Der Stößel

Inspektor Dieuswalwe Azémar hustete. Ein bellender, donnernder Husten, der die wenigen Kunden des schäbigen Restaurants in Port-au-Prince auf ihn aufmerksam machte. Er streckte die Hand nach seinem Glas tranpe* aus. Wachtmeister Colin, sein junger Kollege, erlaubte sich, das Glas seines Vorgesetzten aus seiner Reichweite zu setzen.

»Inspektor … Mit einer solchen Grippe sollten Sie besser nicht mehr trinken. Ich sage es nur zu Ihrem Besten.«

Die Augen des Inspektors liefen vor Zorn rot an. Der junge Wachtmeister glaubte, dass sein Vorgesetzter einen Wutanfall bekäme. Er sah sich schon in irgendeinem Provinzkaff: sofortige Versetzung nach einer verheerenden Beurteilung. Doch der Inspektor klopfte Wachtmeister Colin väterlich auf die Schulter.

»Sie sind ein aufrichtiger junger Mann, Wachtmeister Colin. Darum weiß ich Sie zu schätzen. Vermutlich möchten Sie wissen, warum mir der Alkohol so oft Gesellschaft leistet.«

Wachtmeister Colin gab keine Antwort.

»Ich trinke, um zu vergessen. Um nicht zu sehen. Um den Endzeitgeruch nicht mitzubekommen, der aus dieser Erde aufsteigt. Es gibt aber Erinnerungen, mit denen man nicht fertig werden kann. Schon bei meinem ersten Fall bin ich in eine der außergewöhnlichsten Geschichten meiner Laufbahn geraten. Ich war eben erst zur Kripo gekommen. Damals habe ich mäßig getrunken. Ich war in Ihrem Alter und zu allem bereit, um ein berühmter und vor allem integrer Polizist zu werden! Ich träumte davon, so gut zu werden wie Hercule Poirot, Sherlock Holmes, Kommissar Maigret usw. Eines Tages ließ mich der Hauptmann kommen, der meiner Einheit vorstand – damals gab es noch keinen Kommissar –, um mir einen Fall von höchster Bedeutung anzuvertrauen, den er nicht selbst übernehmen wollte.«

»Nicht erst seit heute vertraut man Ihnen die vertracktesten Sachen an«, bemerkte Wachtmeister Colin.

»Ich sollte Mordfälle aus der unmittelbaren Umgebung des Innenministers aufklären! Nennen wir ihn Pierre Servilien. Einer, der innerhalb von drei Jahren politisch derart rasant aufgestiegen war, dass er zum engsten Vertrauten des Ewigen Präsidenten wurde. Somit war er der allmächtige Mann. Niemand wusste, wie er es zustande gebracht hatte, das Vertrauen des Präsidenten zu erlangen. Dieser, der doch sonst so argwöhnisch war und jeden möglichen Nachfolger gewaltsam aus dem Weg räumte, fasste jetzt keinen Beschluss, ohne die Meinung seines Ministers einzuholen, dem er sogar die Geheimnisse seiner Macht anvertraute.«

»Worum genau ging es?«

»Um drei Morde. Um drei tot aufgefundene Personen, die aussahen, als wären sie in einem Mörser zerstoßen worden. Die Körper hatte man nur mühsam identifizieren können.«

»Körper, die in einem Mörser zerstoßen worden waren! Wie das?«

»Es gibt Dinge, die sich nicht schildern lassen. Versuchen Sie, sich einen menschlichen Körper vorzustellen, der praktisch nur noch ein Brei aus Knochen, Fleisch und Blut ist.«

Mit zitternder Hand wischte der Inspektor sich den Schweiß ab, der ihm aus allen Poren des Gesichts drang. Man erriet, dass er von qualvollen Bildern heimgesucht wurde. Wachtmeister Colin hielt es für angebracht, ihm sein Glas wieder hinzuschieben.

