter zur Folge und schlägt Fannius, nach einem verwirrten Blick auf Iulia in ihrem alles verhüllenden, alles enthüllenden Kleid, in die Flucht Richtung Garten.

»Wie gemein, Sempronius«, ruf Iulia lachend. »Warum darf das arme Kind mich nicht mit einem Gedicht auf dieser Wand anschmachten? Bist du eifersüchtig?«

»Natürlich«, lügt er und küsst so überraschend ihre Schulter, dass sie ihn nicht abwehren kann. »Man darf keine schlechten Gedichte über dich schreiben.« Er schiebt Iulia in den Vorraum des Trikliniums, in dem die Farbe Rot dominiert.

»Heutzutage schreibt doch jeder«, meint Iulia. »Oder kennst du irgendjemanden, der noch nichts veröffentlicht hat?«