»Danke, Wachtmeister Colin. Das erste Opfer war William Prochu, ein Freund des Ministers seit Kindertagen, sein Berater, Kabinettschef und vor allem sein Mann für alles«, fuhr der Inspektor fort. »Das zweite Opfer war seine Geliebte Myrtha Béliout, eine Frau, die der Minister seit mehr als zehn Jahren aufsuchte, das heißt, bereits lange vor Beginn seiner politischen Karriere. Ganz zu Anfang dachte ich, dass die Ehefrau des Ministers die Urheberin jener Morde wäre, weil sie mehrmals öffentlich Drohungen gegen Myrtha Béliout und William Prochu ausgestoßen hatte. Aber diese Vermutung ließ sich nicht halten.«

»Warum?«

»Um die Opfer zu Brei zu stampfen, hätte man sie normalerweise überwältigen und bewegungsunfähig machen müssen. Dazu war eine Frau nicht in der Lage.«

»Sie hätte die Morde in Auftrag geben können.«

»Ich habe zwar daran gedacht, aber die Hypothese war nicht aufrechtzuerhalten.«

»Was Sie da erzählen, Inspektor, ist auf alle Fälle grauenhaft.«

»Die Opfer waren zermalmt worden, wobei nichts darauf hinweist, dass man sie überwältigt, gefesselt, betäubt oder vergiftet hatte. In diesem Punkt hatten sich die Gerichtsmediziner eindeutig festgelegt. Wie konnte man also annehmen, Madame Servilien habe diese drei seltsamen Morde begangen, zumal das dritte Opfer ihr eigener siebenjähriger Sohn war?«

»Mein Gott!«, rief Colin aus.

»Mit den ersten beiden Opfern war der Mörder auf die gleiche Weise verfahren. Pierre Servilien, der Minister, war zum Schatten seiner selbst geworden. Er vermochte kaum, meine Fragen zu beantworten. Das Kind war aus der Schule gekommen. Es war direkt in seinem Zimmer geschehen. Die Mutter und zwei Angestellte waren zu Hause gewesen.«

»Haben Sie die beiden Hausangestellten vernommen?«

»Ich habe sie in Polizeigewahrsam nehmen lassen. Ihre Vernehmung hat keinerlei neues Material erbracht. Sie machten allerdings den Eindruck, als litten sie unter einer Art abergläubischer Angst. Einer jener Ängste, gegen die nicht einmal die Folter ankommt.«

»Haben Sie sie gefoltert?«

»Nein«, sagte Inspektor Dieuswalwe sichtlich gekränkt.

»Ich bin ein echter Polizist. Ich foltere oder verprügle keine Verdächtigen.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe die Angestellten freigelassen. Ich war nämlich sicher, dass sie keine Schuld trugen. Ihre Angst hatte mich allerdings hellhörig gemacht. Die beiden Angestellten hatten nämlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als aus der Hauptstadt zu fliehen. Der eine, um sich in den Schutz seines protestantischen Seelsorgers, der andere in den seines Voodoopriesters zu begeben.«

»Wollen Sie mir etwa sagen, Inspektor, dass diese Verbrechen übernatürlicher Art waren?«

»Es gab keine rationale Erklärung für diese Morde, Wachtmeister Colin. Niemand konnte diese Körper so zermalmen, in den Zustand versetzen, in dem sie sich befanden. Und lassen Sie sich Folgendes gesagt sein: Wenn sich eine angebliche Vernunft zum Dogma erhebt, kann die Realität unerklärlich werden.«

»Wie hat Minister Serviliens Ehefrau auf den Tod ihres Kindes reagiert?«, fragte Wachtmeister Colin. »Ihres einzigen Kindes«, betonte Inspektor Azémar. »Sie ist nach einer schrecklichen Szene mit ihrem Mann unmittelbar nach der Bestattung ausgezogen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Kenntnis von der Ursache ihres Streits. Die wachhabenden Polizisten vor dem Haus hatten im Innern lautes Stimmengewirr gehört. Ein Schuss war gefallen. Minister Servilien hatte mit der Pistole in der Hand versucht, seine Frau nicht gehen zu lassen. Wahrscheinlich hatte er den Abzug gedrückt, um seine Gattin zu erschrecken. Bestimmt hatte er seine Karriere nicht durch einen Mord beenden wollen. Er war ein kalter, berechnender Mann, zu allem bereit, um seine Ziele zu erreichen. Die Gefängnisse und Friedhöfe waren voll von Menschen, die geglaubt hatten, sich ihm widersetzen zu können.«

»Seine Frau hat ihn also verlassen.«

»Am Tag nach der Bestattung des Kindes. Sie hat sich in ein Benediktinerkloster, etwa einhundert Kilometer von Port-au-Prince entfernt, geflüchtet. Dort ist sie immer noch. Sie lebt zurückgezogen in diesem Kloster, empfängt nur einen Mönch, der ihr täglich die Beichte abnimmt. Ein Mönch, der übrigens schweigt wie ein Grab.«

»Seltsame Geschichte, in der Tat.«

»Um genau zu verstehen, musste ich unbedingt in Minister Serviliens Vergangenheit Nachforschungen anstellen. Als Sprössling einer ursprünglich bäuerlichen Familie aus dem Zentrum des Landes war er zur Gymnasialausbildung nach Port-au-Prince gekommen. Sein Abitur hatte er glänzend bestanden. Er hatte sich zu einem Auswahlverfahren des Innenministeriums eingetragen, das er als Erster bestanden hat. Auf diese Weise hat er sein Studium auf Kosten der Regierung bestritten und sogar ein Stipendium im Ausland erhalten. Als er zurückgekehrt war, wurde er ganz selbstverständlich zum Dienststellenleiter ernannt.«

»So weit der normale Werdegang vieler Führungskräfte in Haiti«, sagte Wachtmeister Colin.

»Pierre Servilien macht aus seinen Ambitionen keinen Hehl. Er hat seine Freunde, insbesondere William Prochu, informiert: Er will nach ganz oben. In Wirklichkeit hat er aber keinen richtigen Kontakt zur Spitzengruppe der Macht. Man lässt nicht jeden X-Beliebigen zum Präsidenten vor. Diejenigen, die seine Prätorianergarde bilden, sind auf der Hut. Pierre Servilien wird ungeduldig. Einstweilen begegnet er Andrée Pétrus. Sie ist die Tochter eines Ex-Magnaten des Regimes. Letzterer verfügt noch über einigen Einfluss. Pierre denkt sich, dass ihm das in irgendeiner Weise dienlich sein könnte. Ihm wird bewusst, dass er nichts Besseres finden kann. Wenn man aus einem abgelegenen Nest im Nordosten Haitis stammt und einen unbekannten Namen hat, ist es eine Gunst des Himmels, Andrée Pétrus in seinem Bett zu haben. Er heiratet sie mit der Schnelligkeit eines Mannes, der eine solche Gelegenheit auf keinen Fall verstreichen lassen will. Sie wird im selben Monat schwanger.« »Haben Sie mir nicht eben erst gesagt, dass der getötete Junge ihr einziges Kind war?«, bemerkte Wachtmeister Colin.

»Dieses Baby kommt nicht zur Welt, Wachtmeister Colin. Die Serviliens haben auf der Straße zwischen Port-au-Prince und Gonaïves einen Unfall. Andrée Servilien verliert nach offizieller Darstellung ihr Kind.«

»Warum nach offizieller Darstellung?«, fragte Wachtmeister Colin.

»Je mehr Tage vergehen, desto mehr habe ich das Gefühl, dass alles in dieser Geschichte fadenscheinig ist, Wachtmeister Colin. Mein Vorgesetzter lässt mich wissen, dass ihn der Minister bedränge, die Ermittlungen einzustellen. Es gibt jedoch Hochrangige in der Regierung, die es gern gesehen hätten, wenn Serviliens Kopf gefallen wäre. Ich setze also meine Ermittlungen fort.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ich habe einen Sprung in die Provinz gemacht, um nochmals die beiden Angestellten zu befragen, die aus Serviliens Haus geflohen waren. Der Voodoopriester weist mir die Tür und bedroht mich mit dem Tod, wenn ich nicht aufhöre, seinen Kunden zu belästigen, der nichts mit dieser madichon*-Sache zu tun hat, wie er sagt. Er hat tatsächlich madichon-Sache gesagt. Ich versuche, den anderen Angestellten aufzusuchen. Es gelingt mir nicht. Ich erfahre, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist. Der Pastor, ein alter, übrigens sehr sympathischer Mann, findet sich bereit, mit mir zu sprechen.«

»Was erfahren Sie von ihm?«

»Was dieser Angestellte in dem Haus erlebt hat, das, wie es scheint, von einem Stößelgeist heimgesucht wurde.«

»Wie, einem Stößelgeist?«

»Einem Geist, der im Haus umging und ein Geräusch dabei machte wie ein Stößel in einem Mörser. Nach Ansicht des Pastors war dieser Geist der Urheber der Verbrechen.«

»Das ist vollkommen sinnlos«, sagte Wachtmeister Colin.

»Alles war vollkommen sinnlos, Wachtmeister Colin. Wenn aber nichts mehr Sinn hat, dann leiht man allem sein Ohr, prüft alle möglichen Spuren. Ich erfahre, dass Serviliens Gattin sehr schlecht mit der Anwesenheit dieses Geists zurechtgekommen ist. Sie hat manchmal ernsthafte Krisen und Krämpfe gehabt, die sie mit dem Gesicht zu Boden warfen, und in solchen Momenten hat sie angefangen, wie ein Baby zu wimmern.«

»Sie hatten immer noch keinerlei Auskunft«, warf Wachtmeister Colin ein.

»Ich hatte nichts im Rahmen einer traditionellen Untersuchung. Wenn man sich aber das Hirn nur ein kleines bisschen neu formatierte, damit es in einem anderen Universum arbeiten konnte, hatte ich etwas, ja … In diesem neuen Rahmen habe ich mir daraufhin die entscheidende Frage gestellt.«

»Die wäre?«

»Wie lässt sich der ungeheure politische Erfolg eines Mannes wie Pierre Servilien erklären?«

»Zum Arsenal eines Höflings gehört die gesamte Palette der Niederträchtigkeiten«, erwiderte Wachtmeister Colin. »Man kann es nicht wissen.«

»Ich weiß, Wachtmeister Colin. Auf dieser Ebene habe ich alles unter die Lupe genommen. Pierre Servilien war nicht als Einziger zu jeder Niederträchtigkeit bereit, um sich einen Platz an der Sonne zu verschaffen. Warum gerade er und auch noch so schnell? Da ist etwas anderes, Wachtmeister Colin. Etwas Schreckliches, das mit den Morden zusammenhängt.«

»Und was?«

»Ich habe die Episode von dem Unfall, bei dem Pierre Serviliens Frau ihr Baby verlor, dem Unfall, der drei Monate vor Beginn jenes fulminanten Aufstiegs geschehen war, genau überprüft. Der Unfall hat sich eines Nachts Anfang Januar ereignet, genauer gesagt am sechsten.«

»Das Dreikönigsfest nach der katholischen Liturgie. Und nach dem Volksglauben für einige auch das Fest des Teufels.«

»Ich habe versucht, die Fakten zu rekonstruieren. Die Serviliens waren anlässlich des Geburtstags eines Freundes zu einem Fest nach Gonaïves unterwegs. Das hatte Pierre Servilien in seiner Zeugenaussage behauptet. Damals hatte das niemand überprüft. Dafür hatte es keinerlei Anlass gegeben. Zu dem Zeitpunkt hatte sich besagter Freund gar nicht in Gonaïves befunden. Er war in New York.«

»Sie gehen allem nach.«

»Man weiß nicht genau, ob der Unfall passiert ist. Serviliens Wagen wird ohne Spuren eines Aufpralls in einem Graben gefunden. Er behauptete, er sei mit einem anderen Fahrzeug zusammengestoßen, das ohne Licht fuhr.«

»Und seine Frau?«

»Nach seiner Darstellung ist sie im Wagen kurz nach seiner Abfahrt aus Port-au-Prince eingeschlafen. Es war gerade einmal siebzehn Uhr. Um diese Jahreszeit wird es früh Nacht. Sie hat den Unfall nicht mitbekommen. Erst in einem Krankenhaus von Gonaïves ist sie ohne ihr Baby wieder wachgeworden.«

»Ohne ihr Baby?«

»Ja. Eine Fehlgeburt! Ich habe durch Zufall in den staubigen Archiven dieses Krankenhauses die Akte gefunden, unterzeichnet von einem Gynäkologen: Ihn hat man zwei Wochen später auf einem unbebauten Gelände am Ausgang der Stadt tot mit einer Kugel im Genick aufgefunden.«

»Glauben Sie, dass …«

Wachtmeister Colin wagte nicht weiterzudenken.

»Der Unfallort war in der Polizeiakte genau bezeichnet«, fuhr Inspektor Dieuswalwe Azémar fort. »Pierre Servilien hatte es nicht für nötig befunden, sie verschwinden zu lassen. Ein kleiner Ort im Zentrum des Landes. Ich habe mich dorthin begeben. Ganz allein. Lange habe ich gebraucht, jemanden ausfindig zu machen, der mir vertraute und sich jener Nacht entsann. Die Vorteile des Alkohols, Wachtmeister Colin. Alkohol verbrüdert. Alkohol frischt das Gedächtnis auf. Alkohol löst die Zungen.«

Der Inspektor rief einen Kellner und bestellte noch ein Glas tranpe.

»Ohne zu trinken, kann ich diesen Bericht nicht abschließen.«

Wachtmeister Colin sah, wie die knochigen Finger des Inspektors sich um das Glas verkrampften.

»In jener Nacht, Wachtmeister Colin, ist Pierre Servilien den denkbar schändlichsten Pakt eingegangen. Um der Macht willen. Selbst die verdorbensten Politiker hätten vielleicht gezögert. Er nicht. Er wollte alles. Ganz schnell. Er hat seine Frau belogen, um sie nachts zu der Fahrt zu bewegen. Er hat ihr Drogen verabreicht, damit sie ihm wehrlos ausgeliefert war. Er war nicht allein. William Prochu, sein Freund und bedingungsloser Gefolgsmann, hat ihn begleitet. Sie haben den Unfall simuliert und die schlafende Andrée zu einem Zauberer, einem berüchtigten Jünger des Teufels namens Pwennfèpa, transportiert. Die Geliebte Serviliens, Myrtha Béliout, war bei der Zeremonie zugegen. Einer mehrstündigen Zeremonie, in deren Verlauf der Zauberer das noch lebende Baby aus dem Bauch der Mutter genommen hat und …«

»Und?«, fragte Wachtmeister Colin, ihm war eiskalt geworden.

»Das Kind wurde in den Mörser gegeben, der Körper zermalmt, das Ganze von den Zelebranten, dem Zauberer, Pierre Servilien, seiner Geliebten Myrtha Béliout und William Prochu gegessen, getrunken.«

Wachtmeister Colin wurde übel.

»Eine unschuldige Seele dem Teufel dargebracht! Seitdem stand Pierre Servilien unter dem Schutz des Teufels. Von diesem Moment an lächelte ihm stets das Glück. Und doch hatten der Zauberer und er nicht alles vorausgesehen.«

»Was hatten sie nicht vorausgesehen?«

»Was nicht vorauszusehen war«, sagte Inspektor Dieuswalwe Azémar. »Jene unschuldige Seele, die vom ersten Atemzug an das Leid, die Grausamkeit der Menschen erfahren hatte, wurde auch von Hass und Rachegelüsten zerfressen. Es sei denn, es hat sich um eine göttliche Strafe gehandelt. Einen Rückschlag, den niemand erklären kann. Nur die Fakten lassen sich feststellen.«

»Warum ist Pierre Servilien selbst verschont geblieben?«

»Vielleicht sollte er vor seiner Bestrafung jahrelang über seine Schandtat nachdenken. Pierre Servilien ist nach dem Tod seines Sohnes noch ein weiteres Jahr an der Regierung geblieben. Aber wie ich Ihnen zuvor gesagt habe, war er nur noch der Schatten seiner selbst. Er wurde in der Kirche bei Gebetstreffen gesehen, weil er wohl göttlichen Schutz suchte. Erstaunt hörte man diesen so hochmütigen Mann, der sich in dem Schrecken gefiel, den er einflößte, auf Versammlungen von Liebe und Frieden reden und Zeugnis ablegen: Mit Tränen in den Augen und ohne ins Detail zu gehen, bezichtigte er sich einer Gräuel, die niemand ahnen konnte. Das riesige Vermögen, das er als Minister erworben hatte, hat er für Spenden an mildtätige Einrichtungen ausgegeben. Einmal hat man ihn sogar im Staatsgefängnis Decken und Nahrungsmittel verteilen sehen. Er hat mehrmals in einem evangelikalen Radiosender gesprochen, um den Herrn Jesus zu preisen, den er als Erlöser angenommen hatte. Ein neubekehrter Christ eines solchen Kalibers konnte nicht an der Regierung bleiben. Er ist zurückgetreten, was in Haiti selten geschieht. Er hat sich in sein Chalet in den Bergen zurückgezogen. Niemanden hat er empfangen. Zehn Jahre später ist er gestorben, am 6. Januar frühmorgens.«

»Wie ist er gestorben?«, fragte Wachtmeister Colin.

»Mit zu Brei zerstampftem Körper. Man hat nur den Zeigefinger seiner rechten Hand gefunden, mit dem Pierre Servilien noch ein Wort mit seinem Blut in großen Buchstaben auf den Fußboden schreiben konnte: VERZEIHUNG!«

 

 

Madichon: Fluch.

 

Tranpe: aromatisierter Zuckerrohrschnaps.

 

Gary Victor

 

Dreizehn
Voodoo-Erzählungen

 

Aus dem Französischen
von Ingeborg Schmutte
und Cornelius Wüllenkemper

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Ein Uhr siebzehn

Brad White, amerikanischer Journalist, hatte seit ungefähr zehn Jahren seinen Wohnsitz in Haiti. Er liebte dieses Land, hatte dort ein reizendes junges Mädchen geheiratet und dachte vor allem, dass dort noch etwas passieren würde. Ihm gefiel die Beharrlichkeit der Haitianer, mit der sie ständig gegen die Diktaturen kämpften, wenn er auch nicht verstand oder nicht verstehen wollte, warum dieselben Leute, die auf die Straße gingen, um zur Unterdrückung nein zu sagen, mit ebenso viel Energie eilfertig einen weiteren Schwachkopf zum Staatschef wählten. Brad gehörte zu jenen Fremden, die sich zu Hause in ihrer Haut nicht wohlgefühlt und nach einem anderen Ort gesucht hatten, an dem ihr Unbehagen in einer Art pseudorevolutionärem Engagement aufgehen würde. Unter so vielen Menschen, die gezwungen waren, auf neue Don Quichottes, mitfühlende Seelen und Operettenmarxisten zu lauern, um ihrem Elend zu entkommen, war Brad wiederholt reingelegt worden. Besonders von den Frauen, denn Brad hatte insgesamt sehr philosophische Vorstellungen von den neuen gleichberechtigten Beziehungen, die zwischen Männern und Frauen herzustellen waren, und sie hatten seinen Wunsch, diese in der Realität zu leben, weidlich ausgenutzt.